Dec 2020

V. Buchbesprechungen: Harald Jähners Wolfszeit

Harald Jähners Wolfszeit.

 

Deutschland und die Deutschen

 

1945 -1955

 

aus deutsch-amerikanischer

 

Perspektive

 

Frederick A. Lubich, Norfolk, Virginia

 

Die Menschheitsgeschichte ist reich an Beispielen vom Aufstieg und Verfall ihrer Kulturen, doch keine Nation ist in so kurzer Zeit zur Hochkultur aufgestiegen und umgekehrt abgrundtief in die Barbarei gestürzt wie Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert. Und in der besten Tradition hat sich das Land der berühmten „Dichter und Denker“ auch noch auf diesen Absturz in das Land der berüchtigten „Richter und Henker“ einen perfekten Reim gemacht.

Aus deutsch-amerikanischer Perspektive ließe sich dieser sprichwörtlich gewordene Blickwinkel auch noch entsprechend erweitern. So wie die „Stunde Null“ zum gängigen Schlagwort für das in Grund und Boden zerbombte Deutschland am Ende des Zweiten Weltkrieges werden sollte, so sollte über ein halbes Jahrhundert später „Ground Zero“ zur allgemeinen Redewendung für das vollkommen zerstörte World Trade Center in Downtown Manhattan werden. Zwischen diesen beiden figurativen Nullpunkten spannt sich eine transatlantische Brücke vielfacher deutsch-amerikanischer Beziehungen, die sicherlich in der sagenhaften Luftbrücke mit ihren fabelhaften Rosinenbombern ihren sinnbildlichen Höhepunkt findet.

Das im Jahr 1997 von den drei deutsch-amerikanischen Literaturwissenschaftlern Christine Cosentino, Wolfgang Ertl und Wolfgang Müller gegründete Online Journal Glossen ist gewissermaßen das zeitgeschichtliche Spiegelbild dieser transatlantischen Korrespondenz. Explizit als Publikations- und Kommunikationsorgan für deutsche Literatur und deutsch-amerikanische Kulturgeschichte nach 1945 konzipiert, profilierte sich das Journal in den letzten Jahrzehnten zu einem einzigartigen, akademisch-journalistischen Reflexionsmedium, das auch prominente Literaten, renommierte Literaturwissenschaftler und repräsentative Vertreter des öffentlichen Lebens miteinschloss.

In Anbetracht der spezifischen Forschungs- und Erkenntnisinteressen dieses Online Journals verspricht Harald Jähners 475-seitige Nachkriegschronik, die 2019 im Berliner Rowohlt-Verlag erschienen ist, nicht nur als ein deutsches Geschichtsbuch, sondern darüber hinaus auch als eine kongeniale Textsammlung deutsch-amerikanischer Beziehungsgeschichten weitere Dienste leisten zu können. Der Autor ist von Haus aus Journalist, der jahrelang als freier Mitarbeiter im Literaturressort der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie als Feuilletonchef der Berliner Zeitung tätig war und seit 2011 als Honorarprofessor für Kulturjournalismus an der Universität der Künste in Berlin forscht und lehrt.

Bereits ein flüchtiger Überblick über die zehn Kapitel dieses Bandes, die jeweils wiederum in mehrere Unterkapitel aufgeteilt sind, gibt einen guten Eindruck von der Vielschichtigkeit und Mannigfaltigkeit dieser Studie. Da die vorliegende Besprechung dieser thematischen Komplexität unmöglich gerecht werden kann, sollen an dieser Stelle zumindest die einzelnen Kapitel samt ihren Unterkapiteln aufgeführt werden, um ein etwas vollständigeres Bild von ihrer Vielfalt und ihrer Art und Weise der Darstellung zu vermitteln.

 

Erstes Kapitel: Stunde Null? So viel Anfang war nie. So viel Ende auch nicht.

Zweites Kapitel: In Trümmern. Wer soll das je wieder aufräumen? Strategien der Enttrümmerung. Ruinenschönheit und Trümmertourismus.

Drittes Kapitel: Das große Wandern. Befreite Zwangsarbeiter und herumirrende Häftlinge – heimatlos für immer. Die Vertriebenen und die schockierende Begegnung der Deutschen mit sich selbst. Unterwegs.

Viertes Kapitel: Tanzwut. „Heile, heile, Gänsje, mein armʼ zertrümmertʼ Mainz“.

Fünftes Kapitel: Liebe 47. Heimkehr der ausgebrannten Männer. Constanze schlendert durch die Welt. „Gierig nach Leben, durstig nach Liebe“. Frauenüberschuss – ihre Minderzahl rettet den Männern die Vormachtstellung. Freiwild im Osten, Veronika Dankeschön im Westen.

Sechstes Kapitel: Rauben, Rationieren, Schwarzhandeln – Lektionen für die Marktwirtschaft. Erste Umverteilungen – Bürger lernen Plündern. Die Logik der Lebensmittelkarten. Ein Volk von Mundräubern – Eigeninitiative und Kriminalität. Der Schwarzmarkt als Staatsbürgerschule.

Siebtes Kapitel: Die Generation Käfer stellt sich auf. Währungsreform, die zweite Stunde Null. Wolfsburg, die Menschenplantage. Start-up – Beate Uhse entdeckt beim Hausieren ihr Geschäftsmodell. Versinkt Deutschland im Schmutz? Die Angst vor der Verwahrlosung.

Achtes Kapitel: Die Umerzieher. Drei Schriftsteller und Kulturoffiziere arbeiten für die Alliierten am deutschen Geist.

Neuntes Kapitel: Der Kalte Krieg der Kunst und das Design der Demokratie. Kulturhunger. Wie die abstrakte Kunst die soziale Marktwirtschaft ausstattete. Wie der Nierentisch das Denken veränderte.

Zehntes Kapitel: Der Klang der Verdrängung. Verschweigen, reden, lustlos zusammenrücken. Ein Wunder, dass das gut gegangen ist.

Nachwort: Das Glück

 

Die zahlreichen Untertitel fungieren immer wieder als Schlaglichter, die nicht nur mehr Licht ins Dunkel dieser Ruinenwelt werfen, sondern zudem auch noch weitere Assoziationen und Implikationen illuminieren, die vom rein Faktischen übers Poetisch-Ästhetische bis zum Ironisch-Tragischen reichen. Was das rein Faktische betrifft, so lässt der Verfasser immer wieder Zahlen für sich sprechen. Um hier nur einige der bezeichnendsten Statistiken aufzulisten:

So arbeiteten allein im Jahre 1943 im Volkswagenwerk 10.000 ausländische Zwangsarbeiter bis zur Erschöpfung am sogenannten Kraft-durch-Freude-Wagen des Dritten Reiches. (266)

In den ersten Hungermonaten nach Kriegsende war die alltägliche Kalorienration der Deutschen auf 800 Kalorien gesunken. (217) Im Zuge der Währungsreform flogen die Amerikaner die in den USA gedruckten Banknoten der neuen DM in insgesamt 12.000 Holzkisten ein, die allesamt mit dem Decknamen „Doorknobs“ gekennzeichnet waren. Diese kostbare Fracht wog insgesamt 500 Tonnen und war in der Tat der Türöffner, der zauberhafte Sesam-Öffne-Dich zum Startkapital für das kommende Wirtschaftswunder der Bundesrepublik. (256)

Bereits zwei Jahre nach Kriegsende verkaufte Beate Uhse insgesamt 32.000 Exemplare ihrer ersten Aufklärungsbroschüre. Im Laufe ihres Lebens sollte sie sich jedoch auch rund 2.000 Strafverfahren einhandeln, die vor allem von reaktionären Dunkelmännern und konservativen Widersachern der geschlechtlichen Aufklärung und weiblichen Selbstbestimmung angestrengt wurden.

Von 1945-1988 zogen rund 170.000 deutsche Bräute mit ihren amerikanischen Freiern in die Neue Welt – auch das eine Art Luftbrücke ins verheißungsvolle Land der unbegrenzten Möglichkeiten – während umgekehrt in der Alten Welt allein in der jungen Bundesrepublik 6 Millionen ehemalige NSDAP-Mitglieder wieder in die sozialpolitische Realität Deutschlands zu re-integrieren waren. (398)

In Anbetracht des geschichtlichen Hintergrunds gibt sich diese ominöse Sechs-Millionen-Zahl unterm Strich auch als das makabre Plus-Minus in der sogenannten „Endlösung“ des deutschen Faschismus zu erkennen, denn sie ist in der Tat jene heimlich-unheimliche Zahl, die ihre Opfer und Täter gemeinsam haben. Die sogenannte Vergangenheitsbewältigung als nationalmoralische Bankrotterklärung.

Doch die größte Anzahl von Menschen, die im Schatten der weit über 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs überlebt haben, jedoch verfolgt, verschleppt und vertrieben wurden, sind die 8-10 Millionen ausländischen Zwangsarbeiter, die nach dem Krieg in ihre Heimat zurückzubringen waren, sowie die über 12 Millionen deutschstämmigen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen aus Mittel- und Osteuropa, die in den Ruinen ihrer deutschen Urheimat, aus der sie vor Jahrhunderten ausgewandert waren, eine neue Bleibe zu finden hofften.

Weit über das Objektiv-Demographische, Statistische hinaus versteht es der Autor auch immer wieder das Subjektiv-Atmosphärische jener Umbruchszeit durch prägnante Zitate und evokative Passagen dramaturgisch zu inszenieren. Dies soll im Folgenden an vier exemplarischen Beispielen noch etwas genauer illustriert und interpretiert werden.

Beim ersten Beispiel handelt es sich um einen Text von Wolfgang Borchert aus dem Jahre 1947 mit dem Titel „Das ist unser Manifest“, in dem der bald darauf verstorbene Autor die neue Musik seiner Generation beschreibt, unter anderem den Swing und Boogie-Woogie, der seit der Ankunft der amerikanischen Soldaten mit Begeisterung in deutschen Tanzschuppen gespielt und getanzt wurde. Borchert kommt zu dem euphorischen Schluss:

[D]iese Musik ist der Jazz. Denn unser Herz und unser Hirn haben denselben heißkalten Rhythmus: den erregten, verrückten und hektischen, den hemmungslosen. Und unsere Mädchen, die haben denselben hitzigen Puls in den Händen und Hüften. Und ihr Lachen ist heiser und brüchig und klarinettenhart. Und ihr Haar, das knistert wie Phosphor. Das brennt. Und ihr Herz, das geht in Synkopen, wehmütig wild. Sentimental. So sind unsere Mädchen: wie Jazz. (127)

Allerdings war der beträchtliche Mangel an jungen, männlichen Tanzpartnern, die im Krieg gefallen waren, wie der gängige Euphemismus lautete, ein wesentliches Handicap im ausgelassenen Paarungstanz der jungen, lebens- und liebeshungrigen Generation. „Sechs Frauen auf einen Mann“ (177), so lautete ein im Trümmerfilm Berliner Balladen aus dem Jahr 1947 oft wiederholtes Leidmotiv junger Frauen.

Der beginnende Wiederaufbau der Städte Anfang der fünfziger Jahre war von einer landesweiten Heiratswelle begleitet, bei der freilich viele jungen Frauen nur das Nachsehen hatten: „Wer nun allein war, drohte es für immer zu bleiben“ (179) lautet Jähners Résumé unzähliger Frauenschicksale, das in seinem elegischen Grundton und Wortklang sehr an Rilkes Gedicht „Herbsttag“ erinnert, das mit den Zeilen anhebt: „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“

Beim dritten Textbeispiel handelt es sich um Argumente aus der am Anfang der fünfziger Jahre ausbrechenden Diskussion um die angeblich wachsende Welle von „Schmutz und Schund“ (298), die Zeitzeugen zufolge über die junge Bundesrepublik hereinzubrechen drohe. Inzwischen hatten sich unter die nationalkonservativen Moralhüter auch wieder so manche, allzu rasch rehabilitierte Parteigänger des Nationalsozialismus gemischt und gemeinsam befürchteten sie die zunehmende amerikanische Verwestlichung und kulturelle Verwilderung ihrer deutschen Jugend.

Vor allem Comic Strips, die in den „Beutetaschen des weiblichen Gefolges“ (296) der US-Invasoren Deutschland unterwandern würden, erschienen ihnen besonders jugendgefährdend, drohten sie doch zur schleichenden „Seelenvergiftung“, sowie zum „Bildidiotismus“ und „wollüstigem Analphabetentum“ (295) zu führen. Es ist schon höchst komisch-ironisch, wie sich ausgerechnet abgebrühte Frontkämpfer und hartgesottene Alt-Nazis wenige Jahre nach Kriegsende allein schon von Fix und Foxi – von Micky Maus und Donald Duck hier einmal ganz zu schweigen – angeblich psychisch und moralisch so fix und fertig machen lassen konnten.

Um solch seelischer Zerrüttung und sittlicher Verderbnis rechtzeitig Einhalt zu gebieten, filzten jedenfalls Lehrer damals regelmäßig die Schulranzen ihrer Schulkinder, und wenn sich genügend Exemplare dieser subversiven Kontrabande, sprich „Volksseuche“ und „Kulturschande“ (298) angesammelt hatten, wurden sie öffentlich auf dem Schulhof verbrannt. (296)

Damit war allerdings die befürchtete Gefahr des nationalen und kulturellen Zerfalls noch lange nicht gebannt. So zeigt zum Beispiel eine eindringliche Erbauungsschrift für Halbwüchsige unter dem Titel „Unzucht zerstört“ einen nackten, verzweifelt mit sich selbst ringenden Riesen im Stil von Goyas Grotesken und das pädagogische Pamphlet beschwört geradezu stoßgebetartig seine jungen Leser: „Unzucht behindert. Hält auf. Zerbricht. Nimmt alle Freude.“ Und der Warnruf steigert sich schnell zu regelrechten Horrorvisionen:

Du weißt von jungen Menschen rings um dich, die Wüste geworden sind im Brand der Unzucht, der Gier, der Wollust. […] Und endlich spürst Du ganz deutlich, dass auch in Dir selbst die Steppe zunimmt, die Bakterien der allgemeinen Pest zu wirken beginnen. […] Wisse: Auf jeden Rausch folgt ein bitteres Erwachen – Was dann? Heulen mit den Wölfen? […] Eines Tages werden sie Dich zerreißen. (437f)

Sind derartig düstere Seher nicht viel mehr selbst verzweifelte Rufer in ihrer eigenen inneren Wüste? Selbst traumatisiert von ihrem einstigen Sturm und Drang nach Osten und zutiefst demoralisiert vom eigenen Blutrausch des Völkermordens im fernen Steppenland wilder Wölfe? Geht hier nicht vielmehr das schlimme Wissen und schlechte Gewissen ehemaliger Frontsoldaten, die allzu viel Schreckliches gesehen und begangen hatten, mit dem Höllenjammer von Feuer- und Schwefelpredigern mittelalterlicher Schule eine gar unselige, scheinheilig-unheilige Allianz ein?

Wer in jenen Gründerjahren der Bundesrepublik nicht nur als Schulbub die Schulbank drückte, sondern auch noch als Beichtkind im Beichtstuhl kniete – wie zum Beispiel der Autor dieser Buchbesprechung –, dem klingen jedenfalls derart finstere Warnungen vor solch wüsten Sündenpfuhlen aus Schmutz und Schund noch heute in den Ohren. Ein Jahrzehnt später sollten sich freilich die Unkenrufe solch zwielichtiger Nacht- und Tugendwächter tatsächlich als „self-fullfilling prophecies“ erweisen, sieht man die heraufziehende sexuelle Revolution der 68er Generation durch ihre weit aufgerissenen Augen.

Beim letzten Textbeispiel aus Jähners Wolfszeit handelt es sich um einen Briefwechsel Theodor W. Adornos. In einem Brief an Thomas Mann berichtet er vom lebhaften Gedankenaustausch seiner Frankfurter Studenten, der ihn an eine alte Talmudschule erinnert, und er sinniert: „Manchmal ist mir zumute, als wären die Geister der ermordeten Juden in die deutschen Intellektuellen gefahren.“ (445)

An Leo Löwenthal wiederholt Adorno kurz darauf seine Beobachtung und er kommt angesichts derartiger Geisterstunden und begeisterter Diskussionsrunden zu dem Schluss, das Ganze sei: „Leise unheimlich. Aber eben darum, im echten Freudischen Sinn, auch wiederum unendlich anheimelnd.“ (445) Freuds Theorie vom Heimlich-Unheimlichen, hier kehrt sie in der Praxis heimlich, still und leise wieder als die Freud’sche „Wiederkehr des Verdrängten“, die bald im ganzen Land Schule machen und Betroffenheit auslösen sollte.

Bereits amerikanische Berichterstatter hatten bald nach Kriegsende in Anbetracht der Nürnberger Prozesse nicht nur von einem modernen „Welttheater“, sondern auch von einem mittelalterlichen morality play gesprochen. Entsprechend sollte in Frankfurt die Freud’sche Wiederkehr des Verdrängten nicht nur Adornos individuelles Bewusstsein, sondern wenige Jahre später mit dem Beginn der Frankfurter Auschwitz-Prozesse in der Gestalt des Holocaust auch das kollektive Bewusstsein Deutschlands mehr und mehr heimsuchen.

„Homo homini lupus est“ (225), der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Diese uralte Menschenkenntnis bewahrheitet sich vor allem in Kriegs- und Krisenzeiten, wenn es ums Überleben der Stärksten geht. Diese sozialdarwinistische Maxime zieht sich denn auch wie ein unterschwelliges Leitmotiv durch Jähners Wolfszeit und hat seinem Erzählwerk auch seinen so bezeichnenden Titel gegeben.

Die Vorstellung von der Vertierung des Menschen hat im vorliegenden geschichtlichen Zusammenhang seinen ausgesprochenen Ursprung in der Propagandarhetorik des Nationalsozialismus, der zufolge jeder deutsche Soldat einer „blonden Bestie“ gleich über die Länder und Völker Europas herfallen wird. Diese fortschreitende Vertierung und findet schließlich ihren jämmerlichen Höhepunkt in den Werwolf-Aktionen heulender Halbwüchsiger und altersschwacher Großväter, die zur letzten verzweifelten Verteidigung Deutschlands zusammengetrommelt wurden.

So hatte etwa Joseph Goebbels noch zwei Monate vor Kriegsende verkündet, dass für den deutschen Werwolf jeder alliierte Soldat Freiwild sei: „Hass ist unser Gebet und Rache unser Feldgeschrei. Der Werwolf hält selbst Gericht und entscheidet über Leben und Tod.“ (374) In anderen Worten, das verhetzte, menschliche Raubtier als blindwütiger Richter und rachsüchtiger Henker.

Umso überraschter waren die Alliierten, als sie schließlich deutschen Boden betraten und das besiegte Land zu besetzen begannen: „Statt wilder Bestien standen winkende Leute am Straßenrand und fraßen den Besatzern Schokolade aus der Hand.“ (375) Also anstatt weiterer bösartiger Überraschungen vielmehr allerorten erstaunter „comic relief“. So zumindest in der ironischen Retrospektive des zurückblickenden Autors.

Doch damit war die wilde Wolfszeit mit all ihren tatsächlichen Schrecken noch lange nicht zu Ende. Nach der Eroberung der deutschen Hauptstadt durch die russische Armee brach eine „Vergewaltigungswelle ohnegleichen“ (185) über die Frauen Berlins herein. Marta Hillers, die Autorin der ursprünglich anonym veröffentlichten Erinnerungen Eine Frau in Berlin, die im Jahr 2003 zu einem internationalen Bestseller wurden, beschreibt darin, wie sie in jener Zeit, in der nun vice versa jede deutsche Frau zum Freiwild der Eroberer geworden war, ein Verhältnis mit einem hochrangigen russischen Offizier einging, nur, um in ihm einen Beschützer zu haben, „einen Wolf, der mir die Wölfe vom Leib hält.“ (185)

Diese Verrohung des Menschen zum mehr oder weniger bedrohlichen Raubtier setzte sich unmittelbar nach Kriegsende auf allen sozialen Ebenen fort, wo Menschen versuchten, sich im täglichen Überlebenskampf mehr schlecht als recht durchzuschlagen. Jähner bringt diese animalische Hackordnung einer hungrigen Nachkriegsgesellschaft auf den anschaulichen Nenner:

Wer Kartoffeln aus dem Acker klaubte, hamsterte; wer sie den Hamstern wieder entriss, war eine Hyäne. Und zwischen beiden wanderte der Wolf, über dessen Sozialstatus man sich nicht sicher sein konnte, war doch der ‚einsame Wolf‘ genauso berüchtigt wie das ganze Rudel. (235)

Nomen est omen: Vom alltäglichen Mundraub zum jahrelangen Raubbau. Im Dritten Reich fand die menschliche Wolfsnatur ihre geradezu symbolische Emblematisierung in Wolfsburg. Hier im expandierenden Volkswagenwerk erfuhr die rücksichtslose Ausbeutung der Zwangsarbeiter und ihrer menschlichen Arbeitskraft ihre unmenschliche Realisierung und industrielle Rationalisierung.

Nach dem Krieg sollte wiederum das berüchtigte Wolfsburg des Dritten Reiches zum berühmten Musterbetrieb der deutschen Automobilindustrie mutieren. Wolfsburg wurde – um Jähners Wolfs-Metapher noch etwas weiter zu spinnen – im gewissen Sinne zur sinnbildlichen Nährmutter einer arbeitshungrigen Bundesrepublik, geradeso wie es einst bei der Gründung Roms und des Römischen Reiches die sagenhafte Wölfin für Romulus und Remus geworden war. Freilich konnte damals im geteilten Deutschland nur der westliche Bruder von dieser Quelle des wachsenden Wohlstands profitierten.

Ein letztes unüberhörbares Echo auf das Wolfsgeheul jener Umbruchszeit stellt sicherlich Hans Magnus Enzensbergers erster Gedichtband Verteidigung der Wölfe aus dem Jahre 1957 dar, ihn schlagartig als „angry young man“ Westdeutschlands und führende Stimme einer jungen Generation von engagierten Dichtern und rebellisch-provokativen Denkern bekannt machen sollte.

„Look Back in Anger“, lautete John Osbornes 1956 erschienenes Theaterstück und entsprechend ist auch Enzensbergers Gedichtband eine zornige Abrechnung mit der älteren Generation, der er in dem titelgebenden Gedicht „Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer“ vorwirft, sich als opferfühlende Lämmer aufzuführen, die im Dritten Reich das Denken und Handeln den Wölfen überlassen hätten. Vielen von uns westdeutschen 68ern hatte er damals in unserem Unmut gegen unsere Eltern, beziehungsweise ihre bürgerliche Ordnung, die uns ihre schreckliche Geschichte vermacht hatte, mit seinen ironisch-sarkastischen Versen aus Herz und Seele gesprochen:

Ihr Lämmer, Schwestern sind, mit euch verglichen, die Krähen;
ihr blendet einer den andern.
Brüderlichkeit herrscht unter den Wölfen:
sie gehen in Rudeln.

[…]

Winselnd noch
lügt ihr. Zerrissen
wollt ihr werden, Ihr
ändert die Welt nicht. (433)

Ein letzter Blick zurück im Zorn: Werden hier nicht alle angeblichen „Lämmer“ aus jener so wölfischen Schreckenszeit, egal ob Jud oder Christ, ob furchtsamer Opponent oder schamloser Opportunist, über ein und denselben Kamm geschoren und allesamt der winselnden Verlogenheit bezichtigt? Zudem hatten aufgebrachte Poeten in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik weitaus leichter reden als verschreckte Bürger einer heimtückischen Gewaltherrschaft, die nicht nur ihre politischen Gegner gnadenlos bestrafte, sondern zudem auch noch ihre Familienangehörigen mit Sippenhaft bedrohte.

Test the West? Remember the East! Die deutschen Brüder und Schwestern in Ostdeutschland mussten erst wenige Jahre vor Enzensberger großspurigen Verteidigung der Wölfe ihren ersten Aufstand in Ostberlin mit blutigen Opfern bezahlen, und wenige Jahre danach sollte ihnen allein schon der heimliche Privatbesitz einer einzigen Rolling-Stones-Platte monatelangen Stasiknast einbringen.

Hatte hier nicht der „arme B.B.“, der große Bänkelsänger der Weimarer Republik, die schlichte Wahrheit eher auf seiner Seite als der „junge, zornige Mann“ mit seiner großen Klappe? Während Enzensbergers Bundesbürger zu jener Zeit bereits allesamt wohlgenährt auf ihrer sogenannten „Fresswelle“ ritten – ein Bild für George Grosz und andere Spötter –, steuerten umgekehrt Weimars Republikaner vielmehr der großen Wolfs- und Hungerszeit des Dritten Reiches entgegen, die es erst einmal mehr zu überleben galt ganz nach der populären Parole der Dreigroschenoper: „Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“.

Food for thought! Wolf hin und Mensch her, in diesem historischen Kontext entpuppt sich mutatis mutandis Hermann Hesses Steppenwolf aus dem gleichnamigen Roman sicherlich noch als das beste Vorbild. Genau betrachtet, ist er das ideale Wappentier des amerikanischen rugged individualism, dessen Vorstellungswelt dem „American Dream“ von Anfang an zu Grunde liegt und die jedem amerikanischen Bürger die bestmögliche Selbstverwirklichung im Land der unbegrenzten Möglichkeiten in Aussicht stellt.

Test the Far West! Der Deutsch-Kanadier John Kay, alias Joachim Fritz Kauledat, sollte wenige Jahre nach Enzensbergers Verteidigung der Wölfe mit seiner frei nach Hesses Romanhelden benannten Rockband Steppenwolf und ihrem Mega-Hit „Born To Be Wild“ (1968) die große internationale Heavy-Metal-Hymne auf dieses Ideal der grenzenlosen Freiheit und Selbstentfaltung anstimmen. Als sound track des Kultfilms Easy Rider sollte sie bald weltweit eine wanderlustige Jugendgeneration in ihrem unbändigen Freiheitsdrang weiter begeistern und beflügeln.

„Wind of Change“ lautet der Song der deutschen Rockband Scorpions, der eine Generation später erneut den Rausch der Freiheit angesichts des Berliner Mauerfalls einfangen und zu einem internationalen Blockbuster rund um die Welt werden sollte. Nicht zufällig sind die letzten zwei Nummern von Glossen unter diesem Titel dem Thema der Musik und seinem transatlantischen, deutsch-amerikanischen Kulturaustausch seit 1945 gewidmet. In keinem anderen kreativen Genre und modernen Kommunikationsmedium kommt dieser wechselseitige Transfer besser zum Ausdruck.

Oder wie Jähner den magischen Moment der Musik in dem bereits zitierten Manifest von Wolfgang Borchert so zutreffend paraphrasiert und charakterisiert:

Der Rhythmus des Textes selbst ist reinster Jazz. Es ist eine swingende Anrufung des Seins. Ein leises Gellen, in dem der Krieg noch nachhallt, während er von der Klarinette schon sublimiert wird. Überall ist der Krieg noch gegenwärtig, selbst im Haar der Frauen, das knistert wie Phosphor. (128)

„Ut pictura poesis“: Wie ein Bild sei das Gedicht. Dieser Horaz’schen Maxime folgend komplementiert der Autor seine epische tour de force durch diese so abenteuerlich katastrophale Nachkriegszeit mit einer Reihe evokativ-symbolischer Fotografien. Allein schon das Frontispiz dieses Bandes ist ein überaus sprechendes Abbild jener so chaotischen Epoche, in dem sich der Zeitgeist mit seiner zeitgeschichtlichen Wirklichkeit kreativ-kongenial veranschaulicht und versinnbildlicht findet.

Es handelt sich um eine Luftaufnahme von dem fast vollständig zerbombten Köln, einer der ältesten Kulturstädte der deutschen Geschichte. Hoch über den Ruinen der Stadt ist ein Drahtseil gespannt, auf dem eine junge Seiltänzerin über die ausgebrannten Häuserskelette balanciert. Spektakulärer und nicht zuletzt ironisch-ikonischer lässt sich wohl Deutschlands geschichtliches Verhängnis zwischen Abgrund und Hochkultur, die prekäre Hängepartie einer ganzen Gesellschaft sowie ihr mutig-übermütiges Überleben irgendwo dazwischen kaum darstellen.

Darüber hinaus verkörpert der akrobatische Übermut dieser Seiltänzerin in gewisser Weise auch den demographischen „Frauenüberschuss“ im Deutschland jener Nachkriegszeit. Das ganze Land erschien damals so manchem deutschen Heimkehrer und amerikanischen Besatzer fest „in Frauenhand“. (170) Doch obwohl Frauen offensichtlich die Oberhand hatten, mussten sie, wollten sie auch noch die Herzen junger Männer erobern, mit weiteren, imposanten Künsten Eindruck machen, egal ob auf festem Tanzboden mit swingenden Hüften oder hoch droben jonglierend in atemberaubenden Lüften.

Und nicht zuletzt spannt diese waghalsige Seiltänzerin, halb deutsche „Trümmerfrau“, halb amerikanisches „Wunderfräulein“, rein bildlich gesprochen ihren so todesmutigen Spannungsbogen genau über jenen abgründigen Augenblick, den Margret Boveri in ihren Tagebuch-Aufzeichnungen aus dieser Zeit so bezeichnend als „ungeheure Erhöhung des Lebensgefühls durch die dauernde Nähe des Todes“ (170) beschrieben hatte.

Die folgenden Fotos sind denn auch wie weitere Detail-Illustrationen dieses symbolischen Panoramas. Unter den Bildern dieser Nationalgalerie finden sich Schnappschüsse von Frauen auf Bergen von Trümmern, Aufnahmen von Kriegsgefangenen und Heimatvertriebenen, von Tanzbegeisterten und Karnevalfeiernden in einer Welt aus Schutt und Asche, von Schwarzmarktszenen und Lebensstil-Illustrierten, die neue Moden, moderne Möbel und bunte Bilder der abstrakten Malerei zum Besten geben. Den passenden Abschluss dieser Bilderstrecke bilden Portraits repräsentativer Remigranten wie Hans Habe, Alfred Döblin und Rudolf Herrnstadt, allesamt höchst motivierte und auch ideologisch inspirierte „Umerzieher“, die zurückgekehrt waren in der Zuversicht, Deutschland aus seinem Abgrund zumindest ein Stück weit wieder auf die vielberufene Höhe seiner einstigen Hochkultur zurückführen zu können. Es sollte bekanntlich eine mühselige Rückkehr und ein langwieriger Aufstieg werden.

Eingehende Anmerkungen, ein ausführliches Namensregister sowie ein umfassendes Quellenverzeichnis von rund 200 Titeln aus allen denkbaren Fachbereichen und Forschungsrichtungen beschließen diesen Band und machen ihn zu einem gut recherchierten, eloquent geschriebenen und aufschlussreich bebilderten Erzählwerk, das über die Nachkriegszeit Deutschlands vom „ground zero“ bis zu den ersten „start-ups“ so lehrreich wie unterhaltsam Auskunft zu geben vermag.

Und die Moral von diesem modernen, deutschen Welttheater? „Amerika, du hast es besser“! So meinte schon Goethe. Anders gewendet, Jähners Wolfszeit hat Goethes Weltanschauung rund zweihundert Jahre später noch einmal überzeugend vor Augen geführt und bestätigt. Das restlos am Boden zerstörte Deutschland in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hätte damals in Amerika letztendlich keinen besseren und vor allem hilfreicheren „Großen Bruder“ finden können.

Summa summarum, Jähners Wolfszeit ist ein populärwissenschaftliches Gesamtkunstwerk im besten Sinne des Wortes, das über jene Umbruchszeit nicht nur allgemeinverständlich informiert und sie auch entsprechend anschaulich illustriert, sondern auch den Zeitgeist jener Jahre vielschichtig durch eine Reihe moderner Medien heraufbeschwört und dergestalt auch immer wieder weitere Gedankenanstöße zu geben vermag.

In diesem Sinne möchte man Jähners Geschichtsbuch sowohl in der Alten Welt wie auch in der Neuen Welt eine möglichst große Leserschaft wünschen, auf dass sich solch ein katastrophaler Zivilisationsbruch in unserer Menschheitsgeschichte nie mehr wiederholen möge – und die Rückkehr der wilden Wölfe auf unsere Naturreservate rund um die Welt beschränkt bleibe.

Und letztendlich kann Wolfszeit sowohl als transatlantisches wie auch als internationales Geschichtsbuch weitere Dienste leisten, damit letztlich alle Nationen dieser Erde Frieden und Freiheit mehr denn je schätzen lernen und – last but not least – auch gegenwärtige und zukünftige Flüchtlinge in unserem jeweiligen Heimatland, wo immer es auch sein mag, eine sichere Zuflucht und bessere Zukunft finden können.

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