Aug 2016

Über das Schriftstellerdasein im 21. Jahrhundert – Interview mit Tobias Hülswitt, Autor des Romans Dinge bei Licht, Blogger, und Performance-Intellektueller

von Rachel J. Halverson1

Tobias Hülswitt, a 2001 graduate of the Deutsches Literaturinstitut in Leipzig, is a prolific younger generation writer whom Sigrid Löffler described as a “Quereinsteiger” and one of the “urwüchsigeren Autoren-Gestalten” that contemporary German literature urgently needs (12).2 Surviving and thriving in Germany’s competitive publishing industry today, however, is easier said than done. Devoted to exploring the conditions for success in the writing profession, Schreiben jetzt. Wie Autoren auf dem Markt überleben, a special issue of Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen, describes the marketing mayhem governing German literary production in the twenty-first century. Publishing houses are releasing new publications at a higher rate, bookstores and online sellers are following suit by showcasing potential bestsellers in correspondingly shorter marketing cycles, and authors are seeing their literary achievements relegated to the bargain bin after six weeks if they do not rapidly ascend the bestseller lists to top the charts (Löffler 7). As Marlen Schachinger asserts in her Werdegang. Varianten der Aus- und Weiterbildung von Autor/innen, the classic image of the impoverished, bespectacled author huddled at his writing desk in the attic is no longer valid (18). She describes the profession for today’s nascent author as: “Schreibend Sein, als Existenzform, als Notwendigkeit, und dies mit dem Anspruch nach einem das Sein ermöglichenden finanziellen Auskommen aufgrund des eigenen Tuns, . . . ” (18).To survive, young Germans embarking on literary careers in the new millennium must be able to write in a wide range of genres and to publish in a diverse array of venues, extending beyond the traditional print novel and collections of short stories and poetry (Biendarra 26; Gerstenberger and Herminghouse 1, Löffler 12). They must also be capable of earning supplementary income preferably in areas related to literature, such as teaching or editing (Schachinger 20).

Similar to several of his contemporaries, Hülswitt has successfully mastered the multi-tasking strategies that are essential for professional survival in the 21st century.3 In the thirteen years since his graduation from the Deutsches Literaturinstitut Leipzig, he has published four novels with Kiepenheuer & Witsch (Saga: Ein Roman [2000], Ich kann dir eine Wunde schminken [2004], Der kleine Herr Mister [2006], and Dinge bei Licht [2008]), as well as blogs, numerous essays and short stories. His work in developing and performing interactive video shows has resulted in the publication of Handbuch des Nonlinearen Erzählens (2011), a book on narrative theory, and Werden wir ewig leben? Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie (2010), a co-edited volume of interviews published by Suhrkamp.

In the following interview, Hülswitt reflects on becoming and living as an author, pursuing sources of supplementary income, creating narratives in interactive video shows, writing in the Digital Age, his career trajectory, and literary influences.

R.J.H.: 1993 bis 1996 hast du eine Lehre als Steinmetz/Steinbildhauer an der Meisterschule für Handwerker in Kaiserslautern gemacht und anschließend ein Jahr als Steinmetzgeselle gearbeitet. Wie kam es dazu, dass du dich um einen Studiumplatz am Deutschen Literaturinstitut Leipzig beworben hast und dich letztendlich für die Literatur entschieden hast?

Tobias Hülswitt: Ich hatte keine Lust mehr, als Steinmetz zu arbeiten, weil ich, dadurch dass das so physisch anstrengend war, abends keine Kraft mehr hatte zu lesen, geschweige denn zu schreiben, und das war auf Dauer dann eben nach dem halben Jahr so unbefriedigend geworden. Dann kam noch dazu, dass mein Altgeselle bei einem Unfall ums Leben kam und ich mich mit meinem Meister danach nicht mehr so gut verstand. Und das beides zusammen hat dann dazu geführt, dass ich nach der Weihnachtspause meinen Chef angerufen habe und ihm gesagt habe, ich glaube, ich komme nicht mehr. Und dann habe ich mich über das Künstlerhaus Edenkoben beworben und habe im Künstlerhaus Schöppingen ein Stipendium bekommen. Dann habe ich zwei Monate Ferien gemacht und bin dann nach Schöppingen gezogen und habe dort geschrieben und habe dann geguckt, was ich studieren könnte, und habe zunächst an Jura gedacht und Germanistik und habe dann gesucht, wo ich was studieren könnte. Wobei Germanistik nicht erste Wahl war, ich glaube, ich habe wahrscheinlich gar nicht viel nach Germanistik geguckt, wirklich eher nach Jura und habe dann in Leipzig im Vorlesungsverzeichnis diese Fußnote gesehen bei der Germanistik dann doch dass es da dieses Literaturinstitut gibt, und die eine Schreibausbildung anbieten, dann habe ich mich da beworben, habe mich nirgendwo anders beworben und bin genommen worden.

R.J.H.: Am 19. Oktober 2000 kurz vor dem Abschluß deines Studiums am Deutschen Literaturinstitut erschien ein Artikel von dir in Die Zeit – “Die Dekonstruktion des Dichters. Krisen als Geschenk des Himmels. Erfahrungen mit dem Schreibstudium.”4 In dem Artikel äußerst du schon Bedenken, die du hast, dich dem Schreiben völlig zu widmen. Schon zu der Zeit hast du eingesehen, dass das Leben als Schriftsteller ein ganz Isoliertes sein kann. Siehst du diesen Beruf aus heutiger Sicht anders? Hast du je die Entscheidung bereut, Schriftsteller zu werden?

Tobias Hülswitt: Ich sehe es ganz genau wie damals. Ich glaube, das hat sich alles genau bewahrheitet, was ich damals gesehen hab’. Ummm . . . und das Lustige war, dass ich die Ausbildung unter anderem gemacht hab’ und dann nach dem Jurastudium geguckt habe, zum Beispiel, weil ich, als ich gemerkt habe, dass ich schreiben will, auch den Gedanken gleich hatte, ich muss mich irgendwie versorgen können. Man hatte mir immer inzwischen erzählt, dass Max Frisch Architekt gewesen war. Es ist mir ganz wichtig, dass ein Schriftsteller einen bürgerlichen Beruf ausgelernt hat, in den er immer zurückkehren könnte, falls er scheitert oder so. Aber dann hat dieser Wunsch, oder Zwang zu schreiben, es dann aber einfach weggespült. Und zwar für viele, viele, viele Jahre eigentlich, weil dieser Wunsch eben so stark ist und ich beobachtete das nicht nur bei mir. Ich glaube, dass es für einen bestimmten Typus vom Schreibenden zutrifft, dass dieses Schreiben wie ’n . . . man kann es jetzt ein Talent oder eine Begabung oder eine Berufung nennen, auch eine Orientierung, um die andere einem beneiden, die es nicht haben. Man kann es aber als Fluch sehen oder als Deformation, weil man muss das wirklich machen, ob man es mag oder nicht, und das ist schon eine ganz besondere psychische Architektur, mit der man dann noch umgehen muss. Man muss dann lernen, wenn man eben nicht sofort davon leben kann, wie man das kombiniert mit anderen Arbeiten, die es aber einem erlauben, die Zeit aufzubringen zum Schreiben, weil man sonst nicht unbedingt glücklich wird, wie es eben mir beim Steinemetzen gegangen ist, das ging dann nicht mehr. Da hatte ich überhaupt keine Freiräume, keine Kraft mehr. Deswegen konnte ich einfach nicht weiter machen.

R.J.H.: Im Laufe deiner Karriere warst du und bist du immer noch in anderen Bereichen tätig. Du arbeitest schon öfters an Kulturprojekten für das Goethe-Institut, du arbeitest gelegentlich als DaF-Lehrer, und du hast als Gastdozent an der Universität der Künste Berlin, am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und an der Universität Hildesheim gewirkt. Natürlich spielt die finanzielle Not hier eine Rolle. Abgesehen aber davon, was bringen dir und deinem Schreiben diese Nebentätigkeiten?

Tobias Hülswitt: Na ganz unterschiedlich also. Es ist nicht nur das Finanzielle. Es hilft, oder es tut ja auch gut sozusagen, gebraucht zu werden oder was tun zu können. Beim Schreibenlehren bin ich mir nicht so ganz sicher, ob das einem viel bringt, höchstens dass man sich über seine eigenen Ideen noch mal klar wird oder so, klarer wird. Aber irgendwann muss man dann auch einfach schreiben und die Vermittlung ist eigentlich gar nicht so wahnsinnig spannend. Bei mir ist es ja so, dass die Theorie des Nonlinearen Erzählens mir viel gebracht hat, aber ich habe jetzt gerade nicht das Bedürfnis sozusagen, daraus meinen Lebensinhalt zu machen. Lieber wieder zum Schreiben zurückzukehren, weil ich habe das Gefühl, ich beherrsche das und weiß, was ich da tue. Aber die anderen Nebentätigkeiten, wie das Unterrichten in Schulen, also das bringt einen gewissen Rhythmus, eine gewisse Beständigkeit, einen Austausch mit Leuten, . . . sehr interessante Erfahrungen, vor allem im Bereich der Integrationskurse. Was ich jetzt mache, einfach so Wohlhabenden, Kindern wohlhabender Eltern Deutsch beizubringen, das ist wiederum weniger interessant, aber die Integrationskurse hier in Kreuzberg, wo Menschen aus aller Welt mit den unterschiedlichsten Hintergründen zusammen kamen, das war super spannend. Das war richtig, richtig super.

R.J.H.: Das sind die Erfahrungen, die man dann halt in dieser Kurzgeschichte “Engelbecken” auch sieht. Du hast die dann literarisch verarbeitet.

Tobias Hülswitt: Ja, und es gibt diesen Ausspruch von Bohumil Hrabal5. Der sagt, der hat ganz spät in seinem Leben angefangen, richtig produktiv zu werden als Schriftsteller. Der hat es ein bißchen blöd ausgedrückt. Er hat vorher gesagt, er will sich noch, bevor er anfängt zu schreiben, er will sich mit Menschen besudeln. Das ist natürlich ein bißchen disrespektierlich ausgedrückt, aber ich verstehe dieses Gefühl, dass man sagt, man will überhaupt unter Menschen sein und einfach noch mehr sehen und hören von denen und mit dabei sein, bevor man sich wiederum in diese sehr einsame Tätigkeit des Schreibens begibt.

R.J.H.: Als du 2002 Stadtschreiber in Cairo warst, hast du am Goethe-Institut Florian Thalhofer kennengelernt. Darauf folgten acht Jahre Zusammenarbeit, darunter die Begründung des Korsakow-Instituts für Nonlineare Erzählkultur 2008 mit Matt Soar (Montreal) und eine Reihe von interaktiven Shows nicht nur in Deutschland, sondern auch in Venezuela und Prag. Im Nachhinein wie siehst du diese Arbeit mit dem nonlinearen Erzählen, was eigentlich aus dem literarischen Bereich stammt, und den interaktiven Shows, die eher zum Bereich öffentlicher Diskussion gehören? Das heißt Literaturtheorie in einem nicht literarischen Kontext.

Tobias Hülswitt: Das ist für mich als Schreibenden spannend aber nicht so befriedigend und auch nicht so aufwühlend wie wenn ich selber schreibe. Diese große Gratifikation des Schreibens, dieser Glücksmoment, der fehlt da, ist da nicht so stark, und gleichzeitig ich habe diese Instabilitäten, die das Schreiben mit sich bringt, diese mentalen, kritischen Zustände sage ich mal, die bleiben auch aus. Die Höhen und Tiefen, die Amplitude ist kleiner. Aber gerade vor dem Hintergrund der Theorie des Nichtlinearen Erzählens ist es, finde ich, perfekt so was zu machen, weil das in meinen Augen ein offenes Kunstwerk ist oder ein Kunstwerk in Bewegung, wie Umberto Eco das beschrieben hat, wo nicht nur die Reihenfolge offen ist, oder es ’ne sehr große Anzahl von gleichberechtigten, möglichen Anordnungen des Materials gibt, sondern weil das Publikum sogar tatsächlich die physische Anordnung des Materials mit bestimmt und noch selber ganz spontan sozusagen sein eigenes Material in Form von Beiträgen, SMS oder Redebeiträgen mit einbringt, und dadurch dass es den Verlauf bestimmt, eben sozusagen das physische Arrangement des Materials bestimmt, und das steht eins zu eins so darin im offenen Kunstwerk von Umberto Eco. Deshalb finde ich es hochspannend.

R.J.H.: Haben deine Erfahrungen in diesem Bereich deine Meinung dazu geprägt, welche Rolle die Literatur in der deutschen Gesellschaft spielen sollte? Und Schriftsteller?

Tobias Hülswitt: Das finde ich schwierig, weil ich eigentlich grundsätzlich davon ausgehe, dass Literatur keinen Auftrag haben sollte. Jedenfalls nicht von außen. Also keinen, den sich der Autor nicht selber gibt. Ich möchte eigentlich nicht, dass die in irgendeiner Form instrumentalisiert wird, weil das ein Bereich ist, der Wichtiges, Unplanbares hervorbringen kann, was die Gesellschaft auch ganz dringend braucht. Es muss also einen Bereich geben, in dem Leute sich mit völlig randständigen Themen beschäftigen, die aber vielleicht später eine große Bedeutung bekommen, oder die einfach wichtig sind, damit es so eine Diversität von Ideen und Gedanken und Themen gibt, mit denen Leute sich beschäftigen. Deshalb finde ich es fast gefährlich, wenn man sagt, der Schriftsteller soll dies oder das tun. Ich bin immer ein bißchen skeptisch, wenn Schriftsteller sich gesellschaftlich engagieren und es sehr stark mit ihrer Schriftstellerrolle in Verbindung bringen. Ich kann es eher verstehen, wenn jemand sagt: Als Schriftsteller bin ich vollkommen autonom, vollkommen autark. Oder wie Katja Müller-Lange mal gesagt hat: “Ich bin meine eigene Nation, ich bin mein eigener Staat, mich interessiert der deutsche Staat nicht.”
R.J.H.: 2008 hast du Roman Brinzanik, der Physiker und Bioinformatiker ist und am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin arbeitet, kennengelernt. Inzwischen habt ihr sämtliche interaktive Shows zusammen aufgeführt und eine Anthologie Werden wir ewig leben? Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie (2010) veröffentlicht. Was bedeutet dir diese Zusammenarbeit mit einem Naturwissenschaftler? Hat sich dein Verständnis vom Beruf Schriftsteller dadurch geändert?

Tobias Hülswitt: Ne, hat sich gar nicht geändert. Also, die Arbeit hat mir Horizonterweiterung gebracht, und das hat mir viele Themen erschlossen, auch naturwissenschaftliche Themen, gesellschaftsrelevante, gesellschaftspolitische Themen, die ich vorher nicht so auf dem Schirm hatte. Also, irgendwie bin ich dadurch, glaube ich, in der Gesellschaft erst so richtig angekommen. Vorher war ich einfach viel mehr bei mir, und jetzt habe ich einfach eine ganz andere Perspektive von Dingen und Zusammenhängen . . . habe auch viel gelernt, und es war wichtig mit Roman zu arbeiten. Erstmal, es wäre mir viel schwerer gefallen, die richtigen naturwissenschaftlichen Interviewpartner zu finden, weil er einfach viel besser beurteilen kann, wer ist jetzt wirklich hier crème de la crème und was sind die wichtigen Themen, die zu so einem Themenkomplex gehören, und so weiter, und das konnte er besser beurteilen als ich, und auch in den Interviews selbst hat er immer die naturwissenschaftliche Perspektive reingebracht. Das hätte ich selber so eigentlich nicht gekonnt. Also, es wäre einfach die Hälfte dessen, was wir da produziert haben, ohne ihn gar nicht möglich gewesen. Von daher brauchte das Projekt das einfach auch. Aber meine Rolle als Schriftsteller oder meine Vorstellung von Literatur oder mein Schreiben veränderte das eigentlich nicht.

R.J.H.: Wie haben das Internet und das damit verbundene digitale Zeitalter dich und dein Schreiben beeinflusst? Die Literatur und den Leser? Wie es ist, als Schriftsteller im digitalen Zeitalter zu schreiben? Anders

Tobias Hülswitt: Ich glaube eigentlich gar nicht unbedingt anders. Vielleicht ist tatsächlich der größte Einfluß, den das Internet auf das Schreiben hat, wahrscheinlich der des Onlines, Onlineseins, was einen aus dem Schreiben reißen kann. Also, wenn man nicht aufpasst und man schreibt und dann checkt man einmal Emails, und die Zeit ist vorbei. Also, man muss halt entweder sehr selbstdiszipliniert sein und Offline bleiben, oder wirklich das ausschalten, während man schreibt, oder man sagt, ich habe diese vier Stunden morgens und da mache ich nichts anderes. Ob das mental sozusagen irgendwie das Schreiben groß verändert, weiß ich gar nicht. Das hat das Leben verändert, und wir merken vielleicht gar nicht mehr diese große Veränderung, weil wir uns mit verändert haben, mit dem Medium, und unser Denken sich mit verändert hat. Was ich merke, wie ich eben schon mal gesagt habe, dass ganz viele Leute so partizipative Formate entwickeln und nicht linear denken, nicht mehr in so einfachen Bahnen denken, und Leute, die niemals wirklich was mit Literatur zu tun hatten, die nicht geschrieben haben, nicht gelesen haben. Das kommt sicherlich durch das Internet mit, glaube ich, diese Art von vernetztem Denken und nichtlinearem Denken. Und vielleicht beeinflusst uns das auch. Aber der Roman, glaube ich, ist im Vergleich zum Film ohnehin schon immer viel freier gewesen und hat sehr viele, sehr viele nichtlineare, wilde, anarchische Formen hervorgebracht. Das, was wir heute sehen, was das Internet kann und macht – die Verknüpfung, Verbindung, die Sprünge, diese völlig unvermittelten Schnitte, wenn du von YouTube von einem Video zum anderen springst oder eben das Fernsehen selbst, was man da produziert an Schnitten sozusagen. Wenn man gute Autoren liest, Saul Bellow, Herzog zum Beispiel, da sieht man, das sind ja praktisch fast so cut-up Techniken, die da verwendet werden, die ganze Zeit schon. Also, der Roman war zum Glück eh nie so klassisch streng, oder nur selten, fast nur in Ausnahmeform linear, aristotelisch. Oder wie der Sigmund Haupt das mal gesagt hat, dieser Wahn, alles mit allem in Verbindung zu setzen. Das macht diese Technik ja sozusagen, potenziell, setzt alles mit allem in Verbindung, und das haben Schreibende, glaube ich, sowieso oft gemacht.

R.J.H.: Fernöstliche Religionen kommen oft in Deinen Texten vor. Warum? Was bringen sie deiner Meinung den Europäern, den Abendländern?

Tobias Hülswitt: Na ja, also . . . sagen wir mal, bei den Abendländern herrscht eben dieser Komplex . . . man könnte ja fast sagen . . . der industrielle, militäre narrative Komplex. So nenne ich das. Das ist ein teleologisches System sozusagen. Man muss immer gegen Widerstände etwas erreichen, und die Narration, die diese Gesellschaft hervorbringt, ohne Auftrag witzigerweise, während eine Propagandamaschine wie Hollywood permanent produziert. Das ist total verrückt. Das System belohnt aber sozusagen die Produzenten dieser Propaganda finanziell, oder durch Starkult und so weiter, so dass sie ständig diese teleologische Erzählung wiederholen und ständig in alle Köpfe verpflanzen. Das Wesentliche daran ist, dass das völlig unabhängig vom Inhalt passiert, glaube ich, dass diese linearen Erzählungen immer eben uns vier Botschaften mehr oder weniger vermitteln. Das heißt:

• Die Zeit läuft ab.
• Wir befinden uns in einer Arena und im ständigen Konflikt. Man muss kämpfen, um seine Wünsche und Träume zu erfüllen.

R.J.H.: Und es ist möglich, die Träume und Wünsche zu erfüllen.

• Ja, genau, auch ein Irrsinn schon fast. Dazu muss man auch wahnsinnig viel opfern, und so weiter.
• Man muss effizient sein, es muss effizient sein, weil die Erzählung, Hollywood oder die aristotelische Erzählung ist wahnsinnig effizient. Das ist eine Effizienzideologie, weil jeder Erzähler, der halt darin nicht dem Fortgang der Handlung dient, muss eigentlich eliminiert werden.
• Und das ist ein metaphysisches Konzept, weil man hat immer die übergeordnete Dramaturgie, die einem sagt, alles, was in dieser Erzählung passiert, hat seinen höheren Sinn auf dieser übergeordneten Ebene.

Und so laufen wir durchs Leben dann und denken eben, meine Zeit läuft ab, ich muss gegen Widerstände meine Wünsche erfüllen, ich muss effizient sein dabei, möglichst keine Zeit verschwenden, keine Energie verschwenden, und irgendwie hat alles, was ich mache, was hier passiert und so, irgendwie hat das da oben irgendwo einen Sinn, in so einer höheren Welt. Ja, selbst wenn es sie nicht gibt, man sagt dann immer, irgendeinen Sinn wird es gehabt haben. Irgend jemand hat’s daoben, irgendwas hat sich was dabei gedacht oder so, ja? Egal was in so einer Erzählung an Schrecklichem passiert – das Kind stirbt auf tragische Weise, fällt aus dem Fenster – es hat aber in der höheren, in der Dramaturgie der Handlung seinen Sinn, weil das zum Fortlauf der Handlung beiträgt. Es ist eine perverse Erzähltechnik.

R.J.H.: Und du bietest das in deinen Werken als Gegenbild an.

Tobias Hülswitt: Irgendwie ist es immer ein bißchen da, in [partizipativen] Shows6 ja auch. Das hat mich auch so fasziniert, weil es eben dieses Gegenbild auch ist, weil du auch nicht raus gehst und sagst, jetzt weiß ich es, die eine große Erleuchtung habe ich gehabt. Oder die eine große Weisheit habe ich mitgenommen. In Hollywood Filmen gibt es immer eine bescheuerte Weisheit, oder? Selbst wenn der Film ein absoluter Müll ist, am Ende muss irgend so was da sein. Das gibt’s bei der Show nicht, das gibt’s in Zen eben auch nicht. Die Zen Geschichten funktionieren völlig anders. Ja, man kann das in den aristotelischen Begriffen einfach auch nicht richtig beschreiben, glaube ich. Ja, den Geist leeren von Inhalten, oder diese Inhalte nur beobachten. Beoabachtung ist schon fast zu viel. Du stehst nicht, du kannst nochmal durchblicken, von oben bis unten, die Zeit, die Zeit steht oder es spielt keine Rolle, dass sie läuft. Du befindest dich nicht im Konflikt mit nichts. Es gibt überhaupt nichts zu kämpfen. Witzlos. Du musst auch nicht effizient sein, weil du ja auch nicht kämpfen musst, weil du auch deine Wünsche abgeschnitten hast, wenn es dir gelungen ist, oder sie wenigstens erkannt hast in ihrem Wesen. Und es gibt natürlich auch keinen übergeordneten Sinn.

R.J.H.: Was sind Deine literarischen Vorbilder?

Tobias Hülswitt: Gute Frage. Vorbilder, ja eben, ich glaube, das sind schon die Leute, die über die Jahre gehalten haben, aber ich kann die nicht wirklich Vorbilder nennen, weil ich das auch nicht kann, was die können. Das sind Leute eben wie der Zygmunt Haupt, das war ein polnischer Schriftsteller Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Er hat mich sehr beeindruckt. Ich lese es auch immer wieder. Es ist wirklich eine ganz großartige Art von Literatur, eben auch vollkommen nichtlinear, vollkommen . . . die Dinge reihen sich so an einander aus einer inneren Notwendigkeit und haben so eine starke innere Strahlkraft, dass jede Handlung vollkommen schnuppe dabei ist. Das ist wirklich fantastisch, und dann kommt man wieder zum Fernöstlichen, also weil die Anschauung an sich dann so stark ist, dass mir persönlich das vollkommen reicht. Das ist auch bitte nicht metaphysisch. Das erfüllt all diese Dinge nicht; es ist nicht effizient, alles, was da drinne steht, darf um unseren Selbstwillen existieren. Das ist eben an dieser Effizienzideologie so gefährlich. Wenn man das auf eine Gesellschaft überträgt, darf jede Einheit nur existieren, wenn sie einen bestimmten Fortgang, eine bestimmte Idee dieser Gesellschaft beiträgt, und wenn das eine Rassenideologie ist und die Juden passen nicht rein in diesen Effizienzgedanken sozusagen, dann müssen sie verschwinden so. Und das sind eben auch politische Dimensionen von Erzählung, so finde ich. Und das ist bei ihm ganz, ganz toll gelöst. Ich weiß nicht, ob er jemals darüber nachgedacht hat, aber er war eigentlich Maler. Vielleicht kommt es daher, dass er stark anschauend auch geschrieben hat. Andrzej Stasiuk . . . der mit manchen seiner Bücher in der Nachfolge von Zygmund Haupt steht, finde ich auch ganz toll. Von den Amerikanern hat mich Richard Ford auch stark beeindruckt, Philip Roth natürlich, jetzt jüngst eben Saul Bellow. Aber ich kann nicht sagen, dass die Vorbilder sind. Sie inspirieren mich auf jeden Fall stark, und irgendwie fließt das auch in das ein, was ich mache. Man versucht ihnen nachzueifern, vielleicht ohne den Anspruch, ihnen das genau so gut zu machen. Wenn wir das unter Vorbildern verstehen, dann wären das schon Vorbilder. Weil ich weiß, dass ich nie wie Andrzej Stasiuk7 oder Zygmunt Haupt8 schreiben kann, oder auch nicht wie Philipp Roth.

R.J.H.: Aber das nimmst du dir auch nicht vor.

Tobias Hülswitt: Genau, ich weiß aber auch, das ist nicht das, was ich kann. Ich kann irgendwas, aber das ist nicht das, was die machen. Aber trotzdem inspiriert’s mich auf eine Weise in dem, was ich mache.

R.J.H.: Wenn du auf deine bisherige Karriere zurückblickst, wie verstehst du sie? Empfindest du sie als eine Reihe von Entwicklungs- und Schaffensphasen, Kontinuitäten, oder wild aneinander gereihte Ereignisse?

Tobias Hülswitt: Ja, es gibt irgendwie so eine seltsame Wechselwirkung, wenn du das so beschreibst, dass ich diese Lebensphasen immer so abarbeite, das stimmt. Insofern gibt’s, glaube ich, im Schreiben da schon gewisse Kontinuitäten, obwohl ich ja . . . genau obwohl ich finde, dass ich mit Saga und Dinge bei Licht näher an dem bin, was so meine eigene Art des Schreibens ist als in Ich kann dir eine Wunde schminken und in Der kleine Herr Mister. Das waren Versuche. Ja, und gleichzeitig steht natürlich eben, wie ich am Anfang beschrieben habe, das Schreiben dann sozusagen der persönlichen Entwicklung, der Entfaltung des persönlichen Lebens irgendwie im Weg, weil man einfach so viel Zeit und Energie und Gedanken darauf verwendet, diese Bücher zu schreiben. Und dann endet man am Ende so, dass das Scheitern im bürgerlichen, privaten Leben dann eben wieder der Stoff für das nächste Buch wird, und so weiter. Das ist irgendwie das Feedbackloop an dem Ganzen. Es ist wirklich nicht so, dass man sich mit dem Schreiben irgendwie das Leben rettet oder sich heilt oder so was. Das findet überhaupt gar nicht statt.

R.J.H.: : Das ist aber, was mit deinen früheren Sachen, mit den Kurzerzählungen, tatsächlich gesagt wird. Dass das Schreiben einem das Leben retten kann, alles heilen kann.

Tobias Hülswitt: Ja, und teilweise hat’s auch funktioniert. Saga zum Beispiel . . . das hatte wirklich eine therapeutische Wirkung auf mich gehabt, weil ich all die Dinge, die sich vorher so wirklich permanent immer in meinem Kopf bewegt haben. . . wirklich so Tag und Nacht . . . immer diese Themen, die in Saga drinne stehen, und das war auf einmal still, still und weg, fertig, aufgeschrieben, rausgegeben, ich konnte völlig neu, völlig neu anfangen zu denken. Vielleicht passiert es jetzt auch wieder. Ich glaube, wenn man schreibt, lernt man nicht daraus. Also, ein guter Satz macht keinen besseren Menschen. Das ist eben das Problem. Anstatt eine Erfahrung in sich zu nehmen und zu fragen – Was habe ich erlebt? War das gut? Will ich das nochmal? Was muss ich ändern, damit es nicht nochmal passiert? Das findet nicht statt, während man schreibt. Während dem Schreiben nimmt man diese Erfahrung und denkt, okay, wie kann ich die gut darstellen. Das macht man dann. Und die Zeit, die man dazu braucht, um das zu tun, die hat man nicht mehr, oder man macht es wie beschrieben eben nicht mehr, weil man es pseudo bewältigt hat. Dabei entwickelt man sich persönlich eigentlich gar nicht wahnsinnig viel . . . durch das Schreiben. Das ist meine Theorie, ich glaube, viele würden mir widersprechen, aber mir scheint es so zu sein. Und da fällt mir auch noch ein. Das hat wiederum mit der Theorie des Nonlinearen Erzählens zu tun, dass dieses Schreiben auch ein Versuch ist, das was ich als das Irritierende an der Komplexität meiner Person erlebe und da muss ich immer noch dazu sagen, dass ich nicht deshalb so sehr viel über mich schreibe als Person, weil ich mich so wahnsinnig interessant finde oder besonders finde, sondern weil ich sozusagen meine beste Informationsquelle bin, weil ich mich am besten beobachten kann, weil ich einfach am nächsten an mir daran bin. Weil ich über mich sehr gut berichten kann, weil ich es sehr nah beobachten kann, näher als bei jedem anderen und deshalb schreibe ich auch über meine Nächsten so viel, weil ich an denen auch so gut beobachten kann. Und die Theorie des Nichtlinearen Erzählens ist wahrscheinlich auch der gleiche Versuch, ein Gerüst zu schaffen innerhalb dessen die Widersprüchlichkeit und Komplexität auch von einer Person und meiner Persönlichkeit vielleicht plötzlich eine Stärke statt eine Schwäche wird. Wenn man sagt, ich will das gar nicht reduzieren und niedrigkomplex darstellen, sondern ich will es so komplex darzustellen, das ist eben sozusagen eine Not und eine Tugend dann gleichzeitig, weil die Irritation durch die Komplexität der eigenen Person relativ groß ist, bei mir zum Beispiel, immer versuchen auch im Leben wie kann ich das alles mit einander in Bilanz bringen und so. Und das gleiche für den Schreibenden findet eben auch statt. Das kann auch wiederum Teil des Sichnichtentwickeltseins. Also, wenn man versucht, an sich zu arbeiten, kann es sehr hilfreich sein, linear zu denken. In diesem Zusammenspiel von Leben und Literatur spielt das auch eine Rolle.

Notes

1 Hülswitt, Tobias. Personal Interview. 22 May 2013. This interview was made possible by generous funding from the Marianna Merritt and Donald S. Matteson Professorship in Foreign Languages & Cultures and has been edited for length.
2 In addition to Hülswitt, Löffler lists Johann Trupp, Josef Winkler, Ilija Trojanow, Raoul Schrott, Christoph Ransmayr and Alex Capus as examples of the type of authors of which German literature is in dire need (12).
3 For an examination of Hülswitt’s early work in both traditional publications and online, see Halverson.
4 “Die Dekonstruktion des Dichters. Krisen als Geschenk des Himmels. Erfahrungen mit dem Schreibstudium.” Die Zeit 19 Oct. 2000: n. pag.
5 Bohumil Hrabal (1914-1997) gilt als einer der bedeutendsten tschechischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
6 Aus juristischen Gründen wird die Erwähnung von Korsakow Shows an dieser Stelle aus der Transkription gestrichen.
7 Andrzej Stasiuk (geb. am 25 September 1960) ist ein polnischer Schriftsteller, Journalist und Literaturkritiker.
8 Zygmunt Haupt (1907-1975) war ein polnischer Schriftsteller und Maler.

Works Cited

Biendarra, Anke S. Germans Going Global: Contemporary Literature and Cultural Globalization. Berlin: Walter de Gruyter, 2012.

Gerstenberger, Katharina, and Patricia Herminghouse. Introduction. German Literature in a New Century: Trends, Traditions, Transitions, Transformations, edited by Katharina Gerstenberger and Patricia Herminghouse. New York: Berghahn Books, 2008, pp. 1-11.

Halverson, Rachel. “The Deutsches Literaturinstitut Leipzig and the Making of an Author.”
German Literature in a New Century: Trends, Traditions, Transitions, Transformations, edited by Katharina Gerstenberger and Patricia Herminghouse. New York: Berghahn Books, 2008, pp. 56-72.

Hülswitt, Tobias. Dinge bei Licht. Erzählung. Cologne: Kiepenheuer & Witsch, 2008.

—. Handbuch des Nonlinearen Erzählens. Hildesheim: Edition Pächterhaus, 2011.

—. Ich kann dir eine Wunde schminken. Cologne: Kiepenheuer & Witsch, 2004.

—. Der kleine Herr Mister. Cologne: Kiepenheuer & Witsch, 2006.

—. Saga. Roman. Cologne: Kiepenheuer & Witsch, 2000.

Hülswitt, Tobias, and Roman Brinzanik, ed. Werden wir ewig leben? Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie. Berlin: Suhrkamp, 2010.

Löffler, Sigrid. “Im Sog der Stromlinie: Der deutsche Literaturmarkt zwischen Moden und Trends.” Schreiben jetzt. Wie Autoren auf dem Markt überleben. Spec. issue of Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen, vol. 1, no. 2, 2008, pp. 6-13.

Schachinger, Marlen. Werdegang. Varianten der Aus- und Weiterbildung von Autor/innen. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2013. Europäische Hochschulschriften 2040.

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