Nov 2011

Michael Augustin

In Flensburg

Flensburg ist ja eine alte Frontstadt. Oder besser gesagt: eine, die immer wieder von den Fronten überrollt worden ist, mal von Norden her, mal vom Süden, die mal dänisch, mal deutsch sein musste und daher bis auf den heutigen Tag anregend international geblieben ist. Man sieht es und hört es der Stadt an, und deshalb bin ich – nach vielen Jahren – gern mal wieder hier als Gast (um so lieber) des Festivals folkBALTICA, zu dem Musikanten aus diversen Ostseeländern und –regionen angereist sind. Und als mir aus dem Fahrstuhl des nicht unbedingt luxuriös zu nennenden Künstlerhotels, in dem auch ich untergebracht bin mit Tänzern, Sängern, Fiedlern, Kind, Kegel und Entourage, die ehemalige Staatspräsidentin der Republik Lettland, Frau Vike-Freiberga, entgegentritt, erscheint mir selbst das irgendwie normal hier an der Flensburger Förde, die ja, zumindest auf Dänisch, ein echter Fjord ist. Ein Buchantiquariat ist mir wärmstens empfohlen worden, das ich auch prompt aufsuche zwischen den Konzerten, um darin für fast zwei Stunden zu versinken, nachdem ich mir selber das Versprechen abgenommen habe, heute mal kein Geld darauf zu verwenden, den ungezählten zu Hause wartenden Druckwerken ein weiteres hinzu zu schleppen, auch nicht das kleine Büchlein von Alfred Kerr, das der 1923 veröffentlicht hat: seinen miniaturesken Bericht einer Reise in die Metropolen New York und London, die er unternommen hatte als einer der ersten deutschen Autoren nach dem verheerenden Weltkrieg eins. In London hat er seinen alten Freund, den irischen Schriftsteller George Bernard Shaw besucht und mit ihm über das kriegsverwundete und -zertrümmerte Europa gesprochen und über die bessere Zukunft, o je. Ich schnuppere, blättere, lese mich fest, aber ich werde das Büchlein nicht kaufen, obwohl es natürlich sehr bewegend ist zu lesen, was Alfred Kerr in jener fernen Nachkriegszeit über London schreibt. Ausgerechnet über London, die Stadt also, die ihm und seiner Familie nur zehn Jahre später als Exilort dienen wird, was er aber noch nicht wissen kann, als er dieses Buch schreibt. Im Gegensatz zu mir, der ich nun in diesem Buch lese – in einem gewissen historischen Abstand, der in diesem Fall sogar ein wenig schlauer macht. Alfred Kerrs Tochter habe ich erst kürzlich kennen gelernt, in Edinburgh, wohin man uns beide als Gastleser zum dortigen Festival eingeladen hatte. Eine ungemein freundliche ältere Dame, die von einer nicht enden wollenden Schlange kleiner Kinder belagert wurde, denen sie, nie ohne erst ein wenig mit jedem und jeder geplaudert zu haben, eine Widmung in das ihr zum Signieren hingehaltene Buch setzte. In Deutschland ist sie berühmt geworden durch ihr Kinderbuch Als Hitler mein rosa Kaninchen stahl. Sie, Judith Kerr, war damals noch gar nicht geboren, als ihr Vater seinen Reisebericht veröffentlichte, 1923, den ich jetzt also tatsächlich wieder ins überladene Regal schiebe, weil ich immer noch fest entschlossen bin, heute kein Buch zu kaufen, sondern ausschließlich zu blättern, zu schmökern und zu schnuppern. Auch im hohen Regal ganz hinten, wo der fusselbärtige Antiquar und seine ständig (raucher)hustende Frau spinnengleich hocken. In diesem Regal freilich stinkt es nach Jauche. In und aus dieser offensichtlich für besonders liebe Kunden vorgehaltenen Spezialabteilung. Hier sind sie frech versammelt, die schmieralischen Lebensspuren des Reichsfischfütterministers Hermann Göring, der auf Ostseetörns bei der leisesten Dünung immer das Kotzen kriegte und sich über die Reling lehnen musste. Bücher aus dem Dunstkreis der Rosenberg, Grimm, Goebbels, Hess und anderer Spießgesellen des Adolf von Braunau und seines Nachfolgers, des Herrn Dönitz, der Anno 45 ein paar elende Tage lang, als offizieller Führernachfolger Flensburg zur virtuellen Reichshauptstadt machte. Aber hier im Allerheiligsten des Altbuchhändlers stehen in Reih und Glied mit den alten Kämpfern auch nagelneue Bücher für die bräunlich besprenkelte Leserkundschaft: frisch gedruckte Lügenstatistiken und andere Wahrheiten über Deutschland, die unser geknebeltes und entmündigtes, führerlos dahin treibendes Volk nicht wissen darf, solange die Verräter desselben an der Macht bleiben und so weiter und so fort. Ich mache auf dem Absatz kehrt und marschiere hinüber zu der Stelle, wo ich Alfred Kerrs Büchlein zurück ins Regal gestellt habe, schnappe es mir, wende mich an den Antiquar und – nun ja – kaufe das Buch. Dass Sie bei diesem Dreck hier überhaupt atmen können, wundert mich sehr, sage ich, als ich bezahlt habe und deute auf das Nazi-Regal, ich würde dran ersticken! Doch der Antiquar grinst nur, während seine Frau sich hinter einem kakophonischen Hustenanfall versteckt und ich mit Alfred Kerr in der Jackentasche den Laden verlasse, hinaus in die frische salzene Luft, die von der Förde herüberweht.

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