Apr 2012

Arne De Winde

VON DER DRAMATURGIE DES TROJANISCHEN PFERDS — Ein Gespräch mit Andreas Hutter

Worin liegt Ihrer Meinung nach die Aktualität von Heiner Müllers Theaterpoetik? In welchen Bereichen bedeutete Müllers Werk eine radikale Innovation?

Das Theater, das Müller Ende der 70er Jahre entwickelt, stellt in meinen Augen die entscheidende Bruchlinie im 20. Jahrhundert dar. Wenn man als die grundlegende Erfahrung der Moderne die Entfremdung des Einzelnen von sich selbst und seinem unmittelbaren Lebenszusammenhang setzt – und dieser Prozess spiegelt sich ja seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Theaterliteratur und wie üblich mit einiger Verspätung auch in der Aufführungspraxis wieder –, dann passiert hier bei Heiner Müller tatsächlich eine Revolution, und zwar nicht nur konzeptionell oder ex negativo, das manifestiert sich vielmehr positiv und ganz konkret in Theatertexten, in denen es keine Handlung, keine Personen und keine dialogische Struktur mehr gibt. Bis dahin war das vielleicht der Inhalt vieler Stücke, aber hier passiert es tatsächlich: Alles was bis dahin zur Definition eines Theaterstücks gehört hat, bricht weg, oder besser: es implodiert.

Auf theatertheoretischer Seite wird das an Müllers Abkehr vom Brecht’schen Lehrstück – formuliert im Brief an Reiner Steinweg 1977 – festgemacht, in Erscheinung tritt es im gleichen Jahr in Hamletmaschine. Und wie man das oft bei Müller beobachten kann: Wenn er mit der Arbeit beginnt, dann folgt der Implosion eine Explosion, er stößt nicht nur etwas um, es ist als ob dieser Impuls seiner analytischen und vernetzten Denkweise ungeheure Mengen an Brennstoff liefert, mit denen er unvorhersehbar weit in neues Gelände vordringt. Diesem explosiven Prinzip folgen viele seiner Texte, “Hamletmaschine”, “Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten”, “Bildbeschreibung” oder auch der “Brief an Mitko Gotscheff”.

Poetologisch wird der Bruch, den Müller setzt, mit den Begriffen Intertextualität, Fragmentarisierung, Montage, Dekonstruktion u.a. fassbar; entscheidend ist aber, dass es Müller damit gelingt, dem Theater von heute die Tragödie zurückzugeben: Der fortschreitende Prozess der Entfremdung, oder besser: die Zersplitterung des ICH, findet ihre Form in Texten, die ein Theater der Identifikation unmöglich machen. Dieser Inhalt wird zum ersten Mal Form, mein Text wird zum fremden Material, das ich spreche: Das ist ein völlig neuer Vorgang, nicht inszenatorisch sondern textimmanent. Danach war nichts mehr wie es vorher war, und das wirkt bis heute, wenn Sie nach der Aktualität von Müllers Poetik fragen.

Ein gutes Beispiel dafür sind die Texte von Elfriede Jelinek. Sie selbst berichtet, dass Müllers “Bildbeschreibung” – eine Textfläche, in der das Ich des Textes auf der Suche nach sich selbst in die dramatische Implosion/Explosion des beschriebenen Bildes gerät – eine Art Initialzündung für ihr eigenes Schreiben war:  Das war die Form, die sie gebraucht hatte. Heute berufen sich viele deutschsprachige Autoren und Autorinnen der jüngsten Generation auf Elfriede Jelinek als Vorbild für ihr Schreiben und damit letztlich, ohne es zu wissen, auch auf Heiner Müller.

Wie der niederländische Regisseur Johan Simons behauptet, fordert Müller, dass man sich ihm gegenüberstellt. In welcher Hinsicht ist Müllers Theater überholt, datiert oder widerspricht es Ihrer eigenen Theaterauffassung?

Da hat Simons mit Sicherheit recht, ich denke man kann gar nicht anders als sich diesen Texten gegenüberzustellen, denn sie liefern keine Handhabe, etwas “in ihrem Sinne” zu tun. Will man Müller inszenieren, ist man genötigt, eine Gegenposition zu beziehen, man muss im dialektischen Sinn etwas entwickeln, wie man ein Foto aus einem Negativ entwickelt, und “das Theater ist die Dunkelkammer”. Ich zitiere das jetzt aus dem “Brief an Mitko Gotscheff”, den ich gerade zusammen mit “Traumtext” in Form einer performativen Rauminstallation inszeniert habe.

Ich arbeite immer sehr stark textsemiotisch, das ist sicher ein großer Unterschied in meiner Herangehensweise und für diese letzte Inszenierung würden mich einige Müller-Spezialisten mit Sicherheit kreuzigen, denn sie lässt alle inhaltlichen Kollisionen der Texte gleichberechtigt nebeneinander stehen, und das in einer ästhetisch sehr geschlossenen Anordnung, in der die Darstellerin Evelyn Fuchs ohne Rest aufgeht. Das ist in gewisser Weise eine ungeheure Provokation, auch wenn es nicht so daherkommt. Vielleicht aber auch gerade deswegen.

Bei Müllers Texten ist sehr deutlich, dass sie ein Datum haben, denn sie sind immer auch Ausdruck seiner Biographie; er bringt seine eigene Lebenszeit als Material ein, das macht sie real in der perfekten Maske ihrer sprachlichen Form, die ja auch so etwas wie eine Rüstung darstellt, Rüstung gegen Angriffe und Zensur. Abgelaufen ist das Datum vom “Ende der Geschichte”, vom erwarteten dritten Weltkrieg, das hat sich mit dem Fall der Mauer aufgelöst, was ja bei Müller bekanntlich auch eine tatsächliche Schreibkrise ausgelöst hat. Nach dem Ende des Kommunismus fehlte die Reibung; erst 1995 kam Germania 3 nach, von dem viele enttäuscht waren, weil auch hier Müllers eigene Lebenserfahrung ihren Abdruck hinterlässt – nämlich den, dass die neue gesamtdeutsche Wirklichkeit etwas ausgelöscht hatte: Müllers ureigenes Sprachpotential hatte sich in andere Textsorten, vor allem Interviews, zurückgezogen. Es gibt den Satz von Müller “Mein Leben in der DDR war ein Aufenthalt in einem interessanten Material”, und dieses Material fehlte plötzlich, oder besser: wurde ausgetilgt. Letztlich ist auch dieser dramatische Vorgang der Auslöschung einer ganzen Nation, nämlich der DDR, formal in Germania 3  lesbar.

Heute, in Zeiten globaler Wirtschaftskrise und hegemonialen Umbruchs, sehen wir, dass die weltpolitische Entwicklung lediglich ihre kriegerische Maske abgelegt hat, nicht aber ihre von Müller wie aus der Vogelperspektive analysierte Dynamik und Stoßrichtung, und so entfalten seine Texte auf anderer Ebene wieder ihr kritisches Potential. Deswegen habe ich gerade wieder mit zwei Texten von Müller gearbeitet, die allerdings nicht für das Theater geschrieben sind.

Abgesehen davon gibt es jedoch zwei grundlegende Dinge, die mich diesem Autor immer verbinden werden: Jede ernsthafte künstlerische Arbeit hat einen blinden Punkt, ein Rätsel, ein Geheimnis – und in diesem nichtsprachlichen Moment liegt auch die Kraft des Theaters. Müller hat das sinngemäß so beschrieben, diese Auffassung teile ich und auch die, dass der Fluchtpunkt des Theaters letztlich immer eines ist: Verwandlung.

In Ihren theoretischen Texten betonen Sie, dass Sie eine “Dramaturgie vom Verschwinden des Menschen” zu entwickeln versuchen. Inwiefern ist Müller “Ahnherr” eines solchen posthumanistischen Theaters?

Das sind zwei ganz verschiedene Erfahrungen, die sich da begegnen. Müller ist in einem politischen Umfeld sozialisiert, in dem aktiv daran gearbeitet wurde, die Kategorie “Individuum” durch das “Kollektiv” abzulösen. Das bedeutet die Verneinung des bürgerlichen Subjekts zugunsten einer neuen Gesellschaftsform, die nicht auf der Akkumulation von Privateigentum und -kapital beruht. Das ist letztlich daran gescheitert, dass in der DDR dafür Strategien und Dispositive zur Anwendung kamen, die kulturtechnisch aus der Zeit des Nationalsozialismus kamen: Ein FDJ-Aufmarsch unterscheidet sich in nichts von einem der HJ, und das Wort Kollektiv verwandelte seinen ursprünglich positiven Inhalt in den Inbegriff der Repressalie.

Müller hat ja zunächst sehr intensiv in Richtung des Kollektivs gedacht und gearbeitet, an der Entwicklung einer solidarischen Gemeinschaft; in seiner persönlichen Erfahrung liegt aber auch das Scheitern dieser Idee. Das zeigt sich, wenn man Texte wie “Brief an Mitko Gotscheff”, der noch ganz durchdrungen ist von der Sinnhaftigkeit der “Zerreißung des Individuums”, gegenüberstellt mit einem späten Text wie “Traumtext”, der in auktorialer Ich-Form vom Alptraum des Eingeschlossenseins in einem unentrinnbaren riesigen Betonkessel erzählt. In meiner letzten Inszenierung, die ja in Antwerpen zur Premiere kam, kombiniere ich diese beiden Texte und das erzeugt einen tragischen Zusammenprall, der schließlich wieder das Individuum zum Vorschein bringt – allerdings im Bewusstsein seines neuerlichen Verschwindens.

Ich bin zeitlebens im Westen gewesen, meine Erfahrungswelt ist der Antagonismus von Individuum und Masse, beziehungsweise der Verlust von Individualität in der einzigen zur Verfügung gestellten Lebensform, die durch nichts mehr strukturiert ist als durch den Parameter “Kaufkraft”. Beide Erfahrungswelten treffen sich also in dem Punkt, dass das Individuum verliert. Wenn ich vom Verschwinden des Menschen spreche, so ist das zunächst eine Beobachtung, die jeder von uns heute machen kann: In einem größeren Bogen betrachtet ist zu konstatieren, dass das Bild des Menschen, wie wir es aus dem Humanismus übernommen haben, also das freie, selbstbestimmte, in seinem Handeln von einer Ethik des Gemeinwohls geleitete Individuum, abgelöst wird durch die Realität einer funktionalen Einheit, einer demographischen, volkswirtschaftlichen und konsumtechnischen Größe. War der Mensch einmal das Subjekt des Raumes, so ist er heute ein bloßes Merkmal im Raum. “Humankapital” ist das neue Wort dafür. Ich erlebe mich als Ziffer in der Masse, gefordert ist meine Leistung als Konsument, sowohl in der Arbeit als auch in der sogenannten Freizeit. Formuliere ich künstlerisch Widerstand gegen dieses Prinzip, indem ich mich gegen die jetzt herrschende, global standardisierte und austauschbare Theaterästhetik stelle, werde ich von den Produktionsprozessen ausgeschlossen.

So gesehen gibt es für “das Verschwinden des Menschen” keinen Ahnherren, es ist ein politischer, ökonomischer und digitaler Vorgang, der uns alle betrifft. Jedes posthumanistische Theater kann daher nur eines vor Augen haben: den Menschen tatsächlich zur Erscheinung zu bringen.

Inwiefern betrachten Sie Theater als “Darstellende Kunst”? Und was ist der Status des Textes in einem solchen Theater?

Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich beharre auf dem Begriff “Darstellende Kunst”, weil er sich einer Bühnen- und Filmpraxis verweigert, die sich zur Gänze der Unterhaltung in die Hand gegeben hat. Einer Unterhaltung, deren Auftrag es ist, Nachdenken zu verhindern. Dadurch gibt es immer weniger Freiräume, in denen ich mich dem Druck entziehen kann, als Humankapital funktionieren zu müssen.

Ich lache gern, aber ich will nicht zum Lachen angehalten sein, wenn ich ins Theater gehe, auch nicht von einem verlogenen Ironismus, der sich scheinbar über die Verhältnisse erhebt, sondern ich wünsche mir, dass die Welt dort angehalten wird, damit ich zu mir kommen kann. Das ist die Wirkungsweise von Kunst, sie hält die Wahrnehmung an und macht den Blick frei. Damit ich mich vielleicht für etwas anderes entscheiden kann. Interessant ist, dass das heute kaum noch jemand aushält, weil wir ja in einem ununterbrochenen medialen Kontinuum leben, Fernsehen morgens, Radio im Auto, Werbung auf allen öffentlichen Flächen, Musik in jedem öffentlichen Lokal, Computer in der Arbeit und Zuhause, Fernsehen abends, und die kleinen Lücken dazwischen mit dem Handy gefüllt. Schlaf und Traum sind der letzte Rückzugsort. Wenn das Theater das Kontinuum unterbricht, indem etwa der Abend mit fünf Minuten Stille beginnt, dann ist das ja im ersten Moment so, als ob einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Und das ist wunderbar.

Genauso wichtig ist in diesem Sinn, dass Text im Theater nicht einfach im naturalistischen Sinne als etwas eingesetzt wird, was sich die Schauspieler aneignen, um das Kontinuum aufrecht zu erhalten, also als Identifikationsmaterial für eine Figur, der ich auf den Leim gehen soll. Spannend wird es dann, wenn der Text etwas Fremdes bleibt. Deswegen ist mein Ansatz der, dass ich Text zunächst als gleichberechtigt mit Licht, Kostüm und Szenographie behandle, als Zeichenmaterial und nicht als den Primat, dem sich alles andere unterzuordnen hat. Das unterscheidet “Darstellende Kunst” von “Sprechtheater”.

In meinen letzten Arbeiten, die hauptsächlich außerhalb des Theaters mit seiner architektonischen Trennung von Bühne und Zuschauerraum stattgefunden haben, habe ich mit der Architektur von Texten gearbeitet, und zwar auf eine Weise, dass ein leerer Raum sich mit dem Klang der Sprache in etwas anderes verwandelt, in eine Landschaft. Die Darsteller erzeugen diese Landschaft körperlich im Akt des Sprechens und bewegen sich gleichzeitig darin. Parallel dazu arbeite ich Elemente oder Materialien aus dem Bereich des Bühnenbilds in die Kostüme ein, dadurch wird die Verbindung zwischen Figur und Sprache unterbrochen und der Text verbindet sich auf andere Weise mit dem Raum, wird zum Bestandteil des Raums, in dem der Schauspieler sich bewegt.

Ihre Auffassung von Text als Landschaft zeigt sich exemplarisch in “Und keine Hand. Zeit, Mörderin, alterlose”, in der Sie (die originalen Typoskripte von) Müllers “Brief an Mitko Gotscheff” und “Traumtext” zerstückeln und montieren. Welchen Effekt wollen Sie mit dem theatralischen Zusammenspiel – oder dieser Kollision – beider Prosatexte erzielen?

Ja, das war in dieser Arbeit besonders akzentuiert, weil wir das in “Traumtext” beschriebene Im-Kreis-Gehen im Betonkessel, aus dem es kein Entkommen gibt, direkt in die Szenographie übersetzt haben. Evelyn Fuchs geht im Kreisgang durch den Raum, der im Text geschildert wird, sie erzeugt also den Bühnenraum, der ihr körperlich zur Verfügung steht als Textraum. In diesem Raum wandert sie dann durch die Gegenden aus dem “Brief an Mitko Gotscheff”, und begegnet dort gedanklichen Gebäuden, antiken Ruinen, Monumenten, Landschaften und visionären Gebilden.

Die beiden Texte so ineinander zu verschränken war keine willkürliche Regie-Entscheidung, ich bin darin ganz einfach der Dramaturgie von “Traumtext” gefolgt, wo an einer bestimmten Stelle im Text im Nebel über dem Rand des Betonkessels ein einsam in der Landschaft stehendes Hochhaus sichtbar wird. Nach diesem Prinzip habe ich die Passagen aus dem “Brief” in den Verlauf von “Traumtext” eingefügt, der Nebel zerreißt nun nicht nur einmal, sondern immer wieder und gibt den Blick auf Dinge frei, die nun nicht mehr in der Vergangenheit liegen, sondern ihren Platz in der Gegenwart dieser Landschaft einnehmen.

Der Duktus von “Traumtext”, geschrieben 1995, ist nüchtern und distanziert, Müller beschreibt darin die Vorahnung des nahenden Lebensendes und das Scheitern von Visionen; der Duktus vom “Brief” aus dem Jahr 1983 ist der eines flammenden Manifests für ein neues Theater und eine kommende solidarische Gemeinschaft. In einem Programmheft für das Berliner Ensemble, “Drucksache 17” von 1995, hat Müller selbst beide Texte einander gegenübergestellt, genauer gesagt, zuerst kommt sein Stück “Philoktet”, dann der “Brief” und schließlich “Traumtext”, alles im Faksimiledruck der Typoskripte mit den handschriftlichen Anmerkungen und Korrekturen. Das ist nicht nur ein Textkunstwerk, diese Aufzeichnung von Kampf, Vision, Sehnsucht, Scheitern und Untergang trifft einen mit voller tragischer Wucht und dieser Impakt reißt sozusagen ein Loch auf und es öffnet sich dadurch eine neue Ebene. In meiner Textfassung habe ich das noch verstärkt, um diese Energie für die Inszenierung nutzbar zu machen. Dadurch entsteht so etwas wie eine Bombe, die erst tief unter der Oberfläche, in die sie einschlägt, explodiert, oder anders gesagt, so etwas wie ein trojanisches Pferd: Man lässt das in sich hinein, weil da jemand scheinbar resigniert, die Gefahr scheint gebannt, und dann, später erst, entfaltet sich die volle Wirkung. Möglicherweise war das die “blinde Kraft”, die Müller bei “Drucksache 17”, also im letzten Jahr seiner Intendanz am Berliner Ensemble und auch seines Lebens getrieben hat: ein trojanisches Pferd zu hinterlassen.

Ihre Inszenierungen treiben eine zentrale Frage auf die Spitze: Wer spricht in Müllers Texten? Wer ist das Ich “Ihres” Monologs? Die Grenzen von individueller und kollektiver Rede scheinen sich in die schwankenden Übergänge zwischen Ich und Wir aufzulösen, in die Spaltungen eines Ich zwischen verschiedenen Identitäten. Die Sprecher scheinen sich in einer Lage “zwischen Ich und NichtmehrIch” (Medea) zu befinden.

Ich ist kein Absolutum mehr, sondern ein Knotenpunkt im Netz der Zeit, das sich aus der Vergangenheit zusammensetzt und Anteile des Zukünftigen in sich trägt. Das wird am ehesten klar, wenn man es im Zusammenhang mit der poststrukturalistischen Geschichtsphilosophie sieht. Ist es zielführend die Taten Hitlers aus der Privatperson jenes “erbärmlichen Troglodytenführers” – wie Fritz Hochwälder ihn bezeichnet – heraus zu erklären oder ist es erhellender, diese Figur als zwingende Notwendigkeit politischer Entwicklungen und Ströme zu verstehen, die sich notwendigerweise in genau solch einer Figur kanalisieren mussten?
So eine montierte Identität ist auch dem ICH der Jasonfigur in Müllers Verkommenes Ufer eingeschrieben: Von einer Maschinengewehrkugel in den Rücken getroffen, erlebt ein Soldat im Moment seines Todes eine Zeitreise durch sein Ich, die vom Eroberer und Kolonisator Jason bis zum jetzigen Moment heraufreicht: “ICH ein blutiger Fetzen eine Fahne Traumhölle die meinen Zufallsnamen trägt ICH Angst vor meinem Zufallsnamen”.

Ähnlich funktioniert der berühmte Eröffnungssatz der Hamletmaschine: “Ich war Hamlet”, und hier kommt noch die Ebene des Theatervorgangs hinzu, weil das auch schauspielerisch nicht mehr im Sinne einer Identifikation mit der Figur ausgesprochen werden kann.

Mit “Bildbeschreibung” kommt eine weitere Ebene hinzu: Das ist eine Textfläche, die zunächst ohne ICH auskommt, bis der Text allmählich beginnt, sich auf die Suche nach dem Ich zu machen. Das bekommt dann eine Sogwirkung in meine Richtung als Leser/Zuschauer, denn der Text findet keine Figur, keine Person, die er mir zur Identifikation anbieten könnte, bis der Text mich Leser/Zuschauer schließlich als Betrachter und Beschreiber des Bildes erfasst und mir sich selbst in den Mund legt. Ich kann mich also nicht mehr zurücklehnen, indem ich Figuren auf der Bühne identifiziere, fremd von mir, und ihnen die Verantwortung zuschreibe, sondern ich selbst werde vom Text als sein Verursacher und weiter auch als Verursacher des Bildes identifiziert und in die Verantwortung genommen. Das ist zunächst ein Vorgang der Vereinzelung, aber im Theater naturgemäß ein kollektive Erfahrung des Publikums. Dementsprechend kann man diesen Text mit einem Darsteller oder auch mit hundert inszenieren.

In “Und keine Hand. Zeit, Mörderin, alterslose” haben wir versucht, das “Ich” des Briefschreibers und das auktoriale “Ich” in “Traumtext”einer übergeordneten Figur als “objets trouvées” auf ihrem Kreisgang zu Verfügung zu stellen. Diese Figur könnte man am ehesten als die im Titel angesprochene “Zeit” bezeichnen, die sich durch die Texte mahlt, indem sie vergeht und dabei die Lebenszeit der verschiedenen Ichs im Vorübergehen beendet. Der Schlusspunkt, also der Tod der Text-Ichs, ist aber nicht das Ende, sie werden lediglich abgelegt und die Figur verlässt den durchlaufenen Raum und begibt sich in einen anderen, neuen Raum. Dieses “Nicht-mehr-Ich” weist natürlich auch nach vorne und nimmt uns mit in das was kommt, in das Neue. Die Theaterzeit ist beendet, die Lebenszeit geht weiter – das Danaergeschenk an Bord.

Eine zentrale Aufgabe des Theaters sah Müller in der Totenbeschwörung und dem “Dialog mit den Toten”. Hat diese Funktion für Ihre eigene Theaterpraxis Relevanz?

Es gibt im Wesentlichen zwei spirituelle Kulturtechniken, in denen sich Menschen mit dem Tod und den Toten auseinandersetzen: Religion und Kunst. Und unter den Kunstgattungen ist das Theater dazu natürlich in besonderer Weise prädestiniert, es ist ein Dialog mit den Toten, weil im Theater diejenigen, die da sind, mit denjenigen, die nicht da sind, in Kontakt kommen. Figuren in einem Theaterstück sind ja immer verstorbene, historische oder fiktive Personen, sie sind nicht mehr da oder waren noch nicht da (was im Prinzip dasselbe ist), ihr Land ist die Gegenwelt der Bühne, und dort werden sie von dafür ausgebildeten Spezialisten, den Schauspielern, verkörpert, und sie sprechen zu uns. In der klassischen Theaterarchitektur ist die Zone unter dem Portal, also die Linie, auf der sich der Vorhang öffnet und schließt, die spannendste. Das ist eine Grauzone, wo die beiden Welten aufeinandertreffen, ein Ufer für beide Seiten.

Das hat mich lange beschäftigt, dieser Vorgang des Austausches zwischen den Welten. Wenn Sie neue Ideen zu einem Stück entwickeln wollen, dann setzen Sie sich allein in das leere Zuschauerhaus und schauen Sie eine Weile in das Dunkel des leeren Bühnenhauses – da kommt vieles auf Sie zu, Dinge die in Ihnen lebendig sind, derer Sie vorher aber nicht habhaft werden konnten.
Seit ich mehr in anderen Räumen arbeite, wo sich Alle, Zuschauer und Darsteller, im selben Raum befinden, hat sich etwas geändert, die Arbeit findet hier sozusagen ganz grundsätzlich “auf der anderen Seite” statt. Damit meine ich den Aspekt der Transformation, der Verwandlung.

Um das wieder mit Heiner Müller in einen Kontext zu stellen: Nach seiner “Tristan und Isolde”-Inszenierung 1993 spricht Müller sehr präzise darüber, dass der Tod auf dem Theater für ihn nicht das Ende bedeutet, sondern die stärkste Form der Utopie: Im Tod wird nicht nur die eigene Auslöschung phantasiert, sondern im gleichen Atemzug die Verwandlung, die Erlösung und die Überwindung unserer Urangst vor Veränderung. Natürlich hat Müller hier auch den Gedanken des politischen Umsturzes im Sinn, andererseits muss man sagen, dass auch der spirituelle Aspekt von Kunst nicht genauer formuliert werden kann. Und daran wird klar, dass der Umgang mit den Toten, mit Tod und Spiritualität ein Gradmesser für die politische Haltung ist, für das eigene Verhältnis zur Veränderung.

Und darum geht es: um Verwandlung. Kunst ist der Raum, in dem die herrschenden Verhältnisse ihren Abdruck hinterlassen, gleichzeitig ist es der Raum, in dem die mögliche Verwandlung dieser Verhältnisse zum Ausdruck kommt. Seit ich das verstanden habe, brauche ich auch keine Dramaturgie mehr, die vorsichtig dort hinführt, sondern ich bin mitten drin, die Räume sind ineinander gekippt.

Inwiefern können Müllers Stücke als Kommentar auf die (Un-)Möglichkeit von politischem Engagement im Theater betrachtet werden?

Theater ist immer politisch engagiert. Die Frage ist, in welchem Grad es gelingt, sich nicht im Sinne der herrschenden Verhältnisse zu engagieren – das tun sehr viele, und sie wären empört, wenn man sie darauf aufmerksam machte, denn sie ahnen nichts davon, wie sehr die Institution, für die sie arbeiten, sie in die politische Pflicht nimmt –, sondern eigenes Engagement zu zeigen.
Müllers Texte reflektieren immer auf diesen Umstand, nicht im Sinne der Botschaft oder des Inhalts, sondern in ihrer unmittelbaren sinnlichen Form. Das ist das, wovon Simons spricht, ich muss mich zu diesen Texten verhalten, ich muss im Sinne einer lebendigen Praxis etwas Neues, Anderes dafür finden, wie ich das auf die Bühne bringe, und meistens sind das Dinge, die in Konflikt mit den theaterüblichen Produktionsweisen und -verhältnissen geraten, und schon sind wir mitten in einem politischen Konflikt.

Was Sie und Müller zu verbinden scheint, ist der utopische Glaube, Theater sei im Stande, das historische “Kontinuum” zu sprengen oder, wie Sie es nennen, die Wirklichkeit unmöglich zu machen. Wie deuten Sie das – von Ihnen öfters zitierte – Müller-Motiv der “Lücke im System” (“Brief”, “Bildbeschreibung”)? Inwiefern sind sie beide sogenannte “konstruktive Defaitisten”?

Da muss man genau definieren, wovon die Rede ist. Der Glaube, dass Theater die politische Praxis verändern kann, ist selbst eine historische Erscheinung, das hat auch Müller gesehen und erlebt, ein Dokument dafür ist etwa “Traumtext” aus dem Jahr 1995. Ich bin eine Generation später geboren und habe einen solchen Glauben auch nie geteilt. Ich denke aber auch nicht, dass es so etwas wie ein historisches Kontinuum gibt, beobachten lassen sich vielmehr systemische Phasen und bestimmte Bruchlinien, in denen unterschiedliche Manifestationsweisen von Macht sichtbar werden, so wie Michel Foucault das in seinem Werk beschreibt. Parallel dazu gibt es aber auch dieses andere große Thema, das sich genauso durch die Geschichte zieht: der Gedanke von der Freiheit und Gleichheit des Menschen.

Wenn Sie so wollen, stehen diese beiden Diskurse naturgemäß im Widerspruch: Das Ziel der Macht ist es, den Menschen auf eine Weise zu formen, sein Bild so zu definieren, dass er entsprechend verfügbar ist. Diktaturen tun das mit nackter Gewalt, Hinrichtung und Terror; andere politische Systeme nutzen dafür viel feinnervigere, subkutane Strukturen oder auch Ausschlussverfahren: Das antike Athen gab sich die Demokratie, war aber gleichzeitig ein Gemeinwesen, das auf Sklaverei aufgebaut war, weil Sklaven und Barbaren eben nicht in die Definition des hellenistischen Menschenbildes miteingeschlossen waren. Fakt ist, dass Freiheit und Gleichheit auch heute noch eine Utopie darstellen, vor allem seit klar wurde, dass unsere westliche Zivilisation auf der Ausbeutung der Dritten Welt aufbaut, bzw. dass die Ausbreitung dieser unserer Kultur andere Kulturen bedroht und auslöscht, ohne dass diese in den Genuss derselben Freiheit kämen, die wir auf unserem Wappen führen.

Und ich sage absichtlich Wappen, denn ein Wappen bringt Machtanspruch und in einem Symbol oder Zeichen fest und starr gewordene Selbstdefinition zum Ausdruck. Müller nennt das im “Brief” den “Terror der einsetzt, wenn Praxis theoretisch wird, wenn Geschichte nach dem Buch(staben) gemacht wird”. Damit ist gemeint, dass jegliche Gesellschaft gegenüber anderen diktatorische Züge annimmt, wenn sie einmal ihre für sich selbst errungene Unabhängigkeit zum Gesetz macht. Das ist der Fluch der Gesetze: Einmal erstarrt, wird der Gesetzeskanon zur Tatwaffe.

Auch hier geht es also wieder um Veränderung, Verwandlung, und je größer der Druck auf den Einzelnen wird, desto stärker ist die Notwendigkeit – noth-wendig heißt das bei Nietzsche.

“Wirklichkeit unmöglich zu machen” ist auch ein Zitat von Heiner Müller, es stammt aus seiner Mühlheimer Rede 1979 und lautet vollständig: “Am Verschwinden des Menschen arbeiten viele der besten Gehirne und riesige Industrien. Der Konsum ist die Einübung der Masse in diesen Vorgang, jede Ware eine Waffe, jeder Supermarkt ein Trainingscamp. Das erhellt die Notwendigkeit der Kunst als Mittel, Wirklichkeit unmöglich zu machen.” Ich ergänze das gerne mit folgendem anderen Zitat aus “Mich interessiert der Fall Althusser …” (1981): “Ich sehe da eine Möglichkeit: das Theater zu benutzen, um Phantasieräume zu produzieren, Freiräume für Phantasie – gegen diesen Imperialismus der Besetzung von Phantasie und der Abtötung von Phantasie durch die vorfabrizierten Klischees und Standards der Medien. Ich meine, das ist eine primäre politische Aufgabe, auch wenn die Inhalte überhaupt nichts mit politischen Gegebenheiten zu tun haben.”

Nun könnte man sagen, selten hätte sich Müller unpolitischer geäußert, in Wahrheit ist das aber eben genau der Moment, in dem er formuliert, was heute im Ausdruck “Humankapital” zum Ausdruck kommt: die absolute Unterordnung des Einzelnen in einer Masse, die einzig dem Wirtschaftswachstum dient. Und das Ungeheure daran ist, dass die Macht, die dafür sorgt, dass das fortschreitet, nicht mehr außerhalb von uns lokalisierbar ist, das hat sich in jedem Einzelnen von uns eingenistet, und wird von jedem Einzelnen in einem systemischen Zusammenspiel auch ausgeübt.

Um nun auf Ihre Frage zu antworten: diese perfekte Maschine ist entstanden infolge einer Perfektionierung des humanistischen Gedankens, allerdings in seiner pervertierten Form: Es ist unser globales Ziel, dass der Mensch gleich sei – in seiner Erscheinung als Konsument. Nicht als Konsument zu leben, ist ausgeschlossen. Dieser Vorgang beruht also auf der Perfektionierung eines Systems, einzige Abhilfe wäre eine “Lücke im System”. Die Annahme, dass systemimmanente Verbesserungen ein System ändern können, hat sich als falsch erwiesen, es wird dadurch lediglich rigider und repressiver, frei nach Wittgenstein gilt: Die Lösung eines Problems liegt niemals innerhalb der Logik dieses Problems, sondern außerhalb dieser Logik.

In diesem Sinne geht es nicht darum, mit Theater die historische Wirklichkeit zu verändern, oder die Historie umzudeuten, sondern auf der Bühne, ganz konkret, in der Gestalt einer Aufführung, etwas darzustellen, was außerhalb des Kontinuums unserer alltäglich eingeübten Wahrnehmung liegt, so wie eben etwa auch der Traum das tut. Das heißt heute für mich “Wirklichkeit unmöglich zu machen”, und das ist der Ort des Theaters.

Die meisten Theater stehen allerdings woanders, und deswegen hat das Theater heute auch so eine marginale Bedeutung.

Wie deuten Sie folgendes Zitat aus Müllers “Brief” – und inwiefern trifft es auch auf Ihre eigene Theaterpraxis zu: “Das Theater kann sein Gedächtnis für die Wirklichkeit nur wieder finden, wenn es sein Publikum vergisst. Der Beitrag des Schauspielers zur Emanzipation des Zuschauers ist seine Emanzipation vom Zuschauer.”

Das ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie Müllers Texte explosiv über sich selbst und den anfänglichen Bezug hinauswachsen, befördert durch die ästhetische Offenheit der Sprache, die eine Notwendigkeit war, um eine mögliche Zensur zu unterlaufen. Gemeint ist Müllers Enttäuschung über die frühe Aufführungsgeschichte seines Stücks Philoktet, mit dem er sich ja in der DDR den Ausschluss aus dem Schriftstellerverband einhandelte. Konkret geht es um die Uraufführung in München, über die Müller – ebenfalls im “Brief” – befindet, dass sich da “drei blutige Clowns ihre Weltanschauung um die Ohren schlagen”, was in weiterer Folge dazu führte, dass das Stück im Westen als nihilistisches Drama der Enttäuschung wahrgenommen wurde, während im Osten eine starr, theoretisch und museal gewordene Brechttradition eine Aufführung weiter verhinderte. Und dann, 1983, endlich Dimiter Gotscheffs Aufführung in Sofia, die ihn begeisterte – weil sie dem Stück gemäß mit aller Aufführungspraxis brach – und zum Scheiben des “Brief an Mitko Gotscheff” veranlasste.

Müllers Befund: Die Theater und ihr Publikum haben in völliger Selbstvergessenheit den Bezug zu realen Entwicklungen verloren, huldigen einer überkommenen Doktrin oder einem snobistischen, zahnlosen “anything goes” und sind – im Westen wie im Osten – aus politischen Gründen nicht gewillt, sich an die Wirklichkeit zu erinnern. An die Wirklichkeit des Kalten Krieges. Folgerung: es ist dringend notwendig, diese Zementierung von Sehgewohnheiten und Denktraditionen am Theater zu brechen. Aufgabe der Schauspieler ist es, ihre gewohnte Aufgabe in diesem Versteinerungsprozess abzulegen und neue, eigene Wege zu beschreiten.

Heute liest sich dieser Befund erschreckend neu. Es gibt im wesentlichen zwei Möglichkeiten: Entweder du schließt dich dem neuen Konservativismus der großen Häuser an, wo wieder gepflegtes Sprechtheater ohne Ecken und Kanten produziert wird, oder der global standardisierten Festival-Ästhetik der sogenannten “neuen Formate”: zynische Soap-Doku-Lecture-Busfahrt-Video-Privat-Spaß-Shows.

Beide Bereiche sind politisch engagiert – sie sind engagiert worden, und zwar von der Politik des Wirtschaftswachstums qua Unterhaltungsindustrie und haben ihre Wirklichkeit vergessen: eine Wirklichkeit, in der die Beteiligten selbst als Menschen an ihrem eigenen Verschwinden arbeiten.

Das spürt man an der Angst der Darsteller vor den Sehgewohnheiten des Publikums, vor den Medien, davor “nicht gut anzukommen” und keine” Karriere zu machen” – also keinen Fehltritt wagen, das große Auge bedienen. Und man spürt es an der Angst der Zuschauer, Angst etwas zu erleben, was sie mit sich selbst allein lässt, Angst vor der Stille, Angst vor den eigenen Gedanken, Angst vor Schmerzen.

Diesen doppelten Druck verspüren Sie, wenn Sie heute Theater machen. Um sich dennoch der Arbeit am eigenen Verschwinden zu verweigern, dafür ist Müllers Befund das richtige Rezept: sich an die Wirklichkeit erinnern, das Publikum vergessen, sich vom Zuschauer emanzipieren, und ich füge hinzu: für niemanden mehr spielen. Die Energie einer Arbeit gewinnt dann befreiende Kraft, wenn ich als Zuschauer spüre, dass die Darsteller nicht für mich spielen, ich habe keine Macht mehr über sie, sie sind an meiner Macht nicht mehr interessiert, ich kann die Aufführung nicht mehr “zurecht-schauen”, sie läuft nach ihren eigenen Gesetzen ab, ihre Form gehorcht mir nicht – nur dann komme ich nicht gedemütigt aus dem Theater, weil ich erlebt habe, dass da Menschen auf sich selbst und auf ihrem Recht auf Verwandlung beharren.

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