Nov 2013

Christine Cosentino

Christoph Heins Roman Weiskerns Nachlass : Angsttraum, Wunschtraum oder beides?

Im Jahre 2011 veröffentlichte Christoph Hein seinen Gesellschaftsroman – so der Klappentext – Weiskerns Nachlass[1], einen Roman über einen in eine Sackgasse geratenen Akademiker an der Leipziger Universität. Ein Jahr später erhielt er für dieses Werk den Uwe-Johnson-Preis. Die Jury begründete die Verleihung an den Autor mit seinem gesellschaftskritischen Anspruch von Literatur. Der Roman spiele konsequent durch, wie trügerisch soziale Sicherheit in der Gegenwart sein könne. Dabei schildere der Autor den Abstieg nicht in den Grenzbereichen der Gesellschaft, sondern in ihrer Mitte. Wie bei Uwe Johnson werde in diesem Roman offenbar, “auf welche Weise der Einzelne in die gesellschaftlichen Zeitläufe hinein gerät und zu ihrem Spielball wird.”[2] Der Leser erwartet – sollte er mit der Einschätzung der Jury vertraut sein – einen auf negativen Tonlagen konzipierten Gesellschaftsroman. Die Kritik, durchaus berechtigt, sah es entsprechend. Von einem “zutiefst pessimistischen Roman”[3] war u.a. die Rede, von “scharfer Gesellschaftskritik”[4], “von einem hervorragend recherchierten, bitterbösen Zustandsbericht”[5], einem “zutiefst pessimistischen Porträt der Zeit”[6] oder “einem pessimistischen Buch. Es verschließt sich jeder Lösung.”[7] Allerdings meldeten sich auch Stimmen, die auf die für Hein typische Struktur der Offenheit verwiesen, auf verdeckte Sinnebenen, die dem Leser intensive Bedeutungsprojektionen abverlangen. So hieß es u.a.: “Dem Leser ist es überlassen, sich auf das offene Ende des Romans seinen Reim zu machen”[8], also einen/keinen optimistischen Akzent zu setzen.
In Diskussionen über die Vieldimensionalität und Offenheit von Heins Texten bzw. Stil gehen Kritiker vorrangig von dem Gespräch aus, das er im Jahre 1986 mit Krzysztof Jachimszak führte[9]. Hier lehnte er jegliche moralische Instanz ab und hob hervor, “er sei kein Moralist, sondern ein Chronist […], der ohne Hass und Eifer darüber berichtet, was er zu sehen bekommt. [Er erzähle immer] sehr distanziert, oft im Protokollton, mit ganz lapidaren Sätzen, die meistens Feststellungen sind.”(51) Im Jahre 2011, in Bezug auf sein bis dato letztes Werk, Weiskerns Nachlass, wiederholte Hein noch einmal, dass sich an seiner Poetik seismographischen Aufzeigens, aber nicht Eingreifens nichts geändert habe: “Ich kann nur registrieren und so genau als möglich beschreiben.”[10] Hein distanziert sich vom Text und lässt diesen für sich selbst sprechen. Er forderte allerdings emphatisch einen “aktiven Leser, der die Dinge, wo ich aufhöre zu sprechen oder nur wenig mitteile, um ihm einen Freiraum zu lassen, für seine Erfahrungen, auch zu Ende führen kann […] Jeder Leser liest anders […] Man liest gemäß seiner Erfahrung.”[11] Die vielen Leerstellen, das Ungesagte, der Untertext, der nicht zu Ende geführte Gedanke sowie umfangreiche wie mehrdeutige Symbole sind die Grundpfeiler einer Poetik des dialogischen Sprechens. Auch für das neue Werk Weiskerns Nachlass gilt das dialogische Prinzip. Hierzu der Kommentar eines Kritikers, der die unterschiedlichen Erfahrungsbereiche des Lesers hervorhebt: “Es gehört zu den großen Stärken des Romans von Christoph Hein, dass man nicht sagen kann, ob das [Ende] eher deprimierend oder tröstlich ist.”[12] Aus welchen Assoziationsbereichen sich allerdings diese schwankenden Interpretationsebenen ableiten lassen, wurde nicht näher erwähnt. Zu untersuchen wären folglich die Textstrategien, in denen Ambivalenzen oder Mehrdeutigkeiten angelegt sind.
Der vorrangig im Präsens geschriebene Roman besteht aus 21 Kapiteln, von denen das erste und das letzte zyklisch ineinandergleiten. Im ersten Kapitel befindet sich der Dozent Rüdiger Stolzenburg im Flugzeug auf einer Reise nach Basel, wo er einen Vortrag halten soll. Aus dem Fenster blickend, gerät er in Panik, denn er glaubt zu sehen, dass die Propeller des Flugzeugs ausfallen. Dieselbe Paniksituation wiederholt sich am Ende der Handlung, jedenfalls auf den ersten Blick, bis der Leser beim zweiten Lesen subtile Unterschiede entdeckt. Treffend formuliert es der Kritiker Christian Metz: “Was wie eine unscheinbare Flugzeugepisode wirkt, enthält in Wahrheit, wie durch ein Brennglas gebündelt, die gesamte Welt und die Poetik des Romans” (Metz). Warum Angst und Absturzpanik? Stolzenburg ist Dozent mit halber Stelle, und auch ansonsten ist sein Leben nichts Halbes und nichts Ganzes. In den beiden Flugzeugepisoden finden sich Motive und Symbole, die den Roman leitmotivisch durchdringen, die Akzente setzen und auf Gefahrenzonen weisen. Dominierend ist das Motiv des Kreises, das im mythologischen Apparat eine gebrochene Symbolik aufweist. Es ist einmal Sinnbild für eine ideale Ordnung, für Ganzheit, für Gleichgewicht, Harmonie und Ausgewogenheit[13]; zum anderen weist ein Kreis “auf die eintönige Wiederkehr derselben Situation […]”, auf “die Einkreisung des Menschen durch das gesellschaftliche Milieu […]”[14], d.h. auf den Verlust der Entscheidungsfreiheit des Handlungsträgers. Eingebunden in dieses Bildfeld sind rotierende Flügel, Propeller, Windräder, zyklisch immer wieder neu durchgekaute Wiederholungen im Berufsleben. Weiterhin fällt neben der Kreissymbolik ein um Halbheiten kreisendes Assoziationsfeld auf, und da Stolzenburg ständig Gefahr läuft, in einem scheinbar nie enden wollenden Auf und Ab den festen Boden unter den Füßen zu verlieren, ist die Absturzangst in seinem Leben immer präsent; es fehlt daher nicht an Fall- und Sturzhelmmotivik. Eingebettet in die beiden Schlüsselkapitel, ins erste und letzte, ist die eigentliche Handlung, d.h. die Reflexionen des Rüdiger Stolzenburg über sein verfehltes “halbes Leben” im Prekariat der Universität Leipzig. Zu untersuchen wäre, ob oder auf welche Weise der gebeutelte Dozent sich in den gesellschaftlichen Zeitläufen verstrickt und zu ihrem Spielball wird, ob er den Verlockungen im Sumpf von Geld und Sex erliegt, Moral und Selbstrespekt verliert und zum verachtungswürdigen “kleinen Dozentenferkel” (W 318) wird.
An seinem 59. Geburtstag, also nach mehr als der Hälfte seines Lebens, erfährt Rüdiger Stolzenburg, der seit fünfzehn Jahren Dozent mit halber Stelle ist, dass ihm eine Beförderung zum akademischen Rat mit voller Stelle für immer versagt ist. Er hat ein lächerlich geringes Gehalt, “das kein Automechaniker akzeptieren würde,” (W 93) und verdient sich nebenbei mit Vorträgen oder Rezensionen noch etwas dazu, um sich über Wasser zu halten. Trotzdem hat er anfangs noch Illusionen, und einem ganz auf Profit getrimmten Finanzberater, der jeden Morgen um halb drei die Börsen Südostasiens prüft und damit bereits einen halben Arbeitstag hinter sich hat, erklärt er einmal: “Es macht mir Spaß, und meine Arbeit erscheint mir sinnvoll, gibt meinem Leben einen Sinn […] Ich würde gern mehr Geld verdienen, aber ich würde nie arbeiten, nur um Geld zu verdienen. Das wäre für mich die schiere Vergeudung von Lebenszeit” (W 100). Doch die Illusionen schleifen sich ab. Wird er Verführungen gegenüber anfällig, was ihm das Leben an der Universität leichter machen würde? Wird er korrupt? Der Roman beleuchtet die Existenzängste des alternden Mannes, für den mit den entschwindenden sozialen Sicherheiten Frauen und nichts sagende, unverbindliche Verhältnisse immer wichtiger werden. Christoph Hein selbst kommentiert in einem Interview: “Auch in seinem Leben hat er [Stolzenburg] irgendwie nur eine halbe Stelle. Und er ahnt etwas vom Ende”[15], hat eine uneingestandene Angst vor dem Ende. Man kann das Thema auf eine Kurzformel bringen: “halbe Stelle, halbes Leben”; kurz: ein “Mann im Halbschatten”[16], oder, wie Christian Metz kommentiert: “Stolzenburg lebt in einer Welt des halbvollen Glases, ohne Aussicht auf Besserung” (Metz).
Als Kulturwissenschaftler an der Leipziger Universität wird Stolzenburg nicht gebraucht. Sein Fachgebiet bringt – so sein Institutsleiter – “kein Geld, wir haben keine Sponsoren, treiben viel zu wenig Drittmittel auf, wir gelten als Belastung” (W 19) bzw. als “Exoten, als ein Orchideenfach” (W 20). Stolzenburg lehrt desinteressierte, mit Halbheiten und Mittelmaß durchaus zufriedene Studenten, die nach Vollendung des Studiums selbst in die Arbeitslosigkeit oder ins Prekariat entlassen werden, sollten sie nicht aus bemittelten Familien kommen, die ihren studierenden Kindern weitaus mehr Finanzen zur Verfügung stellen, als Stolzenburg je zu träumen wagt. Die Leistungen der Studierenden sind generell miserabel, wie im Falle des reichen Studenten Hollerer, der abschreibt, kopiert, “ohne etwas zu begreifen und […] nur halbwegs passende Bausteine zu einem Thema zusammenstellt” (W 23). Stolzenburg reagiert illusionslos und zynisch, wartet in seinen Vorlesungen nun selbst in zyklenhafter Folge mit Wiederholungen des Immergleichen, mit “unendlich oft durchgekauten Gedanken auf, […] mit Wiederholungen, den Abklatsch von geistiger Arbeit, […] Duplikaten des Denkens” (W 31).
Doch Stolzenburg kompensiert. Als er im Wahn im Flugzeug glaubt, dass die kreisenden Propeller ausgesetzt haben, die Maschine aber nicht abstürzt, sinniert er: “Die Maschine muss über eine unglaubliche Kompensationsfähigkeit verfügen, die den einseitig vollständigen Ausfall aufzuheben oder auszugleichen vermag” (W 11). Ergo, er nimmt seine Gesundheit sehr ernst und entwickelt im täglichen Leben seine eigene Überlebenstaktik, z.B. immer einen Fahrradhelm zu tragen, da er in einem Alter ist, “in dem man selbst den kleinsten Sturz nicht folgenlos übersteht.” (W 15). Und so wird dann der schützende Sturzhelm leitmotivisch zum Zeichen seiner Ängste im Auf and Ab seines unsteten Lebens. Christian Metz fasst es überzeugend: “Der Helm, als Pendant zum Sicherheitsgurt im Flugzeug, avanciert in Heins Roman zum Symbol aller ängstlichen Bewahrungsstrategien” (Metz).
Was ihm im akademischen Bereich nicht vergönnt ist, kompensiert er im Privatleben außerhalb der Universität mit der Eroberung von Frauen. Doch Liebe empfindet er nicht, seine Freundinnen sind Sexobjekte, verlässliche Partnerinnen für die Bewältigung von immer wieder neuem Frust in seiner prekären Lage. Seine Beziehungen sind “halbe” Beziehungen: “Ein paar Freundlichkeiten, ein angenehmes Beisammensein, etwas Sex, Nähe auf Verlangen und stets ein Anrecht auf ausreichende Distanz” (W 43-44), oder – so seine Lebensphilosophie – “eine Beziehung ist eine Freundschaft mit Bettlaken, nicht mehr, allerdings auch nicht weniger” (W 44). Hier hat er ebenfalls Strategien entwickelt: er genießt die Befriedigung, sich noch “im Halbschlaf” gleich an den richtigen Namen der Bettpartnerin zu erinnern. Und auch im akademischen Bereich fehlt es nicht an Verlockendem, was den Sex anbetrifft. Die “Fleischbeschau” der Studentinnen des ersten Semesters hat es ihm angetan, und es fehlt nicht an verliebten Frauen in seinen Seminaren, auch nicht an kalkulierenden Angeboten, für akademische Hilfe, etwa für die Anfertigung einer Magisterarbeit, als Bezahlung Sex anzubieten, Angebote, die ihm ein Gefühl moralischer Überlegenheit geben, weil er sie noch nicht akzeptiert hat. Stolzenburg könnte man – wie Lothar Müller es einschätzt – als eingefleischten Junggesellen, als “Hagestolz mit Absturzangst”[17] bezeichnen, wäre da nicht Henriette, eine Frau mit moralischen Ansprüchen, die ihn interessiert, die es aber durchaus nicht eilig hat, sich mit ihm zu liieren. Sein “halbes Leben” mit Frauen entspricht nicht ihren Vorstellungen einer sinnvollen Beziehung.
Absturzangst und Unruhe in seinem prekären Leben sind immer präsent, und es gibt Warnsymbole. Bereits im Flugzeug, will man es so deuten, suggerierten “die schwirrenden Kreise, die rotierenden Flügel der Propeller ” (W 8), die Wiederholung immer wieder neuer Misslichkeiten. Ein schreiendes Kind auf der Straße verliert ein Windrad, und Stolzenburg nimmt diesen symbolträchtigen Gegenstand an sich und befestigt ihn auf seinem Balkon: “Das Plastikkreuz mit den bunten Streifen dreht sich langsam im Wind, die Farbstreifen zeichnen sich nun als rotierende, regenbogenfarbene und ineinander verlaufende Kreise ab” (W 74). Das Unglück lässt nicht auf sich warten. Er bekommt einen Brief vom Finanzamt mit einer lächerlich hohen Steuernachforderung, weil vermutet wird, dass er Zusatzverdienste verschwiegen hat. Wegen eines früheren Berechnungsfehlers von Seiten des Finanzamtes schuldet Stolzenburg nun absurderweise dem Staat 11.440 Euros und 74 Cents. Ein gewiefter Steuerberater hilft ihm, die Steuerschuld zu halbieren. Stolzenburg, der keine Rücklagen hat, muss irgendwie “weiterwursteln” (von Sternburg). Doch die Misslichkeiten enden nicht. Eine Bande etwa zwölfjähriger Mädchen greift ihn an. Die Kinder umzingeln ihn, und “als er das Fahrrad aus dem Kreis schiebt” (W 114), schlägt ihn die Anführerin mit einer Eisenkette brutal zusammen; er stürzt und verletzt sich am Kopf. Das Windrad auf dem Balkon, ein schlechtes Omen, greift überschattend erneut in die Handlung, denn die aktuelle Freundin entdeckt es und reagiert mit Eifersucht.
Stolzenburgs “halbes” Leben wäre unerträglich, gäbe es nicht eine große Leidenschaft in seinem Leben: sein Forschungsprojekt über den im 18. Jahrhundert in Wien lebenden Kartographen, Schauspieler, Schriftsteller und Librettisten Mozarts, Friedrich Wilhelm Weiskern (1711-1768). Den Nachlass Weiskerns in einer Gesamtausgabe zu veröffentlichen, ist sein Traum, ein hoffnungsloses, aussichtsloses Unterfangen, weil die Universitäten und Verlage unter Spardruck leiden. Christoph Hein äußert sich über seine Wahl dieser entlegenen literarischen Figur:

Als ich an meinem Roman saß und mir klar wurde, dass
Stolzenburg einen Forschungsgegenstand braucht, habe
ich eine etwas entlegene Figur gesucht, die zu ihrer Zeit
wichtig war und heute vergessen ist. Ich bin auf drei, vier
Namen gestoßen, Friedrich Wilhelm Weiskern ist übrig
geblieben […] Ein sächsischer Komödiant, der in Wien
das Burgtheater erfindet, das gefiel mir. Weiskern war zu
seiner Zeit ein sehr erfolgreicher Schauspieler und
Stegreifautor, Maria Theresia schätzte seine kleinen,
unterhaltenden Sketche. Er schrieb für den jungen Mozart
das Libretto zu “Bastien und Bastienne”. Die anderen Arbeiten
sind nicht sehr originär (Grossmann und Kasselt).

Weiskern und sein Nachlass sind nicht vermarktbar im akademischen Prekariat, er ist kein “Leuchtturm” in der Kulturwissenschaft, für den es sich lohnte, Geld zu investieren. Stolzenburgs Versuche, einen Verleger für sein Forschungsprojekt zu finden, schlagen fehl, und fast geht er einem Fälscher in die Falle, der bisher unbekanntes Material, unentdeckte Autographen aus dem Nachlass seines verehrten Autors zum Verkauf anbietet. Ein teuflisch verlockendes Angebot wird als Schwindel entlarvt; doch damit ist der Teufel nicht gebannt. Der reiche Onkel eines Studenten, der über eine echte Weiskernsche Handschriftensammlung verfügt, ist willens, Stolzenburg diese zur Verfügung zu stellen, allerdings über eine Drittperson, den korrupten Studenten Hollerer, der als Gegenleistung das Anfertigen der Diplomarbeit anfordert. Stolzenburg ist empört, doch die lockende Autographensammlung, die zu einer Veröffentlichung führen könnte, spukt ihm im Kopf. Bestechung und Korruption nun auch in Stolzenburgs eigener Karriere? Er sieht ein Warnsignal: Als er abends nach Hause kommt, liegt “direkt neben dem Auto der kleine Kunststoffpropeller, der in seinem Blumenkasten steckte, er ist schmutzig und zerrissen” (W 292) wie Stolzenburg selbst, der nicht weiß, ob er den teuflischen Verlockungen widerstehen wird oder zum betrogenen Betrüger mutiert.
Ist Stolzenburg als Opfer einer prekären Situation zu betrachten? Er ist – so meint Carsten Germis – “ein prototypisches Mitglied des akademischen Prekariats.”[18] Seine erniedrigende Situation macht ihn verbittert, lustlos und illusionslos, doch er empört sich nicht, ist passiv und sucht unter Kollegen keine Solidarisierung. In seinem unmittelbaren Universitätsbereich leben die meisten so. Christoph Hein, befragt, ob das Präkariat ein deutsches Phänomen sei, fasst es lakonisch:

Ich habe es vor dreißig Jahren zum ersten Mal in den USA
erlebt, ein Fach als “Orchideenkunde” einfach streichen,
weil es nicht genügend Bewerber gibt und kein Geld bringt.
Inzwischen sind wir selbst ohne Weiteres bereit, Unverzichtbares
abzuwickeln (Grossmann und Kasselt).

Statt Stolzenburg einseitig als Opfer darzustellen, geht Hein auf Distanz und präsentiert eine komplexe Figur mit Widersprüchen, die er beobachtet, darstellt, aber nicht wertet. Betrug findet nicht nur an Stolzenburg statt, in seiner Sehnsucht nach Sicherheit flirtet er selbst mit unsauberen Machenschaften, Täuschungen und Betrügereien. Ist er ein “Antiheld” (von Alemann), ein “Jedermann” (von Sternburg), ein “Held mit Skrupeln, Scharfsinn und Rückrat, [der] zur Lichtgestalt im Strudel unserer Zeit” (Schreier) wird, oder ist er gar ein “Widerling” (Metz)? Charakterbildende Elemente aus allen vier Bereichen sind durchweg zu erkennen. Stolzenburg ist, wie Hein selbst definiert, “ein gebrochener Held mit sympathischen und unsympathischen Zügen” (Grossmann und Kasselt). Die Frage ist, ob sich von den Belastungen seiner existenziellen Situation so völlig erdrückt fühlt, dass er in seiner Verzweiflung den finanziellen Versuchungen nicht mehr trotzen kann und von seinen moralischen Prinzipien tatsächlich abrückt. Wie tief kann ein Mensch sinken, der einerseits von Skrupeln und Scham gequält wird, andererseits jedoch zur Überheblichkeit und Verachtung neigt? Hält er sein moralisches Gleichgewicht? Die Antwort ist dem Leser überlassen.
Die die Handlung einrahmenden, kunstvoll miteinander verquickten Flugzeugepisoden könnten Aufschluss geben in diesem “Roman ohne Anfang und Ende, der sich im Kreis dreht wie das Hamsterrad im Leben seines Protagonisten. Oder wie das Windrädchen, das ihm – sinnigerweise – ein brüllendes Kleinkind vor die Nase wirft” (von Alemann).
Zu erinnern ist an die Bemerkungen, die zu Anfang dieses Artikels über die Kreis-Symbolik gemacht wurden. Der Kreis, so hieß es, fungiert einmal im Sinne von unendlich scheinender Wiederholung von Misslichkeiten, andererseits symbolisiert er ein breites Bedeutungsfeld positiver Werte, darunter Gleichgewicht, Harmonie und Ausgewogenheit. Die beiden Flugzeugepisoden sind dieselben, aber sie werden, sieht man genau hin, anders beschrieben und unterscheiden sich in der Länge: die erste Episode ist vier und eine halbe Seite lang, die letzte dreizehn Seiten. Am Anfang sitzt Stolzenburg in einem Billigflieger nach Basel, um dort einen schlecht bezahlten Vortrag zu halten. Beim Start sieht er aus dem Fenster und denkt an die Studentin Lilly, dann an Henriette, die noch nicht zu den Eroberungen des routinierten Liebhabers gehört. Er denkt an sein Geldinstitut und einen Überbrückungskredit, dann an den Verleger, der sich bisher geweigert hat, sein Weiskern-Forschungsprojekt zu veröffentlichen. Für seine Konfliktsituation scheint es keine Lösung zu geben. Die Chancen stehen generell schlecht. Er erstarrt. Derealisierungsgefühle setzen ein: er hat einen Angstanfall und sieht sein eigenes Psychogramm im Stillstand der kreisenden Propeller gespiegelt. Mit wenigen Worten beschreibt Hein die klinischen Symptome einer Panikattacke[19], vorrangig Starre, Atemnot, Disassoziation, Mund- und Halstrockenheit, Todesangst. Stolzenburg hat in diesem Alptraum die Kontrolle über sein Leben verloren. Er bleibt in der Bewegungslosigkeit, im Angsttraum stecken. Anders die letzte Szene.
Auch in dieser letzten Flugzeugepisode schaut Stolzenburg aus dem Fenster, denkt an Frauen, dann an Weiskerns Nachlass, sein Lebenswerk. Langsam gleitet er dann in einen angenehmen Wachtraum, in dem es keine unüberwindlichen Hürden mehr gibt. Sein Forschungsprojekt ist durchaus vermarktbar, würde auf der Buchmesse und in den Zeitungen Aufsehen erregen. Doch dann erstarrt er, sieht, dass einer der Propeller aussetzt, und sein Wachtraum wird zum Alptraum: “Ihn erfasst Panik, Todesangst. Sein Mund ist wie ausgetrocknet. Er atmet heftig, er schwitzt. Das könnte das Ende sein, sagt er sich, das ist das Ende. Er will schreien, er öffnet den Mund, aber er bringt keinen Ton heraus” (W 312). Dann erstarrt er erneut, denn beim zweiten Blick auf die Propeller sieht er, dass alles eine optische Täuschung war, “eine Fantasie seines überanspruchten Gehirns” (W 312). Er lässt sich ein Glas Wein bringen und seine Gedanken umkreisen, wie in der ersten Episode, die Konfliktzonen in seinem Leben. Doch er reagiert gelassener, nüchterner, aber auch zynischer als in der ersten Szene; er spekuliert, wie er den verschiedenen Versuchungen in seinem “halben Leben” begegnen könnte. Wird er schmutzige Geschäfte mit dem Studenten Hollerer machen, um an die Autographensammlung heranzukommen? “Er hat es bisher geschafft, einigermaßen sauber durch die Welt zu kommen, er will nicht auf seine alten Tage eine dubiose Geschichte anfangen” (W 317) Und so schwankt er hin und her zwischen den Polen “einerseits” und “andererseits”, erwägt Optionen und kommt zu keiner Lösung. Und doch zielen seine Gedanken in dieser Situation der Haltlosigkeit am Ende der Flugzeugepisode auf einen festen Punkt in einem Bereich des Gleichgewichts, der Ausgewogenheit und der Stabilisierung, einem privaten Bereich, in dem es keine demoralisierenden Konzessionen gibt:

Die Billardrunde wird er nicht aufgeben, mit diesen Freunden
ist er bereits eine Ewigkeit zusammen, die Runde hat länger
gehalten als seine Ehe, er gehörte dazu, noch bevor er an der
Uni anfing, und dort hat er keine halbe Stellung, dort zählt er
zu den alten Hasen, die jeden neuen Bewerber misstrauisch
und genau prüfen (W 319).

Stolzenburgs Lebensperspektive muss letztlich in prekärer Offenheit bleiben. Hein präsentiert einen Ausschnitt aus der Gesellschaft, der nicht den Randzonen entnommen ist, trotzdem aber demonstriert, wie trügerisch soziale Sicherheiten in prekären Arbeitsverhältnissen generell sind. Die Ökonomisierung der Gesellschaft hat längst auch die Universitäten ergriffen. Ob dieser Gesellschaftsausschnitt in der Tat völlig der deutschen Wirklichkeit entspricht oder eher als warnender Zerrspiegel zu begreifen ist, bleibt der Meinung des Lesers überlassen. Hein selbst bekundet im Zeitalter des Prekariats gedämpften Optimismus: “Stolzenburg hat einen Angsttraum und einen Wunschtraum. Ich will dem Mann eine Chance geben” (Grossmann und Kasselt). In einem anderen Interview fasst er es vorsichtiger:

Ich bin Humanist und ein bodenloser Optimist. Die Katastrophe,
die auf Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen lauert, wenn
sie in die Rente kommen, spare ich aus. Das Leben für Stolzenburg
wird noch viel härter werden. Aber da sehen Sie meinen optimistischen
Blick auf die Welt, dass ich rechtzeitig den Vorhang schließe (Reif).

Christine Cosentino


Endnoten

1 Christoph Hein, Weiskerns Nachlass. Roman (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2011). Abgekürzt mit der Sigle W für Zitate aus diesem Roman.
2 News vom Freitag, 20. Juli 2012; www.3sat.de › Sendungen A-Z
3 Judith von Sternburg, “Wir Weiterwurstler. Böse Aussichten: Christoph Heins Geisteswissenschaftler-Roman ‘Weiskerns Nachlass”, Frankfurter Rundschau 20/21. August 2011.
4 Christian Metz, “Das Leben ist ein Billigflug”, Frankfurter Allgemeine 28.August, 2011.
5 Katrin Hillgruber, “Das Verwelken der Nelken”, Tagesspiegel 23. August 2011.
6 news.de/dpa 23. August 2011.
7 Adelbert Reif, “Halbe Stelle, halbes Leben. Interview”, der Standard.at 19. August 2011.
8 Irmtraud Gutschke, “In prekärer Lage, ” Neues Deutschland 22. August 2011.
9 Christoph Hein, “’Wir werden es lernen müssen, mit unserer Vergangenheit zu leben’. Gespräch mit Krzysztof Jachimczak”, in: Texte, Daten, Bilder. Hrsg. v. Lothar Baier (Frankfurt/M.: Sammlung Luchterhand 1990). Seitenzahlen im Text.
10 Karin Grossmann und Rainer Kasselt: “Gespräch mit Christoph Hein. Es ist netter, wenn man hört: Das wird schon wieder.” Sächsische Zeitung 17./18. September 2011.
11 Hein, “Wir werden es lernen müssen…”, 54.
12 “Elend und Kompensation”, Freitag 12. Oktober 2012.
13 “Online Magazin Psychologie Persönlich”, http://www.ppt.dtpnet.de/mandala/kreis.htm
14 Horst S. und Ingrid Daemmrich, Themen und Motive in der Literatur (Tübingen: Francke Verlag, 1987). Stichwort “Weg”, S. 343.
15 Adelbert Reif, “Halbe Stelle, halbes Leben. Interview ”, Der Standard.at 19. August 2011.
16 Wolfgang Schreyer, “Held im Halbschatten”, Ossietzky Zeitwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft 5 (3. März 2012).
17 Lothar Müller, “Hagestolz mit Absturzangst”, Süddeutsche Zeitung 25. August 2011.
18 Carsten Germis, “Weisskerns Nachlass. Christoph Hein,” Belletristik-Couch.de Oktober 2011.
19 Stichwort “Panikattacke Symptome”, Wikipedia.

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