Nov 2013

Jay Rosellini

Causa Fritzl = Causa Austria?  Anmerkungen zu einigen journalistischen und literarischen Interventionen 

Wer in unserer bewegten Zeit regelmäßig eine Tageszeitung liest, die Fernsehnachrichten einschaltet (oder sich mit den Mitteln des digitalen Universums informiert), stößt regelmäßig auf Meldungen über Naturkatastrophen oder Gräueltaten von diesem oder jenem Kriegsschauplatz. Dabei fällt es nicht wenigen sicher schwer, sich vorzustellen, was weit weg oder in großem Maßstab geschieht. Es verhält sich allerdings anders, wenn das Unbegreifliche sozusagen im Mikrokosmus passiert. Was einzelne Menschen anderen Menschen antun, übt eine besondere Faszination aus, vielleicht deshalb, weil wir alle über einschlägige Erfahrungen auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen verfügen. Im Folgenden soll untersucht werden, wie die „Causa Fritzl“ (außerhalb von Österreich der „Fall Fritzl“) dargestellt, interpretiert und manipuliert wird.

Zunächst einmal muss der Fall kurz skizziert werden. Der verheiratete österreichische Ingenieur Josef Fritzl (geb. 1935), Vater von sieben Kindern, betäubt seine jüngste Tochter Elisabeth (geb. 1966) Ende August 1984 und hält sie bis Ende April 2008 im umgebauten Keller seines Hauses in der Amstettener Ybbsstraße gefangen. Elisabeth wird immer wieder vergewaltigt und geschlagen. Sie gebärt sieben Kinder ohne ärztliche Hilfe im Keller (ein Baby stirbt kurz nach der Entbindung). Das Verschwinden der angeblich drogensüchtigen Tochter erklärt Fritzl als Flucht: Elisabeth sei einer abstrusen Sekte beigetreten. Drei der sog. „Kellerkinder“ werden von Fritzl und seiner Frau Rosemarie (die von den Zuständen im Keller nichts gewusst haben soll) als Pflegekinder großgezogen. Zur Befreiung kommt es, als die älteste Tochter im Keller erkrankt und fast im Sterben liegt. Josef Fritzl wird zu lebenslanger Haft in der Justizanstalt Stein (Krems/Niederösterreich) verurteilt. Nach Bekanntwerden des Falles ließen die ersten Reaktionen nicht lange auf sich warten. Neben den üblichen Sensationsmeldungen in der nationalen und internationalen Boulevardpresse[1] wurde man auf den Beitrag des britischen Germanisten Ritchie Robertson[2] aufmerksam. Aufgrund seiner langjährigen Studien konstruierte er für Fritzl eine literarische Ahnentafel, und zwar mit Bezug auf Autoren wie Adalbert Stifter („Turmalin“), Ferdinand Raimund (Der Alpenkönig und der Menschenfeind), Johann Nestroy (Eine Wohnung ist zu vermieten in der Stadt) und Elias Canetti (Die Blendung). Der Untertitel seines Essays ging jedoch weit über das Literarische hinaus und legte den Grundstein für eine Deutung, die den österreichischen ‚Nationalcharakter’ in den Mittelpunkt stellte: „Austrian politicians want to distance their country from the Fritzl case: literary historians find it harder.“ Er postulierte, die fiktiven Vorläufer verkörperten „some of the twisted energies at work in Austrian society”. Angesichts dessen war es nicht verwunderlich, dass er seine Bemerkungen mit einem Hinweis auf Elfriede Jelinek schloss, deren Roman Lust (1989) die Perversionen und Untaten eines ekelerregenden österreichischen Geschäftsmanns zum Thema hatte.

Am 1. Mai 2008 (nur wenige Tage nach der Befreiung also) erschien ein Essay mit dem Titel „Im Verlassenen“ auf Jelineks eigener Webseite (http://www.elfriedejelinek.com/). Der Anfang sollte verdeutlichen, dass der Fall Fritzl keine Aberration war: „Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält. Im noch viel kleineren Kellerverlies von Amstetten findet die Aufführung statt, täglich, nächtlich.“ Dieses Theater ist eine patriarchalische, diktatorische Hölle auf Erden, wo nur „das Wort des Vaters“ (bzw. im zumindest formell katholischen Österreich das Wort des „Heilige[n] Vater[s]“) Geltung habe.[3] Die Frau wird auf ihre Körperlichkeit reduziert; für sie gibt es nur die Opferrolle. (Dabei ist es bemerkenswert, dass das spezifische Opfer in diesem Fall, die Tochter Elisabeth, weder Mitleid noch Solidarität bekommt; sie fungiert in erster Linie als Indiz im Prozess gegen das Patriarchat.) Jelinek schreibt Österreich hier ein Attribut zu, das bei anderen Kommentatoren immer wieder vorkommen sollte, nämlich die Verdrängung und das Wegschauen („[…] es darf nichts hinausdringen, das ist das erste Gebot hier: Du sollst nicht merken.“). Die Fassade ist alles: „[…] Rufschädigung für Österreich, das wäre furchtbar.“ Auf diese Behauptung wird später zurückzukommen sein.

Bereits 2008 erschien ein Buch über den Fall Fritzl, und zwar in englischer Sprache. Der Autor Allan Hall, ein britischer Journalist und Buchautor, wählte den Titel Monster.[4] Dieser Titel scheint anzudeuten, dass die Psychopathie des Täters im Mittelpunkt stehen würde. Das ist aber nur teilweise der Fall. Im Einbandtext findet sich ein Hinweis auf „the extraordinary lengths he [Fritzl] went to in order to conceal his activities and the dark nature of his past in Nazi Austria“. Das ist nicht verwunderlich, da Hall nicht nur für Boulevardblätter wie Sun oder Daily Mirror[5] schreibt, sondern auch für die merkwürdige Internetzeitung The German Herald, auf dessen Homepage Folgendes steht: „This newspaper is a time machine, locked in around the time of two World Wars, one World Cup and a lost age when it was permissible to poke fun at Germans.”[6] Hall hatte schon im  Jahr 2007 ein Buch über die entführte und misshandelte Österreicherin Natascha Kampusch veröffentlicht.[7]

Die Leser von Monster (der Titel bezieht sich auf die Aussage Fritzls, er sei kein Monster) erfahren im „Foreword“, dass Fritzls Verbrechen eng mit dem sozio-kulturellen Kontext seines Heimatlandes zusammenhängen: Hall weist auf „grave flaws in the psyche of a people and its social and judicial structures“ hin und scheut sich nicht vor einem Gesamturteil:

„It has long been the Austrian habit to isolate unpleasantness, controversy, to compartmentalize it and file it away out of sight, while everyone gets back to the           comforting images of snow-capped mountains and apple strudel – the wholesome, positive images of a modern European Union state. But these days are gone: Josef Fritzl has ensured that there must be a reckoning with both past and present in Austria.” (xiv)

Hall verzichtet auf ein Quellenverzeichnis, aber dieses Urteil erinnert an die Bezeichnung “guilty victim.”[8] Wie zu erwarten, beginnt das Kapitel über Fritzls Kindheit und Jugend mit einer Aussage Hitlers zu seiner Bildungspolitik:  „[…] I want a brutal, domineering, fearless, cruel youth. […]“ (3)  Hall stellt sich allerdings nie die Frage, warum 99,9% der deutschen und österreichischen Männer des Jahrgangs 1935 keine brutalen Vergewaltiger ihrer Töchter wurden. Um seine These zu untermauern, stilisiert er die Kleinstadt Amstetten sogar zum „epicentre of […] Nazi tyranny,“ (13) und Fritzls Fähigkeit, sein finsteres Vorhaben durchzuführen, wird als „the triumph of Josef Fritzl’s will“ (49) beschrieben. Hall ist so darauf versessen, das Fortdauern des Nationalsozialismus zu geißeln, dass er die Aussagen seiner eigenen Zeugen ignoriert. Der Wiener Psychotherapeut Kurt Kletzer sagt zwar, „Fritzl’s youthful admiration for the Nazis stayed with him throughout his life, and […] and he may even have used it, in his own mind, as a justification for his actions”, aber er fügt (mit einem Hinweis auf Willy Brandt u.a.) hinzu: “Blaming the times is a way out of a manipulator, a man who refuses to take responsibility for his actions.” (84)[9] Solche Betrachtungen werden einfach beiseite gewischt, da es letzten Endes darum geht, ganz Österreich anzuklagen: “[…] Austria truly has never [meine Hervorhebung] had a reckoning with them [Nazis], and with its relationship to them.” (244) Niemand wird bestreiten, dass die Österreicher ziemlich spät mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit begannen, aber seit der Ära Vranitzky ist die Zeit des Schweigens vorbei.[10] Den politischen Beobachter Hall kann man allerspätestens dann nicht mehr ernst nehmen, wenn er zum Phänomen Jörg Haider behauptet: „Austrians never questioned him, but supported him in the face of world revulsion.“ (247) Außerhalb Kärntens macht man sich mit solchen Worten wahrhaftig keine Freunde.

Treten in Halls Monster mehrere Bösewichter auf, so gibt es auch eine Heldin, nämlich Elisabeth Fritzl. Während der langen Jahre des sexuellen Missbrauchs hat sie nicht nur für ihre Kinder gesorgt, sondern auch versucht, innerlich stark zu bleiben. Hall betont, dass sie das Schicksal von misshandelten Frauen auf der ganzen Welt teilte, wozu auch die Scham, die Selbstvorwürfe und das Schweigen gehörten.(68) Hier spricht der erfahrene Reporter, der sich für die Opfer sexueller Gewalt einsetzt. Leider kann er sich nicht darauf beschränken: Nachdem er beteuert hat, Österreich habe „no monopoly on horrific crimes“, kommt das große Aber: „Yet there is something special about Austria. It is a society wreathed in secrets and denial, especially in modern times. […] [T]here is something rotten at the heart of Austria.”(240) Das einzige ‘Lob’ (wenn man es so nennen will) aus der Feder Halls besteht darin, dass er zugibt, es gebe Österreicher, die sich gewisser problematischer „’psycho-cultural elements of their society’“ bewusst sind.(255) Nur einige Monate nach der Befreiung aus dem Amstettener Keller wurde bekannt, dass ein englischer Geschäftsmann fast drei Jahrzehnte lang seine beiden Töchter terrorisiert und vergewaltigt hatte. Der Richter im Sheffield Crown Court meinte: „Questions will inevitably be asked about what professionals, social and medical workers, have been doing for the last 20 years.”[11] Obwohl der Täter im Volksmund bald als “British Fritzl” galt, gab es keinen Vorschlag, die Mängel im ‘britischen Nationalcharakter’ zu untersuchen.[12]

Im Einbandtext zu I’m No Monster von den beiden Journalisten Stefanie Marsh und Bojan Pancevski[13] wird Österreich nur beiläufig erwähnt, aber die Einstellung dem Land gegenüber ist nicht weniger kritisch als bei Hall. Gleich am Anfang des „Foreword“ wird eine Breitseite auf das Land abgefeuert:

It is difficult to write a book on a subject as complex as Josef Fritzl. And certainly many Austrians would prefer that such a book not be published. In Austria there is little appetite to understand his crimes, and even less inclination to uncover the many factors that may have allowed them to happen. (vii)

Welche Faktoren sind damit gemeint? Obwohl die Autoren Fritzls Versuch, seine Taten als Produkt seiner Kindheit in der Nazi-Zeit zu erklären, als Ausrede abtun, fühlen sie sich dazu berechtigt, ganz Österreich an den Pranger zu stellen:

[…] still now, Austria itself has yet to face its past or analyse with an seriousness its impact on the present. As a result there continues to exist in Austria a culture of looking away, a squeamishness about examining in any depth the harsh truths about its society, and a distaste for self-analysis.” (ix)

Neben einer Kritik an der (Un-)Kultur des “Wegschauens” (s. Jelinek) kommt eine neue Dimension hinzu, die bei Hall keine Rolle spielte. Die Schönheit der österreichischen Landschaften und die Sauberkeit des Landes werden gepriesen, was an sich nicht neu ist. Zur Gegend um Amstetten heißt es z.B.: „The Mostviertel is still a very beautiful part of Europe.“ (3) Ähnliches liest man über das Salzkammergut, wo Fritzl ein Gasthaus besaß:

Like most of Austria’s countryside, the Salzkammergut is both litter-free and immaculately kept, the water of its smaller lakes still pure enough to drink. And the region owes it flawless appearance to the importance that the Austrians have   always attached to presentation, both as individuals and as a nation. (39)[14]

Der Bürgermeister von Amstetten wird verspottet, weil er seine Stadt nach dem Fritzl-Prozess als “this beautiful town” bezeichnet (231), und man erfährt, das Gefängnis Stein „is located where the Danube River meanders into the fertile Wachau Valley, a beautiful wine region and a protected natural resource“. (225) Mit anderen Worten: Die umweltbewussten Österreicher schützen die Natur, blicken aber nicht hin, wenn ihre Mitmenschen in Bedrängnis kommen. Damit man nicht umhin kann, die ‚finstere’ Seite des ökologischen Bewusstseins wahrzunehmen, stellen die Autoren das Ungeheuer Fritzl als eine Art Wiederverwertungsfanatiker dar: „Josef, never throwing anything out: recycling everything.“ (93) Dazu fällt einem unwillkürlich der alte Kalauer über die Terroristen ein: Sie lieben die Menschheit, hassen aber die Menschen. (Dass die Briten bei der Entwicklung der EU-Umweltpolitik meist als Blockierer auftreten, ist kein Geheimnis.)

Marsh und Pancevski urteilen hart, wenn nicht immer genau. Das unweit von Amstetten gelegene KZ Mauthausen (wo Fritzls Mutter eine Zeitlang interniert war) wird als „a hugely profitable death camp, the Nazi’s biggest“ (11) beschrieben, und ein jüdischer Überlebender wird zitiert, der meint, „one could almost say those [other] camps were paradises“ (12). Österreich sei „this still very conservative and patriarchial country“ (56)[15], aber Amstetten schafft es dabei irgendwie, eine „conservative Catholic enclave“ (134) zu bleiben. Die Amstettener veranstalten eine Lichterkette für die ‚Kellerkinder’ (192), aber die Enthüllungen über Fritzls Verbrechen „caused not a ripple of outrage in Austria“ (193). Wie will man das genau messen? Die Autoren können es nicht fassen, dass die Richterin im Fritzl-Prozess behaupten konnte: „[W]e are not prosecuting a town or a whole country.“ (219) Noch schlechter kommt die österreichische Justizministerin weg, die darauf bestand: „You can never really prevent these kinds of cases.“ (207) Was würden Marsh und Pancevski über den „Fall Castro“ schreiben?[16] Der Vergewaltiger von Cleveland, der 2013 verurteilt wurde, hielt seine weiblichen Opfer in einem ganz normalen Haus in einem dicht besiedelten Viertel gefangen. In dem Fall war das Wegschauen noch schwieriger, gelang aber zehn Jahre lang. Die Kommentatoren forderten danach keine tiefgreifende Analyse der US-amerikanischen Kultur und Gesellschaft.[17] (Dafür wurde der hilfreiche Nachbar Charles Ramsay als Held gefeiert.) Es ist unbestreitbar, dass Marsh und Pancevski auf der Seite von Elisabeth Fritzl stehen und sie bewundern („a heroic figure“ – viii), aber ihr Bemühen wird von einer mehr als fragwürdigen politischen Agenda zumindest teilweise entwertet. Jenseits der spezifischen Kulturen in einzelnen Nationalstaaten kann man in allen immer anonymer werdenden Massengesellschaften der gegenwärtigen Globalisierungsepoche schwere Störungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen vorfinden, und damit kann und muss man sich auseinandersetzen.[18]

Journalisten arbeiten immer unter Zeitdruck und werden dazu angehalten, so zu schreiben, dass ihr jeweiliges Medium möglichst viele Konsumenten erreicht. Im literarischen Bereich sollten andere Zustände vorherrschen. Da hat man Zeit, tiefer zu graben und Aspekte zu beleuchten, die oft übersehen werden. Man könnte erwarten, dass die Schriftsteller, die sich dem Fall Fritzl zuwenden, auch so verfahren. Das bisher bei weitem ambitionierteste Projekt in dieser Richtung (mit einem Umfang von 528 Seiten) ist der Roman Claustria des Franzosen Régis Jauffret.[19] Das Werk kann zwar kein historischer Roman sein, da die dargestellten Ereignisse aus den letzten Jahren stammen, aber es kann ein zeitgeschichtlicher Roman sein. Der Schutzumschlag der österreichischen Ausgabe bringt da keine Klarheit: Auf der Innenseite wird eine (ganz aus dem Zusammenhang gerissene) Passage aus dem Roman abgedruckt, worin die Österreicher als ‚Wahrheitshasser’ hingestellt werden.[20] Auf der Rückseite steht ein kleiner Text über Platons Höhlengleichnis und die Gefangenen, die nicht die Wirklichkeit, sondern nur Schatten sehen.[21] Dadurch sollte wohl der Eindruck entstehen, dass Jauffet eher einen philosophischen Roman vorlegen wollte. Darüber hinaus beteuert der Autor in einem kleinen Vorwort: „Dieses Buch ist eine Fiktion. Die Charakterisierungen der Personen sowie Worte, Verhalten, Gefühle, die ihnen zugeschrieben werden, entspringen der Fantasie des Autors und spiegeln mitnichten diejenigen lebender Menschen wieder.“ (7) Der Name Fritzl wird allerdings verwendet, auch wenn die Vornamen der Familienmitglieder geändert werden (Elisabeth=Angelika, z.B.). Jauffret spricht kein Deutsch (er reiste „en compagnie d’une traductrice“[22]), und er verbrachte nur kurze Zeit („une vingtaine de jours“[23]) in Österreich.

Zwischen den Weltkriegen propagierte der ungarische Literaturtheoretiker Georg Lukács an Hand der Werke von Walter Scott für die Gattung des historischen Romans die Erfindung eines „mittleren Helden“, einer fiktiven Gestalt, die sozusagen ohne Eigenprofil historische Ereignisse und die Taten der welthistorischen Individuen à la Hegel beobachten und kommentieren konnte.[24] Darauf hat Jauffret verzichtet; stattdessen wechseln sich ein allwissender Erzähler und der Autor selbst (dessen Name auf S. 67 des Textes auftaucht) ab. Statt einer chronologischen Rekapitulation wählte Jauffret auch eine Art Montagetechnik, wobei er alternierend Momentaufnahmen aus dem Kelleralltag, Berichte über seine eigenen Nachforschungen und Überlegungen zur Wahrnehmung der Realität bietet. Wie jeder Autor hat Jauffret das Recht, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen, und es wäre in der Tat unmöglich, die Jahre im Keller und deren Folgen in der Form einer nüchternen Reportage verständlich zu machen. Manche Leser werden aber nicht goutieren, was Jauffet erfindet. (Es ist übrigens auch nicht klar, wie viel er erfindet, da er seine Quellen nicht preisgibt.) Neben schrulligen Einfällen (so versucht sich der Häftling Fritzl nach fünf Jahren hinter Gittern „im Online-Trading“ – 124) gibt es Dinge, die – angesichts der Tatsache, dass alle Beteiligten noch leben – einfach abgeschmackt wirken.  Es wird prophezeit, dass fast alle Kinder vor dem 40. Geburtstag sterben, denn: „Die Luft der Freiheit hatte sie langsam umgebracht wie giftige Dämpfe.“ (9) Angelika erreicht dagegen das Alter von 79 Jahren und stirbt in der Schweiz. (40) Als Fritzl im Alter von 92 Jahren aus der Haft entlassen wird, arrangiert Sohn Roman ein Treffen mit Angelika. Diese will nicht mit Fritzl reden, aber wir kennen ihre Gedanken: „Sie sieht ihren Vater, ihren Liebhaber, ihren Mann an. Sie fragt sich, ob sie ihn aus lauter Verzweiflung nicht einmal geliebt hat.“ (37) Roman selbst denkt nach dem missglückten Wiedersehen: „Er fühlt sich schuldig, weil er im Keller so glücklich war. Und weil er seinen Vater liebt.“ (39)

Noch viel problematischer sind Jauffets Überlegungen zur Sexualität (die eine gewisse Nähe zu seinem Landsmann Michel Houellebecq vermuten lassen). Der Josef Fritzl des Romans ist, genau wie sein Urbild, ein Vergewaltiger, der mit seiner Tochter gern Szenen aus Pornofilmen ‚nachspielt’. Die Tochter selbst, die von allen Beobachtern als Heldin[25] und Opfer geschildert wird, macht im Roman eine ‚Entwicklung’ durch, wenn man es so nennen will. Die Leser sollen sich vorstellen, dass sie diesen Satz sagt: „Papa, ich hab’ Lust auf dich!“ (439) Vielleicht war sie manchmal aus rein taktischen Gründen „sanft und zuvorkommend wie eine Geisha“ (332), aber Jauffret  will uns weismachen, dass sie nach der allmählichen Auflösung aller Tabus den Vater begehrte:

Inzest, Vergewaltigung, dann der erwünschte Inzest, an den man immerzu denken muss, das fieberhafte Warten auf den einzigen Penis der Welt, der je in diesen Keller eindringen wird. Ein Penis, auf den man nur hoffen kann – tage-, wochenlang lässt er sich nicht blicken […] Das klebrige Morphium des Koitus perlt am Ende des Harnleiters, bevor es herausfließt, Angelika tränkt und sie glücklich macht wie ein Mohnfeld […] (83)

Die „Erinnerung an die Orgasmen“ ist für sie „erschütternd“. (413) Solche Stellen sind angesichts von Elisabeths wirklichen Qualen schlicht und einfach entwürdigend.[26] Hinzu kommt, dass Fritzl selbst bis zu einem gewissen Grad als Opfer seiner Triebe dargestellt wird: Er hat sadomasochistische Wahnvorstellungen („[…] die Fantasie […], von Angelika so getreten zu werden, dass er weinte und zum Höhepunkt kam“ – 218) und scheint unter einer absoluten Frauenfixierung zu leiden:

„Die schlagende Mutter, die begehrte Mutter, die geschlagene, missbrauchte Tochter. In seinem Kopf waren die Personen vertauschbar wie bei einem Vexierbild. In seiner Fantasie war er manchmal Angelikas Sohn und seine Mutter seine Tochter. Das chronologische Paradoxon scherte ihn wenig. (218)

Dass solche Komplexe existieren, lässt sich nicht leugnen. Es ist der Bezug zu lebenden Personen (trotz aller Hinweise des Autors auf die Fiktionalität), der eine unentschuldbare Grenzüberschreitung ausmacht. Jenseits der Sexualität gibt es andere Passagen, die die Konturen von Jauffrets Frauenbild hervortreten lassen. Seine Angelika beginnt „zu bocken wie eine richtige Ehefrau“ (137) und: „Wie eine richtige Ehefrau, die ihrem geizigen Mann Geld abringen will, versuchte Angelika, Fritzl mit ihrem Charme weichzukochen.“ (438) Sollte man etwa den (mit zwei ‚Ehefrauen’ ausgestatteten) Pantoffelhelden Fritzl bemitleiden?

Das Thema Wirklichkeitsverlust/Wahrnehmungsstörungen kommt in allen Beiträgen zum Fall Fritzl vor, sowohl den journalistischen als auch den literarischen. Jauffret ist da keine Ausnahme. Dabei steht Angelika bzw. ihr Umgang mit den ‚Kellerkindern’ oft im Mittelpunkt. Sie muss selbst damit zurechtkommen, dass sie von der Welt völlig abgeschnitten wird. Sie hat aber zumindest Erinnerungen, auch wenn sie mit der Zeit verblassen. Ihre Kinder kennen aber nur die Welt da unten. Als Mutter muss sie sich entscheiden, wie sie diese unerhörte Situation erklären soll. Gibt es eine Realität jenseits des unterirdischen Gefängnisses? Fritzl fungiert als eine Art Bindeglied zwischen den Welten, da er nicht nur Kleider und Proviant, sondern auch Nachrichten aus der ‚anderen’ Welt liefert. Am Anfang gilt die Traumwelt als Alternative: „Sie hüpfte durch eine Parallelwelt […]“ (297) Das funktioniert eine Zeitlang als Therapie, doch bei den Kindern reicht es nicht aus. Um „den Kindern das Leben begreiflich zu machen(346) nimmt Angelika die Rolle der Lehrerin ein, aber sie erzählt auch von Gott, obwohl sie selbst „nicht sehr fromm“ (347) ist. Der Fernseher macht alles interessanter, aber auch komplizierter, da die Kinder wissen wollen, ob die Welt auf dem Bildschirm tatsächlich existiert. Angelika entschließt sich deshalb, ihn manchmal auszuschalten, damit die Kinder ihre eigene Fantasie entwickeln können. Der Keller soll „in ein klitzekleines Paradies“ (487) verwandelt werden. Angelika führt eine Art Tagebuch über die verschiedenen Versuche, und dazu heißt es: „Indem Angelika die Wirklichkeit erzählte, veränderte sie diese.“ (514) Das schien ihr auch zu genügen („Angelika hatte keinerlei Sehnsucht nach diesem weiten Raum.“ – 521), aber das erweist sich als eine Selbsttäuschung. Die Befreite nimmt wieder an der „Zivilisation auf dem Weg in den Untergang“ (526) teil, und der Erzähler prophezeit: „Ihre Geschichte wird bald ein böses Märchen sein, eine Legende, deren Ursprünge man anzweifeln wird.“ (527) Dieser Prozess ist (nicht erst seit den Meldungen aus Cleveland) schon in vollem Gang, und auch Jauffrets Roman wird allmählich in Vergessenheit geraten, obwohl er mittels seiner Angriffe auf das ‚braune’ Österreich versucht hat, die Sensation in die Länge zu ziehen. Aus seiner Sicht „träumte Fritzl von einem privaten Lager, dessen einzige Insassin Angelika wäre, er wäre Kapo, SS, der Führer“ (223), und die ‚Kellerkinder’ bildeten eine „Nachkommenschaft ohne einen Tropfen Mischblut“ (226)[27]

Dass es möglich ist, das Thema Realität(sverlust) in den Mittelpunkt zu stellen, ohne den Nationalsozialismus als Subtext zu gebrauchen, hat die irisch-kanadische Schriftstellerin Emma Donoghue vorgeführt. Sie veröffentlichte 2010 den Roman Room,[28] und die Schreibmotivation hing mit dem Fall Fritzl zusammen. Bei einem Interview hat sie erläutert, wie der Roman zustande kam:

“To say Room is based on the Fritzl case is too strong,” she says firmly. “I’d say it was triggered by it. The newspaper reports of Felix Fritzl [Elisabeth’s son], aged five, emerging into a world he didn’t know about, put the idea into my head. That notion of the wide-eyed child emerging into the world like a Martian coming to Earth: it seized me.”[29]

Die Handlung wird nach Nordamerika verlegt, und die sozio-kulturellen Bezüge sind alle US-amerikanisch. Die Erzählperspektive ist die eines Jungen namens Jack, der am Anfang des Romans seinen fünften Geburtstag feiert.[30] Seine Mutter (ausschließlich „Ma“ genannt) war längst eine Gefangene, als Jack geboren wurde. Dieser kennt also nur den Raum (so der Titels des Werkes), in dem er auf die Welt kam.

Gegenüber dem Fall Fritzl ändert Donoghue viele Details. Ma wird von einem Mann („Old Nick“) entführt, den sie nicht kennt. Dieser ist kein erfolgreicher Geschäftsmann und anerkannter Bürger, sondern ein ‚Loser’, der manchmal arbeitslos ist. Er träumt nicht von der Gründung einer zweiten Familie, und das Gefängnis ist kein Keller, sondern eine Art Geräteschuppen mit Dachfenster.[31] Wenn „Old Nick“ kommt, versteckt sich Jack im Kleiderschrank, also gibt es kaum Kontakt zwischen den beiden. Zur Zeit der Entführung ist „Ma“ eine neunzehnjährige Studentin aus der Mittelschicht mit einem ausgezeichneten Notendurchschnitt (210), also hat sie einen ganz anderen Bildungshintergrund als Elisabeth Fritzl. Zu Claustria gibt es zwei grundlegende Unterschiede in der Darstellung. Zum einen entwickelt sich überhaupt keine Beziehung zwischen „Ma“ und „Old Nick“. Sie hält ihn für ein Ungeheuer („He looks human, but there is nothing inside“ – 125), und sie träumt oft von der Befreiung (117). Zum anderen besteht etwa die Hälfte des Romans aus einer Auseinandersetzung mit den Anpassungsproblemen nach der Befreiung.

Insgesamt lässt sich behaupten, dass Donoghue bei aller Bewunderung für die tapfere Mutter und ihr blitzgescheites Kind („You were born with your eyes open.“ – 230) auf Sozialkritik aus ist. In der ersten Hälfte kommt das eher nebenbei zum Ausdruck. Jack bekennt z.B.: „I’d love to watch TV all the time, but it rots our brains.“ (12)[32] Die Mutter erzählt ihrem Sohn viele Geschichten, aber nicht nur Märchen: Jack kennt “Nelson [Mandela] on Robben Island” z.B. auswendig. Dem Kind bleibt auch das Wesen des Privateigentums schleierhaft.[33] Nach der abenteuerlichen Flucht wird das Leben viel komplizierter. Erzähltechnisch gelingt die Gratwanderung, die Donoghue unternehmen muss, auch nicht immer. Jacks ‚naive’ Betrachtungen sind eigentlich Bausteine einer scharfen Zivilisationskritik, und das beginnt mit der Rolle des Glaubens in der modernen Gesellschaft. Jack ist verwirrt, denn: „[…] when I say, ‚Thank you, Baby Jesus,’ people stare because I think they don’t know him in Outside.“ (214) Bei einem Fernsehinterview (“for Jack’s college fund” [!] – 258) widerspricht Ma der Journalistin dauernd, und sie will ihr eigenes Leiden auch nicht verabsolutieren: “[…] slavery’s not a new invention. And solitary confinement -– did you know, in America we’ve got more than twenty-five thousand prisoners in isolation cells?“ (264) Der erste Ausflug zu einem typischen Einkaufszentrum (Jack: “I didn’t know that inside could be as big as Outside […]“ – 272) gerät zu einer Katastrophe mit lauter verwöhnten Kindern. Ohne Genehmigung gelangen Fotos von Jack ins Internet („Everything gets leaked these days.“ – 314). Zum Entsetzen seiner Mutter entdeckt Jack in einer Telefonzelle Visitenkarten von Prostituierten (148). Bei einem letzten Besuch im ‚Gefängnis’ verabschiedet sich Jack etwas wehmütig von allen Teilen des Raumes (wie im klassischen Kinderbuch Goodnight Moon). Die Botschaft ist klar: Jack wird und soll in der realen Welt ‚funktionieren’, aber er soll weiterhin alles infrage stellen, was selbstverständlich erscheint (im Sinne des Hegel-Diktums aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes: „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“). Zum Schluss sollte ein Detail erwähnt werden, das in starkem Kontrast zum Diskurs über das österreichische ‚Wegschauen’ steht. Eine Polizistin weist darauf hin, dass eine hohe Hecke das ‚Gefängnis’ fast unsichtbar machte. Lakonisch bemerkt sie dazu: „[N]eighbors thought nothing of it. A man’s entitled to his privacy, et cetera.” (358) Der nächste Satz, den man nach der obigen Diskussion erwarten könnte, fehlt: „Etwas ist faul in den Vereinigten Staaten.“

Als letztes Beispiel soll hier ein Text aus Österreich herangezogen werden, und zwar Elfriede Jelineks Drama FaustIn and Out (2011).[34] Dessen Untertitel lautet „Sekundärdrama zu Urfaust“. Es handelt sich nicht um eine Parodie des Goetheschen Werkes (wie etwa Frank Wedekinds Franziska [1912]), sondern um eine Demontage des Klassikers mittels einer Dekonstruktion seines Hauptwerks. Ein Theaterkritiker hat das ziemlich krass formuliert: „Heinrich Faust ist Wolfgang Přiklopil. Faust ist Josef Fritzl.“[35] Ein anderer Kritiker, der einer Aufführung des Stückes in Frankfurt beiwohnte, glaubte anscheinend, Jelineks Schreibprogramm erläutern zu müssen:

Dass die Frau kein Subjekt, sondern eine Sache sei, über die Väter, Männer, Gesellschaft, Wirtschaft, Supermärkte (die jede Regaleinräumerin, die einen unverkäuflichen, abgelaufenen, für den Abfall vorgesehenen Pudding mitgehen lässt, entlassen) nach Gutdünken verfügen, das ist das ewige Behauptungs-Weh und -Ach der Frauenschriftstellerin Elfriede Jelinek.[36]

(Jelinek hat die Bezeichnung „Frauenschriftstellerin“ sicher nicht erfreut.) Wer kein Subjekt ist, kann nicht handeln, nur leiden und Opfer sein. Eine direkte Traditionslinie wird zwischen Goethes Gretchen und Elisabeth Fritzl (deren Vorname einmal erwähnt wird – S. 11) gezogen. Als Kritikerin des Patriarchats stellt Jelinek im Stück die berechtigte Frage: „Warum müssen die alle runter, das frage ich mich schon. Warum all die Mädels in den Kellern? Warum nur, warum?“ (12) Die Frage nach der Ursache der männlichen Allmachtfantasien wird nicht beantwortet, aber es wird verdeutlicht, dass sie schon immer im Raum stand: „Ich bin das Ebenbild Gottes, nur natürlich schlechter.“ (41) In diesem „Sekundärdrama“ ist die Frau das sekundäre Wesen schlechthin. Sie ist auch ein ausschließlich körperliches Wesen, eigentlich eher ein Körperteil (worauf der Titel des Stückes anspielt). Dies wird mal indirekt, mal sehr direkt bestätigt. Die Elisabeth-Figur sagt z.B. über ihren Vater: „[…] oben hat er alles, bei mir eher das Unten, das ihn anzieht, die Tiefe […]“ (50) An anderer Stelle heißt es: „[…] frohlockend sprangen die Kinder aus meiner Fotze, die Papa gehört wie alles […]“ (49)[37] Jelineks Anliegen ist ein ernstes, aber sie verfolgt es durch die Verwendung von Kalauern, Witzen und Wortspielen.[38] Im Bereich des rein Fiktionalen kann man ihre Methode als eine unter vielen analysieren, aber hinter FaustIn and Out steht der Fall Fritzl (und zum Teil der Fall Kampusch). Einem kann das Lachen vergehen, wenn man als Theaterzuschauer an Fritzls Taten denkt: „Was untersteht er sich, uns dort unten unterzustellen?“ (48); „Muss ja den Papa noch ficken, ficken und ficken lassen, das geht in einem Aufwaschen, vielleicht helfen die Kinder heute bei der Abwasch, dann geht’s schneller.“ (54); „Die Gesunden hier aufs Töpfchen, die Kranken hinauf. Ich glaube, die hatten Köpfchen, diejenigen, die krank geworden sind. Zuviel geschrien hier unten.“ (48); „Papa hat an alles gedacht, nur nicht daran, sich selbst zu dämmen. Der ist ungedämmt und ungehemmt. Der Keller: gedämmt.“ (49);   „[…] das ist sein freier Willi, sein frei in der Hose baumelnder Willi, allzeit bereit […]“ (9) Derartige Sprüche gibt es auch gegen Heideggers Philosophie und das erbarmungslose Finanzkapital. Was hier fehlt, ist jeglicher Hinweis auf Österreich.[39] Die Kritikerin des Patriarchats hat auf regionale Bezüge verzichtet, weil das Thema ein universales ist. Die „kleine Welt“ (vgl. oben) steht nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses. Das Erbe des Nationalsozialismus ist mit einer (problematischen) Ausnahme auch nicht mehr von Belang. Diese Ausnahme ist eine Hommage an Paul Celan und sein erschütterndes Gedicht „Todesfuge“. Mitten in der Beschreibung von Elisabeth Fritzls Kellerverlies tauchen Fragmente des Gedichts auf: „[…] das Kind und sein Meister, das Kind und sein neuer Herr […] ja, dein goldenes Haar, Margarete! […]“ Auf diese Weise wird das Schicksal der erniedrigten, entwürdigten Frauen mit dem Holocaust in Verbindung gebracht. Der Tod ist nun kein „Meister aus Deutschland“, sondern der Mann schlechthin.

Nach der Verurteilung Ariel Castros in Cleveland wurde beschlossen, das Haus, in dem er die drei Frauen gefangen hielt, abzureißen. Die Nachbarn sahen sich das an und klatschten dazu. In einem Bericht darüber wurde eine Frage gestellt: „But the question remains: How could the crimes go unnoticed so long in Castro’s blue-collar neighborhood?”[40] Man muss hier den Subtext heraushören, dass die Angehörigen der Arbeiterklasse (ein Begriff übrigens, den man in den USA nicht verwendet[41]) ansonsten noch ‘richtige Menschen’ sind, denen ihre Mitmenschen wichtiger sind als ihre Smartphones oder Derivate. Den Amstettenern hat man keinen solchen Bonus gegönnt.

Die Philippiken gegen Österreich nach dem Bekanntwerden vom Fall Fritzl hatten einen Nebeneffekt, der vielen nicht aufgefallen ist. In vielen Beiträgen wurde die Bundesrepublik Deutschland als leuchtendes Vorbild hingestellt. Anders als in der Alpenrepublik habe man statt des Verdrängens der furchtbaren Verbrechen der NS-Zeit den harten Weg durch die Vergangenheitsbewältigung gewählt. Dass dieser Weg eigentlich erst zur Zeit des Eichmann-Prozesses begann, wird dabei übersehen. ‚Randerscheinungen’ wie der NSU-Prozess werden auch nicht berücksichtigt.[42] Auf jeden Fall wird es wohl lange dauern, ehe ein ausländischer Beobachter–bei aller Kritik–ein Bild von Österreich entwirft, wie es ein britischer Historiker neulich für Deutschland getan hat:

This land is civilized, free, prosperous, law-abiding, moderate, and cautious. Its many virtues might be summarized as “the banality of the good.” […] An Israeli friend who has taken German citizenship describes Germany to me as “balanced” country, and that feels just right. The French leftist politician Jean-Luc Mélenchon caused a stir when he said that “amongst those who have a zest for life, no one wants to be a German.” In that case, there must be an awful lot of people who have no zest for life, because, according to a twenty-five-nation BBC poll, Germany is the most popular country in the world–ten points ahead of France.[43]

Was die Fritzls dieser Welt betrifft, so sollten sie eine aussterbende Spezies sein, aber damit kann man wohl nicht rechnen. Einzelfälle wird es wohl immer geben, aber diese Fälle sollten kriminalistisch behandelt (wenn nicht von vornherein unterbunden) und nicht als Vorwand für Ressentiments gegen die Heimatländer der Täter missbraucht werden.[44]

 

 


Anmerkungen

[1]  Vgl. dazu u.a. Cathrin Kahlweit, “Amstetten-Berichte. Auf dem Markt der Neugier,“ Süddeutsche Zeitung, 23.10.2008 und Nina Horaczek, „Amstetten. Hyänen am Horrorhaus,“ Die Zeit, 30.4.2008 (Nr. 19).

 

[2]  Ritchie Robertson, “Josef Fritzl’s Fictive Forebears”, Times Literary Supplement, 14. Mai 2008. Online: http://entertainment.timesonline.co.uk/tol/arts_and_entertainment/the_tls/article3930971.ece

Von österreichischer Seite kam Zustimmung: Vgl. Bert Rebhandl, „Späte Emanzipation vom Patriarchalen“, Der Standard, 17.3.2009.

 

[3]  Sibylle Hamann hat Ähnliches behauptet: “Josef Fritzl ist nicht das Gegenbild zur gesellschaftlichen Normalität in diesem Land, sondern dessen extreme Zuspitzung.“ Aus: „Fritzl – ein Kerl wie wir,“ Frankfurter Rundschau, 16.3.2009.

 

[4]  Allan Hall, Monster (London, Penguin Books, 2008).

 

[5]  Betritt die DFB-Auswahl englischen Boden, so werden Artikel über Fußball regelmäßig mit Nazirequisiten geschmückt.

 

[6]  Vgl. www.germanherald.com. Halls eigene Beiträge erscheinen manchmal unter der Rubrik “Krazy Krauts”.

 

[7]  Allan Hall und Michael Leidig, Girl in the Cellar. The Natascha Kampusch Story (New York City: Harper Collins, 2007). Die britische Erstausgabe erschien 2007  bei Hodder und Stoughton in London.

 

[8]  So der Titel von Hella Picks Studie (London: J.B. Tauris & Co, 2000). (Untertitel: Austria from the Holocaust to Haider). Picks Darstellung ist allerdings viel differenzierter: Bei aller (z.T. scharfen) Kritik an österreichischen Verdrängungspraktiken stellt die Autorin fest: „Austria has made great strides in coming to terms with its history […].“ (xv) Pick hofft darauf, Österreich werde seine „catharsis“ zu Ende führen können. (235)

 

[9]  Hall zitiert aus Fritzls Aussage vor Gericht: “I grew up in the Nazi times, and that meant there needed to be control and the respect for authority. I suppose I took some of these old values with me into later life, all subconsciously of course.” (226) Es gab natürlich “alte Werte” anderer Art, wie das Leben des österreichishchen Kriegsdienstverweigerers Franz Jägerstätter veranschaulicht.

 

[10]  Der Historiker Cornelius Lehnguth, der bei Österreich Aufarbeitungsdefizite konstatiert, leugnet nicht, dass man vorangekommen ist. Vgl. C.L., Waldheim und die Folgen. Der parteipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich (Frankfurt: Campus, 2013).

 

[11] “Rapist father given life sentence,” BBC News, 25.11.2008. Im Internet: http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/england/south_yorkshire/7747711.stm

 

[12]  Vgl. Sam Greenhill, Matthew Drake and David Wilkes,  “British Fritzl: The 150 missed chances to save the sisters made pregnant 19 times by their father,” Daily Mail,  27. November 2008. Online-Version:

http://www.dailymail.co.uk/news/article-1089753/British-Fritzl-The-150-missed-chances-save-sisters-pregnant-19-times-father.html

 

[13]  New York: Berkley Books, 2009. (Untertitel: The Horrifying True Story of Josef Fritzl.) Der Verlag gehört zur “Penguin Group”, also fragt man sich, warum zwei ähnliche Bücher zum gleichen Thema dort erschienen. I’m No Monster erschien nach Bekanntgabe der Taten des ‚britischen Fritzl’, aber das scheint auf die Autoren keinen Eindruck gemacht zu haben.

Ein drittes Buch aus Großbritannien kann in diesem Rahmen nicht berücksichtigt werden.

Es handelt sich um House of Horrors: The Horrific True Story of Josef Fritzl, the Father from Hell von

Nigel Cawthorne (London: John Blake Publishing, 2008).

 

[14]  Hall (S. xiv) hatte gemeint, das Leben der Österreicher beruhe auf “Schein nicht Sein” (Hall benutzte den deutschen Ausdruck ).

 

[15]  Die oft thematisierte/beklagte Zweiteilung des Landes (d.h. Wien und der ‚Rest’) bleibt unerwähnt.

 

[16]  Es ist schon merkwürdig, dass die Autoren gegen „tabloid hacks“ wettern (186). Sie halten sich offensichtlich für ‚seriöse’ Journalisten.

 

[17]  Zum Fall Ariel Castro vgl. folgende Beiträge: Thomas Sheehan, „Cleveland hostage suffered 5 miscarriages at hands of her captor, police say”, AP-Meldung, Online (http://www.nola.com/crime/index.ssf/2013/05/cleveland_hostage_suffered_5_m.html); “Polizei war mehrmals beim Haus des Entführers von Cleveland“, Der Standard, 8.5.2013. Online schrieb ein Kommentator dazu: „Unfassbar wozu Menschen imstande sind. Irgendwie fühlt man sich an die ‚Kellerfälle’ Priklopil und Fritzl erinnert.“ „Suche im Horrorhaus von Cleveland beendet“, Frankfurter Rundschau, 11.5.2013. Frank Herrmann, „Cleveland: Kritik an der Polizei wird laut“, Der Standard, 10.5.2013. Meghan Barr, „Ariel Castro’s Ex-Relatives Say Ohio Accused Kidnapper, Rapist Is A ‘Monster’“, Huffington Post, 10.5.2011. Online: http://www.huffingtonpost.com/2013/05/10/ariel-castro-monster_n_3251920.html?icid=maing-grid7|main5|dl1|sec1_lnk2%26pLid%3D311101;

„Behörden weisen Vorwürfe zurück“, ORF-Bericht Online: http://orf.at/stories/2180952/2180955/.

 

[18] Vgl. die Ankündigung des Vortrags „Die Atomisierung der Gesellschaft“ von dem Wiener Physik-Ordinarius Herbert Pietschmann:

„Der materielle Wohlstand in der Spaßgesellschaft und der Drang nach Selbstverwirklichung haben dazu geführt, dass die meisten Menschen ohne wahre Kommunikation in der Gemeinschaft isoliert sind. Wie Atome in einem Edelgas stoßen sie zwar aneinander, haben aber darüber hinaus kaum eine Wechselwirkung. Als Ersatz dient bestenfalls maschinelle Kommunikation, Mobiltelefon und Internet.”

Online: http://vorarlberg.orf.at/radio/stories/2509849/

 

[19]  Régis Jauffret, Claustria. Roman (Paris: Éditions du Seuil, 2012). Im Folgenden zitiere ich aus der

deutschen Übersetzung von Gaby Wurster (Salzburg: LESSINGSTRASSE 6, 2012). Es kann hier nicht darum gehen, die Arbeit der Übersetzerin zu kommentieren, aber die Genauigkeit ist vielleicht nicht immer gegeben. Ein Beispiel: Aus dem Wort „surtout“ im Original (418) wird „vor allem Dinge“ statt „vor allen Dingen“ (413). Das könnte aber auch ein Druckfehler sein.

Eine Übersetzung ins Englische soll 2013 erscheinen.

 

[20]  Es handelt sich um die zynische Aussage eines (anscheinend österreichischen) Rechtsanwalts dem Autor/Erzähler gegenüber. Der Text verdient es, in voller Länge zitiert zu werden: „In Österreich geht es keinem um die Wahrheit. Man will nur einen Kompromiss finden, um die Wogen zu glätten, und versuchen, es allen recht zu machen. Die Wirklichkeit ist etwas für Touristen, wir hier handeln lieber und beseitigen Beweise, die uns belasten könnten. Die Wirklichkeit hat uns immer enttäuscht, Der Niedergang der k.u.k. Monarchie, das Dritte Reich mit dieser Shoah, die man uns ständig und noch immer um die Ohren haut, und dann wurde Mozart auch noch zu einer Zeit in Salzburg geboren, als die Stadt gar nicht zu Österreich gehört hat. Was bleibt uns? Irgendwelche Perverse wie Egon Schiele oder Sigmund Freud? Die Wahrheit ist schlimmer als alles andere. Wer sie anfasst, verbrennt, erfriert, reibt sich die Finger wund. Unser Volk hat genug gelitten – Wahrheit, Wirklichkeit, nennen Sie es, wie Sie wollen, all dieses Zeug hat uns ausreichend geschadet, wir hassen sie wie die Pest.“ (Vgl. S. 163f.) Der französische Verlag hat diese Passage nicht in den Einband integriert.

Die Fortsetzung dieser Rede, die man nicht im Einbandtext findet, ist auch nicht uninteressant: „Ganz Europa verabscheut uns so abgrundtief, dass wir nach dem Krieg zusammen mit den Juden an das andere Ende der Welt hätten ziehen sollen. Wir hätten versucht, den Einheimischen dort einen Gefallen zu tun, und – wer weiß? – vielleicht wäre es uns gelungen, den Nahen Osten in eine Schweiz zu verwandeln mit Israel und Palästina als friedlichen Kantonen.“ (164)

 

[21]  Dieser Text steht am Anfang des zweiten ‘Teils’ auf S. 12. Es gibt keine Kapitelüberschriften im Roman, aber wenn man die Teile numerieren wollte, käme man auf die Zahl 102.

 

[22] Vgl. Florence Duguit, “’Claustria’ – Jauffret sans maestria”. Online: http://www.evene.fr/livres/actualite/claustria-jauffret-sans-maestria-781033.php

 

[23]  Vgl. Hubert Artus, “De l’affaire Josef Fritzl, Régis Jauffret tire le roman de l’année 2012”, Le nouvel Observateur, 3.1.2012. Online: http://www.rue89.com/rue89-culture/2012/01/03/de-laffaire-josef-fritzl-regis-jauffret-tire-le-roman-de-lannee-2012-227909.

Jauffret sagt selbst dazu: “J’ai tout de suite pensé à la caverne de Platon. Il y a des gens qui sont nés là-dedans, qui n’ont jamais rien vu d’autre, et il y avait les ombres portées puisqu’il y avait la télévision. Platon, au fond, parlait de ça.” La télévision – “le personnage principal. Sans elle, ils n’auraient peut-être pas survécu. Sans elle, je n’aurais pas pu écrire” –, la seule chose qui aidera Elisabeth, la jeune femme séquestrée, et ses enfants à vivre en parallèle avec le temps du dehors, la seule chose qui rythme ce temps infini de vingt-quatre ans…” Aus: Nelly Kaprièlian, “’Claustria’ – le roman monstre de Régis Jauffret”, Online: http://www.lesinrocks.com/2012/01/05/livres/claustria-le-roman-monstre-de-regis-jauffret-114549/2/.  Fritzl brachte tatsächlich einen Fernseher in den Keller, der jahrelang der einzige Zugang zur Welt blieb.

 

[24]  Vgl. Georg Lukács, Der historische Roman (Berlin: Aufbau-Verlag, 1955), 47. [Erstdruck 1937 in Moskau.]

 

[25]  Der Erzähler fühlt sich bemüßigt, folgende Aussage zu machen: „Die Opfer sind enttäuschend, Märtyrer sind nicht immer Helden.“ (30) Das mag sein, aber heißt das, dass das jeweilige Martyrium bagatellisiert oder relativiert werden soll?

 

[26]  Dass sich der Ich-Erzähler “auf Angelikas Bett” wirft (175), wirkt doch sehr voyeuristisch. Vgl. dazu „French author’s ‚Fritzl’ novel branded ‚pure filth’ by Austrian critics“, Guardian,  26.9.2012. Online: http://www.guardian.co.uk/books/2012/sep/26/regis-jauffret-claustria

 

[27]  Merkwürdigerweise kann Jauffret–wie seine journalistischen Vorgänger–auch nicht davon absehen, das Ökologische in seine Österreich-Kritik mit einzubeziehen: „Heute ist Amstetten eine grüne Stadt. Vom Frühjahr an steht sie in Blüte, die Straßen wurden mit Rasenteppich ausgelegt. Man | stellt den Wagen auf dem Parkplatz ab–so wie man vor einer Moschee die Schuhe auszieht–, bevor man das Allerheiligste betritt, dessen Einwohner ihr schönes Ökosystem anbeten und in die Pedale treten, damit sich die Räder drehen wie Gebetsmühlen.“ (10f.) Die religiös gefärbte Sprache soll wohl das Irrationale betonen.

 

[28]  Emma Donoghue, Room. A Novel (New York, Boston, London: Little, Brown and Company, 2010).Im Folgenden wird nach der Taschenbuchausgabe zitiert. Die britische Ausgabe erschien bei Picador.

 

[29]  Sarah Crown, “Emma Donoghue: ‘To say Room is based on the Josef Fritzl case is too strong’”, The Guardian, 12.8.2010. Online: http://www.guardian.co.uk/lifeandstyle/2010/aug/13/emma-donoghue-room-josef-fritzl.  Dass Donoghues Feststellung weitgehend ignoriert wurde, zeigen andere Beiträge zum Thema, z.B.: „Emma Donoghue’s The Room is a Josef Fritzl-inspired horror”, Online: http://metro.co.uk/2010/08/04/book-review-the-room-477089/  oder Ben East, „Room: A tale inspired by Josef Fritzl’s crimes”, Online: http://www.thenational.ae/arts-culture/books/room-a-tale-inspired-by-josef-fritzls-crimes#full

 

[30]  Wer sich für diese Problematik interessiert, kann sich informieren, und zwar bei Monika Spielmann, Aus den Augen des Kindes: Die Kinderperspektive in deutschsprachingen Romanen seit 1945 (Innsbruck: Universität Innsbruck, Institut für deutsche Sprache, Literatur und Literaturkritik, 2002). Eines der bekanntesten Werke dieser Art in der US-amerikanischen Literatur stammt von Harper Lee, To Kill a Mockingbird (1960; dt.:  Wer die Nachtigall stört). Lees „Scout“ ist am Anfang sechs Jahre alt.

 

[31]  Eine Ähnlichkeit mit Fritzl hat Old Nick schon: er meint, Ma sollte dafür dankbar sein. dass er sich für sie abrackert: „’I don’t think you appreciate how good you’ve got it here,’ says Old Nick. ‚Do you?’ […] ‘Aboveground, natural light, central air, it’s a cut above some places, I can tell you. […] Plenty girls would thank their lucky stars for a setup like this, safe as houses.’” (78)

 

[32]  Im Text geht es so weiter: “Before I came down from Heaven Ma left it on all day long and got turned into a zombie that’s like a ghost but walks thump thump thump.” (12) Später heißt es: “I hate it when the pictures disappear and the screen’s just gray again.” (40)

 

[33]  Er sagt dazu: “Stealing is when a boy takes what belongs to some boy else, because in books and TV all persons have things that belong just to them, it’s complicated.” (38)

 

[34]  Zitiert wird nach der Version auf Jelineks Homepage (www.elfriedejelinek.com). Es gibt keine Seitenzahlen, aber wenn man den Text ausdruckt, ergibt sich eine Länge von 58 Seiten. Ich benutze diese Seitenzahlen der Übersichtlichkeit wegen.

Im selben Jahr erschien das Theaterstück Winterreise, worin sich Jelinek u.a. mit Natascha Kampusch befasst. Darin heißt es: „[…] Die Kleine glaubt, nur weil sie von der Erde fortgebracht worden ist, ist sie was Besonderes. Das ist sie nicht. […] Wir haben bei ihr die Zerstreuung gesucht, an ihrem Schicksal geleckt wie Tiere am Salz, aber das interessiert nur kurz.“ Aus: Elfriede Jelinek, Winterreise. Ein Theaterstück (Reinbek: Rowohlt, 2011), 36 u. 44.

 

[35] Wolfgang Kralicek , „FaustIn and Out“, Online:

http://www1.muelheim-ruhr.de/kunst-kultur/theater/stuecke/faustin_and_out/173

 

[36] Gerhard Stadelmaier, “Jelineks ‘Faustin and Out’ in Frankfurt: Witzeln und Fritzeln”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.9.2012.  Stadelmaier ist imstande, trotz der Ereignisse in Amstetten den Neologismus „fritzeln“ lustig zu finden.

Ein anderer Kritiker verstieg sich sogar zu der Behauptung, Goethe sei (als Rom-Reisender) „der erste Sexurlauber“ gewesen. Goethe in der Campagna = Fritzl in Thailand?? Vgl. Marcus Hladek, “Faust in Kampfchauvi-liebt-Baumarkt-Lesart. FaustIn and Out: Julia von Sell inszeniert Elfriede Jelineks Sekundärdrama zu Urfaust”, Online:

http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=7284:faustin-and-out–julia-von-sell-inszeniert-elfriede-jelineks-sekundaerdrama-zu-urfaust-am-schauspiel-frankfurt&catid=38:die-nachtkritik&Itemid=40

 

[37] Noch unmissverständlicher: “Frauen sind zum Ficken da, so singen die Mädels in der Fußgängerzone, die sie mit den Burschen durchzechen und durchziehen […]“ (27)

 

[38] In der kurzen Bühnenanweisung heißt es dazu: “Wir können auch anders. Nur ich kann ja leider nicht anders.“ (1)

 

[39] Aus unerklärlichen Gründen kann Jelinek aber nicht auf Seitenhiebe gegen die Grünen verzichten, z.B. so: “Das Kind atmet nicht und wird in den Ofen geworfen und verbrannt, damit die Familie oben es warm hat. Ja, wir auch. Die Familie unten speist die Familie oben mit kostengünstiger, umweltfreundlicher, selbst erzeugter Erwärmung, und sie leben auch gut mit der Erderwärmung, sie leben dort oben mit mehr Erwärmung, als die Erderwärmung zu bieten hat, obwohl wir ja in der Erde wohnen und es wissen müßten. Von uns stammt diese Wärme. Weil wir atmen dürfen, dürfen wir auch heizen. Ich bestätige, das Kind wurde ins Feuer geworfen, um das Haus zu heizen, aber nicht allein. Ein so kleines Kind kann kein ganzes Haus heizen, das ist klar, da muß noch einiges an Masse, an Biomasse dazukommen. Wie kommen wir dazu, mit einem Kind das Haus zu heizen?“ (49) Wenn Ironie irgendwo fehl am Platze wäre, dann hier.

Von einem „unreine[n] Geist in seinem umweltfreundlichen Hybrid-Aufschwung“ (21) ist auch die Rede.

 

[40] Vgl. “Ariel Castro House Demolition”, Huff Post Crime, 7.8.2013. Online:

http://www.huffingtonpost.com/2013/08/07/ariel-castro-house- demolition_n_3718395.html?icid=maing- grid7|maing5|dl1|sec1_lnk3%26pLid%3D354550

Inzwischen wurde der ‘Fritzl-Keller’ mit Beton gefüllt. Die Behörden wollten, dass daraus kein Spektakel würde: Man „hoffe – auch für die Amstettener – sehr, dass es keinen solchen Rummel geben werde wie 2008, als das Verbrechen aufflog. Bisher hätten sich einige wenige Schaulustige und regionale Medien eingefunden.“ Vgl. „Fritzl-Keller wird zubetoniert“, APA-Meldung in News, 20.6.2013. Online:

http://www.news.at/a/inzest-fritzl-keller-zubetoniert#

 

[41] US-Amerikaner, die Jelineks FaustIn and Out lesen, werden wohl verwundert sein, wenn sie erfahren, dass Frauen entweder schlechte Jobs haben oder gar keine. Was würden die LeserInnen von Sheryl Sandbergs Bestseller Lean In: Women, Work, and the Will to Lead dazu sagen?

 

[42] Die vielen Berichte über den “Kannibalen von Rotenburg“ führten nicht dazu, dass Armin Meiwes das ‚Gesicht von Deutschland’ wurde.

 

[43] Vgl. Timothy Garton Ash, “The New German Question,” The New York Review of Books, 15.8.2013, 52.

Immerhin wird die Stadt Wien wiederholt als „lebenswerteste Stadt der Welt“ oder „erfolgreichste Metropole der Welt“ ausgezeichnet. Vgl. „Lebensqualität – Wien ist und bleibt Nummer eins“,  Online:

http://www.wien.gv.at/politik-verwaltung/mercerstudie.html

 

[44] Unvergesslich bleiben wird wohl Allan Halls Charakterisierung von Fritzls Wahnvorstellungen als „like some dysfunctional Von Trapp dynasty“ (162).

 

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