Jun 2015

Frederick A. Lubich

Mauerschauen und Kassandrarufe: Von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes zu Samuel Huntingtons Clash of Civilizations und darüber hinaus

Jahrhundert- und mehr noch Jahrtausendwenden inspirierten seit jeher Kulturhistoriker zu umfassenden und weitschweifenden Rückblicken und Vorschauen. Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1918) is so eine epochal-enzyklopädische Retrospektive, die Aufstieg und Fall der großen Weltreiche darstellt und am Ende des ersten Weltkriegs dem christlich-europäischen Abendland den fortschreitenden Verfall seiner Weltordnung und Wertanschauung voraussagte.

Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts veröffentlichte der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington sein Werk The Clash of Civilizations (1996), in dem er unter anderem den kommenden Kampf zwischen der abendländischen und morgenländischen Kultur prophezeit. Zuerst als munkelnde Unkenrufe eines pensionierten Professors belächelt, gewann Huntingtons Zukunftsvision nach dem Anschlag von Allahs Gotteskrieger auf das World Trade Center in New York kurz nach der Jahrtausendwende ominöse Aktualität.[1]

Der Kontakt zwischen der christlich-okzidentalen und islamisch-orientalischen Zivilisation war jedoch nicht immer kriegerisch. Er geht bis ins achte Jahrhundert zurück, als maurische Eroberer in Andalusien ein multikulturelles, christlich-jüdisch-islamisches Reich errichteten, dessen fruchtbar-friedfertiges Zusammenleben als sagenhafte „Convivenzia“ beispielhafte Bedeutung gewann und deren kulturelle Mannigfaltigkeit noch heute vor allem im Prachtbau der Alhambra, dem Kronjuwel des arabischen Spaniens, zu bewundern ist.

 

 

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Alhambra, Granada

 

Als ich vor zehn Jahren beim Hinaufstieg zur Alhambra diese Aufnahme machte, wusste ich noch nicht, wie sehr mich diese Burg in ihren Bann schlagen würde. Der Prunk ihrer vielschichtigen Architektur, die malerischen Arabesken der Deckengewölbe, die Pracht ihrer blühenden Gärten und ihrer zahlreichen Wasserspiele, allen voran, das Generalife, dessen kunstvoll angelegte Parklandschaft eine Nachbildung des Paradieses darstellt, das alles zeugt von einer für die damalige Zeit ausgesprochen fortschrittlichen Hochkultur. [2]

Die Alhambra und ihre maurisch-andalusische Kultur ist nicht das einzige Beispiel für die geschichtlichen Begegnungen und den Austausch zwischen islamischer und christlicher Kultur. Der Fall von Konstantinopel im Jahre 1492 löste nicht nur eine Wiedergeburt des heidnischen Altertums aus, deren römisch-griechisches Kulturerbe sich bis in die Nordische Renaissance der Nürnberger Reichsstadt ausbreitete, er führte auch zu einer fortschreitenden Expansion des osmanischen Herrschaftsbereiches bis vor die Tore von Wien. In der Bilderwelt Albrecht Dürers, des Großmeisters der Nürnberger Renaissance, treffen die Muselmanen, wie damals Muslime genannt wurden, zum ersten Mal in der abendländischen Umwelt augenfällig in Erscheinung.

 

 

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Albrecht Dürer, „Die Türkenfamilie“ (um 1496)

 

Dürers ikonisches Bild „Das Meerwunder“ bringt die damalige Begegnung der beiden Kulturkreise wohl am anschaulichsten zum Ausdruck. Während sich im Vordergrund ein entblößtes Meerweib räkelt, fuchtelt ihr vom anderen Ufer am Fuß der aufragenden Nürnberger Burg ein Muselmann offensichtlich aufgebracht entgegen. [3]

Seit der Renaissance hat die christliche Zivilisation in den folgenden fünfhundert Jahren einen systematischen Säkularisierungsprozess durchlaufen, der in der fortschreitenden Emanzipation der Frau sowie in der sukzessiven sexuellen Revolution des zwanzigsten Jahrhunderts seinen kulturgeschichtlichen Höhepunkt erreichte.

 

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Albert von Keller, „Im Mondschein“ (1894)

Diese Kreuzigungsszene stellt eines der evokativsten Sinnbilder dieses Wandlungsprozesses dar. Die Vertauschung des männlichen Körpers mit einem weiblichen Körper verwandelt auf der religiös-symbolischen Ebene den Sohn Gottes in eine Tochter Gottes. Gesellschaftskritisch gesehen vergegenwärtigt diese Geschlechtsverwandlung die zweitausendjährige Geschichte eines gewalttätig-frauenfeindlichen Patriarchats, das im wütenden Hexenwahn des späten Mittelalters und ihren überall brennenden Scheiterhaufen seine grauenhafte Zuspitzung gefunden hatte. Gleichzeitig beschwört die Nacktheit dieser Gekreuzigten die verlockende Sinnlichkeit der heidnischen Liebesgöttin herauf, deren Erotik zum aphrodisischen Elixier des modernen Zeitgeistes werden sollte und dies auch ganz in der ikonographischen Repräsentation dessen, was Friedrich Nietzsche die „Umwertung aller Werte“ genannt hatte: Gott ist tot – es lebe die Göttin.[4]

Diese christliche Abenddämmerung ist die sinnbildliche Gegenvision zur muslimischen Morgendämmerung, zur Renaissance einer islamischen Kulturexpansion, wie sie sich weltweit abzuzeichnen beginnt. Die gewonnene Freiheit und Freizügigkeit der abendländischen Frau steht dabei im wachsenden Widerspruch zur zunehmenden Verschleierung und Bevormundung der morgenländischen Frau, wie sie vor allem von extremen Exponenten des Islam propagiert und praktiziert werden. Freiheit und Geschlechtergleichheit, Hedonismus und Globalkapitalismus, das sind die westlichen Wertvorstellungen, die islamistische Gotteskrieger bei ihren grauenhaften Attentaten ins Visier nehmen – vom World Trade Center in New York bis zu den Koscherläden, Synagogen und Supermärkten von Paris, Kopenhagen und Nairobi.

Europa zwischen okzidentaler Trutzburg und orientalischem Troja: Ist die Migration des Orients in den Okzident nur eine panische, pan-europäische Fata Morgana, deren Befürchtungen sich bei genauerem Betrachten in Nichts auflösen, oder kommt diese zeitgenössische Völkerwanderung tatsächlich jenem von der homerischen Kassandra so viel berufenen Trojanischen Pferd gleich, das die Festung Europa früher oder später erobern wird? Wo sind die wahren Wahrsager?

Pegida, Charlie Hebdo, Boko Haram und allen anderen islamistischen Terroraktionen in diversen Kontinenten zum Trotz, die islamische Kultur gehört längst – und dies einmal mehr – zur westlichen Zivilisation. Nationen wie Deutschland, England und Frankreich haben nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen von Muslimen als Gastarbeiter ins Land gerufen oder als Bürger ihrer ehemaligen Kolonien in ihrem Land aufgenommen. Einwanderer gehören, wie die Weltgeschichte immer wieder gezeigt hat, zu den jungen und aufstiegswilligen Mitgliedern einer weltoffenen, zukunftsorientierten Gesellschaft. Daran werden auch Allahs radikal-desperate Amokläufer nichts ändern. Genau besehen verbleichen vielmehr ihre heutigen glaubenswirren Attacken im Vergleich zu den jahrhundertealten Horrorgeschichten des christlichen Abendlandes, angefangen von den mehrfachen Kreuzzügen über den Dreißigjährigen Religionskrieg bis zum bodenlosen Abgrund des Holocausts in unserer jüngsten Geschichte.

Das von Jürgen Habermas so oft beschworene unvollendete Projekt der Moderne wird sich in der Zukunft vor allem an der produktiven Integration politischer Asylanten und ökonomischer Immigranten verwirklichen müssen. Dies gebietet nicht nur die moralische Integrität sondern auch die demografische Kalkulation. Während Europas Bevölkerung an mangelndem Nachwuchs und wachsender Überalterung zu leiden beginnt, zeichnen sich islamische Gesellschaften durch das Gegenteil aus, wie dies vom renommierten Pew Research Center Anfang April dieses Jahres erneut bestätigt und umfassend veranschaulicht wurde. Wäre da nicht eine Verflechtung abendländischer Volkswirtschaften mit morgenländischem Bevölkerungswachstum ein grundlegender Beitrag zur gegenseitigen Bereicherung? Vor allem Deutschland, das eine der niedrigsten Geburtenraten und eine der besten ökonomischen Infrastrukturen in der Welt besitzt, könnte von diesem Ressourcen-Transfer auf lange Sicht profitieren.[5]

Denk ich an Europa in der Nacht … Anstatt sich von den düsteren Mauerschauen und fremdenfeindlichen Kassandrarufen abendländischer Nachtwächter ins Bockshorn jagen zu lassen, wäre ein etwas weiter ausschweifender Rundblick ratsam ganz nach dem Motto der amerikanischen Postmoderne: „Back to the Future“. Blicke ich so von der Neuen Welt zurück in die Alte Welt, so scheint mir, die kulturelle Blütezeit des maurischen Andalusiens rund um die mittelalterliche Alhambra wäre in der Tat – wie schon gewisse deutsche Zeitungen vor über zehn Jahren zu berichten wussten – nicht das schlechteste Vorbild für die Utopie eines multikulturellen, und vor allem religiös toleranten Europa.

 
 

Endnoten

[1] Unter den kulturpessimistischen Kassandrarufern der Jahrtausendwende ist Huntington wohl der hellsichtigste, hat er doch auch die ethnisch-nationalistischen Spannungen zwischen der West- und Ostukraine und das mögliche Auseinanderbrechen des Landes um rund zwanzig Jahre vorausgesehen.

[2] Nach meiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten stürzte ich mich regelrecht in die weitere Erforschung der maurisch-andalusischen Geschichte. Sowohl die Augsburger Allgemeine als auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichten damals Teile meiner kulturhistorischen Ausschweifungen rund um die Alhambra. Was mich dabei anfangs überraschte war die Tatsache, dass sie meine ohnehin schon euphorischen Essays mit noch weitaus enthusiastischeren Titeln versahen. Erstere titelte „Symbiose der Kulturen. Das maurische Andalusien – ein Zukunftsmodell?“ (3. August, 2004). Letztere machte gar auf mit der Überschrift: „Ein Siebter Himmel: Es war einmal eine Kultursymbiose: Granadas Alhambra.“ (12. August 2004). Ich kam damals zu dem Schluss, dass es nach dem 11. September 2001 der deutschen Presse besonders wichtig war, auch ein radikal anderes Bild vom sogenannten Kampf der Kulturen zu präsentieren, gewissermaßen eine utopische Gegenvision zu den Horrorbildern von Manhattan, das so manchen zu jener Zeit geradezu als Menetekel kommenden und noch weitaus schlimmeren Unheils erschienen war.

[3] Dürers Holzschnitt “die Türkenfamilie” entstammt dem Buch Albrecht Dürer. Das grafische Werk. Druckgrafik. Köln: Parkland, 2000, Seite 806. In diesem Band finden sich auch noch weitere Beispiele zu diesem christlich-islamischen Kulturkomplex zur Zeit der Nordischen Renaissance.

[4] Das Gemälde von Albert von Keller entstammt dem Band Albert von Keller. Salons, Seancen, Secession. München: Hirmer, 2009, Seite 117. Mehrere Künstler der europäischen Décadence zur Zeit des Fin de Siècle

haben immer wieder gekreuzigte Frauen ins Bild gebannt, allen voran der Belgier Félicien Rops, in dessen blasphemischen Universum mehrfach schöne, verführerische Frauen ans christliche Kreuz fixiert oder mit ihm assoziiert erscheinen.

[5] Ergänzt wird Deutschlands überaus niedrige Geburtenrate durch die statistische Tatsache, dass es schon seit längerer Zeit die höchste Einwandererquote in Europa hat. Für das gegenwärtige Jahr 2015 werden bereits 300 000 Asylanträge erwartet, wie das Online-Magazin Deutschland-Nachrichten am 2. März, 2015 zu berichten wusste. Im Gegensatz zu Europa, wo ein Teil der muslimischen Immigranten und ihrer Nachkommen zur Bildung von Subkulturen und ethnischen Parallelwelten tendieren, sind in Amerika Einwanderer aus islamischen Ländern insgesamt weitaus besser integriert. So könnte sich die oft so amerikakritische Alte Welt an der Neuen Welt und ihrer weiterhin ungebrochenen Integrationskraft durchaus einmal ein gutes Beispiel nehmen.

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