Jun 2015

Klaus Rainer Goll

“Fremd bin ich eingezogen/Fremd zieh ich wieder aus”

 

die schmetterlinge fliegen
in memoriam sarah kirsch

wie sich die balken biegen
die schrift sich krümmt
zum lachen ist das nicht
wie aus den flammen
die schwarzen schmetterlinge
fliegen
und worte sterben
leise
auf dem papier
handbreit
zwischen himmel und erdreich
so gut wie zuhause
jeder ort bedeutet ein anderes leben
hinterm deich / dem schutzwall
wo das meer beginnt
die weiße weite
unruhe
im schritt der strandläufer
uferauf uferab
das haus geduckt / daß
keiner kömmt
den schafen eingebleut
kein laut nur kein verrat
die blumen und gräser
ins wort genommen
aufs flache land
bei klarer sicht
die flucht
der mauerseglerin
befreit vom ballast
wie hans im glück
wollte sie der droste
gern das wasser
reichen

aus der hand
die schwarzen schmetterlinge
fliegen

 

groß sarau, 13. Juli 2014

sandwege
für sarah kirsch

die ausgetretenen / zer
rütteten pfade entlang
in die spuren miss
achteter wortbilder
gedrückt
in einem land / in dem man
die freiheit zu tode geschützt hat
schwer ist es / einen
anderen weg zu gehen
atemlos geworden
ohne alternative
das dornengestrüpp / hat
seine wirkung verloren / der
dorn im fleisch
brennt nicht mehr
angesichts
der neuen grenzen
von mauer
und stacheldraht
tiefer
wunden seine dornen
den entmachteten geist / das
aufbäumen
im schmerz
aus dem schweigen
der eulenwohnungen
und
im dunkel der vielen
seelenkerker
brich das schweigen auf / das
schwarze eis
unter den lippen
öffne dich / auch in unseren reihen
schauen
und alles wissen / und
nichts sagen
und
nicht helfen können
wie falsch sich alles entwickelt hat
unerträglich
dem menschenfeind
die sandwege gehen / die man
immer schon ging / anfangs
mit lodernder wortfackel voran
am dornenbusch vorbei
in immerwährende sackgassen
sich im kreis bewegen
im signal der sanduhr
bis das fleisch seine geduld verliert
oder ermatten
in der tiefe
versinken im sand / oder
verstummen
mit zornigem blick
und sich aus liebe auf
schwingen
und vogel werden
als sei es der einzige ausweg
die sandwege verlassen / den
vorgeschriebenen weg / für
eine reise in die honigländer / die
deine bücher vor dir bereits
angetreten haben
den festen / sicheren
untergrund
zu suchen
solange es noch möglich ist
die stimme erheben im flug
spähend / den auf einmal
gewährten fluchtweg
finden / den büchern nachfolgen
hoffen
auf die kraft
der anderen / zurückgebliebenen
dass sie durchhalten werden / dass
sie freunde bleiben
weggefährten
über alle räume hinaus
der kälte
die ihnen entgegenschlägt
widerstehen / selbst
wiederkehren / wiederkehren
wenn die zeiten entgifteter
und besser sind
wenn man
der freiheit und
der wahrheit
paläste baut / im eigenen land
statt sie mit füßen zu treten
und in die gefängnisse zu verbannen
auch
wenn dein wort / nie die ganze
wahrheit sein kann / und nichts
als die wahrheit
du hast sie gewollt
wohl wissend / dass
sie ist
was sein müsste / was
morgen sein wird

 

1977

TAUSEND GRAMM UND MEHR
angesichts des todes von
wolfgang weyrauch am 11.11.1980
für hans werner richter

lese heute in der zeitung / dass
in darmstadt gestern
wolfgang weyrauch im alter von
dreiundsiebzig jahren
an einem herzinfarkt
verstorben sei
gestern abend nichts ahnend
las ich in einem bericht
von hans werner richter
der übrigens heute in münchen
seinen zweiundsiebzigsten geburtstag feiert
über die gruppe 47
und über weyrauchs
literarischen kahlschlag
vor circa dreißig jahren
vorbei / vorbei
diese zeiten sind vorbei
so hatte es mir
vor einigen tagen / auch HWR
gesagt
diese zeiten sind auch nicht
wiederholbar
im augenblick nicht
vielleicht nie mehr
es gibt keine stunde null
so wie damals
obwohl manches zu überdenken wäre
draußen und drinnen
in uns im leben der literatur
neukonzeptionen einen wiederaufbau
der sprache nach dem kahlschlag
der bis heute
seine spuren hinterlässt
vielleicht
eine radikale neuformung der literatur
der sprache / einen neuen kahlschlag
sozusagen
mit sätzen die auch bloß wie damals
steine ins moorige wassser werfen wollen
damit sie kreise und wellen ziehen / die
wie WW es sagte ans ufer schlagen
und die füße der ohnmächtigen
netzen
es wäre die zeit dafür / aber
mag sein: unserer generation hat es
die sprache verschlagen
und wir sind noch nicht so weit
mag sein: wir / wir kinder des nachkriegs
haben keine sprache und
drücken uns in unseren versuchen
noch immer ein bisschen zu fremd aus
beladen geschwollen / immer
eine handbreit an den dingen vorbei
so tappen wir herum
in unserer sprachlosigkeit
in überlieferungen / mit denen
wir uns wir jungen unwissenden
unbedarften geboren in
der stunde null
verdächtig machen
vor gott und der welt
und mit ihr weder gott noch
die welt treffen
konventionell wohlig haben wir uns
eingerichtet / auch zugegeben
in unserer sprache / die schon wieder
merkmale eurer sprache zeigt / der
sprache unserer väter
von überall strömt es auf uns ein
wessen sprache sprechen wir
eigentlich
da tritt einer aus dem satz heraus
und sagt verdammt noch mal: die axt
muss her und
hinein damit ins wortgestrüpp
in den wuchernden wortballast / der
alles erdrückt und durchsichtig
macht
bis eines tages die
abgeschlagenen wortenden wieder
keime zeigen und knospen aus
denen die sprache blühen kann
nach der aufforstung der worte
was wäre dagegen zu sagen
blühen
aus neuer poesie meinetwegen
aber immer noch aus den alten
wortstämmen womöglich
aus den tränen der worte
nach der periode des kahlschlags / die
verhältnismäßig schnell zuende ging
aber wie gesagt: vorbei / vorbei
es war einmal
die aufforstung der worte
hat längst stattgefunden
die zeiten von damals sind vorbei
abschiede sind gefeiert worden
kein land in sicht
für eine neue gruppe
kein richter
für die texte und lesungen
der jungen
für den nachwuchs / der irgendwo
nachwächst
irgendwo
die / die damals waren
verbunden in der not der stunde
die ihre große stunde hatten
in der stunde null (wenn es denn wirklich
eine gab) werden älter
sterben dahin
einer nach dem andern
was bleibt sind beschnittene texte
und die erinnerung an die männer
des kahlschlags / an die
vielen begräbnisse in den anthologien
an einen aufgeräumten sprachwald / an
axthiebe und messerstiche
immer wieder kleine abschiede
die immer stiller gefeiert werden
auch von einem stück bedeutender
deutscher literatur
geschichte / auch das
mag sein
mag alles sein: da wiegen die worte
tausend gramm
und mehr

 

groß sarau, 12.11.2007

jussuf / prinz von theben
für else lasker-schüler
(1869 – 1945)

deine asche
verstreut / auf dem ölberg
zur ruhe gekommen
am ziel
unter der schrift des steins
und nicht wie der rauch
aus den schornsteinen
windverweht
in nichts
lautloser schrei
aus blauer wolke
die träne getrocknet
ins erdreich
gedrückt
für immer verbunden
dieser welt
steinernes schweigen
klagend
himmelschreiendes wort
in den dunklen tiefen
deiner augen / schwarzer schwan
schlafen ewigkeiten
auf buntem tibetteppich
träumt
das sanfte tier

groß sarau, 29. august 1998

 

vor dem begräbnis
für dylan thomas (1914-1953)

was soll man davon halten / wenn
beim begräbnis
die hähne krähn
verkünden sie wirklich
einen neuanfang
wie mancher glauben wollte
am offenen grab
am steilen hang von laugharne
wo kalt die sterne
am frühen tag herabblickten
aus kargen herbstwiesen
am himmel
die flitzenden blitze
der sternschnuppen
das fliehende weiße licht / weil
das land gesättigt
von der verschmutzten wolle
der schafe
nicht länger die dunkelheit
der nachbarwälder
erträgt
wo das gras
noch halbwegs grün
nicht mehr das glück
der jungen jahre
bezeugte
oder lag nur verrat
in der luft
verhängnis und gerücht
dass man das licht
auch dir umgebracht
das herz
aus selbstverschuldetem
schwelbrand
im bunten gefieder der hähne
hätte er sehen können
wie die blüten frühester schülerzeit
wieder aufbrachen
vulkanausbrüche
aus jedem seiner poeme
diese sprühenden leuchtenden
wortkaskaden
im wirbelnden tanz
eine sphärenmusik
die sonnenverwöhnten
sentenzen
silbe für silbe
der ihn nie verlassenen dunkelheit
beigemengt
noch am tag seines begräbnisses
trieb eine wolke von schafen
über die sanften hänge der downs
blökenden urgesang
vertraut mit dem gesang der vögel
die seinen namen über die bauernhöfe
und in die wälder tief unter ihm
flogen
im regenherbst
an einem novembertag
und immer die hoffnung im auge
dass seines herzens wahrheit
weiter und weiter gesungen werde
auf diesem hohen hügel

groß sarau, 3. januar 2013

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