Jan 2019
Heil dir Amerika — du älteste Demokratie der Welt!
von Albrecht Classen
Was für ein stolzes und wunderbares Land, selbst vor der Französischen Revolution hatte sich hier schon die Demokratie einen Weg gebahnt, und die amerikanische Verfassung ist bis heute der Felsen, auf dem dieser Staat ruht. In jedem Schulzimmer, in jedem Seminarraum hängt eine Kopie dieser Verfassung und hängt eine Fahne, alles sehr staatsfromm und patriotisch. Wieso man früher so über die Nazi lästerte, die eigentlich genau das gleiche machten, formal gesehen natürlich, will mir da manchmal gar nicht so einleuchten – aber Schwamm drüber. Der gesamte Westen sieht mit Stolz auf die Vereinigten Staaten, was für ein Vorbild für die Völker!
Verfolgt man die lokalen Wahlen, wirkt es wirklich beeindruckend, wie basisgetragen die amerikanische Demokratie bis heute geblieben ist. Selbst für kleinste Entscheidungen, seien es Schulgelder, Straßenbau, Krankenhäuser oder Armenfürsorge, gibt es Wahlen, was das Leben der Bürokratie ganz schön schwierig gestalten kann, denn der Ausgang der Wahl ist ja niemals von vornherein festzulegen. Aber in den USA wird gewiss niemals am Wahlausgang herummanipuliert, oh nein, da herrscht Gerechtigkeit und Gleichheit. Was damals in Florida passierte, und dann in Ohio, ach naja, da haben die Richter des Supreme Court schnell einen Deckel drauf gelegt, nur nicht nachfragen. Dass in manchen schwarzen Gegenden die Wähler sich stundenlang anstellen müssen, während in den weißen Gegenden einfach Briefwahl abläuft, wundert mich schon ein wenig, aber das sind halt wohl historische Gegebenheiten.
Bei uns vor Ort können wir auch ein Lied davon singen, wie sorgfältig und ungerecht die Wahlen betrieben werden – oh, pardon, wie technologiefreundlich und akkurat, also demokratisch, was auch immer das heißen mag. Es gibt viele, die ein recht seltsames Weltbild besitzen, es soll mittels des Wahlcomputers geschummelt worden sein, und so. Na, das will ich mal lieber beiseite lassen, denn unser großes Land wird ja nicht von Betrügern, Gangstern, Mafiosi, Kapitalisten, Lobbyisten, Lügnern, Banken, der Großindustrie und so weiter beherrscht. Nein, die lassen wir alle schön draußen, denn die haben nur sehr leise das Sagen; ich meine, alles läuft schön nach demokratischen Prinzipien, jeder Wähler hat eine Stimme, sogar die einzelnen Firmen, die Banken, die Versicherungen und noch so andere finanzkräftige Institutionen.
Klar doch, soll doch Google mitbestimmen dürfen, oder Microsoft, was an der Grenze passiert, wieviel Steuergelder für das Schulwesen ausgegeben werden soll, ob die Polizei straffrei die Demonstranten verdrängen darf oder nicht, ob Firmen Homosexuellen die gesetzliche Krankenversicherung gewähren müssen oder nicht, usw. und so fort. Ganz lustig, das Geld klimpert immer lauter in den Taschen, aber welche Taschen mögen das sein? Wenn die Koch-Brüder sich entscheiden, dass die Steuern für die Industrie um 50% gekürzt werden, dann geschieht das auch so, obwohl es erst einmal eine Wahl darüber gibt, in der natürlich die Masse voller Begeisterung für all die Kürzungen im Sozialbereich stimmen wird. Erstaunlich, aber so ist es in der Tat, denn an erster Stelle steht ja der Republican Kandidat, der die lästigen Nöten zur Beruhigung der Menschen einfach mal auslässt, dafür aber im Brustton der Überzeugung mit seinem christlichen Glauben prangt, über die Gottlosigkeit der Abtreibung donnert, von der Sünde der Homosexualität predigt und immer wieder auf sein großes Kreuz verweist. Wenn man dann nicht genau aufpasst, sieht man gar nicht die ausgestreckte Hand nach hinten, auf die ein großer Scheck zuflattert. Schwarzes Geld nennen wir das. Alles in gut demokratischen Bahnen! Christus hätte seine Freude daran gehabt, nicht wahr, vergessen wir mal seine Aktion im Tempel, das war so eine Jugendsünde des Herrn.
Zurück zum Thema, wir sind die älteste Demokratie der Welt, punktum, und jeder einzelne Staat hat so seine eigene Methode, ganz freiheitlich. Bei fünfzig kann das alles recht gemischt wirken, aber von jedem Staat werden z.B. gleichermaßen zwei Kandidaten als Senatoren ausgewählt, was wirklich gerecht ist, egal ob in Kalifornien 40 Millionen und in Nord-Dakota 760 000 Menschen leben. Bei uns in Arizona läuft die Wahl besonders demokratisch. Wie überall auf der Welt gibt es ein Stichdatum, bis zu dem man etwa eine Briefwahl durchgeführt haben darf, es sei denn, man will persönlich zur Urne gehen. Aber die meisten Wähler haben da so ihre Probleme damit. Manche vergessen es einfach, die Wahlstimme per Post abzuschicken (Porto ist sogar schon vorbezahlt). Bei anderen macht der verschüttete Kaffee einen Strich durch die Rechnung. Noch besser aber, es gibt viele, deren Hunde oder Katzen sich an den Wahlzetteln gütlich tun; ja, und was dann? Das klingt so wie bei meinen Studenten, die auch nicht ihre Seminararbeiten termingerecht einreichen und immer die besten Ausreden dafür parat haben. Das sind aber meist erst 18-jährige, und da drückt man schon mal ein Auge zu. Aber, wenn es um die Wahl geht, gefallen mir diese Erklärungen nicht unbedingt.
Nun, am Tag der Wahl kommen dann tausende dieser Leute, wollen plötzlich persönlich abstimmen, aber sie sind inzwischen längst als Briefwähler identifiziert worden. Da beginnt das große Rätselraten, stimmt die Unterschrift, ist dieser Mensch überhaupt registriert, wie ist der Wahlzettel genau zu lesen, und so kann es Wochen dauern, bis das Endergebnis vorliegt. Ganz basisbezogen, wunderbar, immer dem Volk helfen, alles möglichst einfach machen, worauf ja jeder ein Recht hat. Wer an keine Termine denken kann, darf trotzdem mitwirken, wir sind ja so lieb. Klar, überall setzt man heutzutage Rechner ein, die das alles blitzschnell erledigen könnten, aber Amerikaner sind halt meist ein wenig auf den Kopf gefallen und kennen sich, wenn sie aus ihrem Wald herauskommen, in der modernen Welt nicht immer so gut aus. Sagt man dazu nicht schlicht ‘Hinterwäldler’? Fast jeder hat zwar sein Smartphone, seinen Laptop und was weiß ich nicht alles, aber die Prinzipien des Wählens zu verstehen verlangt halt ein bisschen mehr an Grips, und so viel muss man ja nicht unbedingt von allen Amerikanern erwarten.
Abgesehen von diesen kleinen Problem ist unser Wahlsystem trotz allem sehr beeindruckend so gestaltet, wiederum basisorientiert, dass man nur wählen darf, wenn man sich registriert hat. Die Statistik belegt dann sofort, wie effektiv und umfassend das amerikanische System ist. Von allen Wahlberechtigten sind nämlich nur so um die 30% registriert, und von denen wählen halt nur so 30% tatsächlich. Das muss man sich mal ausrechnen, da wählen also höchsten 5% aller Amerikaner und entscheiden damit die Regierung. Schon erstaunlich. Wäre es da nicht besser, wenn wir die Wahl insgesamt aussetzten und den Superreichen einfach das Recht einräumten, unter sich die Entscheidung zu fällen? Dies wäre viel effektiver, schneller und einfacher. Die weiße christliche Mehrheit, so ab 60 Jahre alt, brauchte sich dann nicht mehr mit diesen misslichen Hispanics, Blacks, Asians, oder mit den jungen Homosexuellen, Transgender Leuten oder anderen seltsamen Minderheiten herumschlagen.
Stramme christliche Demokratie, von Google oder Facebook bestimmt, ist doch was Ordentliches, oder? Vielleicht sollten wir wieder den Adel einführen, dann brauchten wir das Wahlvieh nicht mehr und könnten uns darauf verständigen, dass diese 5% der Amerikaner, die sowieso fast alles besitzen, noch mehr von uns nehmen dürfen. Hallelujah, was für ein freies, offenes, demokratisches Land, in dem wir leben.
Aber bitte, verratet mich nicht, sonst entzieht man mir vielleicht sogar noch das amerikanische Bürgerrecht und schmeißt mich raus. Nur, wohin? Hier bin ich auf Gedeih und Verderb, Wahl hin oder her. Ein schlimmer Amerikaner? Man hatte mir schon vor 40 Jahren vorgeworfen, zu kritisch gegenüber diesem Land zu sein. Nein, gute Leute, ich liebe dieses Land, und da muss man halt doch manchmal etwas kritisieren dürfen, oder? Vielleicht hat man mich bisher noch nicht genug geschmiert, oder? Seht ihr, ich verstehe schon ganz gut eure krummen Touren, oh pardon, so war das nicht gemeint…. Ich freue mich schon auf die nächste Wahl, vielleicht zählt dann meine Stimme ungeachtet meiner Zweifel ein klein wenig.