May 2021

III. Kulturgeschichtliche Analysen: Feridun Zaimoglus Roman “Liebesmale, scharlachrot”

 

„Gewöhn dir mal langsam

 

Kanakenmanieren an, Alter“

 

Die Inszenierung von Identität in

 

Feridun Zaimoglus

 

Roman Liebesmale, scharlachrot

 

 

Ricardo Rudas Meo, Freiburg

 

 

Einleitung

Kanak Sprak – 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft heißt das Werk, mit dem der deutsche Autor türkischer Herkunft Feridun Zaimoglu 1995 debütierte. Im Vergleich zu den darauffolgenden Erscheinungen erhielt Zaimoglus Erstlingswerk seitens der Literaturkritik und Literaturwissenschaft das breiteste Echo. Der Grund liegt wohl im Faszinosum des ‚Kanaken‘, als dessen Sprachrohr Zaimoglu seither gilt,[1] doch als dessen Erfinder er vielmehr gelten sollte, wie Tom Cheesman erkennt.[2] Zaimoglu definiert in Kanak Sprak den Begriff des ‚Kanaken‘ als „ein Etikett, das […] nicht nur Schimpfwort ist, sondern auch ein Name, den ‚Gastarbeiterkinder‘ der zweiten und vor allem der dritten Generation mit stolzem Trotz führen.“[3] In der Öffentlichkeit war Zaimoglu „zum ‚Malcolm X der Türken‘ avanciert, als er mit seinem Buch ‚Kanak Sprak‘ und später in dem verfilmten ‚Abschaum‘ und in ‚Koppstoff‘ den prallen, bildersprühenden Slang der Migrantensöhne und -töchter in die Literatur trug.“[4]

Liebesmale, scharlachrot (2000) schlägt – obgleich dem ,Kanaken‘ als literarische Figur immer noch verpflichtet – einen viel künstlerischeren, um nicht zu sagen künstlichen, Ton an, womit Zaimoglu nicht mehr als dokumentarischer Gesellschaftskartograph angeblich realgeführte Interviews verarbeitet, sondern als Verfasser eines eindeutig fiktionalen Werks auftritt. Nicht nur die Form des Briefromans und die Anspielungen auf Hoch- und Populärkultur, sondern auch die geradezu manierierte Sprache der Hauptfiguren stellt einen Bruch in der literarischen Darstellung von Gastarbeiterkindern dar. Wie Volker Dörr feststellt, ist der Roman nicht, wie der Klappentext verspricht, „in lupenreiner ‚Kanak Sprak‘“ geschrieben,[5] sondern in ihm „treffen sich Goethe und die Popkultur – und verstehen sich prächtig.“[6] Der aus Kanak Sprak bekannte Postmigrant schimmert bei den Protagonisten des Briefromans Liebesmale, scharlachrot zwar durch. Sie reflektieren ihre Rolle jedoch, indem sie sich in ironischer Brechung orientalisieren und als ‚Kanaken‘ „lupenrein“ sein wollend stilisieren.

Als Serdar an der türkischen Ägäisküste strandet, beschreibt er in einem Brief an seinen Freund Hakan seine Flucht aus der „kalten Heimat“[7] Kiel, wo er Freunde, Familie und die außer Kontrolle geratenen Liebesbeziehungen zurückgelassen hat. In der anatolischen Hitze sucht er poetische Inspiration und neue Liebschaften zu erlangen – und eine Erektion, die seit seiner Ankunft in der Türkei ausgeblieben ist. Für den ‚Türken‘ in Deutschland und den ‚Deutschländer‘ in der Türkei beginnt eine Suche nach Identität und Heimat, auf die er sich mit seinem Briefpartner Hakan begibt, der in Deutschland seine Zeit als ‚Kanake‘ fristet und sich im Gegensatz zu Serdar keine Identitätskrise eingesteht, jedoch an seine Grenzen stößt, als er auf die deutsche Jacqueline trifft, sich verliebt und an ihren Wertvorstellungen Anstoß nimmt. Die beiden vermeintlich gegensätzlichen und zugleich ‚seelenverwandten‘ Hauptfiguren des Romans, zwei gebildete Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund, entwerfen die Kunstidentität des ‚Kanaken‘ von sich und erproben, erschreiben und reflektieren ihre Performanz in ihrem Briefwechsel.

Die Untersuchung soll zeigen, wie sich die Hauptfiguren selbst und gegenseitig sehen, inszenieren und stilisieren und wie sie die teils fremdzugeschriebene, teils angenommene und selbsterschaffene Identität des ‚Kanaken‘ reflektieren. Dazu wird zunächst ermittelt, wie die Form des Briefromans als sprachlicher Raum für diese Identitätsverhandlung fungiert. Sodann werden drei Kernaspekte betrachtet: (1) die Eigen- und Fremdidentität, die durch Selbst- und Fremdzuschreibungen das Gegensatzpaar des „Kanaksta“-Türken und „Assimil-Ali“[8] zur Festigung des gesuchten Selbstbildes durch Abgrenzung generiert; (2) die gender-Rollen, die die Männlichkeit und Sexualität der Protagonisten im Kontext ihres Migrationshintergrundes definieren, indem die Frauenfiguren stets zur deutschen oder türkischen Mehrheitsgesellschaft gehören und (3) die Translokalität, die – Migration und Tourismus reflektierend – andeutet, dass die Protagonisten nirgends zur Mehrheitsgesellschaft gehören können. Dies führt schließlich zum Projekt, den ‚Kanaken‘ als hybride Widerstandsidentität zu konstruieren. Diese bedient sich bestehender Stereotypen und gibt damit den Grundton des Romans an, der ein ironisch-pikaresker ist. Doch da sich, wie das politische Manifest von Kanak Attak preisgibt, die „bestehende Hierarchie von gesellschaftlichen Existenzen und Subjektpositionen […] nicht einfach ausblenden oder gar spielerisch überspringen“ lässt – denn es „sind eben nicht alle Konstruktionen gleich“ – mündet „das Projekt in einem Strudel von nicht auflösbaren Widersprüchen“[9]. Der ‚Kanake‘ wird somit im Roman zu einer tragisch-pikaresken Figur auf der Suche nach gesellschaftlicher Verortung stilisiert, um Diskurse rund um Migration und Identität zu reflektieren. Der Beitrag schließt damit ab, dass Serdars und Hakans Stereotypisierung als vermeintlich identitätsstiftende Maßnahme entlarvt wird, was das Ende des Romans zu einem desengaño der Pikaros macht.

 

Der Briefroman als Raum für die Inszenierung von Identität

[I]ch bin gesund und verspüre allerlei Munterkeiten, und ich bin heil und ohne Gram, ohne ein Gramm Verlust jener Transzendenz, die mein hoch körperliches Wesen in meiner kalten Heimat ausstrahlte, an der Westküste des türkischen Festlandsockels angekommen. Und nicht eine Zähre wischte ich vom trän’gen Auge, nicht einen Freudenstich versetzte mir meine Ankunft hier […] Du weißt, ich musste fliehen aus Kiel, weil mir die Frauen im Nacken saßen. (9)

Das schreibt Serdar in seinem ersten Brief an seinen Kumpel Hakan. Nicht nur beim Leser mögen diese ersten Sätze des Buches gewisse intertextuelle Assoziationen hervorrufen, sondern auch bei ihrem Empfänger Hakan. Er reagiert im Antwortbrief mit den Worten: „Hör auf mit der Goethe-Nummer“ (18). Schon allein die Dialogizität, die durch Hakans Antwortbrief entsteht, beendet die persiflierte Imitation Goethes, da Serdars Briefe nicht wie beim Werther unbeantwortet bleiben.[10]

Der Briefwechsel in Liebesmale, scharlachrot eröffnet neue Möglichkeiten der Figurencharakterisierung, da der Wechsel der Sichtweisen auf die Figur berücksichtigt werden muss. Diese „Doppelte Optik“, eine „wechselseitige Spiegelung der Perspektiven (d. h. Mehrperspektivität)“ [11], ist Karl Esselborn zufolge ein Analysekriterium für die Interkulturalität von Migrationsliteratur. Die wechselseitige Spiegelung der Perspektiven vermag es nämlich, die Identität der Figur in wechselseitiger Kommunikation zu formen. Mirjam Gebauer weist darauf hin, dass mit der Form des Briefromans – anders als beispielsweise mit Tagebüchern – ein öffentlicher Raum etabliert wird,[12] in dem eine bestimmte Meinung über den Adressaten und über sich selber an einen Adressaten vermittelt werden kann. Man kann also den Empfänger als etwas benennen und sich selber dem Empfänger gegenüber als etwas inszenieren. Diese Art der Kommunikation bietet die Möglichkeit für eine „performative Struktur von Identität“[13]. Nach Judith Butler kann eine Benennung (z.B. ‚Kanake‘) als performativer Akt aufgefasst werden, da die Benennung in der Lage ist, den Benannten als Subjekt sprachlich zu konstituieren.[14] „[D]er Name erscheint als Anrede, die dem Anderen eine Prägung zuspricht und diese zugleich für ‚passend‘ oder ‚geeignet‘ erklärt.[15] Die Benennungen „Kanaksta-Kümmel“ (48), „Abiturkümmel“ (67) usw. sind also durchaus keine leeren Worte, sondern sie tendieren dazu, „das Benannte festzuschreiben, es erstarren zu lassen, zu umgrenzen und als substantiell darzustellen.“[16] Solche Benennungen, verbunden mit ihren dazugehörenden Charakterisierungen, erzeugen also Identität.

Zudem ist der dialogische Briefroman das natürliche Genre des Austausches über raumzeitliche Grenzen hinweg. Ein Format also, das sich besonders gut eignet, um translokale Aspekte der Identität aufzuzeigen.

 

Das Gegensatzpaar Hakan und Serdar: „Kanaksta-Kümmel“ versus „Assimil-Ali

Die Identitäten Hakans und Serdars werden durch drei Prozesse einer epistolaren Identitätshermeneutik geformt: Erstens durch Selbstbeschreibung, zweitens durch Abgrenzung voneinander und von anderen Personen und Personengruppen und drittens durch Aussagen Dritter über Hakan und Serdar, welche die beiden in ihren Briefen wiedergeben, teilweise annehmen und reproduzieren, was zum ersten Schritt zurückführt.

Die Korrespondenz der beiden Protagonisten ähnelt einem verbalen Duell, in das sie sich immer weiter hineinsteigern und sich in Übertreibungen zu überbieten suchen. Das ist bereits an den äußerst fantasievoll gestalteten, mit Anspielungen gespickten und vor Neologismen strotzenden Anrede- und Abschiedsformeln der Briefe zu erkennen, die nicht nur von einem hohen Bildungsgrad der Absender zeugen, sondern auch von ihrer Begeisterung am virtuosen Umgang mit Sprache. Vor allem aber enthalten sie Fremd- und Eigenattribuierungen, die „von den beiden Protagonisten nicht willkürlich gewählt werden, sondern vielmehr einem konkreten Wunsch nach Abgrenzung geschuldet sind.“[17] Zaimoglu gestaltet diesen Text ähnlich wie Kanak Sprak mit dem häufigen und spontanen Wechsel von ironisch-grotesken und ernsthaften Passagen,[18] aber selbst wenn viele Äußerungen von den Protagonisten mit Augenzwinkern und Ironie getätigt werden und von „aufrichtiger Kommunikation“[19] nicht immer die Rede sein kann, erkennt man dennoch den „Wunsch, die eigene Position und das Verhältnis zum Gegenüber auszuloten.“[20] Die Briefe zwischen Serdar und Hakan sind handlungsarm, manifestieren dafür umso mehr das Bestreben der zwei Figuren, sich kulturell, sexuell und intellektuell voneinander abzusetzen und zu definieren.[21] Dabei wird ihre stilisierte Identität als ‚authentisch‘ und ‚essentialistisch‘ inszeniert.

Es ist unschwer zu erkennen, dass Hakan seinen Freund als den gebildeteren und erfolgreicheren von beiden darstellt, um sich von ihm abzugrenzen und sich als echter „Streetlife-Kümmel“ (186) in Opposition zum „Abiturkümmel“ (67) zu inszenieren. Hakan möchte als „Kanaksta-Kümmel“ (48) in Erscheinung treten und sorgt sich sogar, durch den Briefwechsel mit Serdar seinen Ruf als solchen zu gefährden: „Verdammt, was werden die Ghettokollegas über mich denken, wenn ich ihnen beichte, dass ich Seiten über Seiten vollgepinselt habe“ (27). Indem er seine Fähigkeit, deutschsprachige Briefe zu schreiben, bewusst untertreibt, manifestiert er seinen Wunsch, sich von einer sozialen Klasse mit gutem deutschen Bildungshintergrund abzugrenzen: „Mann, bin ich n Romanmaler oder was, und ich glaubte schon, dass ich höchstens so viel draufhabe wie n Typ im Blaumann, der mit der Zange am langen Stiel die Kippen vom Bahnhofsparkett klaubt.“ (27) Jedoch dürfte dem selbsternannten „Romanmaler“ ein Begriff wie „Romancier“ bekannt sein, berücksichtigt man seine Goethe-Kenntnisse (ganz abgesehen davon, dass „Romanmaler“ als Neologismus das poetischere Wort ist). Es wird also deutlich, dass Hakan, der sich jede höhere literarische Fähigkeit abzusprechen vorgibt, Serdar, der tatsächlich einer schriftstellerischen Tätigkeit nachgeht, mit der er sich sogar finanziell über Wasser halten kann (vgl. 12), als sein Gegenstück, als einen „Schlau-Ali“ (91) entwirft. Während er Serdar als den Studierten (vgl. 69) inszeniert, der „weder Fisch noch Fleisch“ (69) ist, zählt er sich zu den „wahren Kanak-Paten“ (37). Um Serdar als den geistig Tätigen und sich selber als den simpel gestrickten Menschen darzustellen, kontrastiert er ihren Filmgeschmack. Während Hakan Mafiafilme schaut, traut er seinem Freund nicht die Kenntnis dieser Filme zu, weil er glaubt, dass er „eher experimentellen Dreck [schaut], wo n Typ ne halbe Stunde n regungslosen Pfosten abgibt und wie blöde ne rot anlaufende Sonnenscheibe beglotzt“ (119). Damit reproduziert er den Habitus einer Gesellschaftsgruppe, mit der er sich assoziieren möchte und schreibt seinem Freund einen entsprechend kontrastiven zu. Als Serdar ihn dazu auffordert, „die Metaebene, den Bedeutungsreichtum, die losen Enden, das schwarzgallige Element und die vielen Ungeheuerlichkeiten“ (32) des geplanten Titels für seine Haiku-Sammlung zu bedenken, bezeichnet Hakan ihn als „Scheißhausphilosophen“ (37), der sich von „wirkliche[n] Sorgenhaber[n]“ (37) unterscheidet, und zeigt damit geringes Verständnis für Serdars intellektuelle Probleme. Hakan sieht in ihm „nur Kopf“, über dessen „Knochen sich die Pelle wie ne Mumienmembran [spannt]“ (27), womit er seine Intellektualität antithetisch zu einer tauglichen Physis sieht. Hakan hofft, aus Serdar „in ferner Zukunft n gefälligen Kanaksta zu formen, der sich Wind und Wetter, guter und schlechter Presse stellen kann und nicht umkippt“ (37), wie es sich seiner Meinung nach für die Söhne von Migranten gehört. Serdar denkt jedoch nicht daran, sich zu einem „gefälligen Kanaksta“ formen zu lassen, sondern wirft ihm in einem Charakterprofil Oberflächlichkeit vor:

Du bist ja nicht essentiell veranlagt und gibst dich mit Kleinkram ab […] Du bist schnell zufrieden, du streckst dich nicht nach der verbotenen Frucht aus, du bleibst morgens lieber liegen, als dass du dich unmöglichen Abläufen stelltest […] Du stellst vielleicht Pläne und Berechnungen an, wie du die laufenden Kosten decken kannst, und dein einziger Alptraum ist das Monatsende. (78 f.)

Dieser Profilierung stellt er sein Selbstbild als schwermütiger und tiefgründiger Dichter zum Kontrast entgegen: „Ich hingegen höre das Surren der Telegraphendrähte und das Kummerknurren der Elektrogeräte in der Nacht, ich sehe das Wiegen der Halme und tote Zikaden am Wegesrand.“ (79)

Der Konflikt, der zwischen den Identitäten besteht, die Serdar und Hakan von sich entwerfen, trägt Züge von Klassenkampf. Indem Hakan absichtlich den Habitus einer bildungsfernen Schicht reproduziert, um sich eine Arbeitsmigrantenidentität zuzuschreiben, stellt er Serdar als privilegierten Intellektuellen dar und spricht ihm in seiner Weltfremdheit jegliches Verständnis für die Probleme des kleinen Mannes ab. Serdar wiederum porträtiert seinen Freund als Materialisten, um sich selbst als reflektiertes Individuum zu sehen, das die Welt verbessern könnte. Allein, dass sie zu einer solchen Kommunikation fähig sind, entlarvt ihre Korrespondenz jedoch als intellektuelles Rollenspiel zwischen zwei Menschen desselben Hintergrundes, um tatsächliche gesellschaftliche Missstände zu diskutieren.

Neubauer vergleicht die gegenseitigen Beschimpfungen, die diese Konfliktinszenierung als Kampf glaubhaft machen sollen, mit der Strategie des Dissens im Rap. Die Schmähungen sind nicht beleidigend gemeint, weshalb sie auch keine beleidigende Wirkung haben.[22] Er beschreibt sie als „Ritual zwischen zwei Freunden“[23]. Obgleich nicht beleidigend, festigen die Beleidigungen in ihrer Gegenseitigkeit jedoch Fremd- und Selbstidentität, wie beispielsweise in einem Schlagabtausch, angeleitet in einem Brief Serdars an Hakan:

Du bist Abschaum, ein Köter ohne Stammbaum, ein Bauernboy aus dem Bilderbuch der Türkenfresser […], weil du schwach bist im Hirne und in den Charakteranlagen, und […] weil du als eine selbst verrührte Mischung aus Negerkalle und Banlieue-Bandit jedem aufrechten Türken Schande machst. (187 f.)

Dabei spielt Serdar auf Hakans Selbstinszenierung als Kriminellen – oder besser gesagt, die Karikatur eines solchen (vgl. 97) – an und wirft ihm vor, er festige das Bild des kriminellen Ausländers. Hakan entgegnet dem, indem er ihm Assimilation an die Deutschen vorwirft:

[D]u hast dich also voll inne Rolle des Drillpreußen eingelebt und dir zwei Dauerbeschäftigungen ausgesucht inner Langeweile […] erstens, wir begeben uns auf ne Anhöhe, von der wir auf sterbliche Wüstenfellachen runterglotzen und keinen Ständer und kein Scheiß-Gedicht hinkriegen; zweitens, wir sind wirklich bitterböse, wenn nicht alle hergemachten Alis zu Karamellbimbos mutieren […] Alles, was aus der Reihe tanzt, wird von solchen Onkel Toms wie dir angemotzt, weil sie sich ja so schlecht benehmen und wir uns bloß nicht vor den Alemannen blamieren dürfen. (225)

Indem er ihm die Rolle des „Drillpreußen“ zuteilt, kategorisiert er Serdar in die Gruppe der „Assimil-Alis“ (24), die sich darum bemüht, sich integriert und vornehm zu geben (vgl. ebd.). In der Wendung „weil sie sich ja so schlecht benehmen und wir uns bloß nicht vor den Alemannen blamieren dürfen“ (225) wechselt er vom Pronomen „sie“ zum „wir“. Damit schließt er ihn zwar aus der Gruppe der sich schlecht benehmenden „Alis“ (225) aus, jedoch ist Serdar mit einbegriffen, den schlechten Ruf mit ihnen zu teilen. Mit der Assimilation impliziert er also den Vorwurf, sich gegen seine eigenen Leute, die „Migrantenkinder“, zu wenden und das Eigentliche zu vergessen, nämlich dass die undifferenzierte Anfeindung als Krimineller von den Deutschen ausgeht und dass tadellose Führung seinen Ruf auch nicht retten könne. Er solle lieber die ihm zugeteilte Rolle annehmen. Die Gegenüberstellung von „Preußendegen“ (27) und „Sarazenensäbel“ (185) polarisiert Hakan und Serdar im Punkt der Assimilierung und inszeniert die Polarisierung als Kampf.

Ein weiterer Punkt, in dem sie sich durch Entgegensetzung definieren, findet sich im Bereich der Sexualität wieder. Hakan konfrontiert seinen Freund immer wieder mit Schwachheit und Unmännlichkeit. Weiblichkeit wird wahrer Männlichkeit gegenübergestellt, nicht nur, wie Neubauer feststellt, in Verbindung mit dem „Topos des verweichlichten Intellektuellen“[24], sondern auch in Verbindung mit der bereits erwähnten Assimiliertheit:

Dein Problem ist, du kuckst von oben nach unten, anstatt dass er von unten nach oben lugt, und das, du Arsch is n Problem mit euch Assimil-Alis. Ihr seid so scheißvornehm, dass ihr vergessen habt, wie man mit Karacho fickt oder, damit du’s raffst, Liebe macht. Ihr seid Dudenschwätzer, also geht ihr nach Definitionen, nur, Pint und Muschi sind einfach da und warten, dass die Säfte quirlen. (24)

Hier bringt Hakan Serdars vorübergehende erektile Dysfunktion in Verbindung mit seiner Assimiliertheit. Nicht nur in der Liebe, sondern auch im Umgang mit sonstigen Problemen attestiert er seinem Freund eine passiv-weibliche Haltung:[25] „[D]u aber lässt sie an deinen Östrogentitten saugn, bietest dich an als ne ideale Zapfanlage, und nennst dein Übelzustand n Dichterleiden.“ (185 f.) Hakan ordnet ihn der Gruppe der „Knülche mit Himbeerfruchtherzen“ (62) zu und distanziert ihn somit vom Kollektiv der ‚Kanaken‘.[26] Serdar hingegen beleidigt ihn, indem er ihm jegliche Kontrolle über seine Triebe abspricht: Er sei ein „Hormonzombie“ (35) und ein „schmieriger Kabinenonanist“ (187). Diese Beleidigungen weist Hakan nicht zurück, sondern nimmt sie als Ehrentitel auf, indem er beispielsweise als „potenter Hakan-er-selbst“ (73) und „Boss aller Hormone“ (186) signiert. Hakan baut seine Identität auf dem generalisiert westlichen Bild des lüsternen Orientalen auf. Ohne während der erzählten Zeit direkt mit orientalisierenden Anfeindungen seitens der deutschen Gesellschaft konfrontiert zu werden, konfrontiert er jedoch die Gesellschaft (durch seine Briefe an Serdar) mit selbst-orientalisierenden Anekdoten wie beispielsweise mit dem Bericht seiner plötzlichen Erektion am FKK-Strand (vgl. 26) oder der Fleischbeschaffung durch Jagd auf Schwäne im Park (vgl. 41-47).

Serdar erkennt in der Inszenierung seines Freundes als „Kanakster“ nichts als eine kindische Pose und rät ihm, in sich zu gehen und sich zu fragen, „ob es nicht an der Zeit ist, abzulassen von Spielotheken-Tricks und dem Kanakentick, ständig und zur Selbstvergewisserung am Penis rumzunesteln.“ (36) Hakan hingegen sieht in Serdar einen Blinden, der seine wahre Identität nicht annehmen möchte und rät ihm: „Gewöhn dir mal langsam Kanakenmanieren an, Alter“ (186).

Obwohl – oder gerade weil – sich die zwei Freunde so gegensätzlich in Szene setzen, kann der Leser den Eindruck erhalten, dass sie sich im Wesentlichen kaum unterscheiden, überspitzt ausgedrückt, eine Person sind. Auch eine Rezension merkt an, dass „die angeblich gegensätzlichen Charaktere Hakan, Straßen-Lan, und Serdar, Abiturtürke, bis auf kurze Passagen wie aus einem Guss: Großmaul-Alemannisch“[27] reden. Die Figuren scheinen sich ihrer Ähnlichkeit bewusst zu sein: „Diese Zettel sind dir geschrieben“, schreibt Hakan, „damit es nicht später wieder heißt, du und ich sind Seelenverwandte“ (185). Tatsächlich kann Hakan sogar als „alter ego“[28] Serdars eingestuft werden.[29] Auch Serdar ist ähnlich darauf bedacht, seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen und weiß dieses maskuline self-fashioning mit seiner Bildungshuberei zu verbinden, indem er sich als Reinkarnation des europäischen Potenzheros schlechthin imaginiert:

Ich gedenke, mein Haar mit Haarwachs streng auf die Kopfhaut zu kämmen, mein ganzer Habitus muss männlich geprägt und frei von Zwittrigkeiten sein. Es bedarf in dieser Hinsicht eigentlich keiner äußeren Eingriffe […]. Dein Don Serdar Giovanni (216).

Diese Vorbereitung auf ein Treffen mit der angebeteten Rena weist starke Parallelen zu Hakans Styling für das Abendessen mit Jacqueline auf, wofür er sich „mit Haarwachs die Mähne von der Stirn weg innen Nacken gestrichen“ (114) hat. Hinzu impliziert Hakan, dass er Serdar gegenüber zwar ein „Kanakster“, aber verglichen mit den anderen Personen mit Migrationsintergrund der gebildetere und deutsch habituiertere ist. Beispielsweise macht der den Dönerbudeninhaber Tamer auf einen Rechtschreibfehler auf dessen Schaufensterschild aufmerksam (vgl. 112). Ebenso beklagt er sich über Mohis Umgangsform, sich bei ihm anzukündigen: „Weißt du Kumpel, du kannst n Kanaken nicht zivilisieren, der Arsch klebt unten vor der Haustür und brüllt, als stünde er in Augenhöhe mit ner Lehmhütte […] ne Klingelleiste is für so ne Kanaken so was wie ne moderne Kunst am Bau.“ (179) An dieser Selbstironie wird besonders deutlich, dass der ‚Kanake‘ insgesamt nur eine eingenommene Pose ist. Seinen Migrantenfreunden gegenüber scheint Hakan weniger „Kanakenmanieren“ (186) an den Tag zu legen als bei Serdar, während dieser Nachsicht für Hakans „Ethnoallergie gegen zivilisierte Formen des Umgangs“ (241) ausdrückt, weil er sich selbst in ihm wiederzuerkennen scheint: „[I]ch beruhigte mich jedoch mit kleinen Rückblenden auf meine eigene Vergangenheit, die auch manch eine archaische Strecke aufweist“ (241). Insofern ist Serdar nicht minder ‚Kanake‘, sondern ein sogenannter „educated kanakster“[30], der seine Suche nach Identität aufgegeben hat und sich den Status eines Zwischenweltlers eingesteht.

 

Kulturkonflikt in der Liebe oder Liebesmale – von der Liebe gezeichnet

Liebe und Sexualität spielen wohl die Hauptrolle in der Identitätsschaffung der Romanfiguren, denn die Rolle des Geschlechts öffnet neue Fronten in der Verhandlung kultureller Identität. Deutlich liest man das aus Hakans Reaktion auf Jacquelines Einladung zum Abendessen, die ihr und Serdar gegenüber ganz unterschiedlich ausfällt:

Sie sagte: „Hast du Lust, heut abend bei mir vorbeizuschauen? Ich mach uns beiden n Salat. Oder stehst du eher auf Fleisch?“ Ich hab erst mal um ne klare Ansage gekämpft, Alter, sie lud mich doch tatsächlich zum Essen ein, und weil sie so nen prüfenden Blick draufhatte, hab ich verschwiegen, dass wir Kaukasierhunnen alles Fleisch in der Steppe erlegen und annem Spieß übers Feuer hängen, dass wir Darmschlingen von Rind und Schaf rösten und wegfuttern, ganz zu schweigen von dem Rest der Innereien, die so n Tier im Bauch aufweist, und nicht zu vergessen gekochte Schafshirnlappen, auf die man ne halbe Zitrone presst. Ich sagte: „Salat kommt echt gut!“ (114)

Der Auslöser für Hakans grotesk übertriebene Schilderung der fleischgeprägten Küche des Orients ist Jacquelines Frage: „[S]tehst du eher auf Fleisch?“ – Anlass, das Klischeebild des antivegetarischen türkischen Mannes zu perpetuieren, um sich und Serdar („wir Kaukasierhunnen“) der deutschen Frau gegenüberzustellen. Diesmal treten nämlich nicht Hakan und Serdar als Gegensatzpaar auf, sondern Jacqueline dient als Gegenpol. Diese Polarität vermittelt Hakan jedoch nur dem Briefempfänger, da er Jacqueline seine vermeintlichen Essgewohnheiten verschwiegen hat, womit ein Widerspruch zwischen Aussage und Handlung, Subtext und Text offensichtlich wird. Der unzuverlässige Erzähler Hakan erfüllt die Funktion, Jacqueline als die eigentlich orientalisierende und identitätszuweisende Person zu entlarven.

Der performative Widerspruch findet sich wieder, als sich Serdars niedliche Erscheinung als „Teddybär mitn Knopfaugen“ (171), die laut Hakan für seinen Erfolg bei den Frauen verantwortlich ist (vgl. 171), auch in Hakans Unbeholfenheit mit Jacqueline manifestiert: „Ich kam mir so scheißzivilisiert vor wie n Aleman-Bub, ich mein, wir gelten doch als Macho-Stecher, als richtige Raubacken inner Liebe, und im Endeffekt haben wir nicht mehr zu bieten als ne Hauspapi-Nummer.“ (118) Hier erscheinen Hakan und Serdar erneut als Einheit und scheinen sich diesmal sogar gar nicht mehr von ihren deutschen Nebenbuhlern zu unterscheiden. Nicht nur wird hier der Widerspruch zwischen Hakans epistolaren Inszenierung und tatsächlichen Performanz deutlich gemacht, sondern auch dass seine ‚Kanaken‘-Inszenierung etwas gesellschaftlich Erwartetes ist, denn sie „gelten doch als Macho-Stecher“. Damit wird die Konstruktion jeglicher Alterität mit einem Hauch aufrichtiger Verzweiflung und dem Wunsch nach ‚Normalität‘ für einen Moment fallen gelassen.

Die ‚deutsche‘ und die ‚südländische‘ Art der Sexualpraktik wird immer wieder durch Aussagen der Frauenfiguren definiert. Jacqueline beispielsweise konfrontiert Hakan mit dem Klischee des türkischen Patriarchen durch die Frage: „Bist du besitzergreifend?“ (232) Das Motiv erscheint wieder, als Hakan erfährt, dass Jacqueline bei ihrem Masseurinnenjob ihre Kunden gegen Geld sexuell befriedigt, und davon verletzt ist. Jacquelines Erwiderung, dass er „n typischer Türkenmacker wär, nur darauf aus, ne Frau unterm Schleier zu verstecken und zu Hause anzuketten“ (264) zeigt, von wem die ‚Kanaken‘-Charakterisierungen ursprünglich ausgehen – zumal Hakan sich gerade ihr gegenüber nicht als „Macho-Stecher“ (118) inszeniert hat. Ein letzter Versuch, sich hinter seiner ‚Kanaken‘-Identität zu schützen, mündet im Zurückgreifen auf seinen deutschen Gegenspieler Domi, Jacquelines Ex-Freund, den er zu Beginn des Romans als verweichlichte „Scheißschwuchtel“ (93) eingeführt hatte. Nun vermutet er, dass Jacqueline nach dem Streit „zu ihrem Scheiß-Domi abgezwitschert“ sei und schwöre, „nie wieder ihrn Kulturkreis zu verlassen“ (265). Doch ein letztes „ich bin doch hier keine scheiß-liberale Kuschelmuschel“ bringt ihn auch nicht zurück zu seinem einstigen ‚Kanaken‘-Stolz, da er die ‚Kanaken‘-Identität Jacqueline gegenüber bereits hat aufgeben müssen. Somit wird der ‚Kanake‘ zu einer Figur, die nur in literarisch sublimierter Briefform ausagiert wird und nur Serdar richtig rezipieren kann.

Serdars Inszenierung in seinen Liebesbeziehungen weist einen höheren Komplexitätsgrad auf, indem auch Frauen in Korrespondenz mit ihm treten. Diese Briefe zweier Frauen sind ein Bruch im Roman: Zum einen geht der Briefwechsel mit den Frauen mit einem sprachlichen Stilbruch einher. Die „Kanak-Sprak“, geprägt von gegenseitigen Beleidigungen, von fäkaler und ironischer Sprache, setzt im Briefwechsel mit den Frauen zugunsten eines kontemplativeren Tons aus. Selbstreflexionen gelangen, ohne durch die unterschiedlichen Ebenen der ironischen ‚Kanaken‘-Pose gefiltert worden zu sein, zum Leser. Indem Dina und Anke als die einzigen Frauen zu Wort kommen, wird das Zwiegespräch zwischen Serdar und Hakan und damit die performative Erzeugung von Identität aufgebrochen, da die Sichtweisen weiterer Personen – sowohl des anderen Geschlechts als auch eines anderen kulturellen Hintergrunds – auf die Protagonisten unverfälscht, also nicht durch die Protagonisten wiedergegeben, an den Leser gelangen. Die Protagonisten werden endgültig als unzuverlässige Erzähler entlarvt. Beispielsweise erwähnt Anke ihrem Exfreund Serdar gegenüber, sich häufiger mit Hakan zu treffen und sich mit ihm über intellektuelle Themen wie „den Werdegang dieses Landes“ (124) zu unterhalten. Diese Treffen werden von Hakan niemals erwähnt.

Das Bild Serdars, das von Anke entworfen wird, basiert auf ihrer Präsupposition, dass Serdar stark in der Kultur seiner Eltern verwurzelt sei. Ähnlich wie Jacqueline bei Hakan hat Anke bei Serdar das Bild eines türkischstämmigen Mannes vor Augen. So vermutet Anke in Serdars fluchtartigen Aufbruch in die Türkei die Suche nach eigenen Wurzeln: „Vielleicht schreibst du Gedichte im Geiste deiner Väter.“ (127) Serdar, der eigentlich Haikus schreibt, reagiert darauf wütend: „was bitte schön soll das heißen: ‚der Geist meiner Väter‘?“ (140). In seinem Widerspruch manifestiert sich Serdars Wunsch, nicht auf ein Kollektiv – schon gar nicht einem durch Herkunft definierten – reduziert zu werden. Vor allem in Ankes Charakterisierung von Serdars sexueller Aktivität, die durch „Grobheit“ (127) gekennzeichnet zu sein scheint, schimmert ein orientalisiertes Bild Serdars durch. Denn die vermisste „harte Hand, die […] anpackt, die […] Haare nach hinten reißt“ (127) wird der Schlichtheit Thorstens – der Mann, mit dem sie Serdar betrogen hat – gegenübergestellt. Thorsten sei ein „Mensch von schlichtem Gemüt, der sich nicht verkramt in irgendeine Höflichkeit“ (127). Serdar hingegen handele nach der „klassischen Liebesschule“ (168), die etwa darin bestünde, „der Frau beim Öffnen der Restauranttür den Vortritt zu lassen“ (168). Die „klassische Liebesschule“ wird der deutschen Schlichtheit und Stumpfheit gegenübergestellt, besteht jedoch, wie Serdar durchschaut, in „orientalische[r] Schmalzheuchelei“ (168). Anke stelle sie der deutschen Art gegenüber, Dinge direkt anzusprechen, was zwar nicht feinfühlig, aber zumindest aufrichtig sei (vgl. 168), womit Serdar den Orientalismus, der sich hinter diesen Charakterisierungen verbirgt, als Machtinstrument reflektiert.

Ankes Empathie für Serdar geht nicht weit genug, um seinen Wunsch zu verstehen, frei von jeglicher kulturellen Zuordnung zu sein: „Serdar, das ist ein Missverständnis […] Mit dem ‚Geist deiner Väter‘ habe ich nichts Bestimmtes gemeint, und sei nicht immer eingeschnappt.“ (168) Der Kulturkonflikt beginnt bei Ankes Unverständnis für Serdars fast schon überkompensatorische Versuche, durch seine Distanzierung vom Bild des ausländischen ‚Macho-Proleten‘ sowohl seinen Migrations- als auch seinen Klassenhintergrund abzuwerfen, was so weit geht, dass Anke ihn aufgrund seines makellosen Verhaltens zunächst für homosexuell hält (vgl. 168).

Dina, Serdars Liebhaberin, hingegen rechnet sich als Jüdin selbst einer gesellschaftlichen Minderheit zu und tituliert ihn mit der Anrede „lieber Kanak in Mission“ (80) als ‚Kanake‘. Ähnlich wie Anke interpretiert sie Serdars Flucht als Rückkehr in die ursprüngliche Heimat: „Du schreibst im Herzland deiner Väter strenge Haikus, und ich verweile weiterhin in Alemanistan“ (80). Der Unterschied ist der, dass sie – wie das Wort „Alemanistan“ suggeriert – in die Rolle der Kanaka schlüpft. Sie scheint sogar, ihren „Stamm“ (200) in Serdars Gedichten wiederzufinden (vgl. 200). Auch wenn man feststellen mag, dass interkulturelle Differenzen zwischen Dina und Serdar nicht weiter ausgeführt werden,[31] zeigt ihre Beziehung doch, dass Serdar keinen ästhetischen Reiz darin findet, sich einer Minderheit zuordnend selbst zu exotisieren, wie Dina es mit sich von ihrem ersten Brief an tut (vgl. 83 f.).

Selbst junge, gebildete Frauen assoziieren die Migranten der zweiten Generation Hakan und Serdar noch stark mit dem Herkunftsland ihrer Eltern. Anke und Dina bemerken nicht, wie Serdar seine Handlungen und Entscheidungen nicht auf seine türkische Herkunft reduziert wissen möchte. Selbst Hakan äußert, dass Anke sowohl ihm als auch Serdar mit ihrer „Fremde-Länder-fremde-Schwänze-Klatsche auf n Sack geht.“ (280) Damit manifestiert auch Hakan den unmöglichen Wunsch, in der Gesellschaft unabhängig von seinem kulturellen Hintergrund zu sein. Besonders deutlich wird das bei seinem Umgang mit Jacqueline, denn zwei Seelen wohnen hier in seiner Brust. Die eine hält fest an seiner neugewonnenen Identität als „Kanaksta-Kümmel“ (48), die als Subtext immer an Serdar weitergeleitet wird, die dazu dient, sich Serdar gegenüber als unverletzlicher Mann zu geben. Die andere hebt sich über diese und zeigt sich in Hakans tatsächlichem Umgang mit seiner Geliebten, die jedoch verletzt wird, wenn Jacqueline ihn mit Stereotypen seiner Herkunft konfrontiert. Gegen Ende kann man herauslesen, wie sehr er die „Schnauze gestrichen voll“ (265) hat von Anschuldigungen, „n typischer Türkenmacker“ (264) zu sein, die jegliche seiner Gefühle auf seinen Migrationshintergrund reduzieren.

Die Liebesbeziehungen konstituieren im Roman den sozialen Raum für kulturelle Zuweisung. Die Relation der zwei Romanhelden zu den Frauen scheint stellvertretend für ihr Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft zu stehen. Die Frauenfiguren verkörpern demnach verschiedene gesellschaftliche Diskurse und Subjektpositionen, die stets eine Stimme des Fortschritts für sich in Anspruch nehmen. Aus diesen Beziehungen dann gehen die Protagonisten gestempelt hervor. Als Anspielung auf das Kainsmal als gesellschaftliches Stigma gibt der Romantitel einen Hinweis darauf, dass auch im Bereich der Liebe, das intuitiv mit Geborgenheit assoziiert wird, die Protagonisten dem Bild, das sich die Gesellschaft von ihnen gemacht hat, nicht entkommen können.

 

In Almanya ‚Kanake‘ und in der Türkei ‚Deutschländer

Im Allgemeinen dienen Hakan und Serdar dem jeweils anderen als Selbstbildnis. Hakan „will hier nicht n Muttibub abgeben, sondern n harten Kerl vonnem Ghetto“ (146) und Serdar möchte als „‚autonome Einheit‘ oder ‚individueller Partikel‘“ (140) gesehen werden und bemüht sich, als gut integrierter Migrantensohn nicht auf die Türkei reduziert zu werden. Das liegt daran, dass sich Hakan in Almanya als ‚Kanake‘ und Serdar in der Türkei als ‚Deutschländer‘[32] befinden.

Mit Serdars Ankunft in der Türkei setzt die Funktionstüchtigkeit seines Geschlechtsorgans aus. Er, den man „nördlich der Elbe ‚den Löwen von Istanbul‘ nannte“ (12), der in Deutschland mit zwei laufenden Beziehungen sexuell sehr aktiv gewesen ist, der dort als südländischer „Macho-Stecher“ hat gelten können, ist nun in südlicheren Gefilden lahmgelegt. In der Türkei stellt sich das Gefühl ein, fehl am Platz zu sein, er fühlt sich wie ein „Luxuskümmel in einer Hartschalenwelt“ (13). Serdar sieht seinen Aufenthalt in der Türkei nicht als eine Rückkehr in die ursprüngliche Heimat (vgl. 9). Im Gegenteil, die pathetisch emotional geladene Beschreibung seiner Emotionslosigkeit bei der Ankunft ist als ironische Parodie des Topos des heimkehrenden Migranten zu verstehen.[33] Aus seiner „kalten Heimat“ (9) Kiel in die Türkei fliegend, gehört er nicht zu den „brave[n] Gastarbeiter[n] auf Heimreise“ (9). Trotzdem ist er an dem Badeort an der ägäischen Küste der Türkei kein Tourist. Die durch das Elternhaus vermittelte türkische Sprache und die Kenntnis der türkischen Kultur machen ihn in der Türkei zum sogenannten ‚Deutschländer‘. Erstmals nennt ihn der Vater so (vgl. 16); später auch Baba (vgl. 104), mit dem Serdar in der Türkei Bekanntschaft macht. Neubauer interpretiert Serdars erektile Dysfunktion als Manifestation seiner Degradierung zum ‚Deutschländer‘ in der Türkei.[34] Babas Feindschaft Serdar gegenüber steigert sich, als er von dessen Annäherungsversuchen an die Türkin Rena erfährt, und findet ihren Höhepunkt im Warnbrief an diese:

Der Mann, der dich erfolgreich umgarnte und dem du dich hinzugeben bereit bist, brachte aus dem fremden Almanya seinen toten Schwanz mit! Sein Schwanz ist so tot wie die dorren Algen unter der Sonne. […] Der Deutschländer ist unseren Sitten entfremdet, er befolgt andere Regeln der Körpermotorik! Er ist nicht Manns genug, dich glücklich zu stimmen, so wie du es verdienst. (270 f.)

Die erektile Dysfunktion bringt Baba in Verbindung mit Serdars Herkunft. Dem vom Wohlstand verweichlichten ‚Deutschländer‘ wird Unmännlichkeit zugesprochen. Tatsächlich nimmt Serdar gerade in der Türkei ‚deutsche‘ Sichtweisen ein.[35] Seine Beobachtungen zur Begrüßung der Einheimischen sind die eines Außenseiters. Hier wird Serdar zum Orientalisten:

Man stelle sich zwei hochseriöse Truthähne vor, die – von Würde behaucht – beim Anblick des bekannten Gattungskumpels nicht etwa mit den Schnabellappen schlackern oder sonstige grundlose Heiterkeiten an den Tag legen, wie sie dauererregten Südländern sonst zu Eigen ist. (49)

Diese Beschreibung impliziert die eigene Abgrenzung von den dauererregten Südländern und entwirft dabei das Bild des beherrschten Deutschen. Auch durch andere herabwürdigende Bezeichnungen für die Einheimischen wie „Ziegentreiber“ (13) und „lausiges Bauernvolk“ (13), die die Fortschrittlichkeit Deutschlands betonen, wird Serdars Entfremdung deutlich. Diese schlägt sich besonders in der Reflexion nieder, dass er das Schicksal der dortigen Einheimischen hätte teilen können:

Ich frage mich also, was ich Bauernlümmel mit der Gnade der späten Bildung eigentlich hier zu suchen habe, ob ich, wenn nicht meine Klasse, die auf der Strecke zwischen Ackerland und Fabrikhalle krepierte, so doch irgendeine marginale Zugehörigkeit verrate. (13)

Doch als ehemaliger Student gehört er nicht mehr der Klasse der Gastarbeiter an. Mit der Reflexion, dass er durch „die Gnade der späten Bildung“ dem Schicksal eines Sprösslings seiner Klasse hat entkommen können, stellt er sich die „klassische Identitätsfrage: Wer bin ich?“[36] Ist er nun „das Blümchen im Topf, oder […] die Humuserde, […] die kalte Kippe oder der Prinz aus dem Morgenland“ (12)?

Lange weiß er keine Antwort darauf und fragt sich, was „für ein seltsamer Türkenmann“ (28) er doch sei. Einerseits beobachtet er den patriarchalisch geprägten Haushalt seines Großvaters in der Türkei, in welchem Männer keinen Fuß in die Küche setzen (vgl. 10, 28) und rühmt sich in fortschrittlichem Stolz, sich sein Spiegelei selbst zu braten (vgl. 28), während er auf die Frauen unterdrückenden Türken herabschaut. Andererseits lässt er sich in Deutschland selbst von seiner Mutter verwöhnen.[37]

Zusammenfassend ist festzustellen, dass Serdar in Deutschland Orientklischees eher reproduziert und sein Türkischsein nicht hinterfragt hat. In der Türkei hingegen, wo er für seine Umgebung das Klischee des verweichlichten Deutschen erfüllt, durchschaut er die patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen der Türkei und identifiziert sich mit einem fortschrittlich denkenden Westeuropäer. Am Beispiel Serdars wird exerziert, wie je nach Aufenthaltsort die von der Mehrheitsgesellschaft erwartete Identität reproduziert wird. Sie befindet sich immer zwischen zwei Kulturräumen: In Deutschland liegt sie zwischen Migrant und Einheimischer, in der Türkei zwischen Tourist und Rückkehrer.

Dass Serdars Identität stets in einem Zwischen(kultur)raum zu verorten, er physisch jedoch nur in einem Kulturraum präsent ist, führt zu einer Identitätskrise, die am Ende des Romans wohl teilweise lösbar scheint. Denn auf seinem Rückflug nach Deutschland findet er im grotesk-feierlichen Akt einer plötzlichen unkontrollierten Erektion wieder zu sich. Das Flugzeug konstituiert somit das Interspatium, in welchem seine Identität zu verorten ist.

Letzten Endes ist Serdar weder Deutscher noch Türke, sondern er ist in Deutschland ‚Kanake‘ wie Hakan und in der Türkei ein ‚Deutschländer‘. Zum Schluss findet er zu seiner ‚Kanaken‘-Identität zurück, als er Hakan bittet, in die Türkei zu fliegen:

[I]ch möchte noch einmal an deinen Kampfgeist appellieren: Baba agiert über dem Eichstrich und glaubt, Leute meines Schlages seien weiche Deutschländerwürstchen und würfen bei der ersten Androhung von Kopfnüssen den Bettel hin. Es liegt an uns, verehrter Kicker von Dynamo Aleman-Kanak, ihn eines Besseren zu belehren. (273)

Die Betonung liegt auf dem „uns“. Er zählt sich und Hakan sowohl zu den ‚Kanaken‘ als auch zu den „Deutschländerwürstchen“, womit der ‚Kanake‘ als eine aus Stereotypen konstruierte Widerstandsidentität offenbar wird.

Doch begeht man hier nicht den Fehler, die Protagonisten einer Geschichte in eine duale Welt zu zwingen? Sicher wäre es möglich „a story alone“[38] zu erzählen und manchmal schimmert Serdars Versuch durch, dies als „autonome Einheit“ (140) auch zu tun. Doch die dominante Denkfigur der Dualität im Migrations-Diskurs, „which situates migrants ‚between two worlds‘“[39], die ihnen der mehrheitsgesellschaftliche Diskurs, in dem sie sich befinden, aufzwingt, bringt Hakan und schließlich auch Serdar dazu, sich infolge ihrer Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft in die Widerstandsidentität der Kanaken zu begeben. Das Flugzeug – ein Raum, wo verschwimmende Grenzen ‚normal‘ sind – zeigt jedoch, dass eine Welt ohne Identitätspolitik möglich wäre.

 

Der ‚Kanake‘ – eine transkulturelle Figur

Serdar bemerkt bereits bei der Begrüßungsweise der Einheimischen, die er mit einem Vergleich aus dem Tierreich belegt (vgl. S. 49), dass er kein Türke ist. Er beschreibt, wie sich die türkische Begrüßung vom Gruß der türkischen Gastarbeiterkinder in Deutschland unterscheidet.

Weißt du [Hakan], wie sich die schicken Prolls hier grüßen? Nicht etwa mit Handschlag und nassem Kuss auf die Backen, wie wir’s in Almanya kultivieren, um nebenbei den Alemanbengeln anzuzeigen, was für ausgemachte Körperfeinde sie doch sind. (49)

Gleichzeitig charakterisiert sich Serdars und Hakans Gruß durch dessen Funktion, den Grüßenden von seinen deutschen Mitmenschen abzugrenzen. Der Gruß veranschaulicht erneut den Widerstandscharakter, den ihre konstruierte ‚Kanaken‘-Identität in Abgrenzung zu zwei abgeschlossen gedachten kulturellen Entitäten definiert. Diese liegt kulturell in einem Zwischenraum inmitten von Deutschland und Türkei, Okzident und Orient, „dem Normalen“ und „dem Anderen“. Wohlgemerkt beschreibt eine Koexistenz dieser zwei Entitäten nicht diese Widerstandsidentität. Die Hauptfiguren können nämlich zu keinem Zeitpunkt Teil einer der beiden Entitäten werden. Sie sind „weder Fisch noch Fleisch“ (69). Diesen Zwischenraum kulturell zu definieren, vermag das Konzept der Transkulturalität, das Wolfgang Welsch in Abgrenzung zum traditionellen Konzept der Einzelkulturen und zum Begriff der Multikulturalität prägte.[40] Im Gegensatz zu diesen sei Kultur generell von Hybridisierung gekennzeichnet. Besonders Migration führe zur Verflechtung von Lebensformen und münde in der transkulturellen Prägung von Individuen.[41] Dies ist zentral für die Beschreibung der zwei Romanhelden.

Liebesmale, scharlachrot kann in seiner ganzen Konzeption als hybrid bezeichnet werden: Angefangen bei der polylogischen Erzählweise des Briefromans, die in der Vielseitigkeit von Sichtweisen und Ambivalenzen als hybrid ausgemacht werden kann,[42] bis hin zur Sprache, die vor Anspielungen auf das Alte und Neue Testament, auf Orientbilder und auf westliche Hoch- und Populärkultur, vor Neologismen, archaischen Ausdrücken, Mehrsprachigkeit, Lehnwörtern, konstantem Wechsel zwischen konzeptionell schriftlichem und kolloquialem Stil und Vergleichen mit verschiedensten Bereichen strotzt.[43] Schließlich ist auch die Identität der Protagonisten hybrid. Sie teilen das Umfeld der ‚Gastarbeiterkinder‘, das Zaimoglu in seinem Debütwerk Kanak Sprak beschreibt.[44]

Obwohl Zaimoglu beteuert, dass diese zweite Generation der Migranten keine kulturelle Verankerung sucht,[45] muss doch für den Roman das Gegenteil festgestellt werden. Sowohl Serdar als auch Hakan suchen nach einer spezifischen Identität. Als Söhne türkischer Eltern in Deutschland aufgewachsen, gehören sie einer ganz eigenen Kultur an.

Der Roman reflektiert damit Edward Saids Untersuchungen, wie der Orient als europäische Erfindung zur Definierung Europas als Gegenidee und Gegenidentität beigetragen hat,[46] auf vielseitige Weise. Der Text zeigt vor allem aber, wie die Hauptfiguren den Orientalismus, mit dem sie konfrontiert werden, produktiv aufnehmen und daraus ihre Identität schmieden.

Wie in den vorangehenden Abschnitten gezeigt, lebt die Inszenierung dieser Identität von der Reproduktion und Aufnahme von Stereotypen. Wie Selbststereotypisierung in der Gesellschaft zur Selbstkategorisierung in eine bestimmte Gruppe führt, das Gruppenzugehörigkeitsgefühl stärkt und somit eine bestimmte gesellschaftliche Identität erzeugt,[47] zeigt der Roman anhand des Identitätserschaffungsexperiments der stilisiert hybriden ‚Kanaken‘-Identität. Der kurzlebige Erfolg dieses Experiments manifestiert sich im identitätsstiftenden Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Serdar und Hakan zum Höhepunkt des Romans, als Serdar Hakan in die Türkei bittet, um den Türken Baba und die Deutsche Anke von ihm fernzuhalten.

Die Hybridität der daraus entstandenen ‚Kanaken‘-Identität findet symbolisch ihr Zuhause im Zwischen(kultur)raum zwischen der Türkei und Deutschland, nämlich im Flugzeug, wo Serdar wieder zu sich findet. Karina Becker nennt diesen einen „transitorischen Raum“. „Transitorische Orte“ definiert sie als „Orte des Übergangs, des Neuanfangs oder, wie Foucault (1980) es nennen würde, ‚Heterotopien‘, die als Gegenräume einen Gegenentwurf zur Realität schaffen.“[48] Dieser im Roman „transitorisch“ und künstlich für die Dauer eines Fluges geschaffene Raum kann als Visualisierung des von Homi K. Bhabha im Rahmen seiner Hybriditätstheorie geprägten Konzeptes vom „Dritten Raum“ gelten. Der „Dritte Raum“ stellt eine Situation dar, in der zwei (oder mehr) Individuen/Kulturen aufeinander Einfluss ausüben und (aus stets bereits Hybridem) eine „dritte“ hybride Kultur hervorbringen. Das Konzept des „Dritten Raumes“ kritisiert damit die Vorstellung einer Originalkultur.[49] Somit ist Hybridität das Element, das den in Kategorien von Einzelkultur und Multikulturalität so schwer fassbaren Roman erklären kann.

 

Fazit: desengaño des Pikaro

Die Suche der beiden ‚Kanaken‘ nach einem kulturellen Bestimmungsort scheitert. Der Boden der Tatsachen findet sich zum Schluss des Romans nicht in der Metapher eines Flugs, sondern entweder an der Ägäis oder in Kiel. Denn die gescheiterte Flucht Serdars in die scheinbare Heimat bringt ihn seiner „kalten Heimat“ (9) zurück. Genauso kehrt Hakan, nachdem er Serdars Hilferuf gefolgt ist, zurück nach Almanya. Was wird also aus der Widerstandsidentität?

Das Konzept der Widerstandsidentität vermag wohl zu erklären, worin die Funktion der Selbstverortung in eine negativ stereotypisierte ‚Kanaken‘-Kultur liegt.[50] Betrachtet man Zaimoglus eingangs zitierte Definition von „Kanake“[51], leuchtet es ein, dass die negativen Stereotypen, die mit diesem Schimpfwort verbunden sind, umfunktioniert und ins Positive gekehrt werden, sobald der Begriff zum Namen wird, der mit „stolzem Trotz“ geführt wird. Wie das geschieht, erklärt Judith Butlers Ansatz der Rekontextualisierung verletzender Worte.[52] Die Beleidigung „Kanake“ wird zur „Ehrenbezeichnung“, wenn die diskriminierende Bedeutung den hegemonialen Kontext der Unterwerfung verlässt und der Begriff nicht mehr zur Verletzung des Benannten dient, sondern als Inszenierung rassistischer Rede, die die verletzende Äußerung reinszeniert und resignifiziert.[53] Die Beleidigungen und Stereotypisierungen der beiden Protagonisten sind ein Konglomerat verschiedenster Rekontextualisierungen, um rassistische Rede zu inszenieren.

Für Kati Röttger produziert die Selbstidentifizierung als ‚Kanake‘ eine Maske, die Widerstand leisten und Identität vermitteln solle, hinter der es jedoch „kein Selbst“[54] gebe. Dieses tritt in Zaimoglus Kanak Sprak in einer emotional geladenen Passage zutage:

Ich frag mich, wie nur könnt ich erlösung finden und wie gottgefüllte nische beziehen, ich frag mich, wie könnt ich mich retten vor dem angriff des widersachers, der dich heimsucht in der nacht und an den scheiben kratzt, ich frag mich wie kann ich mich hochhangeln an nen ort, wo’s nicht so messerscharf zugeht, ich frag mich, wo ist die milde hand, die sich in meine hand vergräbt, ich frag mich, wo ist die frau, mit der gut kirschen essen ist, an deren weiche haut sich schmiegen läßt, ich frag mich, wann ich das olle zähnefletschen endlich lassen kann, weil ich doch nicht aus’m tierreich bin, und meine ruhe haben will im menschenreich. Und, bruder, ich glaube, wer antwort weiß auf all die fragen, der ist wahrlich ein gottverdammter weiser.[55]

In dieser Passage erkennt man die wahre Suche nach Identität, die „so etwas wie Heimat sein könnte“.[56] Georg Mein sieht darin die Frage gestellt, „wo die ‚Kanaken‘ am Ende ankommen wollen“ mit ihrer Selbstinszenierung, die auf die kulturelle Zurückweisung der Deutschen und Türken reagiert.[57] Eine ähnliche Desillusionierung erfahren die beiden Helden aus Liebesmale, scharlachrot. Hakan lässt sich nahezu im ganzen Roman keine Skepsis anmerken, was seine Inszenierung als „Kanaksta-“ und „Streetlife-Kümmel“ (vgl. 48, 186) betrifft, obgleich viele seiner Vorhaben enttäuschend enden, z.B. die gescheiterte Schwanenjagd (vgl. 41-47) und der unrentable Kauf geklauter Handys (vgl. 96 f.). Stets hält er daran fest, zu „den heftigsten Kriegskümmeln“ (97) zu zählen. Hakans Neigung, sich mit kriminellen Mitteln von Episode zu Episode zu hangeln, ohne jedoch ein erfolgreicher Krimineller zu werden, und sein unzuverlässiges Erzählen, das von linguistischen Spielereien jeglicher Art durchzogen ist, verleihen der Figur etwas Pikareskes. Um den Schelm als Pseudo-Kriminellen zu entlarven, muss man die Briefe der anderen Figuren als „Komplementärlektüre“[58] heranziehen. Das „agonale Spiel von einander zum Teil ergänzenden, zum Teil widersprechenden Weltbildern und Erzählformen“[59] macht den Briefroman Liebesmale scharlachrot zu einem Schelmenroman und den ‚Kanaken‘ zu einem modernen Pikaro, der gegen die etablierte Gesellschaft auf der Heimatsuche durch die Landschaft zieht. Schließlich zeigt sich das pikareske Prinzip vom bellum omnia contra omnes auch in der Widerstandsidentität des ‚Kanaken‘: Seine Umgebung und das Problem der Translokalität sind eine Variante des Topos der ‚verkehrten Welt‘, die in der Tradition der Menippeischen Satire als Zerr- und Spiegelbild der Gesellschaft fungiert. So nimmt ausgerechnet Anke aus der Türkei – nun selber eine Fremde – an Hakan schreibend wahr: „[I]ch schicke dir diesen Brief nach Deutschland, obwohl du mit deinem Namen viel mehr hierher gehörst und ich mit meinem Namen dort besser aufgehoben bin.“ (274) Damit beugt sie sich schließlich dem mehrheitsgesellschaftlichen Konstrukt von Kulturkreisen und zwängt Hakan (und sich) in das dualistische Paradigma, das diese ‚verkehrte Welt‘ überhaupt zustande kommen lässt.

Am Ende der briefliterarischen, erotischen und touristischen Erkundungsreisen in der Hoffnung, eine Identität jenseits der alten Paradigmata zu finden, scheint also ein ernüchternder Essenzialismus zu stehen, den man nur akzeptieren, nicht aber produktiv machen kann. Dieses desillusionierende Moment, der desengaño des Pikaro, tritt bei Hakan sobald nicht auf. Als es schließlich der sich als Eroberer inszenierende Hakan ist, der von Jacqueline erobert und dann wieder verlassen wird, klingt er ernsthaft verzweifelt:

Ich bin am Ende meiner Kräfte, Scheiße, ich frag mich, was soll ich inner Zukunft, in der ich weniger wert bin als ne kaputte Ampulle.
Hakan, ohne Rang und Namen (265)

Diese Worte schlagen einen ähnlichen Ton an wie der obige Ausschnitt aus Kanak Sprak. Hakan, der sich nach all der „Kanaksta-“ und „Streetlife-Kümmel“-Inszenierung (48, 186) nach aufrichtiger Liebe sehnt, manifestiert ganz im Sinne des pikaresken Romanendes den Wunsch nach Teilhabe an der normalbürgerlichen Welt. Serdar hingegen scheint schon von Beginn an die ‚Kanaken‘-Pose als vermeintlich identitätsstiftendende Maßnahme erkannt zu haben, was sich an seinem Bestreben zeigt, eine „‚autonome Einheit‘“ (140) zu sein. Die fluchtartige Rückkehr der beiden nach Deutschland verrät, dass es der Ort ist, den sie als Heimat beanspruchen wollen. Eine Erweiterung von dem, was als türkisch oder deutsch gilt, wird von den Bio-Deutschen und von jenen, die sich als Türken identifizieren, abgelehnt. So bleiben sie weiter zwischen zwei Stühlen, wo ihnen vorgeworfen wird, keiner ‚eindeutigen‘ Kultur anzugehören und gelangen so – um mit Hakans Worten zu enden – zum Schluss, dass sie „Held[en] ohne Heldentum“ (88) sind.

 

Footnotes:

[1] Vgl. Spiegel, Hubert. „Feridun Zaimoglu: Ruß: Und hinterm Wasserhäuschen eine Welt“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Okt. 2011, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/feridun-zaimoglu-russ-und-hinterm-wasserhaeuschen-eine-welt-11483764.html (eingesehen am 15. August 2016); Kahle, Christine. „Feridun Zaimoglu: ‚Der Islam ist eine Modewelle‘“. In: tagesschau.de, 28. August 2007, https://www.tagesschau.de/inland/meldung203352.html (eingesehen am 15. August 2016); Rüdenauer, Ulrich. „Etwas weniger zerebralminimal vor sich hin dämmern: Feridun Zaimoglus Romane ‚Liebesmal, scharlachrot‘ und ‚German Amok‘“. In: literaturkritik.de, Januar 2003, http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=5584 (eingesehen am 15. August 2016).

[2] Vgl. Cheesman, Tom. „Talking ‚Kanak‘: Zaimoğlu contra Leitkultur“. In: New German Critique, 92 (2004), S. 82-99, hier S. 83.

[3] Zaimoglu, Feridun. Kanak Sprak: 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, Berlin: Rotbuch-Verlag, 1995, S. 9.

[4] Rüdenauer, „Etwas weniger zerebralminimal vor sich hin dämmern“.

[5] Vgl. Dörr, Volker C. „‚N gefälliger Kanaksta‘: Feridun Zaimoglus ‚Liebesmale, scharlachrot‘: Migrantenliteratur im ‚transkulturellen‘ Kontext?“. In: Zeitschrift für Germanistik 15/3 (2005), S. 610-628, hier S. 616.

[6] Rüdenauer, „Etwas weniger zerebralminimal vor sich hin dämmern“.

[7] Zaimoglu, Feridun. Liebesmale, scharlachrot, 3. Auflage, Köln: Kiepenheuer und Witsch 2009, S. 9. Im Folgenden zitiere ich aus diesem Buch durch Angabe der Seitenzahl im laufenden Text.

[8] Ein Begriff, den Hakan verwendet, um seinem Freund Serdar Assimilation an die Deutschen vorzuwerfen (vgl. 24).

[9] „Kanak Attak und Basta!“. In: Kanak Attak, November 1998, https://www.kanak-attak.de/ka/about/manif_deu.html (eingesehen am 27. März 2021).

[10] Vgl. Dörr, „N gefälliger Kanaksta“, S. 624.

[11] Esselborn, Karl. „Unterschiedliche Erscheinungsformen der Interkulturalität/Transkulturalität deutschsprachiger Literatur am Beispiel von Horst Bienek, Feridun Zaimoglu und Yoko Tawada“. In: Hess-Lüttich, Ernest W. B. (Hg.). Kommunikation und Konflikt: Kulturkonzepte in der interkulturellen Germanistik, Frankfurt am Main u.a.: Lang, 2009, S. 321-347, hier S. 328.

[12] Gebauer, Mirjam. „Der Barbar in der Wagenburg: Feridun Zaimoglus Ich-Entwürfe“. In: Breuer, Ulrich u. a. (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, München: Iudicium, 2006, S. 126-139, hier S. 132. f.

[13] Günter, Manuela. „‚Wir sind bastarde, freund …‘: Feridun Zaimoglus Kanak Sprak und die performative Struktur von Identität“. In: Sprache und Literatur. 30/1 (1999), S. 15-28, hier S. 15.

[14] Vgl. Butler, Judith. Haß spricht: Zur Politik des Performativen, Berlin: Berlin-Verl., 1998, S. 10.

[15] Ebd., S. 48. Kursivschreibung im Original.

[16] Ebd., S. 56.

[17] Neubauer, Jochen. Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer: Identität und Fremdwahrnehmung in Film und Literatur: Fatih Akın, Thomas Arslan, Emine Sevgi Özdamar, Zafer Şenocak und Feridun Zaimoğlu, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011, S. 488.

[18] Vgl. ebd., S. 482.

[19] Dörr, „N gefälliger Kanaksta“, S. 624.

[20] Neubauer, Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer, S. 482.

[21] Vgl. Schmidt, Gary. „Feridun Zaimoglu’s Performance of Gender and Authorship“. In: Gerstenberger, Katharina und Patricia Herminghouse (Hg.). German Literature in a New Century: Trends, Traditions, Transitions, Transformations, New York u.a.: Berghahn, 2008. S. 196-213, hier S. 202.

[22] Vgl. Neubauer, Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer, S. 488.

[23] Ebd.

[24] Ebd., S. 487.

[25] Ebd.

[26] Vgl. ebd., S. 488.

[27] Zelik, Raul. „Wenn Männer Briefe schreiben – Feridun Zaimoglus ‚Liebesmale, scharlachrot‘ (Originalfassung Jungle World Januar 2001)“. In: raulzelik.net, Januar 2001, http://www.raulzelik.net/kritik-literatur-alltag-theorie/143-wenn-maenner-briefe-schreiben-feridun-zaimoglu-liebesmale-scharlachrot (eingesehen am 21. August 2016).

[28] Schmidt, „Feridun Zaimoglu’s Performance of Gender and Authorship“, S. 202.

[29] In vielerlei Hinsicht sind Hakan und Serdar nicht gegensätzlich – wie sie es gern inszenieren – sondern auch auf groteske Weise ergänzend. Während Serdar bis in die Türkei von Frauen verfolgt wird, aber gerade dort Erektionsstörungen hat, hat Hakan in Deutschland nicht sonderlich viel Erfolg bei Frauen, strotzt dafür vor Potenz (vgl. 25 f., 202-207). Ebenso kann man sagen, dass Hakan entgegen seinem gewünschten Selbstbild als „Macho-Stecher“ (118), sehr naiv und kindlich in Jacqueline verliebt ist und sich ihr unterwirft in seinem „Minnedienst“, während Serdar, der sich oft als romantischer „Minnesänger“ in Szene setzt, eigentlich recht kalt und berechnend mit seinen vielen Geliebten umgeht.

[30] Gebauer, „Der Barbar in der Wagenburg“, S. 132.

[31] Vgl. Neubauer, Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer, S. 509.

[32] Almancı, häufig übersetzt als ‚Deutschländer‘ (sinngemäß: ‚Deutsch-artiger‘), ist in der Türkei eine abwertende Bezeichnung für in Deutschland lebende Türken. Das Bild des ‚Deutschländers‘ ist verbunden mit der Vorstellung eines wohlhabenden, Schweinefleisch konsumierenden und in Bequemlichkeit lebenden Türken in Deutschland. Im deutschen Diskurs erscheinen sie als „Gastarbeiter“ oder „Ausländer“ (Kaya, Ayhan und Ferhat Kentel. Euro-Turks: A Bridge or a Breach between Turkey and the European Union? A Comparative Study of French-Turks and German-Turks. 2005 [CEPS EU-Turkey Working Paper 14], S. 8, 36). Ein Satz, mit dem sich deshalb die deutsch-türkische Jugend häufig identifiziert, lautet: “Here we are called yabancı (foreigner) and there in Turkey they call us Almancı” (ebd., S. 8).

[33] Vgl. Neubauer, Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer, S. 489.

[34] Vgl. ebd., S. 491.

[35] Vgl. ebd., S. 489.

[36] Ebd., S. 491.

[37] Vgl. ebd., S. 494 f.

[38] Adelson, Leslie A. The Turkish Turn in Contemporary German Literature: Toward a New Critical Grammar of Migration. New York: Palgrave Macmillan, 2005, S. 3.

[39] Ebd.

[40] Vgl. Welsch, Wolfgang. „Transkulturalität: Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen“. In: Schneider, Irmela (Hg.): Hybridkultur: Medien, Netze, Künste. Köln: Wienand, 1997, S. 67-90, hier S. 67-72.

[41] Vgl. ebd., S. 69-72.

[42] Vgl. Becker, Karina. „‚Mann, bin ich n Romanmaler oder was‘? Identitätsprobleme eines ‚Deutschländers‘ in Feridun Zaimoğlus Briefroman Liebesmale, scharlachrot.“. In: German as a Foreign Language 3 (2016), S. 7-26, hier S. 17-18.

[43] Ebd., S. 10-12.

[44] Vgl. Zaimoglu, Kanak Sprak, S. 9-18.

[45] Vgl. ebd., S. 12.

[46] Said, Edward W. Orientalism, London: Penguin Books, 2003, S. 1-9.

[47] Vgl. Hogg, Michael A. und Dominic Abrams. Social Identifications: A Social Psychology of Intergroup Relations and Group Processes, London [u.a.]: Routledge, 1988, S. 73.

[48] Becker, „‚Mann, bin ich n Romanmaler oder was‘?“, S. 18.

[49] Bhabha, Homi K. The Location of Culture, London: Routledge, 1994, S. 36-38.

[50] Vgl. Neubauer, Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer, S. 453-477.

[51] Zaimoglu, Kanak Sprak, S. 9.

[52] Vgl. Röttger, Kati. „Kanake sein oder Kanake sagen? Die Entscheidungs-Gewalt von Sprache in der Inszenierung des Anderen und des Selbst“, In: Balme, Christopher (Hg.). Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter, Tübingen, Basel: Francke, 2003, S. 289-299, hier S. 296 f.

[53] Vgl. ebd., S. 297.

[54] Ebd., S. 298.

[55] Zaimoglu, Kanak Sprak, S. 77.

[56] Mein, Georg. „Die Migration entlässt ihre Kinder: Sprachliche Entgrenzungen als Identitätskonzept“. In: Kammler, Clemens (Hg.). Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989: Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. Heidelberg: Synchron, 2004, 201-217, hier S. 213.

[57] Vgl. Mein, „Die Migration entlässt ihre Kinder“, S. 213.

[58] Bauer, Matthias. Der Schelmenroman. Stuttgart, Weimar: Metzler, 1994, S. 2.

[59] Ebd.

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