Jun 2013

Klaus Rainer Goll

Tagebuch einer Reise aufs Fischland — Auszüge

4. Juli 1983, Montag

 

Meine Reise von Deutschland nach Deutschland. Ich habe keine Vorstellung von dieser Reise, weiß nicht, in welches Land ich fahre, in was für eine Welt. Noch denke ich, die Welt wird sein, wie ich sie kenne. Bei diesem Gedanken bleibe ich ganz gefasst und ruhig, so wie man auf etwas zugeht, das einem vertraut ist. Oder steckt in allem doch die Angst, die man überlistet, indem man ruhig bleibt?

Lina hat für die Reise die wichtigsten Dinge vorbereitet. Aber noch immer gibt es Vieles zu bedenken und zu berücksichtigen.

Für diese Reise gerüstet sein wie für einen Kampf, wie bei einem Aufbruch in ein unbekanntes, fernes Land. Dabei ist dieses Land auch ein Teil Deutschlands. Es ist Deutschland. Aber es ist nicht das Deutschland, das ich kenne, in dem ich groß geworden bin, aufgewachsen, aber es ist das Deutschland, das ich von Kindheit an immer vor Augen hatte: an der Trave.

Und es war immer das Land, das wir zwar sahen, das zum Greifen nah vor uns lag, das aber nicht zu erreichen war. Das war seltsam und gar nicht zu begreifen für uns Kinder: ein Land so nah vor unseren Augen, vor unserer Tür und doch nicht zu erreichen, so fern, so fremd: ein fremdes Land.
Heute nun ist es soweit: Heute fahre ich in das geheimnisvolle Land meiner Kindheit , und das heißt nichts anderes, als dass es das Land ist, von dem uns immer gesagt wurde, das ist auch Deutschland, aber da darfst du nicht hin. Damals nannte man dieses Land noch: die Ostzone. Manchmal sagte man auch nur: die Zone. Oder: russische Zone. Aber das war für uns ein Zungenbrecher, also blieb es bei: Zone.

 

Alte Grenze Schleswig-Holstein /Mecklenburg-Vorpommern Straße in Richtung Ratzeburg/Lübeck

Alte Grenze Schleswig-Holstein /Mecklenburg-Vorpommern
Straße in Richtung Ratzeburg/Lübeck

 

Die Zone: das war für uns Kinder der Blick über die Trave zum anderen Ufer hinüber und auf die sich dort an den Uferhängen erstreckenden Wälder. Manchmal auch die Wachtposten in ihren Verstecken, auf die mit geschulterten Gewehren patrouillierenden Wachsoldaten. Es waren immer zwei, und wir sagten, einer müsse noch den anderen bewachen. Und es sah auch oft so aus, weil einer immer, so sah es aus, einige Schritte vor dem anderen ging, am Ufer, und das Gewehr war so geschultert, als sei es auf den vor ihm Gehenden gerichtet. Eine aufregende Welt für uns Kinder, die diesseits des Flusses im Sand buddelten oder im Wasser schwammen, vor Augen immer das v e r b o t e n e Land, nach dem wir eigentlich unentwegt Ausschau hielten. Jede kleine Regung drüben registrierten wir sofort, und war jemand mit dem Fernglas in der Nähe (vielleicht ein Grenzsoldat vom Bundesgrenzschutz), dann baten wir ihn darum, einmal durch das Fernglas sehen zu dürfen. Wir durften und schauten lange nach drüben, aufs andere Ufer und schauten und schauten und suchten und suchten, und was wir zu finden hofften, waren immer: Menschen. Die Menschen aber, die wir gelegentlich erspähten, waren gewehrbeladene Grenzsoldaten der Nationalen Volksarmee, ganz selten einmal ein Bauer auf dem Acker oder am Ufer, das von Zeit zu Zeit geharkt wurde, vielleicht mit einer Egge, jedenfalls zogen Pferde das Arbeitsgerät. So wurden Spuren gesichert. So wurden Spuren verwischt. Die Glockentöne vom nahen Selmsdorf aber konnte keiner verwischen, nicht einmal der Wind. Sie drangen zu uns herüber – ein Lebenszeichen.

Wir fahren nicht allein in die DDR. Aufs Fischland begleiten uns Marianne und Hubert im eigenen Auto. Durch sie haben wir die ostdeutsche Schriftstellerin Ruth K. kennengelernt. Das war vor einem halben Jahr in Lübeck. Ruth K. lebt in ihrem Haus in Zeuthen, vor den Toren Berlins, der Hauptstadt der DDR. Bei ihrem Besuch in Lübeck hatte sie von mir gehört und wollte mich kennenlernen. In Ahrenshoop auf dem Fischland bewohnt sie ein reetgedecktes Sommerhaus einer Hamburger Familie, wo sie sich regelmäßig und ganz bestimmt in jedem Sommer aufhält. Das Haus hat sie renovieren lassen. Über die wirklichen Besitzverhältnisse, Ansprüche auf das Haus, Wohnrechte und dergleichen kann ich nichts sagen. Was wird werden, wenn … Darüber zu sprechen, wäre zu früh.

Es soll wieder ein schönes Haus geworden sein, in das sie uns eingeladen hat. In dem Haus werden wir für einige Tage ihre Gäste sein. Auf diese Weise haben wir Gelegenheit, die DDR kennenzulernen. Aber, was heißt das schon: Die DDR kennenlernen. Was werden wir kennenlernen — in der kurzen Zeit unseres Aufenthaltes dort.

Ich hätte es mir nicht träumen lassen. Ruth K. ist die einzige DDR – Bürgerin, die wir persönlich kennen. Die Bekanntschaft mit ihr macht diese Reise möglich.

[…] Die Grenzen im v e r b o t e n e n Land sind durchlässiger geworden seit dem Grundlagenvertrag von Willy Brandt, aber menschlicher ist diese Grenze deshalb nicht. Menschliche Erleichterungen hat es gegeben, auf der einen Seite, auf der anderen ist das Netz, in dem man sich verfangen kann, noch engmaschiger geworden. Aber kein noch so eng geknüpftes Netz der Welt hat so enge Maschen, dass nicht doch hier und da etwas hindurchsickert.

[…] Der westdeutsche Kontrollposten fragt lediglich, ob unsere Reise eine Dienstreise sei oder eine private Reise. Privat, sage ich.

Weiterfahrt, nach ca. hundert Metern überqueren wir die Grenze, fahren auf das Gebiet der DDR. Merkwürdiges Gefühl im Magen. Angespannt. Gespannt. Der Kontrollposten liegt noch einige hundert Meter weiter, sehen ihn schon, fahren direkt darauf zu.

Zur linken Seite die Trave, Schlutup links hinter uns, in eine Ecke geklemmt, es ist alles so unwirklich. Zum ersten Mal befinde ich mich auf der Seite jenseits des Flusses, die für uns Kinder damals nur das v e r b o t e n e Land war, ein geheimnisvolles Land, nicht ohne Schrecken und Schönheit. Jetzt also befinde ich mich in diesem Land, und dies Land ist auch Deutschland.

Jenseits der Trave das stillgelegte Metallhüttenwerk, das frühere Hochofenwerk. Die drei alten Hochöfen grüßen schweigend und dunkel herüber wie gewaltig drohende Zeigefinger. Im Hafen liegt kein Schiff so wie damals. Da liegt keine „Gonzenheim“, die Kohle geladen hat oder Eisenerz. Auf diesem Werk hat Vater fünfzig Jahre gearbeitet.

Hinter dem Werk bin ich geboren worden und aufgewachsen, in Herrenwyk in der Silberstraße 1. Dort steht noch immer mein Geburtshaus. Und unweit davon das Badehaus, das zum Werk gehörte und das allen offenstand. Für fünfzig Pfennig genoss ich samstags das Badevergnügen in einer „richtigen“ Badewanne, für fünfzig Pfennig Sauberkeit in der Woche.

 

Grenzstation Lübeck/Schlutup u.a. mit der "Spur 5" im Hintergrund das Hochofenwerk Herrenwyk

Grenzstation Lübeck/Schlutup
u.a. mit der “Spur 5”
im Hintergrund das Hochofenwerk Herrenwyk

 

Wir nähern uns vorsichtig, aber ohne Angst, dem Kontrollpunkt der DDR. Erste Kontrolle: aussteigen, Papiere abgeben, freundliche Begrüßung, aber beschränkt auf das Guten Tag. Ich bringe Ihnen die Papiere zum Wagen, sagt der junge Grenzbeamte mit tonloser Stimme, leerer Gelassenheit. Sie können sich ins Auto setzen. – Warten, ca. fünf Minuten.

[…] Die Papiere werden uns gebracht. Durchgang 5, sagt der Beamte, fahren Sie zum Durchgang 5 weiter.

Der Durchgang 5 liegt ca. 150 Meter vor uns. Wir halten vor einer riesigen Überdachung aus Eisenverstrebungen, neben den Grenzhäusern. Zwei junge Grenzbeamte, ein kleiner und ein stämmiger, größerer, der die Mütze tief im Gesicht trägt und einen sehr militärischen Eindruck auf uns macht.

Tore werden geöffnet und wieder geschlossen, nach jedem Fahrzeug. Die eisernen Geräusche wie auf hohlen Gefängnisfluren. Einzelabfertigung. Das kostet Zeit, und man spürt die verkrampfte, innere Anspannung, das Ungeheure und Befremdende, Bedrückende dieser Grenzsituation, die wir niemals vorher so erlebt haben. Innerhalb der Tore kommen wir uns eingeschlossen vor, wie Gefangene in Drahtkäfigen. Als Kind fühlte ich mich vom v e r b o t e n e n Land ausgeschlossen.

Eine gedämpfte Atmosphäre in der Halle. Manchmal etwas gespenstisch. Man weiß nicht, was im nächsten Augenblick geschieht. Manchmal glaubt man, in der Falle zu sitzen. Merkwürdig. Hin und wieder heulen und brausen Automotoren auf, wenn ein Auto die Kontrolle passieren darf, oder wenn es zur Kontrolle ein Stück vorfahren muss. Während der Kontrolle hat der Motor zu schweigen, auch wir. Die gedämpfte Stille wirkt bedrückend auf uns. Kein Mienenspiel auf den Gesichtern der Grenzbeamten. Sie grüßen, nehmen die Papiere entgegen, gehen, werfen (in einem winzigen Vorhäuschen) die Papiere in einen breiten Schlitz, warten, kommen zurück, nach einiger Zeit, bringen Papiere mit, überqueren unsere Fahrbahn, gehen zur anderen Seite hinüber, auf die andere Fahrbahnseite, wo sich inzwischen fast zehn Autos angesammelt haben, die Richtung Schlutup fahren, dem westlichen Grenzort, Kieler, Pinneberger, Hamburger, Lübecker, wie ich an den Autokennzeichen sehe.

Passkontrolle, anschauen der Personen, Vergleich von Person und Bild im Auto. Der militärisch wirkende Grenzbeamte geht weit in die Knie dabei, hebt und senkt ruckartig den Kopf beim Vergleich der Bilder mit der Wirklichkeit. Die Zeremonie erinnert mich an das Paarungsspiel von Haubentauchern. Ein unbewusstes Lächeln huscht über mein Gesicht, der Grenzbeamte sieht mich irritiert an. Ein Fingerzeig, das Auto darf weiterfahren. In einem Auto bekommt ein Kleinkind auf dem Rücksitz sein Essen. Die junge Mutter ist ganz damit beschäftigt, während der Vater die Grenzangelegenheit mit dem Beamten regelt. Der Beamte öffnet das eiserne Gittertor, lässt das Fahrzeug passieren, verriegelt sofort das Tor wieder. Andere Autos aber müssen die Kofferräume öffnen, auch die Motorhauben. Die Beamten kommen mit Spiegeln und langen Stöcken, mit denen sie in entlegenen Winkeln und Ecken stochern, alles ableuchten, erforschen, auch die Treibstofftanks.

Lina empfindet alles allmählich bedrückend, ich sage, stell dir vor, das geschieht zwischen Deutschen und Deutschen in Deutschland. Lina hat Angst, ich könnte zu laut reden und kurbelt das Autofenster hoch.

Wir werden zur nächsten Kontrolle gewinkt. An der bedrückenden Stille in der Halle hat sich nichts geändert. Unsere Pässe werden kontrolliert. Weiterfahren, zur nächsten Kontrolle: Zoll. Haben Sie Schriftstücke, Bücher, Zeitschriften, Waffen, Munition, Funkgeräte bei sich?
Wir haben nicht.

Der Beamte wünscht uns „Gute Weiterfahrt“.

 

Grenzstation Lübeck/Schlutup u.a. mit der Spur 5

Grenzstation Lübeck/Schlutup
u.a. mit der Spur 5

 

Weiterfahrt. Durch herrliche Alleen, wie wir sie auch bei uns, auf der anderen Seite des Ratzeburger Sees kennen. Die Landschaft ist einzigartig, aber etwas verwildert, nicht so gepflegt. Oder ist sie nur urwüchsig? Die Häuser meistens in äußerst schlechtem Zustand, ohne Farbe, abblätternder Putz. Lina sagt, hier sei selbst das Gras noch grau.

Fahrt durchs Sperrgebiet. Die Äcker links mit hohen Drahtzäunen abgeriegelt. Selbst Hasen gelingt hier die Flucht nicht immer. Selmsdorf. Dassow, Pötenitzer Wiek. Bei Dassow eine dicke, hohe weiße Sperrmauer. Ein grauer steinerner Wachturm. Der Blick aufs Wasser ist verboten, geschweige denn der Weg dorthin. An einer Stelle gelingt der Blick aufs Stülper Huk auf der Westseite, wo ich viele Sommer an der Trave verbrachte und wo auf dem Hügel das älteste Travemünde gelegen haben soll. Perspektivenänderung: Jetzt erlebe ich hier zum ersten Mal den Blick von der anderen Seite hinüber aufs andere Traveufer. Das ist schon eigenartig. Die dicke weiße Sperrmauer, der graue Wachturm – bedrückend. Ein ganzes Dorf eingemauert, abgeriegelt, ein ganzes Land.

Die Bilder vom Mauerbau in Berlin am 13. August 1961 tauchen auf. Es war ein stiller Tag bei uns im Ort, ein Sonntag dazu. Das Mittagessen stand pünktlich auf dem Tisch, als uns die Nachbarin mit etwas verwirrten Worten die Nachricht von den Ereignissen in Berlin brachte.

Zu Hunderten, ja Tausenden waren in den letzten Tagen die Menschen über die offene Grenze vom Ostteil der Stadt nach Westberlin gekommen. Und jeden Tag wurden es mehr. Eine ungeheure, gespenstische Fluchtbewegung. „Der Republik laufen die Menschen weg“, sagte Mutter beim Mittagessen. Was für ein Land muss das sein, dem die Menschen weglaufen, und was wird aus dem Land? Schweigen. Wie die Lücke in einem Satz stand es da, eine Lücke, die das andeutet, worüber man nicht sprechen kann. – Noch nicht. Es war irgendwann wohl Vater, der meinte: „Es könnte das Ende sein.“ Das Ende, dachte ich, könnte das nicht auch der Anfang von etwas Neuem sein? Keiner weiß. Keiner.

Die Stille im Ort änderte sich an diesem Sonntag nicht, aber die Atmosphäre trübte sich, wurde bedrückend. Ängste in der Familie und in der Nachbarschaft wurden geäußert. Ängste, noch ganz unbestimmter Art. Keiner wusste, wie es weitergehen wird, in Deutschland, in Europa, in der Welt. Die ersten Fernsehbilder aus Berlin zeigten die ersten verzweifelten Fluchtversuche und Bauarbeiter, bewacht von Soldaten mit vorgehaltenen Maschinengewehren und Gewehren mit aufgesetzten Bajonetten, die Stein auf Stein eine Mauer errichteten, die auf einmal eine Stadt zerschnitt, auf grausame Weise teilte, Familien voneinander trennte, Menschen, die soeben noch Tür an Tür lebten, die nun aus dunklen Fenstern weiße Taschentücher schwangen, mit denen sie vorher ihre Tränen abgewischt hatten. Sie winkten sich zu mit ihren weißen Tüchern von Ost nach West, von West nach Ost, über die Straßenschluchten hinweg, während Stein auf Stein in Zement gelegt wurde und die Mauer, dieser „sozialistische Schutzwall“ gegen die Feinde im Westen, wuchs, vor ihr und auf ihr der Stacheldraht.

Er erinnert mich immer an die Worte meines väterlichen Freundes, des Schriftstellers Jan Herchenröder: „Wo Stacheldraht gezogen wird, hören die Gespräche auf; wo er niedergelegt wird, beginnen sie wieder.“ Mehr sei dazu nicht zu sagen. Dabei hatte er grausame Zeiten hinter sich. Aus kurzen Vernehmungen nur kurze Zeit nach dem Krieg wurden Jahre der Internierung, nach amerikanischer und französischer Kriegsgefangenschaft, nach russischem Untersuchungsgefängnis in Leipzig (aus unersichtlichen, nie geklärten Gründen), Internierungslager Mühlberg an der Elbe und Buchenwald sowie deutschem Zuchthaus Waldheim in Sachsen – „Stationen menschlicher Dummheit, Stätten der Intoleranz, Stätten des Todes hinter Stacheldraht“ nannte Jan diese Auswüchse von Grausamkeit und Inhumanität, von menschlicher Machtbesessenheit und Machtmissbrauch, verbunden mit gefühlskaltem Wahnsinn. Der Stacheldraht wurde zum Symbol dafür, und bis heute. Wann wird es sein, dass man den Stacheldraht niederlegt, damit die Gespräche wieder beginnen können. Noch immer steht die Mauer, wächst vor und auf ihr der Stacheldraht. Hatte nicht Walter Ulbricht einige Tage vor dem Bau der Mauer, am 15. Juli, mit seiner Fistelstimme noch verkündet, dass niemand die Absicht habe, eine Mauer zu errichten. Spätestens an diesem Sonntag, dem 13. August 1961, wussten alle, dass dies eine Lüge war. Heimlich waren sie gekommen, die Mauer zu errichten, nachts, in der Dunkelheit, als keiner mit ihnen rechnete.

Wir fahren weiter durch das Land, mit sehr gemischten Gefühlen und sehen in den Dörfern Menschen, die nicht lachen, uns nicht zuwinken, aber schauen und uns nachblicken. Hätten  w i r  winken sollen?

 


Fotos:

Leonide Baum (Gadebusch/Mecklenburg-Vorpommern), 1990. Die Bildrechte liegen bei Leonide Baum.

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