Aug 2016

Fritz Kalmars “Das Wunder von Büttelsburg”: Eine österreichische Stimme aus dem südamerikanischen Exil zur Vergangenheitsbewältigung

von Reinhard Andress

Fritz Kalmar, 1911 in Wien geboren und aufgewachsen, studierte Jura und arbeitete zunächst in einer Anwaltskanzlei, bevor ihn der „Anschluss” 1938 zur Flucht zwang. Er landete schließlich in Bolivien, wo er bei einem deutsch-englischen Nachrichtensender in La Paz Arbeit fand und 1941 zum Mitbegründer der Federación de los Austríacos Libres wurde, die sich überparteilich antifaschistischen und karitativen Tätigkeiten widmete. Ebenfalls wurde er Schauspieler und Bühnenautor einer österreichischen Theatergruppe um Georg Terramare und Erna Terrel. 1953 heiratete er Terrel, und zusammen zogen sie nach Montevideo, wo Kalmar seine künstlerische Arbeit fortsetzte. Später als Konsul Österreichs in Uruguay konnte er politischen Gefangenen während der uruguayischen Diktatur (1973-1985) vielfach Hilfe gewähren. Des Weiteren war er als Auslandskorrespondent für solche Zeitungen wie die FAZ, die NZZ oder Die Presse tätig. Erst spät im Leben wurde Kalmar als Autor bekannt, u.a. mit dem Erzählband Das Herz europaschwer (1997), Das Wunder von Büttelsburg und andere Erzählungen (1999) oder Wiener Familienfragmente (2005). Er verstarb 2008 mit 96 Jahren in Montevideo.1
Der österreichische Autor und Kritiker Erich Hackl bezeichnete Kalmar in seinem Nachruf als einen “der bedeutendsten Schriftsteller des österreichischen Exils.”2 Die Bedeutung des Autors ist sicher zu einem Teil auf den relativen Erfolg des positiv rezipierten Erzählbands Das Herz europaschwer zurückzuführen, in dem, wie der österreichische Literaturwissenschaftler Horst Jarka schrieb, sich Kalmar “in vielen bewegenden Einzelschicksalen sein eigenes Heimweh von der Seele schrieb.”3 Zu Unrecht hat Das Wunder von Büttelsburg und andere Erzählungen nicht dieselbe Aufmerksamkeit erhalten, vor allem die Titelerzählung. In diesem Sinne versuchen die folgenden Ausführungen eine Korrektur.4
In einem Interview aus dem Jahre 1999 ließ Kalmar ein wenig zur Entstehungsgeschichte des Textes durchblicken:

Das Buch „Das Wunder von Büttelsburg“, das als letztes erschienen ist, habe ich schon vor vielen, vielen Jahren begonnen. Wie ich auf die Idee dafür gekommen bin, weiß ich heute nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich im Trolleybus in die Stadt fuhr und mir auf einmal dieser Gedanke kam. Das hat sich dann entwickelt, ich habe jedes Kapitel meiner Frau vorgelesen. Erst habe ich es in Dialekt geschrieben, im Dialekt der Leute, die da redeten. Davon rieten mir meine Frau und Freunde ab. Ich schrieb den Text um und ließ ihn viele Jahre liegen. Eines Tages ist er mir wieder in die Hand gekommen und ich dachte mir, vielleicht könne man doch etwas daraus machen, korrigierte und bearbeitete ihn.5

In einem gewissen Sinne mag es günstig gewesen sein, dass der Text zunächst liegen blieb, denn erst in den Achtzigerjahren begann sich Österreich (und Deutschland) intensiver dafür zu interessieren, was exilierte Autoren zu ihren eigenen Erfahrungen im Nationalsozialismus und zu den Entwicklungen danach in Europa zu schreiben hätten, ein Thema, das sich bis in die Gegenwart fortsetzt.6 So sehr prägte das Vorwärtsdenken die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Nachkriegsentwicklungen, dass kulturell weniger Raum für den Rückblick auf den Nationalsozialismus und dessen Nachwirken blieb. Genau um eine österreichische Stimme aus dem südamerikanischen Exil zur Vergangenheitsbewältigung geht es nun in „Das Wunder von Büttelsburg“, wobei ein Sarg zu einem surrealistischen Dingsymbol wird, das motivisch im Hintergrund der Erzählung allgegenwärtig ist und das Geschehen vorantreibt.7
Kurz zur Handlung: Büttelsburg, das anhand der sprachlichen Einschläge im Text, die trotz Kalmars Umschreibung ins Hochdeutsche bleiben, im Süden Deutschlands oder in Österreich liegen könnte, hatte 1939 einen jüdischen Mitbürger, Jakob Kellermann, und seine Familie aus dem Städtchen vertrieben. In der südamerikanischen Emigration ist er nun verstorben und soll, seinen Wünschen gemäß, in der Heimat begraben werden. Der Bürgermeister und andere Figuren der Erzählung empfangen den Sarg am Bahnhof, und ein Trauermarsch begleitet ihn zum Hauptplatz, wo er für eine Schweigeminute vor dem ehemaligen Geschäft Kellermanns abgestellt werden soll. Hier geschieht dann das surrealistische „Wunder“ der Erzählung, wie wir von einem der Feuerwehrmänner hören: „Der Sarg. Wir können ihn nicht heben.“8 Ob nun Seile, ein Pressluftbohrer, ein Traktor oder sogar Feuer zum Einsatz gebracht werden, der Sarg bleibt unverrückbar stecken und lässt sich nicht begraben. Die etwa zweihundert Seiten des Textes führen uns dann die Reaktionen der Büttelsburger vor, zunächst mit satirisch-ironischen Elementen von Kalmar gezeichnet, bevor Verschwiegenes zunehmend zur Sprache kommt und sich die schreckliche Wahrheit hinter Kellermanns Schicksal enthüllt, das sich am Kollektiv der Büttelsburger rächt. Wie hier noch zu zeigen sein wird, ist damit aber die Vergangenheit keineswegs im Sinne einer positiven zukunftsorientierten Perspektive bewältigt. Vielmehr scheint sich die Erzählung in einen unerbittlichen Kreislauf der Geschichte einzufügen.
Nachdem Reporter die Nachricht vom unverrückbaren Sarg verbreitet haben, führt er als Sehenswürdigkeit zur touristischen Ankurbelung der Wirtschaft:

Überall in Büttelsburg, im Gasthof „Zum goldenen Hirschen“, in der Weinstube „Zum guten Tropfen – Hermann Fechters Söhne“, in den [sic!] Raume, den der Bäcker als Konditorei bezeichnete, beim Kaufmann Josef Margreiter, an der Tankstelle, im Postamt, im Gemeindeamt, an allen Telephonen, auf allen Spazierwegen und besonders auf dem Hauptplatz, überall wimmelte es von Fremden, von geldausgebenden, wirtschaftsbelebenden, stimmungshebenden, herrlich anspruchsvollen und reichlich zahlenden Fremden. Man sprach in Büttelsburg von einem Wunder. (42)

Das ist sicher eine ironische Anspielung auf das „Wirtschaftswunder“ in Deutschland und Österreich nach dem Krieg, finanziert durch amerikanische Marschall-Plan-Gelder. Ohnehin gehören auch Amerikaner zu den Fremden: „[…] was ein anderer in unserm Geld zahlt, das zahlen die in Dollars“ (53). Hinzu kommt eine für den Ort nie dagewesene wissenschaftliche Aufmerksamkeit von acht Universitäten europäischer Länder, deren Vertreter das Phänomen untersuchen, auch „ein Gelehrter, ein Physiker von internationalem Ruf, Professor an der Princeton-Universität“ (53). Kurz: „Der Ort war nicht wiederzuerkennen“ (54).
Um die gewinnträchtige Stimmung in Gang zu halten, ersinnen Bürgermeister Meinrad und Gasthofwirt Burgstaller einen Trachtenzug, zu dem sie den Nachbarort Blunz einladen. Die Begrüßung Meinrads beim Empfang des Blunzer Bürgermeisters macht Kalmar zu einer Satire auf solche inhaltslose Reden:

„Herr Bürgermeister – also – großer Tag, nicht wahr – also, wir alle, nicht wahr – will sagen, im Namen von ganz Büttelsburg – ohne Ausnahme – wir schätzen die große Ehre – Blunz – Sie, Herr Bürgermeister – persönlich – und Frau Gemahlin – uns die Ehre, unser Gast – Gäste – alle ihre Blunzer, Ehre und Freude – also, nicht wahr – will sagen – also – willkommen!“ (71-72)

Der Trachtenzug wird auf alle Fälle zu einem vollen Erfolg, „zum Höhepunkt des Jahres, ja vieler Jahre“ (64).
Doch einwandfrei können die Büttelsburger den wirtschaftlichen Erfolg und die Festlichkeiten nicht genießen. Schon nach der Abreise der Reporter stehen sie „ohne Ablenkung dem Sarge allein gegenüber“, was sie „missmutig und gereizt“ (38) macht. Bürgermeister Meinrad erkennt das Problem sehr genau: „Das Eigentliche bleibt ungesagt“ (39). Einem für den Trachtenzug herbeigereisten amerikanischen Journalisten ist z.B. unklar, „was die Büttelsburger über die merkwürdigen Vorgänge in ihrem Ort dachten“ (84). Eine typische Reaktion hält er folgendermaßen fest:

„Sie wissen ja, wie’s damals war, man hat’s doch auf der ganzen Welt gewusst. Wir selber natürlich, wir haben nichts gewusst. Na ja, den Juden ist es damals sehr schlecht gegangen, das muss man schon sagen – ihnen allen und dem Kellermann halt auch – man hätte ihm ja gern geholfen, aber das war leider nicht möglich, absolut unmöglich –“ (85)

Der Journalist überlegt sich: „– vielleicht wussten die Einwohner Büttelsburgs wirklich nicht mehr viel von den früheren Dingen. Aber gehörten diese Dinge nicht dazu? Hatten sie nicht irgendetwas, und sogar ziemlich viel, mit dem, was jetzt hier vorging, zu tun?“ (85). Mit dieser offenen Frage endet formal der erste Teil des Textes, bevor im zweiten die Wahrheit langsam enthüllt wird, die so ungeheuerlich ist, dass sie keine Satire und Ironie mehr zulässt.
Zunächst stellt sich wieder Aggressivität unter den Büttelsburgern ein: „Was die Gefühle so zum Kochen brachte, war die unbeantwortete Frage ‚Warum?’, das Verlangen nach einer Erklärung des Unverständlichen. Was war schuld daran, dass dieser Sarg über Büttelsburg gekommen war?“ (89). Aus Unzufriedenheit damit, dass der Bürgermeister das Problem nicht löst, wird eine Volksversammlung abgehalten, bei der es zu einem wesentlichen Moment der Wahrheitsaufklärung kommt. Der Apotheker, „der stille kleine Reitmann“ (111), findet den Mut, den Tatsachenbestand, warum der Sarg ausgerechnet vor Josef Margreiters Geschäft am Hauptplatz unverrückbar bleibt, endlich auszusprechen. Es handelt sich um die Arisierung des Geschäfts

„Weil’s sein Geschäft war, sein eigenes Geschäft, das er so viele Jahre gehabt hat, bis man’s ihm weggenommen hat, dem Kellermann, weggenommen mit Gewalt, gestohlen. Weil er sich nicht hat wehren können – weil er ein Jud war und hat’s Maul halten müssen, damit man ihm nicht auch noch das Leben nimmt! […] Abgekauft! Abgekauft! Er [Kellermann] hat’s mir damals erzählt, einen Hunderter hast du [Margreiter] ihm hingeschmissen, einen einzigen Hunderter fürs ganze Geschäft mitsamt der Einrichtung und mitsamt der Ware! Und wie er gemeint hat, dass das doch nicht recht ist, da hast du ihm gesagt, er soll froh sein damit, wenn er’s nicht nimmt, kriegt er gar nix – und es könnt ihm passieren, dass er überhaupt nicht mehr wegkommt von Büttelsburg. So wie sein Bub nicht mehr weggekommen ist, und er hätt’ ihn vielleicht freikriegen können, wenn er das Geld gehabt hätte. Wenn du nicht so ein Hund gewesen wärst, dann hätt’ er das Geld gehabt. Die Kinder würden noch leben – unsere – unsere Kinder –“ (112-13)

Die weiteren Einzelheiten der Geschichte, die wir im Laufe des Textes erfahren, haben mit dem Sohn Kellermanns, Richard, zu tun, der wegen boshafter Karikaturen des Führers angezeigt und von Viktor, dem Sohn Margreiters, ins KZ abgeführt wurde, aus dem er nicht zurückkehrte. Reitmanns Sohn Philipp verliebte sich wiederum als Nicht-Jude in die Tochter Kellermanns, Ilse, was den Nazi Alois eifersüchtig machte, der sie trotz ihres Judentums für sich haben wollte. Philipp kommt wegen der verbotenen Liebe in ein Straflager, wo er scheinbar Selbstmord begeht, indem er in den elektrisch geladenen Stacheldraht rennt. Ilse wird von Alois vergewaltigt und bringt sich um.
Was sich enthüllt, ist eine komplexe Verflechtung von Tätern, Mittätern und Mitwissern, damals getrieben durch Opportunismus und Gleichgültigkeit. In der Erzählgegenwart versuchen sie, sich mit einer Sündenbockmentalität zu schützen, Rache zu begehen, bzw. sich mit Argumenten des Pflichtgehorsams aus der Schuld und Mitschuld herauszureden und diese mit einer finanziellen Wiedergutmachung als Sühne unter den Teppich zu kehren. Der Versuch des Pfarrers wiederum, den Büttelsburgern ins Gewissen zu reden, bringt wenig, außer dass er Manfred als Sohn des Bürgermeisters für eine restlose Aufklärung der Wahrheit begeistern kann, was dann aber auch nicht unproblematisch ist, wie sich zeigt.
Die Sündenbockmentalität zeigt sich am unmittelbarsten am Ende der Volksversammlung:

Dann erhob sich hinten an der Wand ein großer Mann und brüllte mit aller Kraft: „Wahr! Was er sagt, das ist wahr! Du [Margreiter] hast das Geschäft arisiert, das wissen alle. Dieb! Mörder! Hund! Wegen dir ist der Sarg da, du Schuft!“
„Schuft!“ schrie es nun von allen Seiten. Man hatte einen Schuldigen. „Schuft. Dieb! Verbrecher! Du bist schuld an allem.“ Von irgendwo flog ein Funke in den Zunder. „Haut ihm das Geschäft zusammen, dann wird alles in Ordnung kommen mit dem Sarg. Alles kurz und klein schlagen, er muss raus aus dem Geschäft, er hat es gestohlen. Nieder Margreiter, nieder mit ihm!“ (113)

So kommt es zu einer perversen Lynchjustiz, bei der Margreiter sogar umgebracht wird. Verbogen ist ebenfalls eine rächende Selbstjustiz, wenn Hermann seinen Bruder Alois wegen seiner Mitschuld an Ilses und Philipps Selbstmord tötet. Viktor als Sohn Margreiters möchte Reitmann allgemein um Verzeihung für die damaligen Ereignisse bitten, doch von diesem daraufhin angesprochen, warum er den jungen Kellermann, als er ihn ins KZ abführte, nicht hat laufen lassen, erwidert er mit einem Standardsatz des Pflichtgehorsams: „Befehl ist Befehl“ (135). Die Lehrerin glaubt, eine Art Sühne wäre durch eine finanzielle Wiedergutmachung zu erreichen. Was von Margreiters unrechtmäßig erworbenem Geschäft bleibt, wird verkauft und der Erlös auf das Konto des überlebenden Kellermann-Sohnes, Herbert, in Kalifornien überwiesen. Danach wird ein neuer Versuch gestartet, den Sarg zu entfernen, aber: „Der Sarg stand fest“ (153). Wie oberflächlich der Wiedergutmachungsversuch eigentlich ist, zeigt sich darin, dass die Lehrerin zur Anführerin einer neo-nazistischen Gruppe wird.
Das verdrängende Verhalten und die (Mit-)Schuld der Büttelsburger lässt sich am deutlichsten an der „Gewissensforschung“ (189) des Bürgermeisters ablesen, die er sich am Erzählende am Teich, wo sich Ilse umgebracht hatte, vornimmt. Sie wird zu einem Bündel von fragwürdigen Rechtfertigungen: Der Führer habe für Ordnung gesorgt; einen Einfluss habe er auf die Verhaftung Richard Kellermanns nicht haben können; von der Anzeige gegen ihn habe er nichts gewusst; die Abführung ins KZ habe er ebenfalls nicht verhindern können; um ihn mit einer Bestechung zu befreien, hätten die Kellermanns nicht so eilig und billig ihr Geschäft verkaufen sollen, was vielleicht ohnehin eine verleumderische Geschichte sei; Philipp und Ilse seien auch nicht zu helfen gewesen, ohne dass er sich selbst exponiert hätte. Er bedauert zwar die Ereignisse, doch Machtlosigkeit ist die motivische Konstante seiner Rechtfertigungen: „Wie machtlos ist doch der Mensch! Und grad dann, wenn’s darauf ankommt, dann ist er am meisten machtlos“ (195). In der letzten Instanz ist er schuldlos:

Die Geschichte war erledigt, Punkt für Punkt durchgegangen, mehr gab es nicht. Er blickte auf das Blatt Papier in seiner Hand und es wurde ihm warm uns Herz. Frage um Frage hatte er sich vorgelegt, ehrlich, streng, ohne Nachsicht mit sich selbst beantwortet, hier war das Ergebnis: NULL. Er hatte sein Gewissen aufrichtig geprüft, es war rein, er hatte sich nichts vorzuwerfen, keine Schuld lastete auf ihm. (199)

Das Stück Papier, auf dem er sich die Fragen seiner Gewissensforschung notiert hatte und jeweils mit einer Null versah, zerknüllt er und will es wegwerfen. Es könnte aber der falschen Person in die Hände geraten, und so umwickelt er einen Stein damit und wirft ihn in den Teich. Doch dann fällt ihm ein, dass Ilse dort Selbstmord begangen hatte: „[…] der Stein fiel ins Wasser und ließ einen dünnen Wellenring aufspringen, der sich auf der glatten Fläche schnell erweiterte und aussah wie ein großes, rundes Grinsen“ (200). Das Grinsen deutet eine makabre Ironie an, dass der Bürgermeister ausgerechnet dort sozusagen seine Mitschuld ertränken will, wo Ilse ins Wasser gegangen ist.
Der Pfarrer versucht wiederum, die Schuld und Mitschuld der Büttelsburger in einen biblischen Kontext zu stellen. Als sie verstärkt in die Kirche kommen, weil sie auch dort eine Lösung für den unverrückbaren Sarg suchen, predigt er ihnen die Geschichte von der Zerstörung des Tempels zu Jerusalem durch die Römer im Jüdischen Krieg des Jahres 70 n. Chr. als Analogie zur Situation in Büttelsburg. Die Zerstörung hatte Christus vorausgesagt (Matthäus Kapitel 24, Vers 1 und 2):

„Liebe Gemeinde!“ begann er. „Von Zerstörung und Zukunft, von Verzweiflung und Verheißung spricht die Evangelienstelle des heutigen Sonntags, von den letzten Dingen, von der Zerstörung Jerusalems, der Wiederkunft Christi und dem Ende der Zeit, der Welt. Vernichtung kündigt der Herr an, Vernichtung des heiligen Tempels, von dem kein Stein mehr auf dem anderen bleiben würde, Vernichtung auch der Stadt und schließlich die große Vernichtung – und Rettung – durch das Weltgericht. Eindringlich warnt Christus: in die Berge möge fliehen, wer zu dieser Zeit in Judäa sei, sich nicht Zeit nehmen, etwas aus dem Hause zu holen, ja auch nur die Kleider aufzunehmen, die er vor der Feldarbeit abgelegt, nichts mitnehmen, nur fliehen. Aber ist Flucht schon Rettung? Noch lange nicht. Von großer Bedrängnis und Trübsal spricht der Herr. Für wen? Nicht für jene, die der Vernichtung anheimfielen, sondern für jene, die sie überlebten“ (140).

Als Überlebende des Nationalsozialismus hätten die Büttelsburger Schuld auf sich geladen: „Auf dem Grunde jeder Zerstörung finden wir immer das Gleiche: Entheiligung, Schuld, im Kleinen wie im Großen, in Büttelsburg wie in Jerusalem“ (140). Der Pfarrer plädiert für eine Vergangenheitsbewältigung, die die Schuld aufarbeitet.
Das Thema der Vergangenheitsbewältigung ist ein wesentlicher Teil des deutschsprachigen kulturellen Diskurses seit dem Zweiten Weltkrieg.9 In der literarischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gab es zunächst eine Tendenz, die Auswirkungen des mörderischen Regimes in größere unabänderliche Zusammenhänge einzuordnen. In ihrer grundlegenden Studie zu diesem Thema beschreibt die Literaturwissenschaftlerin Judith Ryan diese Tendenz wie folgt:

The German people were seen as the collective victim of a terrible fate, rather than as a group of morally responsible individuals. An entire historical epoch was reduced to merely one manifestation among many of the eternal struggle between good and evil; history came to be seen in terms of primal myth.10

In diesem Zusammenhang führt sie u.a. solche Prosawerke wie Ernst Wiecherts Der Totenwald (1946), Hermann Kasacks Die Stadt hinter dem Strom (1947), Elisabeth Langgässers Märkische Argonautenfahrt (1950) oder Bernd von Heiselers Versöhnung (1953) an. Das mythologisierende Verständnis des Nationalsozialismus als Wiederholung der Geschichte wich aber in den Fünfzigerjahren der Frage, „whether individual action was at all possible and how.“11 Dabei geht es nicht allein um den erfolgreichen Widerstandskämpfer, „but the tantalizingly blank spot where he might have stood. And in forcing us to form our own image of this proponent of action they [die Schriftsteller] create a new kind of reader-oriented rethinking of the Nazi period.“12 In diesem Sinne interpretiert Ryan dann solche Texte wie Alfred Anderschs Sansibar oder der letzte Grund (1957), Günter Grass’ Die Blechtrommel (1959), Siegfied Lenz’ Die Deutschstunde (1968) oder Christa Wolfs Kindheitsmuster (1976). Diese Liste kann bis in die relative Gegenwart fortgesetzt werden. Dabei unterliegt Ryans Ausführungen die Hoffnung „that the course of history is something not entirely out of our own hands.“13
Im Sinne der Vergangenheitsbewältigung und Ryans Ausführungen geht Kalmars „Wunder von Büttelsburg“ der Frage nach der individuellen Verantwortung im Nationalsozialismus nach. Selbst wenn der Pfarrer biblische Vergleiche herausbeschwört, so hat er aber nicht die Absicht, die Verbrechen des Nationalsozialismus mythologisierend abzutun. Um noch einmal auf seine Predigt vor der Büttelsburger Gemeinde zurückzukommen: Er will sie vielmehr zu einer Auseinandersetzung mit ihrer individuellen Verantwortung in den schrecklichen Ereignissen um die Arisierung von Kellermanns Geschäft bewegen. Mit der Wiederkunft des Herrn und dem Weltgericht werden sich die Büttelsburger mit der „furchtbare[n] Frage“ konfrontiert sehen: „was hast du getan in der Zeit zwischen Kommen und Wiederkommen des Herrn“ (141).
Da sich aber die Büttelsburger dieser Frage verweigern, indem sie keine individuelle Schuld (oder Mitschuld) auf sich nehmen, scheint es im weiteren Textverlauf doch fast so etwas wie eine biblische Rache des Weltgerichts an Büttelsburg zu geben. Mit dem unverrückbaren Sarg werden die Menschen nicht fertig und verlassen den Ort, bis nur der Pfarrer bleibt, der als letzter auch aus dem Städtchen fortgeht. Zurück bleibt der Sarg: „Der Sarg stand allein und hielt sein Schweigen dem Himmel entgegen, und der Himmel antwortete, und es war dasselbe Schweigen“ (209). Eine biblische Erlösung von der Schuld gibt es hier nicht. Die Vergangenheit bleibt nicht nur unbewältigt, sondern sie wiederholt sich, wie wir in Kalmars angefügtem „Nach- und Vorbericht“ erfahren. Ohne Einwohner verfällt das Dorf und wird vom Militär benutzt, um eine neue Waffe auszuprobieren – sicher eine Anspielung auf die Wiederbewaffnung Österreichs 1952 durch das Bundesheer oder Deutschlands 1955 durch die Bundeswehr. Weitere Zeit vergeht: „Sonne, Regen, Wind, Schnee bearbeiteten den Boden. Sand und Erde legten sich auf den Sarg, immer höher, wurde er zu einem kleinen Hügel. Gras wuchs darüber. Dann sprossen Gänseblümchen, Butterblumen, Löwenzahn“ (210). Zwei junge Menschen siedeln sich dort an, und es entsteht wieder ein Dorf mit regem Leben. Doch dann geschieht Folgendes:

Aber einmal, einmal, irgendwann, da kommt Fremdes über sie alle, sie, die zusammengehören, erkennen einander nicht mehr. Anderssein wird Schuld, erloschen Geglaubtes flackert auf, durch die Asche hindurch, wird zur Flamme, Unbegreifliches vollzieht sich, Gut und Böse verkrallen sich ineinander, daß sie nicht zu scheiden sind. Mit wissendem Lächeln sieht der Teufel zu, wie Särge aus den Gräbern springen und Geschehenes, längst Abgetanes, wieder geschieht und wieder, immer wieder geschieht ohne Ende (211)

Es sind die Schlussworte der Erzählung, die aber für Kalmar eben nicht endet, sondern zum schrecklichen Kreislauf wird. Der „Nachbericht“ könnte ebenfalls als „Vorbericht“ dienen.
Man mag dieses pessimistische Ende gegen den Strich lesen und sich mit dem Bürgermeistersohn Manfred identifizieren wollen. Immerhin hatte er auf wesentliche Weise die Wahrheitsfindung vorangetrieben, wenn sich dabei auch herausstellt, dass es seine eigene Mutter war, die eventuell aus einem falsch verstandenen Pflichtbewusstsein heraus Richard Kellermanns Karikaturen des Führers angezeigt hatte. Er will auch weg aus Büttelsburg, um im Heiligen Land durch harte Arbeit die Schuld zu sühnen. Der Pfarrer rät ihm: „Es geht nicht nur darum, eine Schuld zu sühnen, sondern auch eine Hoffnung zu erfüllen, die Hoffnung, dass es anders wird, wenn ihr an die Reihe kommt, dass nie mehr geschehen kann, was einmal geschah“ (203). Vor dem „Provinzialismus des Bösen“, ihrer „Alltäglichkeit, die vorstellbar ist und eine mögliche Wiederholung einschließt“, so Janka, will uns Kalmar warnen, vor allem die Jugend.14 Manfred verspricht auch wenigstens: „Aber ich will versuchen, wiederzukommen, zu den Eltern – wenn ich es kann“ (204). Darin liegt eine vage Hoffnung für eine bessere Zukunft, die aber sehr ambivalent bleibt. Schließlich ist es Manfreds Jugend, die man in den zwei jungen Menschen widerspiegelt sehen kann, die das Dorf in einer weiten Zukunft wieder beleben, dann aber in einen unerbittlichen Zyklus der endlosen Gewalt hereingezogen werden. Kalmar scheint der von Ryan interpretierten Tendenz in der literarischen Vergangenheitsbewältigung letzten Endes zu widersprechen, dass man einen Einfluss auf den Geschichtsverlauf haben könnte. Wie Saint-Sauveur Hehn schreibt, steht im Zentrum der Erzählung „das Thema der unmöglichen Sühne nach der Vernichtung und Vertreibung jüdischer Bürger“.15 Mit dem surrealistischen Element des Sarges als Dingsymbol gelang es Kalmar, aus dem südamerikanischen Exil seine pessimistische und fatalistische Grundhaltung zum Geschichtsverlauf in Deutschland und Österreich und wohl überhaupt zum Ausdruck zu bringen – und das auf literarisch überzeugende Weise.

Notes

1 Für weitere biographische Angaben vgl. Anne Saint Sauveur-Henn, „Das Portrait. 65 Jahre danach: Fritz Kalmar“. Neuer Nachrichtenbrief der Gesellschaft für Exilforschung e.V. , Nr. 21 (Juni 2003), S. 16-18.
2 Erich Hackl, „Klage um einen Freund. Abschied von Fritz Kalmar“. Informationsstelle Lateinamerika e.V. , http://www.ila-web.de/nachrufe/fritzkalmar.htm (2008).
3 Horst Jarka, „Fritz Kalmar: Das Wunder von Büttelsburg und andere Erzählungen“. Literaturhaus Wien, Rezensionen Buch, http://www.literaturhaus.at/index.php?id=1735&L=Ontertainment%2Factor-actress-phone-numbers%2Fx1437 (2001). Vgl. auch Horst Jarka, „Fritz Kalmar: Das Herz europaschwer. Heimwehgeschichten aus Südamerika“. In: Ibid., http://www.literaturhaus.at/index.php?id=1789 (1999). Ebenfalls vgl. Klaus Jetz, „Kalmar, Fritz: Das Herz europa-schwer. Heimwehgeschichten aus Südamerika. Österreichisches Exil in Südamerika“. Quetzal. Politik und Kultur in Südamerika, http://www.quetzal-leipzig.de/rezension-buch-literatur/fritz-kalmar-das-herz-europaschwer-heimwehgeschichten-aus-sudamerika-19093.html (1997).
4 Hackl (Anm. 2) bezeichnet den Text als „Roman“, Saint Sauveur-Henn (Anm. 1) als „eine längere Erzählung“. Ein Gattungsstreit soll hier nicht stattfinden. Jedenfalls deutet der Titel des Bandes an, dass Kalmar selbst den Text als Erzählung sah, die allerdings mit ihren knapp über zweihundert Seiten eine beträchtliche Länge erreicht. Die „anderen“ Erzählungen des Bandes sind jeweils zwei bis neun Seiten lang. Sie werden hier nicht näher in Betracht gezogen, da es den hier gesetzten Rahmen der Vergangenheitsbewältigung sprengen würde.
5 Gert Eisenbürger und Gaby Küppers, „Vom Emigranten zum Konsul. Der Wiener Fritz Kalmar in Bolivien und Uruguay“. Informationsstelle Lateinamerika e.V. , 240, http://www.ila-bonn.de/lebenswege/schicksalkalmar.htm (1999).
6 Vgl. Gert Eisenbürger, „Zufluchtsland Bolivien. Ein Buch und ein Film über jüdische EmigrantInnen in der Andenrepublik.“ Informationsstelle Lateinamerika e.V. , 358, http://ila-web.de/kulturszene/358juedische_emi_bolivien_film_buch.htm (2012). In Österreich leistete hier wesentliche Verdienste das Literaturhaus Wien, die Zeitschrift Zwischenwelt und der Autor und Kritiker Erich Hackl. Leon Kanes Der Fallstrick (2006) und Benno Weiser Varons Ich war Europäer (2008) sind zwei Romane, die man in diesem Zusammenhang anführen könnte. Vgl. ebenfalls die Publikationen von Exiltexten der Österreichischen Exilbibliothek: http://www.literaturhaus.at/index.php?id=6854&L=0%2525252Fadmin%2525252Ffile_manager.php%2525252Findex.phphttp%3A%2F%2F.
7 Zum Dingsymbol vgl. Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag, 1969. S. 174.
8 Fritz Kalmar, Das Wunder von Büttelsburg und andere Erzählungen. Wien: Ibera Verlag, 1999. S. 18. Alle weiteren Angaben nach diesem Text in Klammern.
9 Vgl. Torben Fischer und Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. Bielefeld: transcript, 2007. Vgl. besonders die Auswahlbibliographie auf S. 357ff.
10 Judith Ryan, The Uncompleted Past. Postwar German Novels and the Third Reich. Detroit: Wayne State University Press, 1983. S. 25.
11 Ibid., S. 16.
12 Ibid., S. 15.
13 Ibid., S. 20.
14 Janka, Fritz Kalmar: „Das Wunder von Büttelsburg und andere Erzählungen“ (Anm. 3).
15 Saint-Sauveur Hehn (Anm. 1), S. 17.

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