Dec 2016

Grenzstreifen

von Bettina Matthias

Ich bin im Schatten der Mauer großgeworden. Nicht eine “Mauerblume”, aber doch
ein Schattengewächs westlich des deutsch-deutschen Todesstreifens, der nur
wenige Kilometer östlich vom Gartenzaun meines Elternhauses tief in die Ostsee
und in unser Gemüt griff. Bis zur Mündung der Trave sah man im Sommer entlang
der Küste vor Menschen kaum den Strand—jenseits von dort: weißer Sandstrand,
unberührt, unbetreten, unerlaubt, das Meer statt Sommerelement nur potenzieller
Fluchtweg und entsprechend gesichert. Fuhr man auf der Autobahn nach Süden,
wiesen einheitsdeutsche Straßenschilder auf Abfahrten in Richtung Stralsund,
Rostock, Schwerin; orangene Klebestreifen, in Kreuzform über diesen Städtenamen
angebracht, signalisierten jedoch, dass Grenzüberschreitungen zwar theoretisch
denkbar, praktisch aber unmöglich waren. Trotz neuer Straßenschilder werden
diese Städtenamen für mich immer in dieses Warnorange getaucht sein.
Die Mauer fiel, der Todesstreifen verschwand und ist nun zum kontroversen
“Grünen Band” mutiert. Dem Strand westlich der ehemaligen Grenze ist von den
unberührten Stränden Mecklenburg-Vorpommerns schon längst der Rang
abgelaufen worden. Vorsichtigere Entwicklungs- und Bauprojekte im Namen des
Massentourismus’ lassen die Sonne dort jetzt fast heller scheinen als im alten
Westen. Neue Autobahnzubringer und –ausbauten haben Stralsund, Rostock,
Schwerin schon lange an das bundesdeutsche Rasen angeschlossen und ziehen das
Auto weniger in Spurrillen oder Schlaglöcher als ihre westdeutschen Vorfahren. Die
Fahrt nach Osten unterliegt dem grundgesetzlichen Recht auf Freizügigkeit, und
dennoch ist für mich jeder Ausflug in diese Richtung noch immer eine
Grenzüberschreitung, ein Sturm auf das orangene Kreuz, das nur ich zu sehen
scheine.
Als Gast im eigenen Geburtstland fahre ich seit Jahren nur noch episodisch auf
diesen Straßen. Den Fall der Mauer erlebte ich gerade noch mit, dann zog es mich in
ein Land und eine Region, in denen es kaum einen Gartenzaun gibt, in denen die
Häuser selten aus Mauerwerk gebaut sind, in ein Land, in dem die Sprache keinen
Unterschied zwischen “Wand” und Mauer” macht. Als Manko empfand ich dies nicht,
die Sprachbarriere lief entlang anderer Bereiche und war mehr Herausforderung als
Blockade.
“Gated communities”, die scharfen Trennungen innerhalb von Städten und
Landstrichen zwischen Arm und Reich, Schwarz und Weiß, zunehmend auch
Heterosexuell und LGBTQ erkennt man als Einwandererin, die mit einer veritablen
Mauer großgeworden ist, nicht immer gleich. Die Idee des Landes der unbegrenzten
Freiheit wirkt nachhaltig. Und ebenso erkennt man als Auswanderin vielleicht nicht
mehr, wie stark die von Peter Schneider literarisch festgeschriebene “Mauer im
Kopf” tatsächlich noch das deutsch-deutsche Miteinander beherrscht. Im schmalen
Streifen zwischen “nicht mehr hier und noch nicht da” lässt sich die persönliche
Freiheit ausloten. Ein solcher privater Spaziergang durch die Grauzonen der eigenen
Seele trägt auf die Dauer jedoch nicht.
Zwischen den USA und Mexiko soll nun eine Mauer gebaut werden. Vielleicht ist es
an der Zeit, aus dem Schatten meiner Mauer herauszutreten und meine orangenen
Klebekreuze zum Müll der Geschichte zu werfen. Außer mir sieht sie vielleicht
wirklich niemand mehr?

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