Dec 2017

„Lob des Altwerdens”: Gerda Lerners „In Praise of Aging“ in deutscher Übersetzung

Introduction and German translation by Reinhard Andress

No part of this publication may be republished elsewhere. For copyright information, see footnote [vi].

 

Im Jahre 1920, als Gerda Hedwig Kronstein in eine gutbürgerlich-jüdische Wiener Familie hineingeboren wurde, prägte deren unkonventioneller Lebensstil – die Eltern führten ihr Eheleben weitgehend getrennt voneinander – die frühe Unabhängigkeit Lerners. Hinzu kam ein politisches Bewusstsein, das von den bürgerkriegsähnlichen Zuständen 1934 in Wien in Gang gesetzt wurde und vier Jahre später seine Weiterentwicklung im ‚Anschluss’ fand. Dem Vater gelang es, sich durch die Gründung einer Apotheke in Liechtenstein dorthin zu retten, doch wurden Lerner und ihre Mutter verhaftet und mussten sechs Wochen im Gefängnis verbringen – auch ein Schlüsselerlebnis im politischen Werdegang der jungen Frau –, bevor sie und ihre Mutter durch den Zwangsverkauf des elterlichen Besitztums freikamen und ausgewiesen wurden.

Der weitere Exilweg führte 1939 in die USA, wo Lerner 1941 den kommunistischen Theaterregisseur Carl Lerner heiratete und mit ihm nach Los Angeles zog, selbst in kommunistischen Kreisen aktiv wurde und in die kommunistische Partei eintrat. Die McCarthy-Hysterie betraf das Ehepaar hart, was zu einer Übersiedlung nach New York führte, wo Lerner sich zwar aus der Partei zurückzog, sich gesellschaftlich jedoch weiterhin engagierte, indem sie sich Frauenorganisationen anschloss, der National Organization for Women (NOW). Sie schlug sich in verschiedenen Berufen wie zum Beispiel als Röntgenassistentin oder Verkäuferin durch, leistete Regiehilfe für ihren Mann und wurde Mutter zweier Kinder.

Mit 38 Jahren nahm Lerner ein Studium auf und promovierte in sechs Jahren mit einer Doktorarbeit an der Columbia University zu den Grimké-Schwestern aus der Plantagenzeit South Carolinas, die im Kampf für Frauenrechte und gegen Sklaverei eine Rolle als Vorreiterinnen gespielt hatten. Damit brachte Lerner eine akademische Karriere in Gang, in der sie sich bahnbrechend der Frauengeschichtsforschung widmete und 1972 das erste Magister-Programm auf diesem Gebiet am Sarah Lawrence College gründete, sowie 1980 das Doktorandenprogramm an der University of Wisconsin, wo sie 1991 auch emeritiert wurde. Die Reihe ihrer wissenschaftlichen Publikationen ist beeindruckend: z.B. The Woman in American History (1971), Black Women in White America: A Documentary History (1972), The Female Experience: Documents in American History (1976), The Creation of Patriarchy (1986) oder The Creation of Feminist Consciousness (1997).  Ihre langjährige Geschichtskollegin an der University of Wisconsin, Linda Gordon, schrieb: „Two related intellectual and personal understandings marked Lerner’s career: a visceral grasp of how power worked and a sense of the relatedness of various forms of inequality and oppression – class, race, gender, and global imperialism.“[i] Für sie war Lerner schlicht und einfach „the single most influential figure in the development of women’s and gender history since the 1960s.“[ii]

Wie das erste Zitat andeutet, schrieb Lerner aus ihren eigenen Geschichtserfahrungen heraus, eine Ansatzweise, die auch ihr literarisches Werk ebenfalls prägte. Dieses bestand zunächst aus Kurzgeschichten, doch dann erschien 1953 ihr autobiographischer Roman Es gibt keinen Abschied über das Wien kurz vor dem Anschluss, der 1955 auf Englisch unter dem Titel  No Farewell herauskam. Das Werk bietet ein sehr lesenswertes und detailliertes Panoramabild der vielen sozialen Schichten der Stadt in einer sehr turbulenten Zeit.  In ihrem Vorwort zur deutschen Neuausgabe 2017 schrieb Marlen Eckl: „Indem [Lerner] mit psychologischem Einfühlungsvermögen und schonungsloser Deutlichkeit die äußeren Zwänge und inneren Konflikte der einzelnen Charaktere und deren Lebenswelt darlegt, erlaubt sie den Lesern, ihnen näher zu kommen.“[iii]  Eine Autobiographie zu Lerners frühem Leben erschien 2002 unter dem Titel Fireweed.

Nicht nur eigene sozialgeschichtliche Erfahrungen durchdrang Lerners literarisches Schaffen, denn es konnte auch zutiefst Persönliches sein, so zum Beispiel in ihren Memoiren A Death of One’s Own (1978) über den frühen Tod ihres Mannes Carl nach langer Krankheit im Jahre 1973.  Ähnlich ist es auch im Gedicht „In Praise of Aging“ (2009).[iv] Darin zeichnet sie zweifelsohne ihren eigenen Alterungsprozess nach, der 2013 in den Tod mündete.[v] Dies gelingt ihr mit so viel Weisheit, dass das eigene Erleben transzendiert wird und Allgemeingültiges über unsere letzte Lebensaufgabe zum Ausdruck kommt. Bisher ist das Gedicht nur auf Englisch erschienen, ein Manko, das unten mit der Übersetzung ins Deutsche aufgehoben werden soll, so dass das Gedicht den Anschluss auch an den sprachlichen Kulturkreis findet, aus dem Lerner ursprünglich stammte.[vi]

 

In Praise of Aging

Aging is natural, a process,
the last task life sets before us.

A path with only one outcome
that we learn not to fear.

On that path, step by step,
we must give up something forever:

what we have achieved; what we treasure;
what we take for granted.

Our body is no longer familiar,
altered by pain.

We learn to respect it,
to live with it as it is.

Round stones, bare bones –
we travel light.

We turn to memory,
Remembering fullness,

discovering the pleasure
of the modest particular.

Growing awareness of purposeful seeing,
acceptance of what cannot be changed.

Aging is a dance on uneven terrain,
despite impairment, weakness and failing senses,

celebrating what is,
what still is.

What we have now is all there ever will be.
And so we dance on, just the same,

with patience, courage and grace.

–Gerda Lerner

Lob des Altwerdens

Altwerden ist natürlich, ein Vorgang,
die letzte Aufgabe, die das Leben uns stellt.

Ein Weg mit nur einem Ausgang,
den wir lernen nicht zu fürchten.

Auf diesem Wege, Schritt für Schritt,
müssen wir etwas für immer aufgeben:

was wir erreicht haben, was wir schätzen,
was wir als selbstverständlich erachten.

Unser Körper ist uns nicht mehr vertraut,
verändert durch Schmerz.

Wir lernen, ihn zu respektieren,
damit zu leben, wie er ist.

Runde Steine, nackte Gebeine –
wir reisen mit leichtem Gepäck.

Wir wenden uns den Erinnerungen zu,
erinnern uns der Fülle,

entdecken die Freude
am bescheiden Besonderen.

Wachsende Achtsamkeit für bewusstes Sehen,
die Hinnahme dessen, was nicht zu ändern ist.

Altwerden ist ein Tanz auf unebenem Boden,
trotz Leiden, Schwäche und versagender Sinne,

preisend, was ist,
was immer noch ist.

Was wir jetzt haben, ist alles, was je sein wird.
Und so tanzen wir weiter, gleichwohl,

mit Geduld, Mut und Anmut.

(Übersetzt von Reinhard Andress)

 

[i] Linda Gordon, „Biography. Gerda Lerner (1920-2013)“, http://www.gerdalerner.com/biography/.

[ii] Gordon.

[iii] Marlen Eckl, Vorwort, Gerda Lerner, Es gibt keinen Abschied (Wien: Czernin Verlag, 2017), 17.

[iv] Das Gedicht erschien 2009 in einer Einzelausgabe, eingebettet in Naturfotos von Sandy Wojtal-Weber. Aus mehr als vierzig Naturfotos suchte Lerner die heraus, die am besten zu jeder Zeile des Gedichts passten. Es entstand dabei ein beeindruckendes poetisches und visuelles Kunstwerk.  Vgl. http://www.gerdalerner.com/in-praise-of-aging/.

[v] Vgl. den Nachruf von William Grimes, „Gerda Lerner, a Feminist and Historian, Dies at 92“, The New York Times (3.1.2013): https://nyti.ms/UJb6Hn.

[vi] Das englische Original wird hier mit der freundlichen Genehmigung von Gerda Lerners Tochter Stephanie Lerner-Lapidus und Sandy Wojtal Weber nachgedruckt.

Comments are closed.