Sep 2020

IV. Transatlantischer Gedanken- und Erfahrungsaustausch

 

„Break on Through to the Other Side“

 

Ein Gedankenaustausch mit Axel Reitel, politischem Häftling in der DDR, experimentellem Rockmusiker in der alten BRD und engagiertem Literaten im wiedervereinigten Deutschland.

 

Frederick Lubich, Norfolk, Virginia & Axel Reitel, Berlin

 

Axel Reitels Warming Up mit dem Beatles Songbook, West-Berlin 1986.
Foto: Frank Runge

 

Frederick: Lieber Axel, im Jahr 1982 hat dich die BRD als politischer Häftling der DDR für rund fünfundneunzigtausend West-Mark freigekauft. Seitdem hast du dir in der Bundesrepublik und West-Berlin mit deinen vielfachen Begabungen als Musiker, Komponist und Liedtexter, sowie als Dichter, Romanschriftsteller und engagierter Publizist in diversen bekannten und renommierten Zeitungen wie der Berliner Morgenpost und der Hamburger Welt und nicht zuletzt auch als Autor von Hörfunk-Features für die ARD einen gut klingenden Namen gemacht. Als Mitglieder des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland stehen wir beide schon seit geraumer Zeit im regen transatlantischen Gedankenaustausch. Was wir unter anderem gemeinsam haben, ist unsere rebellische Jugendzeit und unsere lebenslange Begeisterung für alle möglichen Gattungen der internationalen Populärmusik, vom Blues über Folk bis zum Rock. Während ich das Glück hatte, im freien Westdeutschland den Sturm und Drang unserer Generation ausleben zu können, bist du in Ostdeutschland aufgewachsen und schon in frühen Jahren mit der Staatsmacht in dramatischen Konflikt geraten. Wie kam es dazu?

Axel: Ich bin das lachende Kind. Ganz früh raus, rein in die Pantoffeln, und das Leben gefällt mir. Ich habe drei ältere Geschwister. Zwei Brüder, geboren 1947 und 1951 sowie eine Schwester, die 1955 geboren ist. Unsere Eltern, geboren 1921 und 1927, sind beide Sonntagskinder. Der Vater Sprengmeister (Uranbergbau), die Mutter Krankenschwester (Altenpflege). Daher in der Literatur wohl auch mein Faible für Bohumil Hrabal. Weiter: der Vater Partei (SED), während die Mutter zu Hause Westen spielt. Im Wohnzimmer gibt es Wolkenstores wie im Oval Office. Alle Zimmer in der großen Wohnung mit einem sieben Meter langen Flur sind von atemberaubender Schönheit.

An Reproduktionen bevorzugt sie eindeutig Rembrandt. Bis zur Chinesischen Vase mit ihrer tiefinnigen Farbgebung – neben dem Radio meinem Lieblingsobjekt, ein Mitbringsel Onkel Werners von seiner Weltreise, die er als Jugendlicher machte, die Familie gehörte zu den reichsten in Chemnitz –, ist alles am richtigen Platz. Die Wohnung gehört zu einem im Jahr 1929 errichteten Wohnblock von sechs kollektiv verputzten Häusern, aus der Draufsicht nach einem Bumerang geformt. Der Form des Hinterhofes mit Arboretum, Spielflächen, Waschküche, Heißmangel, Balkonen auf dem Rücken, verschiedenen Höhen habe ich in eine Erzählung gegossen, die schlicht „Die Gegenwart“ heißt und vielleicht auch mal was für die Glossen wäre.

Dann lief sehr oft Musik. Mutter war der totale Elvis-Fan. Vater hörte lieber Mireille Mathieu, später, in Westberlin, verfiel er vollkommen Sandra. Ich weiß nicht mehr, warum es mich schon sehr früh zu Bach und Beethoven hinzog. Aber natürlich dominierte auch das Magische Auge. Die phosphorleuchtende Anzeige für die Feldstärke des dudelnden Senders im Röhrenradio.

Und es wurde es viel gelesen. Das lachende Kind erntete zunächst die Buchregale der Geschwister ab: Stevenson, Defoe oder beispielsweise den abenteuerlichen Zweibänder namens Orinoko. Bei Mutter entdecke ich Vicky Baum und Pearl S. Buck. Die herrlichen alten, aber im Geist jung gebliebenen Menschen in Mutters Altersheimen (sowohl katholisch als auch evangelisch) geben für mich Zeichnungen und Bücher mit. Eines dieser Bücher ist die Bibel für Kinder. Ich sehe mich, wie ich drin blättre. Bei der Geschichte des Propheten Elias halt ich inne. Der sagte seinen Tod exakt voraus und kippt dann auch vom Stuhl. Das haut mich noch heute um. Die Bibel wurde fester Lesebestand.

Und dann Swifts Gullivers Reisen auf dem Multifunktionstisch. Augusttag. Großes Fenster. Sandfarbener Himmel, kurz vor dem Gewitter. Wie von Turner gemalt. Den kenne ich schon vom Postkartensammeln mit Motiven Alter Meister. Ach ja, rumorts da nicht ein wenig? Geboren 1970, kam noch eine Schwester hinzu. Und ich lege Jimi Hendrix auf. Brutal was? Spielt aber seelenruhig wieder Bauklötze.

Kleist hat in seiner Erzählung „Die heilige Cäcilie oder von der Gewalt der Musik“ unbedingt recht. Und da muss ich zeitlich nochmal zurück. Das Jahr 1965 in unserem Haus Am Einsteinweg 7 D. Mit einem Wintergarten wie von Christian Schad. Der von der Neuen Sachlichkeit. Mit Musiktruhe und Gummibaum und Schaukelstuhl. In dem schaukelt mein mittlerer Bruder. In der Hitparade eines Westsenders, ich nehm mal an Radio Luxemburg, läuft „Play With Fire“. Und mein Bruder fragt mich: „Na biste auch ‘n Stones-Fan?“ „Mein Ja“ ist wohl mein erstes Bekenntnis. Auch an Dylan im Wintergarten erinnere ich mich. Bei „It’s All Right Ma (I’m Only Bleeding)“ höre ich heute noch die Magie.

Überhaupt der Westen. Plauen liegt ja vor Ort. Die serpentinenreiche B 173 braucht 25 Kilometer bis Hof. Nach 20 Kilometern beginnt der mit scharen Minenfeldern ausgebaute Grenzabschnitt Gefell. No Trespass. Aber über den Äther gibt es keine Kontrolle. Der Westen beginnt im Radio. Und das steht im Jugendzimmer auf dem Mahagonitisch. Und dank dem Sendemast Ochsenkopf/Hof im Fernsehen ein Westbild wie unter klaren Sternen.

Meine Geschwister sehen aus wie aus dem Beat-Club geschält. Die ältere Schwester schneidert sich Sachen à la Uschi Nerke. Diese Erinnerungen haben nie an Magie eingebüßt. Aber jetzt kommt was Dreckiges. Vater überstand den Krieg in der Luftwaffe ohne Kriegsgefangenschaft. Darüber schrieb ich die kleine Prosa „Der es sein wird“ (in: Zeitalter der Fische. Erzählungen). 1947 guckt er für sich ein wenig in die Sterne und wird Mitglied der SED.

Sein Vater, Opa Hugo, geboren 1896, ein Weber, so findet man ihn in alten Plauener Adressbüchern (die reinsten Bewegungsmelder!), wurde knapp vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges SPD-Mitglied. Kam mit seinem sächsischen Regiment an der Somme in britische Kriegsgefangenschaft. Erlebte das Kriegsende im POW-Lager Knockaloe auf der Isle Of Wight und kehrt 1920 nach Plauen zurück. Nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD fort an auch SED. Treu und ergeben. Im WK II steigerte sich sein Hass auf Hitler, nachdem sein Sohn Reinhard bei Kiew gefallen oder verschollen war. Mein Oma Erna, geboren 1898, setzte schließlich durch, dass ich mit Zweitnamen nach ihm benannt werde. Und jetzt kommts. Treu und ergeben ist auch unser Vater. Ansonsten ein nobler Mann, ist es Vater gar nicht einerlei, als ihm die Stasi im Laufe des Jahre 1965 Fotos des mittleren Bruders als Anführer einer Demo auf den Wohnzimmertisch knallt. Die Demo solidarisierte sich mit der Leipziger Beat-Demo.

„Daran ist nur die scheiß Rockmusik Schuld“ bleibt über die kommenden Jahre ein Standardspruch des ansonsten noblen Herrn. Er sollte jedenfalls zur Strafe zum Frisör, versoff aber das Pfund mit seinem besten Kumpel Günter. Da schlug Partei mittels Faust des Vaters zu. Ich seh mich ganz genau an meines Bruders Seite. Am Fenster des Jugendzimmers. Blick auf die Straße. Die Blutschliere an seiner Nase.[1] Es kommt aber zu keinen weiteren Konsequenzen. Das magische Auge des Röhrenradios attackierte weiter den Spitzbart-Kommunismus, der mit dem Yeah-Yeah-Yeah aus der freien Welt aufräumen will. Es ist der Beginn eines langen Abschiednehmens. Sagen wir mein Goodbye Blackberry Way – I don’t see you / I don’t need you.

 

In Memoriam: Mein ermordeter Bruder Ralf-Peter.
Foto: Archiv A. Reitel

 

Frederick: Welche Rolle spielte in deinem jugendlichen Aufbegehren gegen die staatliche Gängelung und kollektiv-ideologische Bevormundung die Macht der Populärmusik – The Power of Rock and Roll?

Axel: Diese Power beherrscht damals alles. Ich lese ungeheure Mengen, spezialisiere mich auf die Welt Homers. Euripides, Sophokles, griechische Lyrik, diese Bände sogar noch. Doch sobald diese Musik erklingt, lässt man im Grunde alles stehen und liegen. Denn diese Musik ist zu der Zeit konkrete Lebenshilfe. Sie war nicht wegzuschnappen aus der Luft. Dazu muss man sich diese Musik einmal anhören. Das war teilweise schon ernste Musik. Es gab einen wahren Genieboom. Vielleicht lags an diesem furchtbarsten Krieg aller Kriege. Ich glaube auch, Bob Dylan soll uns Deutsche zu Recht daran erinnern: “The Second World War / Came to an end / We forgave the Germans / And then we were friends / Though they murdered six million / In the ovens they fried / The Germans now, too / Have God on their side.” Wie Dylan in seinem Lied “With God on Our Side” singt. Vielleicht ist es die einzige wahre Gegenkraft, die unglaubliche magische Energie des Power of Rock and Roll, wie Du es nennst, lieber Frederick. In Westdeutschland wird der Morgenthau-Plan nicht umgesetzt. Die Deutschen bekommen von den Westalliierten stattdessen Demokratie und Marktwirtschaft geschenkt. Warum? Die Kolonialmacht war furchtbar, aber eure Maschinen laufen noch heute, sagt ein befreundeter Senegalese hier auf der Mierendorff-Insel einmal zu mir. Erinnern wir uns an Hölderlin. An den vorletzten Brief seines Romans Hyperion.

So kam ich unter die Deutschen […] Es ist ein hartes Wort und dennoch sag’ ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?

Die West-Alliierten wissen das. Heute stimmt Hölderlins Verriss nicht mehr. Im richtigen Sinne verstanden, machen die West-Alliierten sozusagen Menschen aus den Deutschen. Und was dudelt 24 Stunden den West-Alliierten im Ohr: Die beste Populärmusik ihrer Zeit. Sogar die Russen machen aus dem Anteil „ihrer“ Deutschen Menschen. Das wollen wir nicht vergessen. Blicken wir nur nochmal auf die schillernde bundesdeutsche Politik.

Frederick: „Music is your only friend, until the end“, so sangen die Doors in ihrem Song „When the Music is Over“ auf dem Album Strange Days aus dem Jahre 1967, und mit diesem Album wurden sie zu meiner lebenslangen Lieblingsband. Ein ikonisches Foto von Jim Morrison, ihrem charismatischen Frontmann, zierte in meiner Jugendzeit jahrelang den Deckel meines Tonbandgeräts. Und der Name der Band war vielschichtiges Programm. Sie hatte ihn von Aldous Huxleys Buch The Doors of Perception aus dem Jahr 1954 abgeleitet, in dem der Autor ausführlich seinen psychedelischen Meskalin-Trip beschrieben hatte. Der Titel seines Buches ist wiederum ein Zitat aus dem Gedicht „The Marriage of Heaven and Hell“ von William Blake, des großen visionären Dichter-Malers der englischen Romantik. Die ganze Zeile dieses Doors-Zitats lautet: „If the doors of perception were cleansed, everything would appear to man as it is, Infinite.“ Auf gut Deutsch: „Wenn die Tore der Wahrnehmung gereinigt wären, dann würde dem Menschen alles so erscheinen, wie es tatsächlich ist, nämlich unendlich.“ Für mich hatte der Song der Doors „Break on Through to the Other Side“ von Anfang diese spirituelle, nämlich physisch-metaphysische Bedeutung des geistig-seelischen Durchbruchs vom Diesseits ins Jenseits mit all seinen unergründlichen, immanent-transzendenten Dimensionen. Für dich hatte andererseits diese Zeile von Anfang an eine ganz andere, nämlich vor allem konkrete, persönlich-politische Bedeutung.

Axel: Das stimmt natürlich. Das Durchbrechen zur anderen Seite ist auch das Durchbrechen weg von der Lüge. „…I found an island in your arms / arms that chain / eyes that lie […] /“, heißt es im Song. Ganz im Sinne von Albert Camus die Verteidigung der Freiheit. Die Freiheit, nicht lügen zu müssen. Die Diktatur ist eine „Landschaft der Lüge“ (Jürgen Fuchs) Wer sich mit der Diktatur einlässt, beispielsweise auf dem Sektor des Journalismus, endet als „parteilicher“ Journalist. Blake liebe ich auch sehr. Für meine Wohnung, Bülowstraße 30, in Berlin-Schöneberg, hatte ich mir einen anderen Gedanken ausgesucht und oben über Ecke mit roter Farbe visualisiert. „I must create a system or be enslaved by another man’s; I will not reason and compare: my business is to create.“

 

Meine Studentenbude in der Bülowstraße 30 Berlin-Schöneberg mit dem Blake Graffiti an der Wand. Foto: Archiv A. Reitel

 

Bei der Platte Strange Days gefällt mir die Ästhetik des Covers. In der Berliner Studentenband „Erste Lektion“[2] spielen wir 1987/88 „People Are Strange“, aber auch „Light My Fire“ und „The End“. Die Live-Aufnahmen kursierten zu der Zeit auf Kassette. Auch im Osten. 1999 packe ich das Material auf die Doppel-CD „Box Stop Yesternight.“ „The End“ spielen wir in einer 17 Minuten langen Version unter dem Glockenturm der Stadtkirche in Neckargartach. Bei diesem Auftritt kommen sieben Musizierende zum Tragen: Martin Walter – Gitarre; Frank Runge – Keyboard; Axel Reitel – voc, harp; Stephan Bischof – Piano; Wolfgang Ernst – Bass; Theo Walter – drums; und ein leider nicht mehr ausfindig zu machender Congaspieler… Dann erweitern Stanley Clark, Keith Jarrett und Joseph Kosma das Repertoire. Wir schreiben aber auch ein knappes Dutzend eigener Songs wie den 13-taktigen Cuss-Blues, in dem es heißt: „Yesternight I’ve dreamed a gentle silver rain falls down /… / the rain was a girl / who is climbing my world all around“.

 

 

„Climbing“ ist völlig doorsig, dann stellt der Text die griechische Mythologie auf den Kopf. Alle Welt kennt das Bild: Zeus wabert sich als Nebel in das Verlies der Danaë, vom König, ihrem Mann eingebuchtet, da er mit ihr keinen Sohn haben kann, weil der ihn laut dem Orakel umbringt. Also macht sich Zeus an die Vaterschaft des Perseus. Bei mir werden die Götter weiblich. Ganz schön fortschrittlich nicht?

 

Sonntagskonzert im Café „Limit“ Waldstraße, Moabit, August 1987, v.l.n.r. Martin Walter, Frank Runge, Axel Reitel

 

Berliner Studentenband „Erste Lektion“ aka „Erste Lektion Berlin“

 

Frederick: Infolge meiner jugendlichen Faszination für Nietzsches ikonoklastische Philosophie und vor allem für die in seinem Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik entfaltete Kulturtheorie des Apollinisch-Dionysischen wurde Jim Morrison für mich von Anfang an der moderne Protagonist der mythisch-dionysischen Unterwelt par excellence. Sein früher Tod machte ihn nur noch mehr zum mystisch-messianischen Märtyrer unserer archaisch-musikalischen Subkultur. Und wann immer ich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten mal wieder in Paris war, besuchte ich, wann immer es nur ging, auch das Grab von Jim Morrison im Friedhof Père Lachaise… Doch für dich gewann der Musiker Morrison eine noch viel einflussreichere, nämlich praktisch-kreative Rolle.

Axel: Jim Morrison ist für mich vor allem ein Dichter. Bob Dylan erwähnt ihn während eines Interviews in einem Atemzug mit Shelley. Und Nietzsche sehr früh. Schopenhauer. Kierkegaard. Hegel, den Philosophen der Freiheit, hat mir das Unterrichtsfach „Einführung in den dialektischen Materialismus“ verdorben. Das manieristische „Die Partei hat immer recht“ kommt für mich klar von Hegel „Der Staat hat immer recht“. Zu der Zeit ist er aber schon Preußischer Staatsphilosoph. Ich erinnere mich an mehrere Besuche auf dem Friedhof Père Lachaise: Jim Morrison, Frédéric Chopin, Oscar Wilde, Édith Piaf. Dabei ergaben sich einprägsame Begegnungen wie mit der blinden Französin, die eine Sonnenbrille trug und Liebesgedichte und Tagebuch schrieb. Oder meine Begegnung mit Heinz Gerstenmeyer, heute ein weltweit anerkannter Doors-Experte. Was den Dichter Jim Morrison betrifft, so gibt es einige Hasser, die ihn einen Blender nennen, dass er sich in seinem Nachlass als kein zweiter William Blake erweist. Abgesehen von den unterschiedlichen Tropen klingt Blake wie Blake. Morrison klingt wie Morrison. Das Durchbrechen zum eigenen Klang erweist sich für jeden ernstzunehmenden Künstler als Herausforderung.

 

Saarbrücken 1983. Zurück vom Besuch der toten Dichter in Paris. Foto: Archiv A. Reitel

 

Frederick: Welche Bedeutung hatten britische und amerikanische Rock-Bands und Singer-Songwriter-Traditionen in deiner Jugend und im weiteren Sinne für deine Generation während der Zeit des Kalten Krieges?

Axel: Diese Musik wollen alle möglichst komplett im Plattenschrank. Rückblickend reise ich oft nach Prag und kaufe meine Platten auf dem berühmten Schwarzmarkt in der Nähe des Pulverturms. Vis-à-vis der Moldau. Gut verborgen hinter den dicken Sträuchern einer hängenden Stufenterrasse. Star Collection The Doors. The Soft Parade. Morrison Hotel. Sitar wird auch viel gehört wie gelesen die Bhagawadgita, die Upanischaden, die Großen Reden Buddhas, Joan Baez’ politische Engelsstimme, Leonhard Cohens worttitanische Seetang-Melodien. Die Helden im Seetang im Lied „Suzanne“ recherchiere ich schließlich in einem Brief von Sartre an die Beauvoir als getarnte Marines. Fast alle dieser Bands und Songwriters schaffen wirkliche Poesie. Die hat einer ganzen Genration geholfen, weder zu verblöden noch in der Welt der Politik abzustumpfen. Der große Warlam Schalamow schreibt: „Das, was die Kunst nicht berührt hat, wird früher oder später sterben.“ Die große Anna Seghers schreibt: „Warum verwelkt nur alles, wohin wir unseren Fuß setzen?“ Scharlamow steckte als Sträfling in dem schlimmsten Winkel des Archipel Gulag. Anna Seghers war die strahlende Präsidentin des Schriftstellerverbandes der SED. Das ist der entscheidende Unterschied.

Frederick: Als ich 1972/73 für ein Jahr in Newcastle im Norden Englands studierte, war David Bowie gerade in seiner Ziggy-Stardust-Phase, und ich habe ihn dort bei einem Konzert hautnah erlebt und wurde vor Ort zu einem lebenslangen Bowie-Fan. Im Laufe der Jahre drohte er mit seinen sich ständig wandelnden modischen und musikalischen Maskeraden mein erstes großes Idol von Los Angeles mehr und mehr zu überflügeln. Und Bowie sollte in genau demselben Jahr von Los Angeles nach West-Berlin ziehen, in dem ich umgekehrt von Deutschland nach Amerika zog, um bald danach mit meiner kalifornischen Freundin von der Ostküste über den weiten Kontinent bis in ihre herrliche Heimat an der Küste des Pazifischen Ozeans weiterzuziehen. Erst viele Jahre später sollte ich erkennen, dass der Song der Doors „Break On Through to the Other Side“ auch sprechende Verse enthielt, die meine ursprünglich ganz und gar nicht geplante Auswanderung auf die Große Insel auf der anderen Seite des Atlantiks bis ins poetische Detail genau beschrieben: „I found an island in your arms / a country in your eyes …“

Doch zurück zu David Bowie und mit ihm ins einstige West-Berlin zur Zeit des Kalten Krieges, als er mit seiner wunderbaren Ballade „Heroes“ deiner damals so zerrissenen Wahlheimat eine so herrliche Hymne schenkte. Welche Rolle spielte eigentlich seine so flamboyante Persona und seine so experimentell avantgardistische Musik für euch im Ostdeutschland?

Axel: Ich liebe Bowie. „Heroes“ ist unschlagbar. Es kommt direkt von Rimbaud, aus den Illuminations. Das allegorische Königspaar für einen Tag, das sich bei Bowie ins Schussfeld der Berliner Mauer begibt, weil Musik und Liebe stärker sind. Wirklich unschlagbar. Es ist ein großes Geschenk an Berlin und die Berliner. Ich hörte das Lied erstmals in Berlin-West. Ausgerechnet im „Sound“. Die Hälfte der Rockmusik dieser Zeit ist experimentell. Man blickt auf eine große Mike Oldfield-Gemeinde, eine Emerson-Lake-and-Palmer-Fusion-Gemeinde. Und auch den Free-Jazz dürfen wir nicht vergessen. Ostdeutschland war ein bunter experimenteller Teppich. Jedenfalls wenn man in die Plattenschränke schaut. Die sind voll auf dem Laufenden. Natürlich nicht der Teil der Jugend, der beständig in Richtung Ideologie schaut. Das Präsenile kommt dann schnell.

Frederick: Was bedeuteten deutschsprachige Sänger und Rockbands aus der BRD und DDR für deine Generation?

Axel: In meiner ersten angemieteten Wohnung, in der Gontermannstraße 54, in Berlin Tempelhof, laufen alternierend The Doors und Wolf Biermann. Über Biermann braucht man gar nichts sagen, außer gebt ihm den Nobelpreis, der ist ein Titan der Worte wie Leonard Cohen. Bettina Wegner hilft uns nach der Ausbürgerung Biermanns ungemein mit ihren Liedern, den Weg nicht zu verlieren. Die Klaus-Renft-Combo singt bis zum Verbot auch für uns. Dann Konstantin Wecker. Wecker wird von allen Liedermachern aus dem Westen am meisten verehrt. Hannes Wader auch, seine DKP-Geschichte ist dagegen kaum zu schlucken. Amon Düül, Ihre Kinder, Das Dritte Ohr, doch allen meilenweit voraus Rio Reiser und Ton, Steine, Scherben. Die Rockbands und Sänger aus der Bundesrepublik wirken als Bestätigung des gesuchten Lebensgefühls.

Frederick: Mitte der Achtziger Jahre entwickelte sich in der DDR eine respektable Punkszene und Grufti-Kultur, die für aufmüpfige Jugendliche eine subversive Bedeutung gewann. Hast Du diese Bewegung in Ost- und Westdeutschland weiterverfolgt?

Axel: Auch im Westen habe ich noch Freunde drüben. An Platten schicke ich Dead Kennedys, Blag Flag, The Clash. Um die Ecke von meiner Wohnung, Bülow 30, gibt es das K.O.B., den berühmten Punk-Laden an der Potsdamer Straße. Wieder ein paar Meter weiter, an der Pallasstraße, die „Ruine“ mit der berühmten Ratten-Jenny, der Punk-Veteranin aus West-Berlin vor dem Mauerfall. Ich war da überall. Allerdings in Jeans.

Frederick: Nina Hagen, das größte Punk-Talent, das aus der Kälte des Kalten Krieges ausgebrochen war, hatte ja auch in Westdeutschland und später in den USA eine beachtliche Karriere gemacht. Ich habe sie Mitte der Achtziger Jahre, als wir für mehrere Jahre in New York lebten, dort in einem gutbesuchten Konzert erlebt. Welche Bedeutung hatte ihre Kunst für dich?

Axel: Wir sitzen einmal sogar im selben Lokal. Sie macht sich Notizen aus einem dicken Buch und gabelt über Stunden hier und da von ihrer Portion Spaghetti Carbonara. Ihr Debüt mit Lokomotive Kreuzberg fehlt auch heute fast nirgendwo. Den Sommer 1983 höre ich sie rauf und runter. In meinem sechseinhalbminütigen Lied „Berlin“ steht sie unter der Dusche und singt „C’est la vie“. Das sagt alles, wie? Und Nina Hagen halte ich für einen Ausnahmekünstler wie ihren Ziehvater Wolf Biermann.

Frederick: Die Sehnsucht nach bleibendem Frieden und grenzenloser Freiheit war für unsere Generation aus geschichtlichen Gründen von weltweiter Bedeutung und dies galt für uns junge Deutsche in unserer geteilten und schließlich friedlich wiedervereinten Nation ganz besonders. Wir kannten die Abgründe der Alternative zu Frieden und Freiheit, die Schauergeschichten aus dem Dritten Reich bereits von Kindesbeinen an aus den halb verdrängten Erinnerungen und entsetzten Erzählungen unserer Elternhäuser. „Riders on the storm, into this house we’re born“, so beginnt eines der berühmtesten Lieder der Doors. Dieser wildromantische Sturm und Drang nach dem Traumreich von Frieden und Freiheit wurde zur wesentlichen Inspirationsquellen der Popmusik unserer Jugendzeit diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs. Wie siehst du heute ihre weiteren Trends und musikalischen Tendenzen nach der Jahrtausendwende, oder anders gewendet, den Zeitgeist und seine kreative Energie frei nach Francis Fukuyamas End of History?

Axel: Das Vorbild für „Riders On the Storm“ ist der Song „Ghost Riders in the Sky“ von Johnny Cash. Das weiß man nun wirklich, wer das ist. Ich habe das Lied der Doors immer als Warnung gesehen vor herumstreunenden Menschen, die mit der Freiheit, mit ihrer Freiheit nichts anfangen können. Die Geschichte des Kiesels im All, der immer mehr anhäuft, ist eine gewaltige Geschichte. Sie verläuft nach Gesetzen. Diese Gesetze bringen die Entstehung eines Kunstwerkes voran. Die Geschichte der Freiheitshasser bringt nichts hervor. Es gibt kein wesentliches Kunstwerk, das die Hitlerherrschaft willentlich hervorgebracht hätte. Es gibt kein wesentliches Kunstwerk, dass die Stalinherrschaft willentlich hervorgebracht hätte. Der bereits erwähnte Scharlamow schreibt: „Nehru schrieb die Geschichte Indiens im Gefängnis… O. Henry wurde im Gefängnis zum Schriftsteller. Dostojewskij schrieb die Aufzeichnungen aus dem Totenhaus im Gefängnis. Nur in sowjetischen Gefängnissen werden keine künstlerischen, literarischen Werke geschrieben.“ „Riders on the Storm“ ist einer der großartigen Songs, die dazu aufrufen, die Freiheit zu schützen.

 

Cover von Axel Reitels CD ohne anzuklopfen
aus dem Jahr 2000

 

Frederick: Nomen est omen: Dieses Bild von deinem Platten-Cover ohne anzuklopfen scheint mir voller unterschwelliger Anspielungen an verschiedene Titel der amerikanischen Rockgeschichte zu sein, angefangen vom Band-Namen der Doors bis zu Bob Dylans Rock-Ballade „Knocking on Heaven’s‘ Door“ – von eurem stürmischen Einrennen der Mauern rund ums Brandenburger Tor im Herbst 1989 einmal ganz zu schweigen.

Axel: Da gebe ich Dir vollkommen Recht, lieber Frederick. Der Moment dieser Aufnahme hielt vieles auf einmal fest. Zunächst eine gut vorangehende Probe. Das Musizieren miteinander macht Spaß, weil es funktioniert. Als Helmut Kohl uns aus dem Osten im Laufe des Jahres 1990 via TV dazu aufruft, in unsere angestammten Städte zurückzugehen und beim Aufbau der Demokratie und so weiter zu helfen, schaltete ich kurz die Grübelmaschine an (Studium klar, Döblin-Stipendium, Senatsstipendium, eigentlich wie’n Doppeldoktor), reiße den Kopf wieder, sehe dem Bundeskanzler ins Gesicht und sage „O.k., Helmut!“. So eine Rückkehr kann sich keiner vorstellen. Die alten Freundschaften nahtlos neue. Und die alten Feinde nahtlos die alten. Zu Rosenmontag im Stadttheater Plauen Lesung mit Jürgen Fuchs und Utz Rachowski. Volles Haus. Diesmal reißt der Intendant Radestock ein paar Mal den Kopf hoch. „Hat er nicht gedacht, dass bei Knastgeschichten wirklich Literatur rauskommt“, sagte Jürgen ein paar Stunden später bei Utz in Reichenbach. Aber die alten Feinde waren nicht dumm. Sie warfen Steine in den Weg. Zu dieser CD kam es auf dem gleichen Weg wie in Berlin-West zur „Ersten Lektion“. Ich wollte ein Buch schreiben und hörte im Kopf lauter Musik. Das ist die Musik, die auf dieser CD zu hören ist. Viele Instrumente: gestrichener Kontrabass, Fretless-Bass, Cachon, Bachtrompete, Akkordeon, Klavier, Mundharmonika, Gitarren, Saxofon u.a. Im Grunde ist das meine dankbare Verbeugung vor allen musikalischen Einflüssen und den Leuten, die das verbrecherische System der Betonkommunisten zu beseitigen halfen.

Frederick: Erzähl von deinen weiteren Musikprojekten und musikalischen Weggefährten, wie zum Beispiel Reinhard Fißler.

Axel: ohne anklopfen ist deklariert als Akt I des Musicals Jodie.[3] Die Nachfolgerin Ghettos in petto ist schon Akt II. Akt III ist in progress. Einige rough mixes gibt es schon. Das Abstrakt ist: Eine Familie verliert durch rassistische Willkür in Ostdeutschland ihr Haus, erbt aber eins im Westen. Die junge Jodie streunt durch die Großstadt und ruft in morphologische Felder tappend eine geschehene Geschichte auf. Hi Broadway. I’m ready! Natürlich wächst dabei immer das Rettende. Am Ende kann man sich freuen.

 

 

Ich freue mich noch immer darüber, dass Rod Davis von John Lennons „The Quarryman“, die es ja immer noch gibt, mein Buch über und mit Reinhard Fißler seinerzeit auf die Internetseite der Band gestellt hat. “A fascinating reading, of course it is in German“, meinte Rod Davis damals. Rod und Reinhard waren befreundet. Reinhard lebt leider nicht mehr. Vor wenigen Jahren verlor er seinen wirklich Bewunderung abringenden Kampf gegen die tückische Krankheit ALS. Ich freue mich auch über die Freundschaft mit Reinhard. Dass er zweimal auf ohne anzuklopfen mit mir singt.

 

Axel Reitels Künstlerbiografie über Reinhard Fißler, 3D -Verlag, 190 Seiten, 2007

 

Frederick: Spielt die Musik auch eine zentrale Rolle in deinem Roman, an dem Du bereits seit längerer Zeit arbeitest?

Axel: Nein, hier geht es um einen großen Kreis von Mächtigen, die um eine Anzahl von Menschen pokern, aber nur um ihr eigenes Leben abzusichern. Das muss natürlich knallen wie ein physikalisches Experiment, wenn es in Erinnerung bleiben soll. Ein Knall ist aber keine Musik.

 

Axel, Berlin Hauptbahnhof, 2011: „The times, they are a changin’“

 

 

Frederick, ca. 2005, Norfolk, Virginia. Foto: Katina Dell’Acqua-Lubich

The times, they are a changin’. Indeed!

 

Frederick: „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“, so lautet eines der populärsten Lieder Wolf Biermanns. Wir beide haben uns im Frühjahr 2018 für die Rückkehr Biermanns in unser PEN-Zentrum engagiert und wir beide haben in diesem Zusammenhang auch das Projekt seiner Nominierung zum Nobelpreis für Literatur lanciert. Wir meinen, nach der jahrhundertalten Nobilitierung unserer besten Dichter und Denker wird es höchste Zeit für eine entsprechende Kanonisierung unserer besten Sänger und Seher, die mit ihren Liedern ein Leben lang für eine bessere Zukunft gesungen und geworben haben. Unter Deutschlands lebenden Liedermachern hat das sicher keiner besser in Wort und Tat getan als Wolf Biermann. Und er beschränkt sein soziales und politisches Engagement nicht nur auf seine Kunst und ihre unterhaltsame Veranstaltung, er setzt auch alle möglichen publizistischen Hebel in Bewegung. So hat er zum Beispiel in einem langen Artikel in der New York Times vom 29. Juni 2018 für die so umstrittene Flüchtlingspolitik der deutschen Bundeskanzlerin eine große Lanze gebrochen. Indem er in diesem Essay seinen Blick bis ins frühmittelalterliche Vielvölkerreich Kaiser Karls des Großen zurückschweifen lässt, plädiert er ganz in dessen Sinn für ein postmodernes, liberal multikulturelles Europa, das gleichzeitig auch als demokratisches Vorbild für eine weltoffene Europapolitik und – last but not least – als transatlantische Gegenvision zu Donald Trumps gegenwärtiger Flüchtlingspolitik figurieren kann. Wie siehst du als ehemaliger Rocksänger und Liedertexter und somit als erfahrener Mitstreiter einer uralten und altehrwürdigen Zunft, die bis in die antike Tradition des homerischen Heldengesangs zurückreicht, in diesem zeitgeschichtlichen Zusammenhang Biermanns konkrete Verdienste als politischer Sänger und Seher und nicht zuletzt seine reellen Aussichten auf den Nobelpreis für Literatur?

Axel Reitel: Das wiederhole ich gern noch mal. Ich wünsche mir, dass ich im Abonnement der New York Times in ein oder zwei Jahren lesen kann: Wolf Biermann, the German songwriter, poet and author, who was awarded this year’s Nobel Prize in Literature…

 

Footnotes:

[1] Vgl. Mein Radiofeature „Der Tod meines Bruders – Rekonstruktion eines vermeintlichen Unfalls“ https://www.youtube.com/watch?v=wmHs2BFrvkc&t=205s (eingesehen am 15. Dez. 2019).

[2] Die Band Erste Lektion war eine studentische Dreierbesetzung: Martin Walter (UdK) Gitarre; Frank Runge (TU-Berlin) Keyboards; Axel Reitel (TU-Berlin) Vokal, Harmonika. Die folgende Aufnahme von Radio 100 stammt vom Sommer 1987, live auf dem Linsenfest Neckargartach mit musikalischen Freunden und dem Bruder des Gitarristen am Schlagzeug gespielt.

[3] Die konzeptionelle Band Axel Reitel & collegium novum wurde im Jahr 2000 in Plauen/Vogtland gegründet. Zielstellung war die stoffliche und musikalische Entwicklung von Jodie – das Musical (siehe oben, Titel Jodie). 20 Jahre später sollte es in die entscheidende Phase des Orchesterarrangements treten (unter dem Titel Jodie-Midi, Arrangement PhD Davide Rossini, Komponist/Dirigent (M.A.)/Orchesterdirektor). Auch inhaltlich ist der Stoff ausgearbeitet als Exposé. Libretto in progress. 

 

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