Mar 2024

Können fiktionale Erzähltexte Wissen über die Wende vermitteln?

Drei Gründe, die Frage mit Ja zu beantworten, diskutiert am Beispiel von Jens Sparschuhs Roman Der Zimmerspringbrunnen

von Uwe Spörl

Jens Sparschuhs Roman Der Zimmerspringbrunnen ist ein erhellender, schmerzhaft komischer Text, der uns, seine Leserinnen und Leser, über das Leben als Ostdeutscher vor und nach der deutschen Wiedervereinigung unterrichtet – so die zweifellos richtige und prägnant formulierte These Jill Twarks im anderen Aufsatz dieser Ausgabe.[1] Ich möchte in meinem Beitrag diese These unterstützen. Genauer gesagt, möchte ich diese Art von Thesen untersuchen und stärken. Diese „Art von Thesen“ zeichnet sich dadurch aus, dass einem literarischen Text das Potential zugeschrieben wird, seine Leserschaft zu „unterrichten“ – etwa darüber, wie es ist, als Ostdeutscher nach der Wende jahrelang arbeitslos zu sein, oder darüber, was es heißt, die eigene Heimat zu verlieren, ohne den Wohnort zu wechseln.

Das Gesamtkonzept unseres „Wende-Readers“ entspricht ebenfalls dieser „Art von Thesen“: Unsere kleine Serie an Glossen-Ausgaben beansprucht ja, ein „Wende-Reader für den Unterricht“ zu sein. Er soll als Unterstützung dienen für die Lehrenden in den fortgeschrittenen Klassen an höheren Schulen oder den grundständigen Lehrveranstaltungen an Colleges und Universitäten auf beiden Seiten des Atlantiks. Die vier ausgewählten Erzähltexte (kurze Romane oder längere Erzählungen), mit denen sich die vier Ausgaben befassen – neben Jens Sparschuhs Der Zimmerspringbrunnen sind das Bernd Schirmers Schlehweins Giraffe, Kerstin Hensels Tanz am Kanal und Jens Wonnebergers Wiesinger –, sind in diesem Zusammenhang natürlich selbst Gegenstände unseres Interesses. Unsere Analysen und Interpretationen beziehen sich auf sie als literarische Werke, als die Kunstwerke oder Artefakte, die sie sind. Die vier Texte interessieren aber auch und ­vielleicht sogar in besonderem Maße als Mittel, um jungen Menschen in Schule und Universität Einblicke in diese besondere Phase der deutschen Geschichte zu geben, ja um ihnen Wissen über die Entwicklungen in Deutschland um 1989/90 und in den Jahren danach zu vermitteln. Denn für die nach 1990 Geborenen ist die Wende ja längst historisch geworden.

Anders gesagt: Man kann z.B. Jens Sparschuhs Zimmerspringbrunnen natürlich im Literaturunterricht im Fach Deutsch behandeln, man kann den Roman aber auch für den Geschichtsunterricht nutzen – etwa um Ostalgie zu verstehen –, für den Politikunterricht – „Warum tickt der Osten bis heute anders?“ – oder am besten in einem Projekt, das all diese Perspektiven verbindet.

Diese und ähnliche Verwendungsweisen von Literatur sind in Schule und Hochschule etabliert und weit verbreitet, sie werden in der Regel auch nicht in Frage gestellt. Sie haben aber eine problematische Voraussetzung, die in der Regel ungeprüfte Annahme nämlich, dass man mit Literatur Wissen über die Welt vermitteln kann.

In einem ersten Schritt werde ich erläutern, inwiefern diese Voraussetzung problematisch ist. Das hat mit der Fiktionalität von solcher Erzählliteratur zu tun. Wir wissen als Leserinnen, dass es Sherlock Holmes, Don Quijote und Hinrich Lobek, den „Helden“ aus Der Zimmerspringbrunnen, und die Geschichten, die von ihnen erzählt werden, gar nicht gibt. Und dennoch sollen wir annehmen, dass solche Texte Wissen vermitteln können? In den drei folgenden Abschnitten werde ich dann drei unterschiedliche, durchaus konkurrierende, aber in der Praxis wohl auch kombinierbare Ansätze vorstellen, die in jüngerer Zeit in Literaturtheorie und Literaturwissenschaft zur Lösung dieses Problems entwickelt worden sind. Als zur Veranschaulichung eingesetztes Beispiel soll dabei jeweils Sparschuhs tragisch-komischer Wende-Roman dienen.[2] Der erste vorzustellende Lösungsvorschlag geht davon aus, dass literarische Texte wie Der Zimmerspringbrunnen zwar insgesamt fiktional sind, dennoch aber Sätze enthalten können, die nicht-fiktional sind und deshalb potentiell wahr. Die Inhalte solcher wahren Sätze sind dann vermittelbare Gehalte von Wissen. Der zweite Ansatz setzt bei einer Standardpraxis der Wissensvermittlung im Alltag an: Wissen von Ereignissen vermitteln uns am besten Zeugen dieser Ereignisse. Jens Sparschuh hat – wie Hinrich Lobek, die von ihm erschaffene Hauptfigur aus Der Zimmerspringbrunnen – die Wende und die Nachwendezeit als DDR-Bürger bzw. Ostdeutscher selbst erlebt. Er kann deshalb auch in seinen fiktionalen Werken als glaubhafter Zeuge für die Wende gelten, also entsprechendes Wissen vermitteln. Die dritte und letzte Position versteht fiktionale Literatur als eine Institution, die zwar keine wahren Sätze enthalten kann, die aber in der Lage ist, Wahres zu zeigen und zu vergegenwärtigen. Der Zimmerspringbrunnen etwa vermittelt uns Lesern anschaulich Wissen darüber, wie es ist, sich mitten in Berlin wie Robinson auf einer einsamen Insel zu fühlen.

 

Können fiktionale Erzähltexte Wissen vermitteln?

Diese Frage kann mit guten Gründen verneint werden. Das hat mit den Begriffen und Ansprüchen von ‚Wissen‘ und ‚Fiktion‘ zu tun: Wissen setzt Wahrheit voraus. Um sagen zu können, dass jemand (die Person A) weiß, dass dies und das der Fall ist (die Tatsache x), muss A nicht nur von x überzeugt sein, sondern x muss auch wahr sein, eben eine Tatsache. Ein verbreiteter, noch anspruchsvollerer Wissensbegriff fordert darüber hinaus, dass A Gründe für seine Überzeugung, dass x eine Tatsache ist, angeben kann, etwa den, x als Zeuge beobachtet zu haben.[3] Fiktion wiederum gilt als Institution, die Wahrheit gerade nicht voraussetzt. Fiktionale Erzählungen etwa erzählen, wie eben schon angedeutet, ausgedachte Geschichten von Figuren, die es gar nicht gibt. Diese auf der Hand liegende Fiktivität der Geschichten und Figuren ist aber wohl gar nicht wesentlich für Fiktion. Wichtiger dürfte sein, dass die Erzählungen selbst gar nicht beanspruchen, Wahres zu erzählen. Ihre Autoren beabsichtigen das auch gar nicht. Und die Leserinnen fiktionaler Erzählungen wissen all das natürlich und rezipieren solche Texte entsprechend.[4]

Auf der anderen Seite gibt es aber auch die weit verbreitete Intuition und Praxis, fiktionaler Literatur Wahrheiten und Wissensvermittlung zuzutrauen. Was haben wir nicht alle aus Literatur über die Welt gelernt? Über fremde Länder, große Ereignisse der Geschichte, Abgründe der Seele, die Weiten des Weltraums, über Liebe, Trauer und vieles, vieles mehr …

Die Debatte um das Verhältnis von Literatur und Wahrheit bzw. Literatur und Wissen ist entsprechend alt und vielleicht nicht kontinuierlich, aber immer wieder geführt worden. Sie geht mindestens bis auf Platon und Aristoteles zurück: Jener schloss Literatur aus seinem Ideal-Staat aus, jedenfalls als Lektüre für die Personengruppen, die für den Erhalt des Staates zuständig sind. Einer der Gründe: Literatur ist Fiktion und deshalb zu weit von der Wahrheit entfernt. (Platon sieht Wahrheit in der göttlichen Idee, die von der wahrnehmbaren Realität nur unzureichend nachgebildet wird, die wiederum von der Literatur noch unzureichender abgebildet wird).[5] Sein Schüler und Nachfolger Aristoteles befasste sich, anders als Platon, in einer eigenen Schrift, der so genannten Poetik, nur mit Literatur. Sie ist, schreibt er, „etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung“. Gerade weil sich Literatur nicht an den kontingenten Tatsachen historischer Geschehnisse orientiert, sondern an dem, „was geschehen könnte, d.h. [dem] nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“, hat sie Vorteile gegenüber der allein den Tatsachen verpflichteten Historiographie.[6] Mit nur ein wenig Zuspitzung kann man Aristoteles also so verstehen, dass Literatur gerade deshalb, weil sie fiktional ist, besonders wahr und relevant sei.

Argumentationen und Überlegungen der jüngeren Literaturwissenschaft und Literaturtheorie nehmen einige Aspekte dieser Debatte aus dem 4. Jahrhundert v. u. Z. durchaus wieder auf: Die aktuelle Literaturwissenschaft hat – so könnte man erkennbare Tendenzen der letzten gut 20 Jahre beschreiben – ihr Interessen- und Gegenstandsgebiet über die Literatur hinaus ausgeweitet. Insbesondere die jeweiligen historischen Kulturen, besonders die Wissenskulturen, denen Literatur entstammt, werden nun oft einbezogen. Dabei hat sich die ohnehin verbreitete Intuition einer Affinität von Literatur und Wissen (s. o.) zu einer Annahme verfestigt, die wissenschaftliche Forschungsprogramme begründen kann: „Literatur als konstitutives Element einer Geschichte des Wissens zu begreifen, [sei] möglich, sinnvoll [und] produktiv“, so eine Formulierung des einschlägig ausgewiesenen Literaturwissenschaftlers Roland Borgards.[7] Darauf, dass diese Annahme angesichts der Fiktionalität von (großen Teilen der) Literatur und den Ansprüchen, die ein fundierter Wissensbegriff nach sich zieht, nicht so ohne Weiteres zu halten ist, hat nun aber vor einigen Jahren ein anderer Literaturwissenschaftler sehr deutlich aufmerksam gemacht. In seinem Aufsatz „Vom Wissen in Literatur“[8] bezweifelt Tilmann Köppe, dass man Literatur Wissen zuschreiben kann, jedenfalls bei einem belastbaren Wissensbegriff wie dem auch hier skizzierten.[9]

Die Frage, ob Literatur, genauer: ob fiktionale Erzähltexte wahr sein oder wahre Anteile haben und somit Wissen enthalten oder ihre Leserschaft unterrichten können, darf somit als nach wie vor unentschieden und nicht konsensuell beantwortet gelten. Mit unserem „Wende-Reader“ ist nun aber der Anspruch der Wissensvermittlung verknüpft. Dieser Anspruch entspricht zwar einer etablierten Praxis, muss also vielleicht nicht zwingend theoretisch fundiert werden. Dennoch sollte ein Blick darauf lohnen, welche Begründungsstrategien für eine Antwort mit Ja die aktuelle Literaturwissenschaft und Literaturtheorie anbieten. Ich sehe hier vor allem drei Erfolg versprechende Vorschläge, die ich nun vorstellen möchte. Im Erfolgsfall, wenn diese Strategien (jeweils) überzeugen, dient das Unterfangen also der Stützung unseres „Readers“. Ich hoffe aber darüber hinaus auch ein wenig, dass sich für die Interpretation der literarischen Gegenstände neue Perspektiven ergeben, in diesem Fall also für Sparschuhs Roman Der Zimmerspringbrunnen, den ich zur Veranschaulichung heranziehen werde.

 

Kognitivismus und Kompositionalismus: Fiktionale Literatur kann wahre Sätze enthalten

Die analytische Philosophin Maria E. Reicher argumentiert in ihrem Aufsatz „Können wir aus Fiktionen lernen?“ für eine Beantwortung dieser unserer Frage mit einem klaren Ja:

Können fiktionale literarische Werke uns Wissen vermitteln? Wenn ja, wie ist das möglich, und welche Art von Wissen vermitteln uns fiktionale Werk? Ich werde argumentieren, dass fiktionale literarische Werke in der Tat Wissen vermitteln können, und zwar, unter anderem, propositionales Wissen über die „wirkliche Welt“.[10]

Die von Reicher hervorgehobene Propositionalität des Wissens meint dabei das auch hier eingangs eingeführte Wissen, dass (Tatsache) x. Jemand weiß, dass dies und das der Fall ist. Dieses x ist als Aussagesatz formulierbar und somit „propositional“. Es unterscheidet sich vom Wissen, wie – „ich weiß, wie man einen Erörterungsaufsatz schreibt“ –, und vom (nicht propositionalen) Vergegenwärtigen (s. u.).

In der philosophischen Diskussion wird die hier von Reicher vorgetragene und gestützte Position meist als „ästhetischer Kognitivismus“ bezeichnet, so auch von Reicher selbst.[11] In anderen disziplinären Umgebungen wird die betreffende Position aber durchaus etwas anders eingeführt, benannt und begründet. Ich möchte im Folgenden nicht auf Reichers Ausführungen zurückgreifen, sondern auf die Dissertation Eva-Maria Konrads, die – anders als Reicher, die als Philosophin fiktionale Kunstwerke insgesamt im Blick hat – als literaturwissenschaftliche Fiktionstheoretikerin auf fiktionale Erzählliteratur fokussiert. Bei Konrad heißt die (von ihr selbst vertretene) Position im Anschluss an Peter Blume[12] „Kompositionalismus“.[13] Dieser besagt, dass „aus der Charakterisierung eines Gesamttextes als fiktional nicht die ausschließliche Fiktionalität all seiner Textteile folgert.“[14]

Der Ausgangspunkt ist also die Fiktionalität eines Erzähltextes als Ganzem. Die Textganzheit und seine Textteile, insbesondere seine einzelnen, von der Erzählinstanz geäußerten Sätze sind im Standardfall fiktional, nicht wahrheitsbeanspruchend oder wissensvermittelnd. Sie sind – zwischen Autorin und Leserschaft quasi verabredet – letztlich Aufforderungen, sich das von den Sätzen Ausgesagte als fiktive Tatsache vorzustellen, aber nicht auch als wahr zu glauben.[15] Es kann aber eben, so die kompositionalistische These, innerhalb solcher fiktionalen Erzähltexte Textteile oder Sätze geben, die nicht (oder nicht nur) fiktional, also als bloße Vorstellungsaufforderungen von Fiktivem zu lesen sind. Solche Textpassagen können also (auch) als „faktuale“, nicht-fiktionale Äußerungen gelten und sind mit dem Anspruch versehen, Wahres über diese unsere Welt, die gemeinsame Welt der Autorin und ihrer Leser zu sagen.[16] Der Kompositionalismus hat also – darauf weist Konrad ausdrücklich hin – den Vorteil, „die verbreitete Annahme, fiktionale Literatur könne Wissen vermitteln, unmittelbar begründen“ zu können, weil er „anhand der faktualen Passagen für eine direkte Wissensvermittlung argumentieren kann.“[17] Historische Romane z. B. sind besonders gut als solche Texte zu verstehen: Sie erzählen fiktional eine spannende, fiktive Geschichte, die aber eingebettet ist in einen historischen Zusammenhang, der in entsprechenden Textpartien korrekt wiedergegeben wird.

Allerdings ist im Rahmen dieser Theorie noch zu klären, wie wir Leserinnen und Leser die faktualen Textstellen erkennen bzw. von ihrer fiktionalen Umgebung unterscheiden können. Völlige Sicherheit wird es bzgl. dieser Frage wohl nie geben, aber durchaus ein gutes Gespür, jedenfalls bei erfahrenen Leserinnen und Lesern. Konrad jedenfalls nennt eine ganze Reihe von Hinweisen auf mögliche Faktualität, darunter Textsorten, die in fiktionale Erzähltexte eingebettet werden (etwa Essays, selbstreflexive Äußerungen des Erzählers oder Montage-Elemente) oder Signale wie die Distanz zur erzählten Welt der fiktiven Geschichte, die Verwendung von Fachsprache, faktuale Namen, Tempuswechsel u. a. m.[18] Denkbar ist auch, so Konrad, dass Sätze fiktiver Figuren oder vom Autor klar zu unterscheidender Erzähler faktual sein können, jedenfalls solange der Erzähler nicht unzuverlässig agiert, also hinsichtlich Wissen oder Wertungen vom Autor gerade zu unterscheiden ist.[19]

Fiktionale Erzähltexte über die Wende kommen zweifellos als Texte in Frage, die dieser kompositionalistischen Fiktionstheorie entsprechend Sätze enthalten, die faktual sind, also (etwa historische) Tatsachen korrekt wiedergeben und so Wissen von diesen Tatsachen vermitteln. Diesbezüglich dürften sie sich als zeitgeschichtliche oder Zeitromane wohl ähnlich wie historische Romane verhalten.

Der Zimmerspringbrunnen ist aber wohl nicht wirklich gut geeignet, um auf der Grundlage dieser Theorie als Wissen vermittelnder Text verstanden werden zu können. Der homodiegetische Ich-Erzähler Hinrich Lobek erzählt ja im Wesentlichen von sich und seinen Erlebnissen als Vertreter für Zimmerspringbrunnen und Erfinder des „ostalgischen Kult-Produkt[s]“[20] und Erfolgsmodells Atlantis – und die sind allesamt fiktiv. Zudem erzählt er als pikareske, schelmenhafte Außenseiterfigur wohl auch nicht vollkommen zuverlässig: Er erscheint selbst mitunter als komische Figur, und er schätzt mindestens einige der Verhaltensweisen seiner Frau Julia (die Lobek wohl nicht mit ihrem Vorgesetzten betrügt, wie dieser annimmt) und einige Vermutungen seiner Vorgesetzten (die anzunehmen scheinen, er habe für die DDR-Staatssicherheit gearbeitet, was er aber nicht erkennt) falsch ein. Der Erzähler des Zimmerspringbrunnens ist also keinesfalls mit dem Autor bzw. der Aussageabsicht des Gesamttextes in Übereinstimmung zu bringen. Deshalb dürften faktuale Äußerungen von ihm wohl eher unwahrscheinlich sein.

Es gibt sie aber dennoch, so meine Überzeugung: Lobek hat sich z. B. über „das Thema ‚der Zimmerspringbrunnen an und für sich‘“, als er von der Firma Panta Rhein als Vertreter angeheuert wird, „noch keine großen Gedanken gemacht. Das war völlig neues Terrain!“ Diese Reflexionen über sich selbst und das Neue führen aber sogleich zu der Einsicht: „Insofern aber natürlich nichts Neues – in den zurückgelegten letzten drei Jahren hatte sich ja alles fortlaufend erneuert.“[21] Für dieses „alles“ gibt Lobek, der Erzähler, im Folgenden eine ganze Reihe von Beispielen, darunter eindrücklich die „Postanschrift“ (durch Umbenennung der Straße, nicht durch Umzug) und natürlich den Verlust des „Heimatland[es]“, das er, Lobek, „[o]hne auch nur den Fuß vor die Tür zu setzen“, verlassen hat, „(bzw. – es mich)“.[22] Diese Beispiele werden natürlich in fiktionalen, auf den fiktiven Lobek bezogenen Sätzen formuliert, sie liefern aber den Gehalt, den Kontext und das bessere Verständnis des einleitenden Satzes, der durchaus als faktual verstanden werden kann: „[I]n den zurückgelegten letzten drei Jahren hatte sich ja alles fortlaufend erneuert.“ kann jedenfalls gut als eine wahre Aussage gelten über das, was von 1990 bis 1993/94 in der untergehenden DDR und den ganz neuen Bundesländern geschehen ist: eine als Wissen zu vermittelnde Tatsache also. Solche Sätze und Textpassagen sind mehrfach zu finden im Roman, freilich stets kurz und meist unmittelbar eingebettet in fiktionale Äußerungskontexte und von diesen kaum zu trennen – etwa der kurze Satz „Es gab ja auch nichts zu erzählen!“[23] im Kontext der Reflexionen über die eigene, Lobeks, Arbeitslosigkeit.

 

Die Zeugnis-Strategie: Auch Fiktionales kann Wissen vermitteln

Zeugnisse und Hörensagen sind weit verbreitete und durchaus respektable, weil recht verlässliche Quellen und Vermittlungsweisen von Wissen. Vor Gericht etwa kommt den Aussagen von Zeugen ggf. eine entscheidende Rolle zu. Und tatsächlich dürfte vieles von dem, was wir wissen, nicht auf eigene Erfahrungen, Prüfungen oder Überlegungen zurückgehen, sondern auf die Aussagen anderer, vom Freund über die Dozentin an der Uni bis zum wissenschaftlichen Sachartikel und seiner Autorin. Es ist also durchaus plausibel zu fragen, ob und inwiefern Literatur, auch fiktionale Erzählliteratur über eine Art Zeugnis-Strategie als eine Quelle oder Trägerin von Wissen eingeschätzt werden kann.

Tatsächlich gibt es mindestens zwei Typen von Argumenten und eine ganze Reihe von Genres, die eine solche Zeugnis-Strategie als plausibel erscheinen lassen: Wir (Leser und Literaturwissenschaftlerinnen) beurteilen die Authentizität und Verlässlichkeit von mancher fiktionaler Literatur durchaus nach den Zeugnis-Qualitäten ihrer Autorinnen und Autoren: Literatur über den Holocaust etwa kann durchaus fiktional sein, sie ist auf jeden Fall von anderer Qualität, wenn sie von tatsächlichen Opfern der Shoah geschrieben ist. Romane über den Ersten Weltkrieg, die im Kontext der politischen Auseinandersetzungen der späten Weimarer Republik einen Boom erlebten, wurden auch und besonders danach bewertet, ob ihr Autor Fronterfahrung hatte. Und aktuelle Wissenschaftsromane, die der breiten Leserschaft ein authentisches Bild von Wissenschaft, etwa der Klimaforschung vermitteln wollen, profitieren natürlich, wenn ihre Autoren selbst Naturwissenschaftler sind, bei Forschungsexpeditionen an Bord waren usw. Wenn direkte Zeugenschaft nicht vorliegt, so ist das am besten durch umfassende Recherchen zu kompensieren, auch in der Literatur: Auch das ist bei Wissenschaftsromanen der Fall, besonders aber natürlich bei Genres wie dem historischen Roman.

Ich folge hier und im Anschluss nun einem Aufsatz von Tobias Klauk, von dem auch der Terminus „Zeugnis-Strategie“ stammt.[24] Klauk und die Zeugnis-Strategie gehen über den eben vorgestellten Kompositionalismus hinaus: „Wir wollen sagen, dass man nicht nur aus nicht-fiktionalen Passagen fiktionaler Werke lernen kann, sondern aus fiktionaler Rede selbst, insofern mit dieser fiktionalen Rede gleichzeitig nicht-fiktionale Sprechakte begangen werden.“[25] Dafür muss aber die Beglaubigungsfunktion des Zeugnisses sichergestellt werden, eine Art Prinzip, im Standardfall zu glauben und als Wissen zu übernehmen, was Zeugen oder anderweitig kompetente Personen äußern. Dieses „Akzeptanzprinzip“ besagt, „dass dem Zeugnis Anderer zu vertrauen eine epistemische Defaultposition ist.“[26] Nur wenn es Gründe gibt für die Annahme, die Quelle sei nicht vertrauenswürdig, verliert das Prinzip seine Wirkung.

Die Sache hat aber, so Klauk, einen Haken: Das Akzeptanzprinzip gilt wohl nur, wenn man es hauptsächlich mit behauptender Rede zu tun hat: „Abweichende Verwendungen wie in Witzen, Ironie oder eben Fiktion müssen markiert werden, um verständlich zu sein.“[27]

Vielleicht gibt es aber ja Ersatz für das im Alltag so wirkungsmächtige Akzeptanzprinzip, ein Prinzip, das innerhalb von fiktionalen Lektürekontexten dafür sorgt, dass die Leserschaft bestimmte Informationen unter normalen Umständen als zuverlässig erachtet, und zwar als zuverlässig bzgl. unserer Alltags- und Lebenswelt. Ein solches Prinzip ist wohl als Lektürekonvention zu verstehen, als übliche Art und Weise mit einer bestimmten Art von Text umzugehen. Oben haben wir eine solche Konvention schon einmal kurz angetippt: Historische Romane erzählen fiktional eine spannende, fiktive Geschichte, die aber eingebettet ist in einen historischen Zusammenhang, der in entsprechenden Textpartien korrekt wiedergegeben wird.[28] Letztere sind also durchaus vertrauenswürdig. Solche Konventionen sind, das ist schon absehbar, nicht sonderlich präzise und genau. Und natürlich sind sie implizit, wirksam also, ohne expliziert oder formuliert zu werden. Die Leserinnen und Leser folgen solchen Konventionen also, ohne dass ihnen dies bewusst sein dürfte.

Eine solche Konvention entwickelt und formuliert Klauk nun also für die Verwendung im Kontext der Zeugnis-Strategie, als Ersatz für das Akzeptanzprinzip in fiktionalen Kontexten:

Ist die Handlung eines fiktionalen Textes raumzeitlich in unserer Welt verortbar, dann sind allgemeine Informationen über die Szenerie und den Hintergrund der Handlung alles in allem historisch [ich würde allgemeiner sagen wollen: sachlich – U.S.] akkurat. Je näher eine Information dagegen an der konkreten Handlung des fiktionalen Textes liegt, desto freier kann mit dem historischen Setting umgegangen werden.[29]

Eine solche Lesekonvention dürfte, so möchte ich ergänzen, besonders nahe liegen oder ausgeprägt verfolgt werden, wenn die Leserin weiß, dass die Autorin das ‚historische Setting‘, von dem sie schreibt, gut kennt, diesbezüglich also als verlässliche Quelle einzuschätzen ist.

Probieren wir es aus: Der Zimmerspringbrunnen erzählt ganz zweifellos eine Geschichte, die ‚in unserer Welt verortbar‘ ist. In dieser Welt fiel 1989 die Mauer, und 1990 wurde Deutschland ‚wiedervereinigt‘, Hinrich Lobek wurde aber im Gegensatz zu vielen anderen ‚Ost-Bürgern‘ nicht arbeitslos, weil er fiktiv ist.[30] Von seinem Autor dürfen wir zudem getrost annehmen, dass er das ‚historische Setting‘ der unmittelbaren Nachwendejahre in Berlin (Ost) bestens kennt. Sparschuh, Jahrgang 1955, lebte bis 1990 ausschließlich in der DDR. Während und nach der Wende wohnte er in (Ost-)Berlin, und lebt bis heute in dieser Stadt.[31]

Wie im Zusammenhang mit dem Kompositionalismus dürfte die homo- bzw. autodiegetische Anlage des Romans – Hinrich Lobek erzählt seine eigene Geschichte – dafür sorgen, dass allgemeine, nicht auf den fiktiven Lobek und seine Geschichte bezogene Informationen eher selten gegeben werden. Wo das geschieht, dürften sie aber in der Regel verlässlich sein im Sinne der Zeugnis-Strategie, also als Wissen über die tatsächliche Welt, in der die DDR mit der Wende ein Ende gefunden hat: Dazu zählen sicherlich die schon im letzten Abschnitt angeführten und ähnliche Passagen zur Schweigsamkeit und Einsamkeit des Arbeitslosen oder zur stetigen Erneuerung in den frühen neunziger Jahren, die wir als mögliche faktuale Wissensinhalte identifiziert haben. Und auch hier lässt sich feststellen, dass Informationen, die auf die fiktive Figur und ihre Geschichte bezogen sind, eng mit unsere Welt betreffenden Sachinformationen verwoben sind: „Da bemerkte ich: heimlich, über Nacht sozusagen, waren wir aus unserer Straße umgezogen worden. Sie trug jetzt einen anderen Namen“, stellt Hinrich Lobek fest.[32] Der letzte Satz dürfte ein gutes Beispiel sein für einen gleichzeitig fiktional und faktual zu verstehenden Satz im Sinne Klauks: Natürlich ist die Straße, um die es geht, die, in der Lobek wohnt, deshalb wohl eine fiktive Straße, deren Umbenennung sich die Leserin hier vorstellen soll. Dieselbe Leserin bekommt aber ebenso mitgeteilt, dass solche Umbenennungen damals üblich und häufig waren – etwa die (später im Roman explizit erwähnte und für das Zimmerspringbrunnenmodell Atlantis verwendete) (Rück-)Umbenennung von „Karl-Marx-Stadt“ in „Chemnitz“.[33]

Die Erwähnung und Einbettung lebensweltlich realer Informationen als ‚Szenerie‘ der fiktiven Geschichte im Klauk’schen Sinne dient im Roman – so lässt sich an einigen Stellen feststellen – auch der Komisierung der erwähnten Elemente: Im Kapitel „– A.I.D.A. oder im Würgegriff des Kleinhandels –“[34] wird von der höchst erfolgreichen Nutzung der AIDA-Verkaufstechnik durch Lobek erzählt, der so sein selbst entwickeltes Zimmerspringbrunnen-Modell Atlantis an die ostalgische Kundschaft bringt. AIDA ist real, wie wir wissen,[35] Lobek und Atlantis sind fiktiv. Dass ein Vertreter für (so etwas Nutzloses wie) Zimmerspringbrunnen nicht nur in der (komischen) Fiktion wie Der Zimmerspringbrunnen in derlei Verkaufstechniken geschult wird, ist also mehr als plausibel. Dass der Vertreter Hinrich Lobek mit der marktwirtschaftlichen Methode AIDA aber besonders schnell besonders großen Erfolg hat, liegt am Produkt, das er vertreibt und das in ideologischer und symbolischer Hinsicht keinen größeren Gegensatz zu AIDA bilden könnte: Atlantis ziert ja nicht nur der DDR-Fernsehturm – genauer: „Kugelschreiber in Form des DDR-Fernsehturms“[36] –, sondern auch eine „Kupferplatte“[37] mit den Umrissen der DDR. Mehr (symbolische) DDR geht also nicht. Doch Atlantis erzeugt schon beim stummen Auspacken „A wie attention“, eine Aufmerksamkeit, die „in diesem Fall fast automatisch“ in „ein spezielles Interesse (I = interest)“ verwandelt wird, so dass „keine drei Minuten später […] auch Punkt D (desire = Kaufwunsch) feste Gestalt“ annimmt und „[d]as abschließende A (= action)“ nur mehr „eine Formsache“ ist.[38]

Ganz unscheinbar, aber ebenfalls authentisch (und ein bisschen komisch) ist schließlich eine weitere Art von Informationen, die in Sparschuhs Roman hin und wieder angeführt wird: Hinrich Lobek hat ein Faible für Abkürzungen, gerade für solche aus seiner früheren Heimat, der DDR, aus seiner „KWV-Zeit“.[39] Als er bei seinen Verkaufsaktionen später auf „Werner Janowski“ trifft, erinnert er sich an ihn als „ehemalige[n] PGH-Chef“[40] und vermittelt so dem Leser ein authentisches und nicht ohne Weiteres auflösbares DDR-Akronym – „PGH“ steht für eine Produktionsgenossenschaft des Handwerks. Dass Lobek die Neigung zur Verwendung von Akronymen mit seinen Westkollegen teilt, die von den zu verkaufenden Zimmerspringbrunnen am liebsten als „ZSB“ sprechen, ist eine andere kleine deutsch-deutsche Pointe des Romans, die genau an der Verbindungsstelle zwischen realer Szenerie und fiktiver Handlung angesiedelt ist.

 

Vergegenwärtigung von Wahrem

Die abschließend vorzustellende Theorie zur Begründung von gelingender Wissensvermittlung in fiktionalen Erzähltexten geht auf die Theorie der Exemplifikation zurück, die der Harvard-Philosoph Nelson Goodman in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt hat. In Languages of Art (1968) stellt er die Exemplifikation der Repräsentation als kunsttypische Symbolverwendungsweise zur Seite. Beide unterscheiden sich, so Goodman, in der „Richtung“[41] der Bezugnahme, in der Vertauschung des jeweiligen Verhältnisses des Besonderen zum Allgemeinen: Ein Symbol nimmt auf das Repräsentierte Bezug: Das Wort „rot“ bezieht sich auf alles Rote. Das Exempel jedoch hat eine bestimmte Eigenschaft, die es exemplifiziert: Etwas Rotes exemplifiziert die Eigenschaft der Röte. Das Exempel ist also, so Goodman, eine Art Probe – wie das Stoffmuster eines Schneiders –, die einige ihrer Eigenschaften nicht nur aufweist, sondern auch veranschaulicht.

Diese Goodman’sche Idee einer „Richtungsänderung des Bedeutens“[42] griff der deutsche Philosoph Gottfried Gabriel schon in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung von 1980 auf, um das Wissensvermittlungspotential von fiktionaler Literatur zu erklären. Er vertiefte, differenzierte und erweiterte diese Konzeption seither in zahlreichen Aufsätzen und Publikationen. Von diesen möchte ich im Folgenden vor allem „Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur“ von 2014 als Textgrundlage nutzen, weil Gabriel hier in besonders großer Übereinstimmung mit unserem Problemzusammenhang argumentiert.[43] Sein Ausgangspunkt ist hier der Satz „Es gibt fiktionale Literatur, die einen relevanten Erkenntniswert besitzt.“ Und „[s]eine Hauptthese besagt, dass dieser Erkenntniswert in einer Vergegenwärtigungsleistung besteht.“[44] Diese Vergegenwärtigungsleistung nach Gabriel ist eine besondere Art von Goodman’scher Exemplifikation und folgt wiederum der „Richtungsänderung des Bedeutens“.[45] Das Besondere ist die Fiktionalität der Literatur, deren Erkenntnispotential Gabriel hier ganz in Übereinstimmung mit Aristoteles und seiner eingangs zierten Auffassung, die fiktionale Literatur sei philosophischer als die tatsachenorientierte Geschichtsschreibung, wie folgt bestimmt:

Was Dichtung wesentlich meint, wird nicht in ihr gesagt oder als in ihr enthalten mitgeteilt, sondern gezeigt, und zwar in der Weise, dass ein fiktional berichtetes Geschehen aufgrund seiner Fiktionalität den Charakter des Historisch-Einzelnen verliert und so – zu einem Besonderen geworden – eine Vergegenwärtigungsleistung erbringt.[46]

Die Inhalte dieser fiktionale Literatur ausmachenden Vergegenwärtigungsleistung sind allerdings nicht-propositional. Gabriel geht zwar davon aus, dass „[i]n realistischen […] und historischen Romanen […] neue propositionale Erkenntnisse“ vermittelt werden können, die eigentliche „Erkenntnisleistung“ von Literatur besteht aber nicht „in der abstrakten Aufstellung einer allgemeinen Proposition oder These als vielmehr in der konkreten nicht-propositionalen Darstellung, nämlich in der narrativen Vergegenwärtigung von deren Inhalt.“[47] Diese „nicht-propositionale literarisch fiktionale Vergegenwärtigung der Lebenswirklichkeit“[48] ist laut Gabriel durchaus als Art von Wissen zu verstehen. Es ist aber eben kein (propositionales) Wissen, dass etwas so und so ist, sondern ein „nicht-propositionale[s] Wissen, wie es ist, sich in der-und-der Stimmung oder Situation zu befinden“.[49]

Gabriels Erweiterung des Wissensbegriffs auf Nicht-Propositionales wird Skeptiker wie den eingangs angeführten Tilmann Köppe mit einem eher engen, auf Propositionales beschränkten Wissensbegriff wohl nicht überzeugen können. Im Übrigen hat die Gabriel’sche Konzeption der Vergegenwärtigungsleistung von Literatur als Art von Wissensvermittlung aber sicherlich gegenüber den beiden anderen hier vorgestellten Ansätzen mindestens zwei Vorteile: Sie ist mit der in der Literaturwissenschaft üblichen Praxis, literarische Texte auf ihren Sinn hin zu interpretieren, verwandt und verträglich. Und sie kann in Sparschuhs Roman Der Zimmerspringbrunnen nicht nur einzelne kleine Passagen als Wissensinhalte auszeichnen, sondern längere Abschnitte oder sogar die Gesamtheit des Romans, allerdings mit abnehmender Konkretheit der textuellen Grundlage für das betreffende Wissen. So vergegenwärtigt Der Zimmerspringbrunnen etwa – darauf hat schon Matteo Galli hingewiesen – in Hinrich Lobek sicherlich nicht nur eine typische Figur aus Wendeliteratur und Wendefilm, sondern auch einen historischen Typus der Wendejahre selbst: Er ist „ein Abgewickelter.“[50] Lobek hat mit der DDR nicht nur seine Arbeit bei der KWV verloren, sondern auch sein soziales Umfeld, sein Einkommen, sein Selbstvertrauen und seine Würde – und er fürchtet nun, auch seine Frau zu verlieren. Den Hund nennt er „Freitag“,[51] das macht ihn zum Robinson und damit zu einem topischen Veranschaulichungsexempel von Einsamkeit. Wie Robinson hat er seine Heimat verloren, anders als dieser aber „ohne auch nur den Fuß vor die Tür“ gesetzt zu haben.[52]

Überhaupt wird der Untertitel des Romans „Ein Heimatroman“, der in der Taschenbuchausgabe von 1997 übrigens fehlt,[53] sehr anschaulich über die Vergegenwärtigungsfunktion des Romans erklärbar: Lobek fährt für das Vorstellungsgespräch bei der Zimmerspringbrunnenfirma Panta Rhein ja maximal weit in den Westen, in die alte BRD, eine abgelegene Kleinstadt im Schwarzwald. Und hier erlebt er einen bisher noch unbekannten Aspekt des ‚Westens‘, die Tristesse einer schäbigen Kleinstadt-Pension und eines Fernsehprogramms mit Softsex-Filmen „aus den siebziger Jahren […] in bayrischer Sprache“.[54] In Verbindung mit der ohnehin schon deprimierenden Einsamkeit kulminiert diese Szene in Lobeks Stoßseufzer, „‚Ich liebe meine Heimat, die Deutsche Demokratische Republik.‘“ Der Satz, so oder so ähnlich sicherlich oft gehört in der Schule oder der FDJ, ist Lobek „bisher noch nie in meinem Leben über die Lippen gekommen“.[55] Die Szene veranschaulicht also nicht nur, dass Heimat etwas ist, das man erst dann schätzt und liebt, wenn es verloren ist, sondern auch, dass auch die untergegangene DDR eine solche verlorene, nun geliebte oder nostalgisch-verklärte Heimat sein kann. Der Ausdruck „Ostalgie“ taucht im Roman zwar nicht auf. Das Phänomen Ostalgie aber bestimmt den zweiten Teil der fiktiven Romangeschichte ebenso wie die historischen Nachwendejahre.[56] Ostalgie wird im Roman natürlich über das von Lobek in einer für eine DDR-Sozialisation exemplarischen (?) Mischung aus mangelbedingter Improvisation und Pragmatismus entwickelte Zimmerspringbrunnenmodell Atlantis veranschaulicht, das im letzten Abschnitt schon als Symbol der DDR eingeführt worden ist. Atlantis steht mit seinen Konturen (DDR), seinen Elementen (Fernsehturm) und seinem Namen (Utopie, untergegangen) wie nichts anderes für die DDR, wird aber trotz der offenkundigen Nutzlosigkeit als Zimmerspringbrunnen von Lobeks Kunden in Massen gekauft, ja verehrt: „Es waren regelrechte Altarecken, wo er [der „ZSB“, U.S.] landete“.[57]

Ich gehe davon aus, dass die Reihe dessen, was der Roman vergegenwärtigt, zeigt und veranschaulicht, mit diesen drei kleinen Einblicken nicht abgeschlossen ist. Und ich gehe auch davon aus, dass Vergegenwärtigung im Roman nicht die einzige Art der Bezugnahme auf das Gezeigte ist, sondern mindestens eine gewisse Distanzierung oder Komisierung hinzu kommen.

 

Schluss

Das wesentliche Ziel meines Beitrags war es aber ja, theoretisch begründete Erklärungen für das angenommene wissensvermittelnde Potential fiktionaler Erzähltexte vorzustellen und diese am Beispiel von Sparschuhs Zimmerspringbrunnen zu veranschaulichen. Alle drei ausgewählten Positionen – Kompositionalismus, Zeugnis-Strategie und Vergegenwärtigung – haben Anteile und Aspekte des Romans identifizierbar gemacht, die nicht fiktional sind, wahrheitsfähig oder anderweitig als Wissensinhalte angesehen werden können. Das jeweilige Wissen bzw. die zugrunde liegende Textbasis wiesen dabei auch Überscheidungen auf. Die drei Ansätze konkurrieren theoretisch miteinander, schließen sich aber im Ergebnis keineswegs aus, im Gegenteil. Vieles deutet darauf hin, dass sie sich praktisch durchaus gegenseitig ergänzen können. Hinsichtlich Sparschuhs Roman hat sich die Vergegenwärtigung als der Ansatz erwiesen, der die größte Menge an Wissensinhalten hervorgebracht hat, während die beiden anderen Ansätze und insbesondere der Kompositionalismus eine eher geringe Menge an als Wissen vermittelte Textstellen ergeben haben. Die Probe kann aber – so meine Vermutung, die natürlich zu prüfen wäre – bei anderen fiktionalen Erzähltexten und vielleicht auch bei anderer Wendeliteratur durchaus andere Ergebnisse zeitigen.

 

[1] Twark, Jill. „Selling Ostalgie: Der Zimmerspringbrunnen as a Tragicomic Salesman’s Tale of German Unification“. In: Glossen. German Literature and Culture after 1945. Nr. 50 (2024), https://blogs.dickinson.edu/glossen/twark-selling-ostalgie/, hier: https://blogs.dickinson.edu/glossen/twark-selling-ostalgie/#Spoerl_1: „The novel and film version of Der Zimmerspringsbrunnen remain insightful, painfully funny texts that teach us about life as an Eastern German before and after German unification.“ Auch die in dieser Einleitung meines Beitrags beispielhaft angeführten Wissensinhalte aus Der Zimmerspringbrunnen finden sich in Jill Twarks Beitrag: Nachwende-Arbeitslosigkeit, -Heimatverlust und -Isolation.

[2] Sparschuh, Jens. Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995.

[3] Die philosophische Beschäftigung mit dem menschlichen Wissen, seinen Möglichkeiten und Grenzen ist beinahe so alt wie die Philosophie selbst, entsprechend vielgestaltig. Einen sehr guten Einblick in die Wissens- und Erkenntnistheorie gibt etwa Moser, Paul K. (Ed.). The Oxford Handbook of Epistemology. Oxford: Oxford UP, 2002.

[4] Das Feld der literaturwissenschaftlichen und philosophischen Fiktionstheorien ist bei weitem zu breit und zu vielfältig, um hier einzelne Titel oder Positionen zu dokumentieren oder hervorzuheben: Einen sehr guten, aber nach gut 20 Jahren nicht mehr ganz aktuellen Überblick gibt Zipfel, Frank. Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt, 2001. Einen umfassenden Einblick in das Feld bietet Klauk, Tobias / Köppe, Tilmann (Hg.). Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin: de Gruyter, 2014.

[5] Platon spricht in seinen uns heute bekannten Texten selten in eigener Sache. Man kann also durchaus sagen, seine philosophischen Schriften in Dialogform seien selbst fiktional. Im Dialog Politeia (dt. Der Staat) argumentiert die historisch-fiktive Figur Sokrates jedenfalls so wie hier skizziert, vgl. Platon. Der Staat / Politeia. Übers. von Rüdiger Rufener. Hg. von Thomas A. Szlezák. Düsseldorf, Zürich: Artemis & Winkler, 2000, (Buch X, §§ 595-608) S. 804-847.

[6] Aristoteles. Poetik. Griechisch / Deutsch. Übers. und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam, (§ 1451a/b) S. 29.

[7] Borgards, Roland. „Wissen und Literatur. Eine Replik auf Tilmann Köppe“. In: Zeitschrift für Germanistik. N. F. 17 (2007), S. 425-428, hier: S. 425.

[8] Köppe, Tilmann. „Vom Wissen in Literatur“. In: Zeitschrift für Germanistik. N. F. 17 (2007), S. 398-410. Dieser Aufsatz ist der Beginn einer Diskussion, die in Nr. 17 der Zeitschrift für Germanistik dokumentiert ist – eine der Repliken ist der eben zitierte Beitrag von Borgards –, die mit diesem Zeitschriftenband aber nicht abgeschlossen war. Köppes Dissertationsschrift etwa – K., T. Literatur und Erkenntnis. Studien zur kognitiven Signifikanz fiktionaler literarischer Werke. Paderborn: mentis, 2008 – wurde ebenfalls intensiv diskutiert.

[9] Auch zum weiten Feld des Verhältnisses und Zusammenhangs von Literatur und Wissen möchte ich auf eine Monographie hinweisen, die einen guten Ein- und Überblick gewährt: Klausnitzer, Ralf. Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen. Berlin, New York: de Gruyter, 2008.

[10] Reicher, Maria E. „Können wir aus Fiktionen lernen?“ In: Demmerling, Christoph / Vendrell Ferran, Íngrid (Hg.). Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge. Berlin: de Gruyter, 2014, S. 73-95, hier: S. 73.

[11] Ebd., S. 74.

[12] Vgl. Blume, Peter. Fiktion und Weltwissen. Der Beitrag nichtfiktionaler Konzepte zur Sinnkonstitution fiktionaler Erzählliteratur. Berlin: Erich Schmidt, 2004.

[13] Konrad, Eva-Maria. Dimensionen der Fiktionalität. Analyse eines Grundbegriffs der Literaturwissenschaft. Münster: mentis, 2014. Konrad unterscheidet hier „Panfiktionalismus“ – alles ist fiktional, Nicht-Fiktionales gibt es nicht und damit auch keinen Gegensatz zwischen Fiktion und Wahrheit –, „Autonomismus“ – Fiktionen enthalten nur Fiktionales – und eben den hier vorzustellenden „Kompositionalismus“ (Kap. 4, S. 265-474).

[14] Ebd., S. 370. – Auf der Folgeseite 371 findet sich die komplette kompositionalistische Variante der Definition von Fiktionalität, die Konrad hier entwickelt.

[15] Dies entspricht der Auffassung von Fiktionalität als einer pragmatisch konventionalisierten Institution, die aktuell die Forschung dominiert, auch wenn sie vielleicht noch kein allgemeiner Konsens ist.

[16] „Faktual“ meint im fiktionstheoretischen Diskurs „nicht fiktional“. – Konrad sieht übrigens tatsächlich beide (hier mit den Einklammerungen angedeuteten) Fälle vor: zum einen Textpassagen, die eben nicht fiktional, sondern faktual (zu lesen) sind, zum anderen Textpassagen, die sowohl fiktional zu lesen sind als auch als faktual: „Der Autor intendiert hier sowohl, den Leser zu einer Imagination aufzufordern, als auch, ihn von etwas zu überzeugen oder ihn über etwas zu informieren“ (ebd., S. 442).

[17] Ebd., S. 405.

[18] Vgl. ebd., S. 430-474.

[19] Vgl. ebd., S. 461.

[20] Galli, Matteo. „Sparschuh, Jens: Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman“. In: Tommek, Heribert / Galli, Matteo / Geisenhanslüke, Achim (Hg.). Wendejahr 1995. Transformationen der deutschen Literatur. Berlin, Boston: de Gruyter, 2015, S. 497-501, hier: S. 498.

[21] Sparschuh. Zimmersprungbrunnen, S. 38.

[22] Ebd.

[23] Ebd., S. 16.

[24] Klauk, Tobias. „Fiktion, Behauptung, Zeugnis“. In: Demmerling, Christoph / Vendrell Ferran, Íngrid (Hg.). Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge. Berlin: de Gruyter, 2014, S. 197-217, hier: S. 197.

[25] Ebd., S. 207.

[26] Ebd., S. 208 f.

[27] Ebd., S. 209. – Klauk folgt hier im Übrigen dem Philosophen Tyler Burge: B., T. „Content Preservation“. In: The Philosophical Review 102.4 (1993), S. 457-488.

[28] Auch Klauk führt den historischen Roman als verwandt an (vgl. S. 213) und verweist auf entsprechende Überlegungen Umberto Ecos, vgl. E., U. Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. Aus dem Ital. von Burkhart Kroeber. München: Hanser, 1994, S. 141.

[29] Klauk. „Fiktion, Behauptung, Zeugnis“, S. 213.

[30] Jill Twark verweist in ihrem eingangs angeführten Beitrag ganz im Sinne meiner Ausführungen hier auf die Arbeitslosenzahlen in den neuen Bundesländern in den 90er Jahren als „some background infornation on the history of East Germany“ – Twark. „Selling Ostalgie“, https://blogs.dickinson.edu/glossen/twark-selling-ostalgie/#Spoerl_2.

[31] Wenn man derlei nicht ohnehin schon weiß, weil man den Autor, die Autorin kennt, helfen der Leserschaft hier auch gerne die Klappentexte der Bücher aus. Bei Jens Sparschuh kann man aber auch die heutzutage meistgenutzte Quelle für verlässliche Informationen (im Sinne der Zeugnis-Strategie) nutzen: Wikipedia, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jens_Sparschuh (eingesehen am 25. August 2023).

[32] Sparschuh. Zimmersprungbrunnen, S. 38.

[33] Ebd., S. 105.

[34] Ebd., S. 97.

[35] Wenn wir nicht sicher bin, sehen wir wieder bei Wikipedia nach: https://de.wikipedia.org/wiki/AIDA-Modell (eingesehen am 25. August 2023).

[36] Sparschuh. Zimmersprungbrunnen, S. 95.

[37] Ebd., S. 104.

[38] Ebd., S. 103 f.

[39] Ebd., S. 13. – Lobek arbeitete also in einer der vielen Kommunalen Wohnungsverwaltungen der DDR.

[40] Ebd., S. 92.

[41] Goodman, Nelson. Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Übers. von Bernd Philippi. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1997, S. 59. – Neben die Repräsentation und Exemplifikation tritt bei Goodman dann noch der Ausdruck, den der Philosoph als metaphorischen Exemplifikation bestimmt (vgl. S. 88).

[42] Gabriel, Gottfried. „Über Bedeutung in der Literatur. Zur Möglichkeit ästhetischer Erkenntnis“. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 8 (1983), S. 7-21, hier: S. 14.

[43] Gabriel, Gottfried. „Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur“. In: Demmerling, Christoph / Vendrell Ferran, Íngrid (Hg.). Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge. Berlin: de Gruyter, 2014, S. 163-180.

[44] Ebd., S. 163.

[45] Ebd., S. 168.

[46] Ebd.

[47] Ebd., S. 172.

[48] Ebd., S. 175.

[49] Ebd.

[50] Galli. „Der Zimmerspringbrunnen“, S. 497.

[51] Sparschuh. Zimmerspringbrunnen, S. 17.

[52] Ebd., S. 38.

[53] Sparschuh, Jens. Der Zimmerspringbrunnen. Berlin: btb 1997.

[54] Sparschuh. Zimmerspringbrunnen (1995), S. 54.

[55] Ebd., S. 55.

[56] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ostalgie (eingesehen am 28. August 2023) und Twark. „Selling Ostalgie“.

[57] Sparschuh. Zimmerspringbrunnen, S. 105.

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