Nov 2011
Gespräch mit Wolfgang Ertl
Glossen: Du bist Deutscher von Geburt, lebst aber nun schon ein ganzes Leben in den Vereinigten Staaten. Wo in Deutschland kommst Du her?
Wolfgang Ertl: Mein Lebensweg fing an in Sangerhausen, wo meine Eltern nach der Vertreibung aus dem Sudetenland gelandet sind. Sangerhausen war eine Kreisstadt im Bezirk Halle, am Südostrand des Unterharzes, damals bekannt für den Kupferschieferbergbau und das Rosarium. Ich ging – durchaus gern, soweit ich mich erinnere – auf die Thomas-Müntzer-Schule und zu den Jungen Pionieren. Zu meinen lebendigsten Kindheitserinnerungen gehören die Sommerferien im Garten meiner Großeltern in Dresden mit seinen Obstbäumen und Sträuchern, dem Rhabarber, den langen Erdbeerbeeten, dem Sandkasten, dem kleinen Häuschen, in dessen Dachboden ich nachts im Bett mit Taschenlampe lesen konnte. Aus dieser Welt wurde ich im 11. Lebensjahr herausgerissen und fand mich nach kurzem Aufenthalt im Flüchtlingslager Berlin Marienfelde in Westdeutschland wieder. Nach einigen Jahren in Würzburg ging es dann nach Hessen, wo ich in Fulda Abitur gemacht und in Marburg studiert habe.
Gl: Wie, wann und warum bist du nach Amerika gekommen?
W. E.: In Marburg habe ich meine spätere Frau Mary kennengelernt. Sie kam aus New Hampshire zum Auslandsstudium in Deutschland. Wir haben vor 42 Jahren in Portsmouth, ihrem Geburtsort, geheiratet und wohnen jetzt wieder ganz in der Nähe von Portsmouth an der Atlantikküste. Dazwischen liegen die Jahre in Philadelphia und die lange Zeit im Mittleren Westen. Es hat sich einfach so ergeben.
Gl: Warum hast Du ausgerechnet Germanistik studiert?
W.E.: Es war sicher die Liebe zur Literatur. Obwohl unser Deutschlehrer am Gymnasium, den ich sehr mochte, einmal erklärte, wer Deutsch studiere, sei selbst dran schuld, habe ich mich von Anfang an für Germanistik entschieden. Die Wahl des zweiten Hauptfaches fiel auf Anglistik, hätte bei meinen ziemlich weit gespannten Interessen aber auch etwas anderes sein können. Ich habe mein Studium dann nach der Auswanderung in die Vereinigten Staaten an der University of New Hampshire und der University of Pennsylvania weitergeführt und 1975 mit der Promotion abgeschlossen.
Gl: Du warst einer der ersten unter den jungen amerikanischen Germanisten der siebziger und frühen achtziger Jahre, die sich mit dem Thema Literatur aus der DDR beschäftigten. Du hast dich ja unter anderen den Texten Volker Brauns, Wulf Kirstens, Thomas Rosenlöchers und Heinz Czechowskis zugewandt. Warum gerade Literatur aus der DDR, also neueste deutsche Literatur und das in einem akademischen Milieu, für das die deutsche Literatur damals, grob gesagt, mit Thomas Mann aufhörte?
W.E.: Was meine Forschungsarbeit betrifft, bin ich ausgehend von der Beschäftigung mit der Lyrik der Moderne und der Gegenwart auf Exil-Autoren gestoßen und habe meine Dissertation über die Traditionsbeziehungen in der Lyrik Stephan Hermlins geschrieben. Hier nahm meine weitere Spezialisierung auf die Literatur der DDR und dann die literarischen Entwicklungen seit der Vereinigung ihren Ausgang. Zu meinen umfassenderen Themen gehörten dabei immer wieder auch die Poetisierung von Natur und Landschaft und die Darstellung der ökologischen Problematik in der Literatur (nicht nur der DDR). Mein biographischer Hintergrund und das Interesse für das Experiment eines sozialistischen Staates auf deutschem Boden mögen eine Rolle spielen.
In meinen Vorlesungen und Seminaren habe ich mich neben dieser Thematik auch verschiedenen Aspekten der Literatur seit dem 18. Jahrhundert zugewandt, etwa der Geschichte der deutschen Lyrik und der Literatur vom Naturalismus zum Expressionismus.
Gl: Du bist nun seit einiger Zeit auch als Künstler an die Öffentlichkeit getreten. Gibt es für dich etwas, was Schreiben über Literatur und Malen eint und vielleicht auch trennt? Und dazu noch, man würde vermuten, dass es jemanden, der über Literatur schreibt, reizen könnte, kontinuierlich, über sporadische Versuche hinaus auch selbst z. B. Gedichte, Kurzgeschichten oder Romane zu schreiben. Hast Du es je versucht?
W. E.: Literatur und Kunst haben mich schon immer gleichermaßen interessiert, und etwa Mitte der sechziger Jahre habe ich auch mit ernsthafteren Versuchen zu malen und Gedichte zu schreiben angefangen. Kunsthistorische Studien und die eigene künstlerische Arbeit sind tatsächlich seit meiner Emeritierung immer mehr in den Vordergrund getreten, während ich mich nach wie vor mit Literatur beschäftige, gern auch über mein Spezialgebiet der neueren deutschen Literatur hinaus. Das Schreiben über Literatur hat für mich wenig gemeinsam mit dem kreativen Vorgang des Malens. Das Schreiben von Gedichten und fiktionalen Texten schon eher. Schon immer interessiert haben mich allerdings die Wechselbeziehungen von Kunst und Literatur.
GL: Deine frühen Bilder tendierten zum Abstrakten. In deinen jüngeren Gemälden, jedenfalls in denen, die in den letzten Jahren in Ausstellungen zu sehen waren, kommt in der eher „realistischen“ Darstellung ein sehr tiefes und sensibles Verhältnis zur Natur zum Ausdruck. Was ist es, das dich an der Landschaft anzieht und das dich nun zu dieser „beschreibenden“ Landschaftsmalerei zieht? Um Missverständnisse zu vermeiden, weder „realistisch“ noch „beschreibend“ trifft genau das, was Du in diesen Bildern künstlerisch tust, wie ja auch die Bezeichnung „abstrakt“ für deine frühe künstlerische Produktion nicht voll zutrifft, weil sie wiederum Bilder von Landschaften evoziert.
W. E.: Von der beobachteten Natur und erlebten Landschaft gehen sicher letztlich die Impulse aus, ob für die mehr oder weniger stilisierten Landschaftsbilder oder die gänzlich abstrakten Kompositionen. Obwohl es mir durchaus immer wieder auch darauf ankommt, die atmosphärischen und topographischen Besonderheiten der Landschaft einzufangen – in den letzten Jahren besonders meines näheren Umfeldes der Küstenlandschaft von New England – , erfährt die wahrgenommene „Realität“ doch meist eine beträchtliche Umwandlung in die Welt der Formen und Farben, angebracht auf zweidimensionalem Grund. Was mich übrigens an abstrakter Malerei so besonders anzieht, ist einerseits die Befreiung vom Gegenstand oder Motiv, andererseits aber gerade die Konzentration auf das Konkrete, das Material der Farbe etwa. Meine Vorliebe für Pastellfarben zum Beispiel beruht u. a. darauf, daß sie fast nur aus reinen Pigmenten mit einem Minimum an Bindemitteln bestehen und unmittelbar mit den Fingern auf die Malunterlage übertragen werden. In letzter Zeit habe ich übrigens wieder ein paar abstrakte Arbeiten angefertigt und auch eine auf abstrakte Kunst spezialisierte Gruppenausstellung in York, Maine organisiert.
Gl: In deinen Gedichten „Gemälde –Fünf Gedichte“, die verschiedene Gemälde beschreiben, scheint es so als hätten diese Gemälde, jedes für sich und alle zusammen für das lyrische Ich eine „Seele“, erzählten eine Geschichte, z. B. die kriegerische Geschichte des blutigen europäischen 20. Jahrhunderts.
GEMÄLDE – FÜNF GEDICHTE
1.
Blau schwebt spröde
Über weiße Strukturen
Bleibt durchlässig haften
Bis es zerbröckelt
Sichtbar wird in
Lichter Ödnis
Schwachroter Lack
Der kalt zerrinnt
Daneben verschwimmen
Hellgrüne Streifen
2.
Grell und dumpf
Glühen und drohen
Lohende Farben
Mächtig steht der
Rumpf der Mühle
Weißer Kalk
In bleicher Kühle
3.
Rotviolettes Heidekraut
Vereinzelt die
Schlanken Birken
Im Hintergrund
Ein verrosteter Panzer
4.
Ohne Lider
Die Vorstellung allein
Verwandelt alles in
Weiße Steine
Möglich
Eine ungeahnte
Offenheit
5.
Ein Bild
Ohne Rahmen
Mit Sonnenuntergang
Ohne Anspielung auf
Ende oder ähnliche
Unverstandene
Innereien
W. E.: In diesen frühen Versuchen aus den sechziger und siebziger Jahren, angeregt von intensiver Beschäftigung mit moderner Lyrik – Rilke, Trakl und viele andere – kommt tatsächlich einiges zusammen: Beschreibende Bildbetrachtung, Umsetzung eigener Bilder in Worte,
Selbstreflexion. Es geht um den Ausdruck ganz subjektiver Befindlichkeiten, aber auch um Besinnung auf Geschichte (angesichts der Betrachtung von Kunstwerken, etwa Emil Noldes, aber auch auf eigenen Erlebnissen beruhend, wie zum Beispiel Bundesgrenzschutz-Manövern).
Gl: Lassen sich auch deine Landschaftsbilder, etwa die in dieser Glossenausgabe befindlichen sieben, in ihrer Gesamtheit auch als Geschichte „lesen“ oder sogar als Allegorie? Und wenn das so ist, in welcher Maltradition, wenn in überhaupt einer, siehst Du dich?
W. E.: Es sind nur Beispiele aus den letzten beiden Jahren, tatsächlich beobachtete Landschaften neben imaginierten, wobei einige aus dem „Zusammenhang“ motivähnlicher Reihen von Bildern genommen sind. Ich kann und will mich nicht auf eine bestimmte Maltradition festlegen, es gibt so viele Künstler, die mich immer wieder begeistern und mir permanent vorschweben. Daher wohl auch der eher eklektische Charakter und das nie endende Experimentieren. Auf symbolische oder allegorische „Lesbarkeit“ hin sind sie nicht angelegt, sie lösen aber hoffentlich hier und da etwas im Betrachter aus, das über das vordergründig Gegenständliche, Stimmungshafte oder Dekorative hinausgeht.
Gl: Deine Landschaften lassen sich unterhalb der Schwelle einer metaphorischen und symbolischen Interpretation teilweise nördlichen, aber auch südlichen Gefilden zuordnen. Sie sind aber geographisch zu allgemein, als dass sie auf Landschaften deines Geburtslandes und damit auch auf die Landschaften deiner Kindheit verweisen könnten. Ist dieser Bereich für dich ein abgeschlossenes Thema oder ein Thema, das besser bewusst ausgeklammert bleiben sollte?
WE.: Vor einiger Zeit habe ich eine Studie zum Kindheitsthema in der Lyrik Wulf Kirstens veröffentlicht. Kirsten gelingen beeindruckende unsentimentale und wirklichkeitsgesättigte Kindheitsbilder. Trotzdem spricht er von seinem Zweifel an der Authentizität der in die Sprache des Gedichts heraufgeholten Kindheitsbilder aus längst vergangener und auch untergegangener Zeit. So manches aus meiner Kindheit ist mir noch in guter Erinnerung, wie anfangs angemerkt, mein visuelles Gedächtnis aber scheint nicht auszureichen, um den Landschaften meiner Kindheit Gestalt zu geben. Ich habe es allerdings auch noch nicht versucht … Ich hole gelegentlich schon Landschaften, in denen ich mich vor einigen Jahren aufgehalten habe, hervor und lasse mich von ihnen, etwa mit Hilfe der Gedächtnisstütze früherer Skizzen oder Photos, zu neuer Darstellung anregen.
Sieben neue Bilder von Wolfgang Ertl
© Wolfgang Ertl
Zur weiteren Information: www.wolfgangertlart.com
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