Oct 2012

Gabriele Eichmanns

Christoph Ransmayrs Der Weg nach Surabaya – Auf den Spuren einer unliebsamen deutsch-österreichischen Vergangenheit

Christoph Ransmayr ist wohl einer der profiliertesten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Berühmt geworden durch Werke wie Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984), Die letzte Welt (1988) oder Morbus Kitahara (1995) und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Franz-Kafka-Preis (1995), dem Bertolt-Brecht-Literaturpreis der Stadt Augsburg (2004) und dem Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln (2007), reiht sich Ransmayr ein in die Gruppe von erfolgreichen Schriftstellern, zu denen unter österreichischen Kollegen Elfriede Jelinek, Josef Haslinger, Marlene Streeruwitz oder Norbert Gstrein zu zählen sind. Ransmayrs Werk ist geprägt von der intensiven Beschäftigung mit philosophischen sowie ethnologischen Fragen, wobei es in vielen seiner Bücher um Extremsituationen geht, in denen sich Menschen unerwartet wiederfinden oder sich diesen willentlich aussetzen. So untersucht Ransmayr in Die Schrecken des Eises und der Finsternis die österreichisch-ungarische Polarexpedition von 1872-74, kreiert in Morbus Kitahara eine deindustrialisierte Welt als Folge einer Kriegsniederlage und beschreibt in Der fliegende Berg (2006) die Suche nach einem sich im Land Kham in Osttibet befindenden, noch unentdeckten Berg, dessen Besteigung für einen der Beteiligten tödlich endet. Die Protagonisten erkunden entfernte Orte, dringen in noch unerforschte Regionen vor und holen darüber hinaus vergangene Zeiten in die Gegenwart zurück. Denn es ist vor allem die Thematik der Vergänglichkeit sowie der Versuch, die Erinnerung an Vergangenes zu bewahren, was viele der Ransmayrschen Werke auszeichnet und sie miteinander verbindet. So auch in dem 1997 publizierten Buch Der Weg nach Surabaya, welches im Folgenden Gegenstand der Untersuchung sein soll.

Der Weg nach Surabaya enthält eine Sammlung von kleinen Prosastücken sowie kurzen Reisereportagen, die bereits vorab in Zeitschriften wie Merian und GEO ihre Veröffentlichung fanden. In diesen häufig nur wenige Seiten umfassenden Erzählungen wandelt Ransmayr auf den Spuren der Vergangenheit, beschäftigt sich sowohl mit den Erinnerungen seiner oftmals in die Jahre gekommenen, vielfach österreichischen Protagonisten als auch mit der Geschichte ganzer Landstriche und Regionen. Was er vorfindet, ist zunächst eine gewisse Gelassenheit, wenn nicht gar Gleichgültigkeit dem unerbittlichen Lauf der Zeit gegenüber, welche von vielen Protagonisten der Erzählungen an den Tag gelegt wird. Das Verdrängen von Altem durch Neues wird keinesfalls als schlecht verdammt, sondern durchaus befürwortet; denn wer könne sich am Ende des 20. Jahrhunderts noch eine Welt ohne Fernseher, fließend Wasser oder gar Elektrizität vorstellen. Diese technischen Errungenschaften seien ein Segen für die Menschheit und nicht mehr aus dem heutigen Leben wegzudenken. Dass dabei Traditionshandwerk durch Maschinen ersetzt werde oder ein Meer von Apfelbäumen dem Bau der österreichischen Autobahn weichen müsse, sei zwar eine traurige, jedoch unvermeidbare Tatsache, die scheinbar klaglos hingenommen wird.

Trotz der propagierten Offenheit Neuerungen gegenüber lässt sich gleichzeitig ein großes Bedürfnis erkennen, das Vergangene zu bewahren. Die Erkenntnis der Unwiederbringlichkeit des einmal Geschehenen sowie das völlige Ausgeliefertsein an die sich ändernden Zeiten lösen melancholische Gefühle unter den Protagonisten aus und finden desweiteren ihre Widerspiegelung in der unbeugsamen Natur, die aufs Geradewohl zu geben und zu nehmen scheint. In besonderem Maße ist es das von Menschenhand geschaffene Werk, das den Naturgewalten wehrlos ausgesetzt ist und keinen bleibenden Bestand hat. Dies illustriert Ransmayr detailliert in der Geschichte „Ein Leben auf Hooge“ anhand einer Hallig, einem künstlich aufgeschütteten Flecken Erde vor der Nordseeküste, welchem Jahr um Jahr ein Teil seiner Landmasse von den unerbittlichen Wassern der See entrissen wird. Nichts ist von Dauer, alles letztendlich dem Untergang geweiht, so der allgemeine Tenor der Erzählung – was jedoch die Protagonisten nicht davon abhält, der Vergänglichkeit dieser Welt mit vereinten Kräften entgegen zu arbeiten und zu bewahren, was ihnen zu bewahren würdig erscheint, sei es in Form von Bildern, Gedenktafeln, Kunstwerken oder alltäglichen Artefakten, die sie in Heimatmuseen oder gar ihren eigenen Häusern dem neugierigen Besucher präsentieren.

Obwohl Ransmayrs Protagonisten ihre Vergangenheit mit allen Mitteln zu erhalten versuchen und im Zuge dessen diese scheinbar bereitwillig offenlegen, ist es eine Vergangenheit, die sich durch ein bewusst selektives Erinnern auszeichnet.  Unliebsames wird beschönigt oder gleich dem Vergessen überantwortet, da nur Ausgewähltes im kollektiven Gedächtnis verbleiben soll.  Dies trifft sowohl auf die eigene als auch auf die österreichische Vergangenheit zu und dort insbesondere auf den Zweiten Weltkrieg sowie die Zeit der Nationalsozialisten, welche zwiespältige Reaktionen auslöst, wenn sie denn überhaupt Erwähnung findet. So gerne alte Fotos hervorgekramt und ehemalige Gebrauchsgegenstände, ja gesamte Werksstätten musealisiert und dem unbedarften Besucher stolz präsentiert werden, so hartnäckig zeichnen sich die Geschehnisse während der Zeit des Anschluss Österreichs durch ein beredtes Schweigen aus. Zeitzeugnisse werden sorgfältig verborgen gehalten, Hakenkreuze auf Bildern übermalt und Kriegsdenkmäler vor Touristen versteckt. Es findet demzufolge eine Umschreibung der Vergangenheit statt, die sich nicht an vorgefundenen Fakten orientiert, sondern in erster Linie auf eine vorteilhafte Darstellung der österreichischen Nation bedacht ist. Im Folgenden soll nun der Umgang mit Vergangenem näher beleuchtet und vor allem auf das zwiespältige Verhältnis der Österreicher zu ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit näher eingegangen werden. Dabei widmet sich meine Analyse zunächst ganz allgemein dem Erinnern der Ransmayrschen Protagonisten, um dann auf die selektive Erinnerungsarbeit das Dritte Reich betreffend überzugehen.

Wie schon erwähnt, steht in Der Weg nach Surabaya der Akt des Erinnerns im Vordergrund, welcher nicht selten eine weit entfernte Vergangenheit zum Thema hat. Erinnert wird oftmals eine bereits untergegangene Welt, zu welcher die Erinnernden einstmals gehörten, nun jedoch gezwungen sind, ihrem eigenen Ableben hilflos entgegen zu sehen. Besonders deutlich wird dies in den Geschichten von fünf Neunzigjährigen, die im 19. Jahrhundert geboren, noch Donaumonarchie und Kaiser Franz Joseph zu ihrem Alltag zählten. Da wäre einmal Therese S., deren Vater Zimmeraufseher für die Gemächer der Wiener Hermesvilla, „in denen sich die legendäre Kaiserin ‚Sissi‘ zeitweise aufhielt“ (187)[i] war und die im vermeintlichen Glanze des kaiserlichen Ruhms aufwuchs. Von Wien durch ihren Ehemann in die Provinz versetzt, blickte sie damals sehnsuchtsvoll auf ihre Tage in der Metropole zurück, jedoch wohl wissend, dass „das Leben in der ‚Provinz‘ […] immerhin den Vorteil einer sicheren Ruhe [brachte], die selbst in diesem ‚furchtbaren zweiten Krieg‘ kaum gestört wurde“ (187-88). Von den Unwägbarkeiten der Geschichte weitestgehend verschont, stellt Therese nun keine Ansprüche mehr an ihr Leben: Die Fotos der Kinder und Enkelkinder sind sorgsam in Alben verwahrt wie auch die mit Buntstift fabrizierten „Meeres- und Gebirgslandschaften“ (188) ihres verstorbenen Mannes. Die vorhandenen Erinnerungen scheinen von nur noch untergeordneter  Bedeutung, rücken immer weiter in die Ferne, was insbesondere an jenen Bildern des Ehemannes deutlich wird, welche Therese hin und wieder „‘wie durch ein Fenster‘“ (188) betrachtet. Die Vergangenheit ist unwiederbringlich verronnen, was auch gut so ist, wie Luise L., eine weitere Neunzigjährige, konstatiert, die nach ihren Erinnerungen „jetzt kein Heimweh mehr“ hat (191). „Sie ist froh, dass ‚das vorbei ist‘“ (191). Ebenso belastet sie die Gegenwart nicht länger, was nicht zuletzt an den nur spärlichen Geräuschen liegt, die es vermögen, in das Bewusstsein der fast tauben Luise zu dringen. Die Außenwelt verstört nicht, hält lediglich durch Fernseher und einige wenige Zeitschriften ihren Einzug in ein Leben, das vor Überraschungen gefeit ist und sich durch ein unaufgeregtes Warten auf den Tod auszeichnet.

Trotz der scheinbar gelassenen Einstellung der in die Jahre Gekommenen kann sich der Leser einer schwer zu beschreibenden Melancholie nicht erwehren, welche insbesondere durch die den kurzen, anekdotenhaften Erzählungen beigefügten Fotos verstärkt wird. Diese zeigen die Neunzigjährigen in ihrer vertrauten Umgebung, wobei es jedoch interessanterweise die vorhandenen Einrichtungsgegenstände, Wandbilder und Tapeten sind, welche den meisten Raum einnehmen und die eigentlichen Hauptpersonen an den unteren Rande der Fotographien drücken. Vor allem das Weiß der Tapete ist es, das dominant im Vordergrund steht und so den Eindruck einer Leere vermittelt, hinter welcher die Protagonisten zu verschwinden scheinen. Überhaupt, so scheinen die Fotos zu suggerieren, geht es nicht primär um die abgebildeten Personen, sondern vielmehr um eine Welt, die von den Abgelichteten geschaffen wurde und welche mit deren Tode ebenfalls zu Grabe getragen wird. Daher kann sich der Betrachter nur schwer seiner Gefühle erwehren, bei den Fotos handele es sich um Zeugnisse des Vergessens und Verschwindens und nicht des Erinnerns und Bewahrens. Nicht Dauerhaftigkeit, sondern die unaufhaltbare Vergänglichkeit des Lebens ist es, die Ransmayr hier auf subtile Weise herausstellt und welcher, wie die Neunzigjährigen wohl erkannt haben, kein noch so vehementes Aufbegehren Einhalt gebietet. Oder, wie es Susan Sontag in ihrem viel beachteten Werk On Photography beschreibt, sind es Memento Mori, die eben gerade jene melancholische Stimmung wiedergeben, welche der Text zu Verleugnen sucht: „As the fascination that photographs exercise is a reminder of death, it is also an invitation to sentimentality” (71).

Tod und Vergehen finden ferner eine eingehende Betrachtung in der Erzählung „Die ersten Jahre der Ewigkeit“, in welcher weniger das photographische Abbilden als das künstlerische Bemalen von Totenschädeln im Vordergrund steht. Hier treffen wir auf den Totengräber Friedrich Valentin Idam von Hallstatt, welcher uns im Detail seine Bestattungspflichten und Begräbnisrituale sowie seine Affinität zu diesem recht ungewöhnlichen Beruf erklärt. Selbst noch nicht einmal 25 Jahre alt und gelernter Holzbildhauer ist es Idam ein Anliegen, den Toten das letzte Geleit zu geben, sie in ihrer ewigen Ruhe zu beschützen und durch das Bemalen der aus dem zu eng gewordenen Grab entfernten Totenschädel mit Blumenschmuck dem Prozess des Vergessenwerdens Einhalt zu gebieten. Denn in Hallstatt, welches in einem engen Tal gelegen ist und „ wo schon der Platz für die Lebenden so knapp ist, bleibt den Toten nur eine gemauerte Terrasse, ein steinernes, mit Lehmerde gefülltes Nest im Schatten der katholischen Pfarrkirche“ (64). Hier hält die Totenruhe selten länger als zehn Jahre an, bevor die Gebeine aus der Erde entfernt, im Karner aufbewahrt und letztendlich auf Wunsch bemalt werden: „Eichenlaub und Efeu auf die Stirnen der Männer, Blütenzweige und Blumenkränze auf die Stirnen der Frauen“ (64). Das Fortsetzen dieses vierhundert Jahre alten Brauches, nur noch selten praktiziert, reiht Idam in eine lange Reihe von Hallstätter Totengräbern ein und lockt alljährlich 250 000 Touristen an, allesamt mit ihren Kameras bewaffnet, um die verzierten Schädel für die Daheimgebliebenen festzuhalten und durch ihre Fotos den zeitlich beschränkten Triumpf über die Vergänglichkeit zu dokumentieren.

Das Bedürfnis der Dokumentation alles Vergangenen findet der Leser wieder und wieder in den Ransmayrschen Erzählungen und durchzieht diese wie ein roter Faden. Obwohl das Alte seinen Dienst geleistet habe und nun Platz für Neues schaffen müsse, so der Tenor, stößt der Leser auf zahlreiche Versuche, die Vergangenheit auf die ein oder andere Weise dem Vergessen zu entreißen und sie für die Nachwelt zu erhalten. So bevölkern beispielsweise eine ansehnliche Zahl von Heimatmuseen die Geschichten, deren Ubiquität auf den kollektiv unternommenen Versuch des verzweifelten Bewahrens einer einstmals so vertrauten Kultur schließen lässt. Allein in der Erzählung „Ein Leben auf Hooge“ ist gleich von drei eifrigen Inselchronisten die Rede: dem Hufschmied und Kirchenrechnungsführer Johannes Hansen, welcher neben seinen aus Bernstein geschnitzten Seehunden an Land gespülten Hausrat von untergegangenen Warften verwahrt, dem Postschiffer Hans von Holdt, der ein Heimatmuseum eingerichtet hat, „in dem er gegen eine Mark Eintritt zeigt, was ihm an der Geschichte wertvoll erschien“ (17) sowie seiner Nachbarin Klara Joachimsmeier, die „ihre Wohnung, ihr ganzes Haus zum Museum gemacht“ (18) hat und der Öffentlichkeit ihre Schätze zum Bestaunen zur Verfügung stellt. Das eigene Leben wird unter oftmals größter Anstrengung archiviert und katalogisiert, die Geschichte der Heimat musealisiert mit der Intention, dem eigenen Leben Signifikanz über den Tod hinaus zu geben und dadurch für die Nachwelt lebendig zu bleiben.

Wie Alon Confino in seinem Buch Germany as a Culture of Remembrance. Promises and Limits of Writing History detailliert ausführt, spiegelte das Heimatmuseum nicht nur den Drang nach Überlieferung und Bewahrung des Vergangenen wider, sondern es erschuf eine Vergangenheit, die es in der vorgestellten Form niemals gegeben hatte. Heimatmuseen entstanden verstärkt am Ende des letzten Jahrhunderts, allein 371 in den Jahren von 1890 bis  1918, und verfolgten das Ziel „the uniqueness of the locality“ (42), welche nicht selten von der Vorzeit bis zur Gegenwart seine Darstellung fand, zu präsentieren. Es  ging keineswegs um eine akademische Aufbereitung nationaler Artefakten, sondern, im Gegenteil, um die Beschäftigung mit „small people instead of elites […] the locality as the location of the origins of the nation“ (43). Das vormals als unbedeutend, alltäglich Abgewertete sollte der Nachwelt in seiner ganzen Signifikanz, die es für das eigene Leben innehatte, dargeboten werden. Dass es dabei jedoch nicht immer um eine getreue Darstellung der Wahrheit ging, sondern vielmehr um die Erschaffung eines Mythos, welcher der lokalen  Kultur einen besonderen Glanz verleihen sollte, wurde verschwiegen. Wie Confino konstatiert, so war „[t]ruth […] never a goal. Traditions could be invented, providing they conformed to contemporary notions of ancientness, peasant culture, and Swabianness and that they would not stand out awkwardly among real historical traditions“ (40-41). Die eigene Geschichte wurde umgeschrieben und den Bedürfnissen der Zeit angepasst. Heimatfolklore entstand in Form von vorgeblich traditioneller Bekleidung, Sitten und Gebräuchen, denen nicht selten ein antiquierter Anstrich verliehen wurde, um Authentizität zu suggerieren und die eigene Heimat in ihrer vermeintlich ursprünglichen Reinheit zu präsentieren. Folglich täuschte das Heimatmuseum eine bereinigte Geschichtsversion des Kollektivs vor, die alsbald als einzige offzielle Version der Heimat vermerkt wurde.

In diesem Zusammenhang der bewusst vorgenommenen Geschichtsklitterung lässt sich auch Maurice Halbwachs anführen, der im vergangenen Jahrhundert herausstellte, dass im kollektiven Gedächtnis einer jeden Gruppe nicht notwendigerweise verankert wird, was der Wahrheit entspricht, „sondern es rekonstruiert [die Vergangenheit] mit Hilfe materieller Spuren, Riten, Texte und Traditionen, die sie hinterlassen hat, aber auch mit Hilfe von neuerlichen psychologischen Gegebenheiten, d.h. mit der Gegenwart“ (296). Die Vergangenheit setzt sich demzufolge nicht aus feststehenden, verifizierbaren Tatsachen zusammen, sondern vielmehr aus fortwährenden Neudeutungen dieser, welche den Bedürfnissen einer Gruppe immer wieder angepasst werden und so den Zusammenhalt dieser sichern. So auch in der Geschichte „Die vergorene Heimat. Ein Stück Österreich“, in welcher sich eine wehmütige Beschreibung des Untergangs des ehemals blühenden Mostviertels mit seinen zahlreichen Obstbäumen findet. Von der daniederliegenden Mostwirtschaft ist die Rede, von Höfen, die sich schon lange nicht mehr rentieren und von der in die Jahre gekommenen Bauernbevölkerung, die nun ins Ausgedinge muss. Traditionelle Geräte und Werkzeuge landen auf dem Müllhaufen oder werden in dem Versuch, dem Laufe der Zeit entgegenzuwirken in besagten Heimatmuseen ausgestellt, beispielsweise in jenem von Karl Piaty. Der nun bettlägerige Bäckermeister und Konditor kämpfte lange Zeit mit allen Mitteln gegen das Sterben des Mostviertels an, „rettete mit wachsender Leidenschaft aus Abbruchhöfen, Speichern und Scheunen, was vom Fortschritt bedroht war, von fliegenden Altwarenhändlern, dem Moder oder dem Feuer der Kachelöfen und Herde“ (47) und  triumphierte zunächst „über die Vergänglichkeit“ (41) in seinen neun Dachkammern, in denen er neben zweitausend ausgedienten Gegenständen achttausendsechshundert Lichtbilder in einhundertsieben Kassetten und achtzehn schwarzen Ordnern verwahrte (43). Piaty machte nicht nur die beklagenswerte Dezimierung der Obstbäume in seiner Heimat für die Besucher seiner Dachkammern sichtbar, sondern erreichte „in siebenhundertzweiundvierzig Vorträgen in Pfarr- und Gemeindesälen und einmal sogar im Auditorium Maximum der Wiener Universität“ (46-47) ein weitaus größeres Publikum, in welchen die Heimat in all ihrer Schönheit eine zeitlich begrenzte Wiederbelebung fand. Der Tatsache, dass es sich bei der Darstellung des ehemaligen Mostviertels um eine mystifizierte Version der Vergangenheit handelte, maß Piaty keine Bedeutung zu.. Es waren die wirtschaftlichen Erfolge, die Größe des Hofes, der hervorragende Ruf des eigenen Mosts über die Grenzen des Mostviertels hinaus, welche im kollektiven Gedächtnis verbleiben sollten, und nicht die „arme[n] Zeiten. Auf den Höfen plagte sich viel Gesinde, in den Wirtshäusern fehlte den Taglöhnern und Arbeitslosen vor dem Krieg – und den Krüppeln und Heimkehrern nach dem Krieg – das Geld für Wein und Bier“ (46). Negatives wird bewusst ausgeklammert; das Vergangene glorifiziert, um bei den sich zahlreich einfindenden Touristen eine „gepflegte Sehnsucht nach der schönen Schlichtheit und Natürlichkeit einer untergegangenen Bauernwelt“ (54) zu wecken, aus dieser leicht Profit geschlagen werden kann.[ii]

Ist die Mythisierung der Vergangenheit im Mostviertel in kleinem Rahmen zu bemerken, so lässt sich diese weitaus stärker in der Erzählung „Auszug aus dem Hause Österreich“ ausmachen. In dieser Geschichte wird die einstige Macht der k.u.k. Monarchie von einer getreuen Schar ehemaliger Adeliger sehnsuchtsvoll heraufbeschworen und, wenn auch nur für kurze Zeit, euphorisch wiederbelebt. Anlass dazu ist der 90. Geburtstag der Kaiserin Zita, zu welchem zwei vollbesetzte Reisebusse am 5. April 1982 von Wien nach Chur in der Schweiz aufbrechen, zahlreiche Geschenke im Gepäck. Auf der zweitägigen Reise wird die Vergangenheit immer mehr zur Gegenwart, überlagern Erinnerungen an die längst verflossene Donaumonarchie sowohl zeitgenössische Geschehnisse als auch die Existenz der österreichischen Republik. Die kaiserliche Nationalhymne „Gott erhalte“ wird sentimental angestimmt, gegen das Habsburgergesetz gewettert und sich längst verbotener Adelstitel bedient. Die letztendliche Rückkehr der Monarchie und ihr Wiedererstarken werden zur Gewissheit, ja zu einer unverzichtbaren Notwendigkeit, wie Herr Feigl, Biograph der Kaiserin Zita, selbstsicher bemerkt: „’Habsburg ist das fähigste und führende Haus Europas und wird, gleichgültig in welcher Staatsform, nach einer Kette von schlimmen Erfahrungen  mit Emporkömmlingen wieder an seinen rechtmäßigen Platz zurückkehren – den Platz an der Spitze, denn der ist in Österreich nach wie vor der Familie Habsburg vorbehalten’“ (99).

Eine utopische Zukunftsvision, welche ebenfalls einer fiktiven Vergangenheit bedarf, um verständlich zu werden: nämlich der Glorifizierung des österreichisch-ungarischen Reiches als einem Ort friedlicher Einheit und genuiner Heimat aller Österreicher: „Die Kapuzinergruft! Jawohl, dort musste jene Heimat liegen, die jedem wahrhaften Österreicher in die Kindheit schien“ (101). Hier findet sich eine deutliche Anspielung auf den vielzitierten Ausspruch des Philosophen Ernst Blochs, welcher sich in seinem Werk Das Prinzip Hoffnung u.a. mit dem Begriff der Heimat auseinandersetzt und diesen als  „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“ definiert (1628). Wie Peter Blickle in seinem wegweisenden Buch Heimat. A Critical Theory of the German Idea of Homeland im Zusammenhang mit Blochs Zitat formuliert, zeichnet sich die Heimatidee durchwegs durch „[a] softly glowing, intermingled aura of innocence and authenticity“ (131) aus, wobei für unsere Analyse in erster Linie das Konzept der Unschuld von großer Wichtigkeit ist. Denn, wie aus der Ransmayrschen Erzählung deutlich hervorgeht, ist es wiederum ein idealisiertes Bild der Heimat, welches zweifelsohne in den Vordergrund gestellt wird und bewusst die dunklen Seiten der Regierungszeit des Kaisers Franz Joseph zu ignorieren sucht. Vergessen, wie sein Sohn Rudolf in Mayerling vor seinem Tode ausführte, sind „der Egoismus des Adels“, „die Armuth der Völker“, die „Hemmung jeder Entwicklung“ (104) durch die Herrschenden, dem „Fluch für die Menschheit“ (104). Vergessen das Unverständnis des Kaisers seinen „geliebten Völker[n]“ gegenüber, das von ihm angerichtete Blutbad in der Schlacht von Solferino (105), die Ablehnung des Kaisers von Fortschritt in jeglicher Form – „diese[s] unselige[n] Kaiser[s]“, wie Friedrich Heer, der „Historiker Österreichs“, unmissverständlich ausführt, „diese[s] ungeheuerliche[n] Diktator[s] und in jeder Weise geistig und seelisch impotente[n], kleinwüchsige[n] und lebensfeige[n] Mensch[en]“, welcher „die durchaus umbaufähige Monarchie zugrunde gerichtet hat“ (119). Unliebsame Geschichte wird dem Schweigen überantwortet; und auch die Weigerung der Kaiserin Zita seit 63 Jahren „die von ihr verlangte Verzichtserklärung zu unterzeichnen“ (113) als der heroische Akt einer Märtyrerin (113) aufgefasst.

So wenig die Donaumonarchie in ihrem wahren Lichte betrachtet werden will, so ist es auch die problematische Beziehung zu den Deutschen und speziell zu der fatalen Vergangenheit im Dritten Reich, welche immer wieder zugunsten der österreichischen Nation neu verhandelt wird. Die Affinität zu Deutschland wird einerseits als grober Verrat aufgefasst, wie es in Otto von Habsburgs Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft 1978 deutlich wird – „Die deutsche Staatsbürgerschaft! Sollte auch Er das Haus Österreich mit einer blinden Liebe zu Deutschland betrogen haben?“ (101) – andererseits, wie Friedrich Heer klar herausstellt,

war bereits der Kaiser geblendet von jenem Deutschlandbild, das in Österreich durch die Jahrhunderte gewirkt hat und immer noch wirkt. Eine Imagination, verstehen Sie?, ein Bild, das es in der Wirklichkeit nie, nie gegeben hat. Der deutsche Bündnispartner war doch ebenso irreal wie das Deutschland der Dichter und Denker […] schon die Offiziere um diese Unglücksmenschen Karl und Zita haben an ein ähnliches Deutschland geglaubt wie Hitler‘ (119-20).

Es ist somit ein ambivalentes Verhältnis der Österreicher zu ihren deutschen Nachbarn und ehemaligen Kriegsverbündeten, welches jedoch nur ungenügend in seiner Vielschichtigkeit zu Tage tritt. Erinnert wird erneut, was der eigenen Mythenbildung zuträglich, und insbesondere für die österreichische Nation von Vorteil ist. So war beispielsweise der Anschluss zunächst eine durchaus wünschenswerte Maßnahme, wie Ransmayr deutlich durch seinen ironischen Erzählton herausstellt, wenn er von der „vernünftigen, wimpel- und fähnchenschwenkenden Menschheit von Waidhofen“ spricht, die die Nazis freudig willkommen hießen (42). Dass dabei die mongoloiden Brachnerbrüder, welche ebenfalls einen Teil der Menge bildeten, in späteren Jahren zu den Verschwundenen zählten, findet nur am Rande Erwähnung, wird aus der Geschichte herausgeschrieben und damit aus dem kollektiven Gedächtnis der Österreicher.

Die problematischen deutsch-österreichischen Beziehungen finden desweiteren eine ausführliche Beleuchtung in der Erzählung „Kaprun oder die Errichtung einer Mauer“, in welcher es um den Kapruner Talsperrenbau, einem Symbol für die österreichische Nation geht. Auch hier sehen wir deutliche Formen von Geschichtsklitterung, bewusst vorgenommen, um den Mythos der Kapruner Talsperre, der eng mit jenem der Nation Österreich verknüpft ist, aufrecht zu erhalten.[iii] Wie Benedikt Anderson, ähnlich wie zuvor Halbwachs, in seinem Klassiker Imagined Communities bemerkt, ist die Mythenbildung ein wichtiger Bestandteil von Nationen, um durch gemeinsame Legenden und Heldenepen ein Volk unwiderruflich zusammen zu schweißen und infolgedessen ein Fundament für Zusammenhalt und Loyalität zu schaffen. Allerdings beinhalte diese Mythenbildung, laut Anderson, eben nicht nur das Schaffen von Identifikationsobjekten, sondern basiere in gleichem Maße auf der Notwendigkeit des Vergessens und Verdrängens von Geschichte, um so unliebsame Geschehnisse der Vergangenheit eliminieren zu können: „Having to ‘have already forgotten’ tragedies of which one needs unceasingly to be ‚reminded’ turns out to be a characteristic device in the later construction of national genealogies“ (201). So sei es Nationen zwar nur bedingt möglich, selbst hervorgerufene Katastrophen, Pogrome oder Kriege zu verheimlichen, jedoch seien diese äußerst unangenehmen Ereignisse nur am Rande in der Erinnerung präsent — sei es die Bartholomäusnacht in Frankreich oder die Rassenkonflikte in den Vereinigten Staaten — um durch besagte Verdrängung Einheit und Zusammengehörigkeit eines Volkes vortäuschen zu können.

Auch in Kaprun lässt sich die Notwendigkeit eines bewussten Vergessens von vergangenen Gräueltaten nachweisen. In besagter Erzählung besucht Ransmayr die Kapruner Stauseen, deren gigantische Ausmaße ihn nicht nur ästhetisch sehr beeindrucken, sondern deren enormes Zerstörungspotential  — die in den Seen gelagerten Wassermassen haben die Macht, ganze Täler unter sich zu begraben — ihn zu philosophischen Diskursen über ein Leben in einer fortwährenden Gefahrenzone veranlasst. Kaprun, ein österreichisches Jahrhundertprojekt, welches nur unter dem Aufgebot aller zur Verfügung stehenden Kräfte, ob freiwillig oder unfreiwillig, und nach etlichen Rückschlägen zu seiner letztendlichen Fertigstellung gelangen konnte, ist nicht nur der ganze Stolz der Kapruner Bevölkerung,  sondern gilt darüber hinaus als nationales Symbol für Österreich und dessen glanzvolle technische Leistungen. Und es ist nicht von der Hand zu weisen, wie Ransmayr unumwunden zugibt: Die Stauseen sind imposant in ihrer schier unendlichen Ausdehnung und verleihen der Landschaft eine auf den ersten Blick friedlich-idyllische Atmosphäre. Wagt man sich allerdings, wie der Autor selbst, zur winterlichen Jahreszeit hinauf in die Berge, bietet sich dem Wanderer ein vollständig anderes Bild. Unansehnlich liegen sie da, die vom Wasser geleerten Stauseen, auf deren Grund „die wüsten, grauen Steinhalden, aus deren Bodensatz dann langsam die Ruinen des Arbeiterlagers, der Orglerhütte und alles Versunkene wieder auftauch[en]“ (82). Denn unter der schimmernden Oberfläche der blauen Wasser liegt eine Baugeschichte des Schreckens begraben, welche in Kaprun allerdings nicht als Grund für eine intensive Beschäftigung und Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit angesehen wird:

An die düstere erste Bauphase während des Krieges erinnert man sich der Genauigkeit halber nicht – das war schließlich eine großdeutsche Zeit und keine österreichische, weiß Gott, und zudem die Zeit der Gefangenen- und Zwangsarbeiterlager am Rande des Dorfes und auf den Almen, die Zeit der namenlosen Toten und des Arbeitermassengrabes an der Salzach. […] Aber der Krieg habe eben in einem Kapruner Lager nicht anders ausgesehen als in einem russischen oder sonst wo. (79)

Die Zeit des Nationalsozialismus wird folglich als rein deutsche Zeit betrachtet, wodurch die eigene, österreichische Schuld auf ein Minimum reduziert wird. Nicht die Schandtaten der eigenen Nation, sondern die Größe eines Volkes soll im Vordergrund stehen, welches nach den Leiden des Krieges unversehrt wieder auferstanden ist:

Erst die Bauchronik der Nachkriegszeit, die stets die eigentliche sein soll, enthält wieder klare bis strahlende Bilder, die hochgehalten, immer wieder gesäubert und weiter überliefert werden. ‚Kaprun ist ein moderner Mythos für Österreich’, heißt es in einem jener dem Talsperrenbau gewidmeten Heldenromane, die für fünf Schilling Entlehngebühr pro Band in der kleinen Gemeindebücherei von Kaprun nach wie vor bereitliegen; Kaprun ‚…steht an der Wiege unserer jungen Zweiten Republik. Seine Geburt war gleichzeitig die Wiedergeburt Österreichs.’ (79-80)

Das von Anderson postulierte Verdrängen von Geschichte zugunsten der glorreichen Mythenbildung einer Nation lässt sich in diesen Sätzen hervorragend wiederfinden, da durch die Kapruner-Talsperre besagter nationaler Mythos geschaffen wird, welcher das österreichische Volk eint und verbindet; eine neue österreichische Identität entsteht, denn „Kaprun war Österreich“ (88) wie der spätere Bauherr Ernst Rotter wehmütig bemerkt: „ich habe gewusst, dass ich so etwas wie Kaprun nie wieder erleben werde“ (90). Daher nimmt es nicht Wunder, dass die unzähligen Zwangsarbeiter, die während des Talsperrenbaus in den Tod stürzten, keine öffentliche Erwähnung finden. Einzig das sogenannte Russendenkmal erinnert an jene 87 Sowjetbürger, die bei dem Bau der Talsperre ums Leben kamen. Gegen den Willen der Kapruner Bevölkerung errichtet, fristet es nun in einer abgelegenen Sackgasse sein Dasein, nur selten von Touristen entdeckt. Weitere Gedenktafeln existieren nicht.

Diese für den Umgang mit unliebsamen Geschehnissen so charakteristische Amnesie  lässt sich auch bei Karl Piaty wiederfinden, welcher unter seinen mehr als 8000 Dias bezeichnenderweise nicht ein einziges Lichtbild vorzuweisen vermag, welches Symbole der nationalsozialistischen Zeit trägt: „Die vielen Hakenkreuze, Eichenlaubkränze und Hitlergesichter, die das Mostviertel wie das ganze Land ein tausendjähriges Reich lang schmückten, haben in den heimatkundlichen Sammlungen unter dem Dach des Konditors Karl Piaty […] keinen Platz gefunden“ (57-58). Denn, so der allgemeine Tenor, „[i]n der Heimat war es immer schön: es wurden dort Brautbäume und Maibäume errichtet, aber keine Galgen. Und auf den Höfen wurden Senkgruben und Mostkeller ausgehoben, aber keine Massengräber“ (58). Heimat und Nationalsozialismus stehen sich diametral gegenüber, sind gemeinsam undenkbar, was Erinnerungen an das Filmepos Heimat von Edgar Reitz weckt, welches scharf für seine nur marginale Erwähnung des Holocausts kritisiert wurde. So wirft beispielsweise Getrud Koch Reitz in ihrer Filmbesprechung „How Much Naiveté Can We Afford? The New Heimat Feeling“ vor, dass „in order to tell the myth of ‚Heimat‘ the trauma of Auschwitz has to be bracketed from German history. Thus Reitz has to revise history“ (13). Auch bei Ransmayr findet eine Verdrängung der Nazischrecken hinsichtlich des Konzentrationslagers Mauthausen statt, „dessen Schatten die Heimat nie berührte: Mauthausen lag schon immer jenseits der Mostviertler Zuständigkeit“ (58) und folglich jenseits der Notwendigkeit, sich mit den dortigen Geschehnissen kritisch auseinandersetzen zu müssen. Die vierzehn Häftlinge, die auf ihrem Weg ins Lager damals vor Schwäche in Wolfsbach zusammenbrachen und dort ihren Tod durch die Pistole eines Aufsehers fanden, wurden in einem Massengrab bestattet, welches mittlerweile jedoch „unter einem hochgewachsenen Dickicht aus Thujen und Wacholder beinah verschwunden“ und infolgedessen dem Blickfeld der einheimischen Bevölkerung entzogen ist (59). Überhaupt, so scheint es, fungiert das Nichtsehen oder Nichtwissen als Entschuldigung für die eigene Tatenlosigkeit sowohl nach als auch während des Krieges. Die Beantwortung der Frage nach dem schrecklichen Geruch, der aus den Mauthausener Schloten über die Felder wehte, erfolgte bewusst nicht:

Sie habe, sagt die Altbauerin Maria Grubhofer aus Wegleiten bei Oed, sie habe die
Gegend von Mauthausen in der fraglichen Zeit sehr gemieden, weil sie überzeugt war,
dort etwas zu sehen, was sie ihr Leben lang nicht würde vergessen können. Und wer,
sagt Maria Grubhofer, wollte schon mit unauslöschlichen Bildern im Kopf leben? (59)

Die Heimat zog niemals Schuld auf sich; es war die Zeit der Nationalsozialisten, „als das [Most]viertel gemeinsam mit dem ganzen Land unter Blechmusik und Hakenkreuzfahnen seinem Heil entgegenzog und in einem tausendjährigen Reich verschwand“ (46), eine Zeit demnach, die außerhalb der österreichischen Zuständigkeit lag und für die zwangsläufig auch keine Verantwortung übernommen werden muss.

Der wiederholte Versuch, Vergangenes zu eliminieren und aus dem Gedächtnis zu verbannen, kann hingegen nur als bedingt erfolgreich betrachtet werden. Trotz eines kollektiven Verdrängens und dem Wunsch „dass dort die Erosion unmerklich Schicht um Schicht von den Steinen schleift und der Wind roten Sand in die Wüste hinaus trägt, bis auch die letzte Wehrmauer eingeebnet und der Ort wieder leer sein wird wie am Anfang der Zeit“ (234), wie Ransmayr den Prozess der Geschichtsauslöschung in seiner Erzählung „Fatehpur Oder die Siegesstadt“ treffend beschreibt, findet die Vergangenheit immer wieder ihren Weg an die Oberfläche:

Ein Freund des Konditors, der Maler Reinhold Klaus, verwandelte sich in diesem Jahr vom Heimatliebhaber in einen Professor für Deutsches Brauchtum an der Kunstgewerbeschule in Wien und malte Waidhofen im Fahnenschmuck und ganz so, wie der Führer seine Städte gern sah. Das Werk hängt immer noch groß und prächtig im Waidhofener Rathaus; nur die Hakenkreuze wurden, wie so vieles in der Nachkriegsheimat, rot-weiß-rot übermalt und mussten seither von einem Restaurator mehrmals abgedeckt werden, weil sie im Lauf der Zeit trotz des kräftigen Auftrags der Nationalfarben wieder und wieder durchschlugen. (60)

Vergangenes lässt sich nicht vollständig zum Schweigen bringen, sondern verschafft sich Gehör, in dem es an die damaligen Schrecknisse erinnert. Es scheint durch die neu aufgetragene Deckfarbe, kommt hinter Büschen und Bäumen zum Vorschein oder tritt in Form von alten Dokumenten und Lichtbildern zu Tage. Und wie Fatehpur, die Siegesstadt, in all ihrer Pracht auf dem indischen Kontinent noch heute zu bestaunen ist und die Geschichte des großen Allahu Akbars, des Herrschers über ein kleines Weltreich, erzählt, so kann auch die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs nicht als abgeschlossen gelten. Sie bildet vielmehr einen wichtigen Teil der österreichischen Geschichte, welche die Gegenwart wesentlich beeinflusst. Denn auch wenn alles letztendlich dem Untergang geweiht ist und wir nur bedingt durch Denkmäler und Museen oder durch das Bemalen der eigenen Totenschädel die Erinnerung an uns zu bewahren vermögen, so gibt es doch ein Mittel, was uns bleibt, wie Ransmayr in gleich mehreren Erzählungen betont, und welches er als ungeschriebenes Motto seinen Geschichten voranstellt: Es ist die Macht der Sprache, durch welche wir uns und dem Untergegangenen Gehör verschaffen können und müssen: „denn wo immer einer zu sprechen beginnt“ so heißt es wiederum in „Fatehpur“ „und seine Geschichte mit dem Bild verlassener Häuser, leerer Plätze, leerer Gassen und ausgedörrter Brunnenbecken eröffnet, dort wird gebaut, werden innerhalb eines einzigen Atemzuges Straßen gepflastert, wachsen Mauern, Türme aus der Tiefe unserer Erinnerung oder der bloßen Vorstellungskraft“ (229).

Es ist letztendlich der Schriftsteller, welchem die Aufgabe des Bewahrens und Erhaltens zufällt, der ausgräbt und mitteilt, durch Worte erschafft und kreiert, wie es beispielsweise in „Schnee auf Zuurberg“ der Fall ist. In dieser Erzählung ist es die Lektüre eines Romans, durch den der Autor der warmen afrikanischen Spätsommernacht enthoben und stattdessen in den kalten Norden, in das heimische Österreich versetzt wird. Aus den dichten Insektenwolken auf der Veranda des Zuurberg Hotels werden nach und nach weiße, wirbelnde  Schneeflocken, die sich auf die südafrikanische Umgebung legen und diese hinter dem Gelesenen verschwinden lassen: „Afrika versank im Schnee, und ich war wieder dort, wo ich herkam, war irgendwo zwischen der Küste des Indischen Ozeans und dem nächtlichen Hochland Südafrikas, auf der Passhöhe von Zuurberg, zu Hause.“ (218) Die Ferne gerät unversehens zur Heimat, die Wirklichkeit tritt hinter der Fiktion zurück und verschmilzt mit dieser. Die Vorstellungskraft erschafft eine Realität, welche kaum von der eigentlichen Wirklichkeit zu unterscheiden ist. Und genauso wie der Autor eine neue Welt zu erschaffen vermag, so vermag er auch Vergangenes wieder heraufzubeschwören und seinen Lesern durch seine Worte zugänglich zu machen – Worte, die das eigene Dasein überdauern, die auch in ferner Zukunft den Nachgeborenen von einstmals Untergegangenem erzählen, von Vergangenem, welches, so der Wunsch des Autors, in der Geschichte überleben werde, lange nachdem der Autor selbst das Zeitliche gesegnet hat. Denn, wie Ransmayr am Ende seiner Kurzgeschichtensammlung hoffnungsvoll verkündet, „selbst wenn einer von uns verstummt und verschwindet – wir vertrauen darauf, dass immer welche zurückbleiben, die imstande sind, weiterzuerzählen und sich zu erinnern, an das, was wirklich – und was bloß möglich war…“ (235).


 Endnoten

[i] Wo sie nicht anders gekennzeichnet sind, beziehen sich die Ziffern in Klammern auf Chrisoph Ransmayr, Der Weg nach Surabaya  (Frankfurt am Main: Fischer, 1999).

[ii] Vergleiche hierzu noch einmal Alon Confino, welcher über die Geschäftstüchtigkeit der „Heimatlers“ am Ende des 19. Jahrhunderts schreibt: „Soon the commercialization of Tracht, that is, of tradition, was in full swing. Villagers understood that selling at town markets in traditional dress associated freshness and health with their products. Others sold for high prices the old costumes from grandmother’s chest. And photographers sold pictures, taken some weeks before, of authentic Tracht from the good old days“ (41).

[iii] Eine ähnliche Beschäftigung mit dem Thema der Kapruner Talsperre findet sich in Elfriede Jelineks Theaterstück Das Werk.

 


 

Literaturverzeichnis

Anderson, Benedict. Imagined Communities. London: Verso, 1991. (orig. 1983).

Blickle, Peter. Heimat – A Critical Theory of the German Idea of Homeland. Rochester:

Camden House, 2002.

Bloch, Ernst. Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985. (orig. 1954-59).

Confino, Alon. Germany as a Culture of Remembrance. Promises and Limits of Writing

History. Chapel Hill: The University of North Carolina Press, 2006.

Halbwachs, Maurice. Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin: Luchterhand,

1966. (orig. 1925).

Jelinek, Elfriede. Das Werk. In den Alpen. Drei Dramen. Berlin: Berlin Verlag, 2004 (orig.

2002).

Koch, Gertrud. „How Much Naiveté Can We Afford? The New Heimat Feeling.“ New

            German  Critique 36 (1985): 13-16.

Ransmayr, Christoph. Der Weg nach Surabaya. Frankfurt am Main: Fischer, 1999 (orig.

1997).

—. Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Frankfurt am Main: Fischer, 1987 (orig.

1984).

—. Morbus Kitahara. Frankfurt am Main: Fischer, 1999 (orig. 1995).

—. Die letzte Welt. Frankfurt am Main: Fischer, 2007 (orig. 1988).

—. Der fliegende Berg. Frankfurt am Main: Fischer, 2007 (orig. 2006).

Sontag, Susan. On Photography. New York: Picador, 2001 (orig. 1977).

 

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