Dec 2014
Frederick A. Lubich
Zum 25. Jahrestag des Berliner Mauerfalls – Interview mit Michael Blumenthal, amerikanischer Dichter und Schriftsteller deutscher Abstammung [1]
Michael Blumenthal wurde als Sohn deutsch-jüdischer Auswanderer 1949 in Vineland, New Jersey geboren und ist dort zweisprachig aufgewachsen. Zu den vielen Aspekten seines facettenreichen Lebens als Poet und Professor, Erzieher und Rechtsanwalt gehören unter anderem berufliche Stationen als Lehrer schwer erziehbarer Kinder, Herausgeber von Time-Life Books, Produzent fürs westdeutsche Fernsehen, journalistischer Mitarbeiter verschiedener Zeitungen, Direktor des “Creative Writing“- Programms an der Harvard University, sowie Gastprofessuren an über einem Dutzend Universitäten in Haifa, Budapest, Paris und Berlin sowie mehreren anderen französischen und amerikanischen Universitäten.
Michael Blumenthal ist Autor von rund fünfzehn Titeln, die nahezu alle literarischen Gattungen umfassen und von Roman, Non-Fiction und Autobiografie bis zu Gedichten und Erzählungen reichen. Allein seine lyrischen Texte sind in neun Sammelbänden erschienen. Er ist für sein schriftstellerisches Schaffen mit zahlreichen Preisen geehrt worden. So wurde beispielsweise sein Roman Weinstock among the Dying (1993), der ein böses Auge auf das akademische Reich der höheren Bildung wirft, mit dem Ribalow-Preis für „Best Work of Jewish Fiction“ ausgezeichnet.
Kritiker hatten unter anderem Folgendes über sein Werk zu sagen. David Yezzi lobte Blumenthals Lyrik als „wonderful satire“, Helen Vendler, sicherlich Amerikas renommierteste Lyrik-Kritikerin, charakterisierte seine Textsammlung Days We Would Rather Know (1982) als „poems exhilarating to read, full of lifts and turbulance“, und last but not least, Seamus Heaney, der vor wenigen Jahren verstorbene Nobelpreisträger für Literatur, bescheinigte Michael Blumenthal, eine der repräsentativen Stimmen seiner Generation zu sein. Entsprechend wurden bereits 1985 Blumenthals Gedichte in The Harvard Book of Contemporary Poetry aufgenommen.
F.A.L.: Lieber Michael, wir sind schon seit einigen Jahren befreundet und dies wohl auch auf Grund mehrerer Berufs- und Lebenserfahrungen, die wir mehr oder weniger gemeinsam haben. In deiner Autobiografie All My Mothers and Fathers: A Memoir hast du vor allem die formativen Jahre deiner Lebensgeschichte geschildert. Dein jüngster Erzählband lautet: The Greatest Jewish American Lover in Hungarian History. Stories by Michael Blumenthal. (2014). Welche Rolle spielt deine deutsch-jüdische Abstammung für deine Identität und literarische Inspiration?
Michael Blumenthal: Ich kann darauf hier antworten, dass es mir geht wie, ich glaube, es jedem Schriftsteller geht, dass heisst, dass mein Bewusstsein damit durchdrungen ist, von dieser “Identität” einer deutsch-jüdischen Familie. Damit meine ich einfach, dass die deutsche Sprache, die Erfahrungen meiner Familie in Deutschland zwischen 1933 und 1938, die Spannung zwischen “deutsch” oder “jüdisch” oder “amerikanisch” zu sein und die verschiedenen Ambivalenzen, die daraus entstanden sind, mir sehr viel “gegeben” haben, worauf meine Literatur aufbaut. Ganz genauso wie das Irische James Joyce seine literarische Identität gegeben hat, oder das Deutsche Thomas Mann, oder das Tschechische und Jüdische Kafka.
F.A.L.: Der amerikanische Schriftsteller Peter Wortsman, Sohn jüdisch-österreichischer Auswanderer, der ebenfalls hier in Amerika zweisprachig aufgewachsen ist, sagt von sich, in ihm lebe ein „stillgeborener Dichter deutscher Sprache“.[2] Wie Peter Wortsman hast auch du literarische Texte auf Deutsch geschrieben und veröffentlicht. Welche Bedeutung hat für dich die deutsche Sprache?
Michael Blumenthal: Ich würde eigentlich genauso darauf antworten wie Peter Wortsman. Die ersten deutschen Texte, die ich in meinem Leben kannte, waren verschiedene Sätze von Nietzsche und Gedichte von Goethe und Rilke, die mein Vater auswendig kannte– z.B. “Nur wer die Sehnsucht kennt, weiss was ich leide” oder “Wie soll ich meine Seele binden, dass sie nicht an Deine rührt.”
Mein biologischer Vater Berthold schrieb öfters Gedichte auf Deutsch die er in der Synagogue vorlas, und unsere gute Familienfreundin Helen Feith schrieb mir jedes Jahr ein Geburtstagsgedicht auf Deutsch. Der Rhythmus der deutschen Sprache war immer, und ist immernoch, sehr lebendig in mir. Viele Leute haben mir schon öfters gesagt, sogar, dass meine Prosa Sätze sie mehr an die deutsche Sprache errinnern als an die amerikanische.
F.A.L.: Du hast bei einem deiner vielen Auslandsaufenthalte auch längere Zeit in Berlin gelebt und gearbeitet. Was waren deine damaligen Eindrücke von Berlin und Deutschland?
Michael Blumenthal: Wir lebten in Berlin vom August 1999 bis Juni 2000. Als wir ankamen, kam mir Berlin wie eine große Baustelle vor —Überall diese vielen Baukräne, ein großes Durcheinander in der ganzen Stadt, Alles als ob es nochmals im Übergang wäre. Es hat mich irgendwie unruhig gemacht zuerst. Ein schöner Eindruck für mich war, wie sehr grün Berlin war, so schöne Stellen, wo man Spazierengehen konnte, am Schlachtensee und auch schwimmen bei der Krummen Lanke. Auch so schön und leicht, mit dem Fahrrad durch die Stadt zu kommen, auch an die Uni. Und, natürlich, auch überall diese Erinnerungen an die Vergangenheit, insbesondere die jüdische Vergangenheit… Das jüdische Museum, das Denkmal an die verbrannten Bücher unter den Nazis, der alte Reichstag. Und dazu auch, natürlich, diese unglaubliche deutsche Kutlur – die drei verschiedenen Opern, die vielen wunderbaren Museen, eine unglaubliche Auswahl von literarischen Vorlesungen, usw. Zu der Zeit war mein guter Freund Gyorgy Konrad der Präsident der Akademie der Künste, so sind wir öfters dorthin gegangen für verschiedene Vorlesungen oder Austellungen, auch für Musik. Die Stadt kam mir als furchtbar lebhaft vor, mit unglaublich viel Verschiedenheit und Ethnizität. Und auch, zu meiner Überraschung, eine ziemlich große jüdische Bevölkerung. Ich fühlte, eigentlich, die selbe Ambivalenz gegen meine “Jüdischkeit” und meine “Deutschkeit” wie meine Eltern sie erlebten. Ich muss sagen, dass ich mich nie ganz wohl gefühlt habe… aber auch nie ganz unwohl.
F.A.L.: Was waren deine Gefühle, als die Berliner Mauer fiel?
Michael Blumenthal: Ein bisschen Angst, über die neue vereinte deutsche Macht; natürlich auch eine große Freude über die Niederlage des Kommunismus. Vor allem, etwas Neugierigkeit darüber, was die Zukunft Deutschlands bringen würde.
F.A.L.: Heinrich Heine sinnierte in seinem Pariser Exil über die deutsch-jüdische Wahlverwandtschaft. Gibt es sie?
Michael Blumenthal: Ja, ich glaube doch. Vor allem, die Wahlverwandtschaft zwei kultivierter und im großen Teil intellektueller Völker, der Stolz auf die Geschichten des Volkes, zur selben Zeit ein gewisser Überlegenheitskomplex und, dazu, auch ein Unterlegenheitskomplex. Und sogar eine gewisse Ambivalenz gegenüber seinem eigenen Volk. Und, natürlich, dazu gehört auch die Wahrheit, dass die jiddische Sprache selbst eine wahre Mischung zwischen Deutsch und Hebräisch ist.
F.A.L.: Deine Gedichte sind oft sehr erotisch und das bis in die Cover ihrer Textsammlungen. Siehe etwa Egon Schieles verlockende Schöne als Titelbild deines letzten Erzählbandes. Von Sigmund Freud in Wien über Wilhelm Reich in Berlin zu Ernst Lubitsch mit seinen Liebeskomödien von Berlin-Babelsberg bis nach Hollywood-Babylon, wie man damals die verheißungsvolle Stadt der kalifornischen Traumfabriken nannte! Ist das Lustprinzip, die Suche und Sehnsucht nach der erotischen Euphorie ein besonderes Wesensmerkmal der deutsch-jüdischen Phantasie?
Michael Blumenthal: Ja, absolut, oder so denke ich. Isaac Bashevis Singer hat einmal geschrieben, das “Liebesspiel wird am besten an Sterbebetten durchgeführt”, und ich glaube, dass diese zwei Obsessionen – mit dem Tod und mit dem erotischen Leben – einen sehr starken Anschluss mit einer etwas zu intensiven Intellektualität zu tun haben.
F.A.L.: Zurück zu Berlin: Die sexualpolitische Emanzipation, die für die Moderne so bezeichnend ist, hat sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands vor allem in Berlin zu einem Eldorado der internationalen Schwulenbewegung entwickelt.[3] Von den Tuntenbällen der Weimarer Republik zu den Berliner Love Parades der neunziger Jahre … wie siehst du diese metrosexuelle Evolution als ein Amerikaner deutsch-jüdischer Abstammung, der auch immer wieder in den Großstädten von Paris, Budapest und Haifa gelebt hat?
Michael Blumenthal: Ich glaube einfach dass diese “metrosexuelle Evolution,” wie Du sie nennst, mit einer Großstadt Milieu, worin viele verschiedene Leute, d.h. verschieden in Ethnizität, Religion, Kulturerbe, sogar Alter, sich zusammenfinden in einem Milieu, worin “Verschiedenheit” zwischen Menschen irgendwie überbrückt werden muss, und dass es genau diese Verschiedenheit, eine Energie und einen Sinn von “fremd sein” zwischen Menschen erzeugt, was Sex und das erotische Leben sehr gut überbrücken kann… oder, wenigstens, kann man versuchen, es zu tun. Eine Art “Shorthand” zwischen Menschen, die sich nicht sehr leicht sonst erkennen können.
F.A.L.: Die Zukunft Berlins: Klaus Wowereit, der noch Regierende Bürgermeister von Berlin hatte vor Jahren die deutsche Hauptstadt als „arm aber sexy“ bezeichnet. Und wenn die schöne Arme reich und sattsam wird? Wie sieht es dann mit Berlin aus, dessen sagenhafte Dekadenz bibelfeste Kritiker der Weimarer Republik schon damals mit der verruchten Hure von Babylon in Verbindung gebracht hatten?
Michael Blumenthal: Ja, ich muss halt zugeben, dass, wenigstens für mich, der Reichtum und das “hoch bourgeois” Leben nicht sehr sexy sind. Ich finde immer etwas Antiseptisches, wo es zu viel Reichtum und Konformität gibt. Deswegen, zum Beispiel, finde ich Budapest viel “sexier” als Paris, New York viel sexier als London, Südamerika viel sexier als Nordamerika. Für mich wenigstens ist zu viel “Sauberkeit” eine gewisse Todheit, zu viel Reichtum ein Schlafmittel.
F.A.L.: Vom Mauerfall zu Jericho bis zum Fall der Berliner Mauer. Du kennst sowohl Berlin als auch Jerusalem. Wann fällt die Mauer zwischen Israelis und Palästinensern? Sei ein trojanischer Mauerschauer, sei eine amerikanische Kassandra!
Michael Blumenthal: Über den Fall dieser Mauer, muss ich leider zugeben, kann ich leider nicht sehr optimistisch sein. Die Deutschen waren ja in einem gewissen Sinn immer “deutsch”, aber zwischen den Israelis und den Palästinenser gibt es keine solche Gemeinsamkeit. Im Gegenteil: beide, die Geschichte und die Völker sind so verschieden, haben so wenig Gemeinsamkeit über hunderte von Jahre, sind gegen einander so misstraurig, und haben einander so viel Schmerzen und Verlust bereitet, dass es schwer ist, sich vorzustellen dass diese Mauer entweder leicht, oder bald, zur Geschichte gehören wird.
F.A.L.: Das preußische Berlin ist nicht nur die deutsche Hauptstadt, es war und ist auch heute wieder das Zentrum des Judentums in Deutschland. Was hälst du von dieser unerwarteten Wiedergeburt der jüdischen Kultur im wiedervereinten Deutschland?
Michael Blumenthal: Es gab ja damals in Berlin einen Witz, als ich dort lebte: “Was ist der Unterschied zwischen dem Kurfürstendamm und der Klagemauer?” Antwort: An der Klagemauer gibt es nur Juden auf einer Seite. Ja, diese Wiedergeburt hat mich wirklich überrascht. Ich hatte es wirklich nicht erwartet. Ich war während diesem Jahr mit dem deutsch-jüdischen Schriftsteller Raphael Seligmann befreundet, und wir haben oft darüber gesprochen. Ich glaube, es handelt sich davon, von der Wahlverwandtschaft, worüber Du mich vorher gefragt hast. Irgendwie haben viele Juden – und dazu gehörten meine eigenen Eltern – nie ihre “Deutschkeit” verloren. Irgendetwas in sie hat sich immernoch danach gesehnt, nach dieser deutschen Vergangenheit, trotz dieser tiefen Wunden und Verluste, die die Deutschen den Juden beigebracht haben. Die Antwort zu dieser Frage liegt einfach tief in dem jüdischen Unbewusstsein… zu tief, einfach, für mich es zu erklären.
Susan Wansink: die Kuppel des neuen Reichstags
Endnoten
[1] Das Interview wurde beiderseitig auf Deutsch geführt, und Blumenthals Antworten wurden nur minimal redigiert. [2] Siehe ausführlicher dazu das Interview mit ihm „In mir lebt ein stillgeborener Dichter deutscher Sprache“ in Frederick A. Lubich (Hrsg.), Transatlantische Auswanderergeschichten. Reflexionen und Reminiszenzen aus drei Generationen. Festschrift zu Ehren von Robert Schopflocher. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014, S. 479 – 485. Zu Peter Wortsmans neuestem Ezählband Ghost Dance in Berlin. A Rhapsody in Gray (2013) siehe auch den Review Essay in dieser Ausgabe „Vom Berliner Salon der Weimarer Klassik zum heutigen Berlin als internationale Hipster-Hauptstadt der Clubbing-Szene …“ [3] Mehr dazu im Review Essay dieser Ausgabe.