Nov 2021
Deutschsprachige Bukowina
Multikulturalismus, Interkulturalität und Kleinliteratur(en). Selma Meerbaum-Eisingers Doppelidentitätskonstruktion
von Eriberto Russo
Einleitung
Das dichterische Werk von Selma Meerbaum-Eisinger, einer deutschsprachigen rumänischen Dichterin, die in Czernowitz, dem leuchtenden sogenannten Kleinen Wien[1] der Bukowina, aufgewachsen ist und 1942 im KZ Michajlowka an Typhus tragisch verstarb[2], ist ein wichtiges Zeugnis sowohl der Holocaustliteratur als auch der deutschsprachigen Kleinliteratur in rumänischen Gebieten. Meerbaum-Eisingers literarische Erfahrung ist darüber hinaus sowohl interkulturell[3] als auch multikulturell[4]: Sie ist interkulturell, da sie in einer Sprache verfasst ist, die der heutigen Sprache des Herkunftslandes nicht entspricht[5], und ist multikulturell, insofern sie sich in einem mehrsprachigen Rahmen[6] entwickelte, der durch multiple Identitäten definiert war. Sowohl die Kategorien der Interkulturalität als auch die des Multikulturalismus verdichten sich in der Idee der „kleinen Literatur“, die von den französischen Denkern Deleuze und Guattari[7] gründlich diskutiert worden ist.
Durch die Darstellung des historisch-geographischen Kontextes, in dem sich Selma Meerbaum-Eisingers literarische Tätigkeit entwickelt hat, deren späte Rezeption, wie wir sehen werden, von mehreren Abenteuern geprägt ist, soll dieser Beitrag unterstreichen, wie die Konstruktion der Identität der Autorin von einer ständigen Duplizität geprägt ist, die sich zwischen der territorialen Zugehörigkeit zur Bukowina und insbesondere zu Czernowitz und ihrem Zustand als deutschsprachige Autorin in einem nicht-deutschsprachigen Raum bewegt.
Der Vergleich zwischen den zahlreichen Zugehörigkeitsdimensionen wird innerhalb des Beitrags durch die Analyse einiger Gedichte, die für die Spannung der Autorin zur Identitätsduplizität und zu einer ständigen inneren Erkundung ihres eigenen Ichs repräsentativ sind, gesetzt.
Bukowina als interkulturelles Land
Die interkulturelle und interreligiöse Identität der Bukowina, eines Gebietes großer Vielfalt[8], und die zentrale Stellung von Czernowitz im Rahmen des Habsburgerreiches bilden einen unausweichlichen Ausgangspunkt in einer Diskussion um die Arbeit von Selma Meerbaum-Eisinger. Die Bukowina, die sich heute zwischen den Gebieten der Ukraine, Moldawiens und Rumäniens befindet, hat einen häufigen Wechsel von Herrschaften und großen geopolitischen Veränderungen erlebt. Früher als Buchenland identifiziert, bezeichnete Bukowina im 14. Jahrhundert den nördlichen Teil Moldawiens, da es zum alten Fürstentum Moldawien gehörte: Man denke nur daran, dass es Teil des Fürstentums von Stefan dem Großen war, der lange Zeit gegen die osmanischen Invasoren kämpfte. 1775 wurde Bukowina dem österreichischen Kaiserreich angeschlossen, das ihm den Namen Buvinus im Norden Moldawiens gab. 1918, nach dem Ersten Weltkrieg, wurde Bukowina zusammen mit Bessarabien und Siebenbürgen Teil von Großrumänien. 1940 annektierte die Sowjetunion Bessarabien nach einem Ultimatum mit Zustimmung Nazi-Deutschlands auf der Grundlage der geheimen Protokolle, die im Ribbentrop-Molotow-Pakt vom 23. August 1939 unterzeichnet wurden. Während des Vormarsches auf rumänisches Territorium hielt sich die Rote Armee nicht an die zwischen den Regierungen von Moskau und Bukarest vereinbarten Zeiten und eröffnete das Feuer auf rumänische Truppen, die in Richtung der neuen Grenze marschierten. So kam es zu zahlreichen Opfern: Die rumänischen Einheiten wurden umzingelt und größtenteils gefangengenommen. Partisanentruppen, die sich ebenfalls in der Region aufhielten, nahmen auch an diesen Kriegsaktionen gegen die rumänische Armee teil. Nachdem die UdSSR den nördlichen Teil Bukowinas angeschlossen hatte, wurden Hunderte von Bauern von der sowjetischen Polizei getötet, als sie versuchten, nach Rumänien zu fliehen. 1941 schloss sich Rumänien Nazi-Deutschland bei der Invasion der Sowjetunion (das sogenannte Unternehmen Barbarossa) an.
Meerbaum-Eisingers Werk aus historischer und sprachlicher Perspektive
Das Werk von Selma Meerbaum-Eisinger ist im Zusammenhang mit dem Zerfall des Habsburgerreiches und der Annexion Rumäniens durch Nazi-Deutschland verbunden. Meerbaum-Eisingers duale rumänisch-deutsche Identität fügt sich in einen historischen und sprachlichen Rahmen ein, zu dem noch etwas gesagt werden müsste. Das österreichische Kaiserreich besetzte die Bukowina im Oktober 1774. Nach der ersten Teilung Polens 1772 behaupteten die Österreicher, sie bräuchten Verfügungsgewalt über diese Region für eine Straße zwischen Galicien und Siebenbürgen, und so wurde sie deshalb im Januar 1775 offiziell annektiert. Bukowina war damals ein geschlossener Militärbezirk (1775-1786), dann wurde der Kreis Czernowitz zum größten Bezirk des österreichischen Königreichs Galicien und Lodomeria (1787-1849). Im März 1849 wurde Bukowina unter einem Landespräsidenten zu einem eigenständigen österreichischen Kronland und dann zum Herzogtum Bukowina erklärt. 1860 wurde sie wieder mit Galicien zusammengelegt, aber am 26. Februar 1861 wieder als eigenständige Provinz wiedereingesetzt (bis 1918). 1867 wurde sie mit der Umgestaltung des Österreichischen Reiches zum Österreichisch-Ungarischen Reich Teil des cisleithanischen oder österreichischen Territoriums und blieb bis 1918 erhalten. Ein wichtiger Aspekt, der berücksichtigt und angeführt werden muss, ist, dass Bukowina unter österreichischer Herrschaft ethnisch gemischt blieb: Rumänen dominierten im Süden, Ukrainer (im Kaiserreich allgemein Ruthenen genannt) im Norden, mit einer kleinen Anzahl ungarischer, slowakischer und polnischer Bauern, sowie Deutsche, Polen und Juden in den Städten. Die Volkszählung von 1910 zählte 800.198 Personen, davon: Ruthenen 38,88%, Rumänen 34,38%, Deutsche 21,24% (Juden 12,86% eingeschlossen), Polen 4,55%, Ungarn 1,31%, Slowaken 0,08%, Slowenen 0,02%, Italiener 0,02% und einige Kroaten, Roma, Serben und Türken. Rumänen waren noch in allen Siedlungen der Region präsent, aber ihre Zahl ging in den nördlichen Dörfern zurück.
In dieser zusammengesetzten Identitätslandschaft spielten auch diejenigen eine führende Rolle, die als Bukowinadeutsche[9] identifiziert wurden. Sie stellten eine ethnische Minderheit dar, in deren Rahmen vier Sprachgruppen[10] anerkannt werden konnten: Österreichisches Hochdeutsch; Böhmisch oder Böhmerwäldisch, Pfälzisch (Schwäbisch) und Zipser-Deutsch (Zipserisch). In Czernowitz, der Heimat von Meerbaum-Eisinger, entsprach die gesprochene Varietät des Deutschen dem österreichischen Deutsch, das vor allem in urbanen Zentren gesprochen wurde.
Die deutsche Literatur der Bukowina[11] ist, wie andere Kleinliteraturen, ein entscheidender und nicht immer ausreichend erforschter Knotenpunkt in der Forschung. Unter imposanten Namen wie Rose Ausländer, Paul Celan und Gregor von Rezzori findet auch die literarische Figur der jüdischen Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger einen bedeutenden Platz. Meerbaum-Eisingers Identitätsschwingung, bestehend aus territorialer und religiöser Zugehörigkeit und der Trennung zwischen mehreren Sprachen (Deutsch, Rumänisch und Jiddisch) hallt in beispielhafter Weise innerhalb ihres literarischen Schaffens nach, definiert durch eine einzige Gedichtsammlung mit dem Titel Blütenlese. In den – ursprünglich in einem handschriftlichen Notizbuch erhaltenen – 57 Gedichten, die zwischen Mai/Juni 1939 und 24. Dezember 1941 geschrieben wurden, schildert Meerbaum-Eisinger mit großer Aufmerksamkeit und Tiefe ihre Eindrücke von der Welt und zeigt dadurch die Erfahrung ihres Alltags und den faszinierenden Umgang mit ihrer vielfältigen Innerlichkeit[12]. Ihre Gedichte stellen sicherlich einen Weg in die Konstruktion ihrer Identität und auch ein wichtiges Zeugnis der deutschsprachigen Literatur dar, die in den Gebieten der Bukowina geschrieben wurde. Eine wissenschaftliche Diskussion um Meerbaum-Eisingers poetisches Schaffen ist von erheblichem Interesse, weil sie in mehrere Studienrichtungen fällt: Sie kann nur als literarisches Testament einer Autorin untersucht werden, die in einem Konzentrationslager ermordet wurde, oder, wie im Falle dieses Aufsatzes, als transversaler Beitrag zu Studien über weniger bekannte deutschsprachige AutorInnen, die aus historischen oder anderen Gründen von der Kritik und der Öffentlichkeit erst spät rezipiert wurden.
Die Geschichte der Rezeption von Blütenlese ist in der Tat äußerst kompliziert und abenteuerlich[13] und zieht sich ab den 1940er Jahren durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zu unserer Zeit[14]. Als Meerbaum-Eisinger im Juni 1942 ins KZ Michajlovka deportiert wurde, kam ihr Gedichtalbum, das ihrem Freund Lejser Fichman gewidmet war, in die Hände von Else Schächtern-Keren, einer engen Freundin der Dichterin. Nach der Übergabe an Fichman selbst kehrte der Band 1944 zu Schächtern-Keren zurück, als Fichman die Flucht aus einem Arbeitslager gelang. Im selben Jahr wurde die Gedichtsammlung einer weiteren engen Freundin Meerbaum-Eisingers, Renée Abramovici-Michaeli, übergeben, der in erster Linie die Verbreitung der Gedichte der jungen Freundin zugeschrieben werden muss. Ihr ist es zu verdanken, dass Meerbaum-Eisingers Gedichte von Europa nach Israel gelangten, wo die Sammlung 1976 (400 Exemplare) und dann 1979 dank des Verlags der Universität Tel Aviv erschien. Die Sammlung wurde außerdem 1980 bei Hoffmann und Campe, 2013 (Reclam und Rimbaud Verlag) und 2014 (zum Klampen Verlag) veröffentlicht.
Die Räume der Duplizität: Natur, Innerlichkeit und Bukowina
Meerbaum-Eisingers Identitätsdualität stellt sich in Form von einer Spannung zwischen den äußeren Räumen, dargestellt durch die Natur und die vielfältigen Formen, die sie annimmt, und den Räumen der Innerlichkeit vor. Während sie die Orte ihres Alltags und ihre Eindrücke von der Natur beschreibt, kollidiert die Dichterin mit der komplexen historischen Realität, die sich um sie herum entwirrt. In diesem Sinne entwickeln sich ihre Gedichte, die zunächst von einer glücklichen Öffnung zur Welt und einer inneren Hoffnung, die sich bis in die Zukunft ausdehnt, allmählich in Richtung einer dunkleren und tragischeren Realitätsauffassung. Die interkulturelle und interidentitäre Dimension der Stadt Czernowitz verdichtet sich innerhalb des Schreibens und wird in Form poetischer Worte gefiltert. Im Gegensatz zu anderen aus ihrer Heimat stammenden AutorInnen, u.a. Rose Ausländer, die die Bukowina ausdrücklich als poetisch zu verdichtendes Objekt betrachtet haben, manifestieren sich Meerbaum-Eisingers Gedichte zwar in der Bukowina, aber die Heimat wird dennoch nie explizit erwähnt. Die Gedichte von Ausländer und Meerbaum-Eisinger stellen die Bukowina jedoch als ein multi-gestaltetes Land mit einer komplexen Identitätskonfiguration dar, die ihre Daseinsberechtigung auf eine blühende und leuchtende Natur zurückführt, hinter der sich eine nahe und gefährliche Dekadenz verbirgt. Bei Ausländer erweist sich Bukowina in der Tat als eine verlorene Heimat[15], was sich bei Meerbaum-Eisinger offensichtlich nicht realisieren konnte. Im Gedicht Bukowina III von Rose Ausländer lassen das tiefe und herzzerreißende Gefühl der Zugehörigkeit der Dichterin und die Beschreibung eines lebendigen und aufrichtigen Ortes an die Idee einer Traumlandschaft denken, in der mehrere Sprachen gesprochen werden und Menschen in vollständigem Frieden zusammenleben.
Grüne Mutter
Bukowina
Schmetterlinge im Haar
Trink,
sagt die Sonne,
rote Melonenmilch,
weiße Kukuruzmilch.
Ich machte sie süß.
Violette Föhrenzapfen,
Luftflügel Vögel und Laub.
Der Karpatenrücken,
väterlich,
lädt dich ein,
dich zu tragen […][16]
Der Fokus der Dichterin auf die Darstellung der Bukowina als eine grüne Mutter und damit das Naturmotiv findet sich auch bei Meerbaum-Eisinger als grundsätzliches Leitmotiv: Natur offenbart in beiden Fällen ihre Vielfältigkeit und evoziert dabei andere Denkräume. Die weiteren Dimensionen, die durch das Naturmotiv in Frage gestellt werden, sind das Ergebnis eines kontinuierlichen Dialogs zwischen der Natur und der Innerlichkeit der Dichterin: Die Schnittpunkte zwischen den beiden Instanzen erzeugen eine konzeptionelle Spannung, die sich um den Prozess der Identitätskonstruktion Meerbaum-Eisingers dreht[17]. Und aus diesem Grund wird die Repräsentation der Natur mit einer allgegenwärtigen Nostalgie untermauert, die im Gegensatz zu einem phantasievollen Sprachgebrauch steht, der die Gedichte dominiert. Als gutes Beispiel für unsere These gelten zwei Gedichte, die die Titel „Abend I“ und „Abend II“ tragen.
Der Himmel ist vom hellsten Blau
und weiße Wolken lächeln mit ihm.
Und schlanke Bäume, dunkel oder grün,
sehen dich an und sagen lautlos: schau!
Alles ist eingehüllt in weiche Luft,
die still ist, so als ob sie einem Märchen lausche.
Und alle Vögel horchen wie im Rausche –
man hört nur Duft.
Die weißen Wolken blinken wie der Schnee,
der auf Vergissmeinnicht gefallen ist.
Und ganz so blau liegt auch das weiche Weh,
das sich über die Bäume gießt.
Und – sind die Bäume dunkel oder grün?
Sie wissen es wohl selber nicht genau.
In einem Fenster zittert aus dem Blau
ein Tropfen Rot. Sie blühn.[18]
Als Meerbaum-Eisinger dieses Gedicht am 14. Juli 1941 verfasste, war Czernowitz, welches damals zum mit den Nazis verbündeten Rumänien gehörte, vor kurzem von rumänischen Truppen und dem Einsatzkommando 10b, das bis wenige Tage zuvor bereits jüdische Bewohner benachbarter Gebiete verhaftet und getötet hatte, belagert worden. Das Gedicht beschreibt eine vorabendliche Landschaft, die auf einen Chromatismus zurückgreift, in dem die Anwesenheit der Farben Weiß, Blau und Rot dominiert und sie mit den optischen Dimensionen der Dunkelheit und Helligkeit abwechselt. Der Einsatz chromatischer Symbolik ermöglicht es der Autorin, die Vielzahl der Eindrücke in ihrer Innerlichkeit zu manifestieren und so den Grundstein für eine transversale Reflexion über die konzeptuelle Kontinuität zwischen ihren äußeren und inneren Landschaften zu legen. Wie auch die Farbenlehre, Goethes berühmte wissenschaftliche Untersuchung des Wesens der Farben, lehrt, kommt man durch die Verwendung einer bestimmten Farbe, um ein angegebenes Konzept auszudrücken, zu einer Neuformulierung der Bedeutungen des Geschriebenen. Die vier Strophen wechseln Helligkeit mit Dunkelheit ab, unterstützt durch die Verwendung eines einfachen, aber direkten Wortschatzes und einer Reihe von Fragen und Annahmen, die die Leichtigkeit und die großen Hoffnungen und Erwartungen betonen, die von der Naivität des Alters der Dichterin augenscheinlich diktiert werden. Diese helligkeitsdunkle Dichotomie wird jedoch von einem nostalgischen und melancholischen Gewahrsein durchzogen, das sich insbesondere durch die Verwendung von Wörtern wie eingehüllt, Luft, still, lauschen und rauschen bezeichnen lässt. Das Blau, das in der Regel repräsentativ für Nostalgie und die mit Unendlichkeit verbundenen Empfindungen ist[19], tritt zuerst mit der Farbe Weiß in Dialog, um die makellose Unschuld und Schönheit des Himmels und der Wolken zu betonen und um sich dann mit dem Rot eines Tropfens, der direkt vom Blau des Himmels abgeleitet ist, zu verbinden.
Wie eine Linie dunkelblauen Schweigens
liegt fern der Horizont, von weichem Rot umsäumt.
Die Wipfel schaukeln wie im Banne eines Reigens,
das Licht ist wie im Märchen, sanft und blau verträumt.
Der Himmel ist noch hell, noch sieht man kaum die Sterne,
die Luft ist kühl und weich wie eine Frauenhand
und süße Melodie dringt aus der fernsten Ferne:
Musik einer Schalmei, zauberhaft, unbekannt.[20]
Im Gedicht Abend II, das am 12. Dezember 1941 verfasst wurde, dominiert rhetorisch die Figur der Ferne, um die sich das diskursive Schema der Poesie herum aufbaut. Der poetische Diskurs kreuzt sich wieder mit der Dimension der Farben, die zu einer Aufwertung und Intensivierung der allgegenwärtigen Dimension der Sehnsucht nach dem Anderen und dem Unbekannten führt[21]. Selma Meerbaum-Eisingers Semantisierung der Ferne erfolgt in der Tat durch die Verwendung eines lexikalischen und rhetorischen Universums, das aus Metaphern, Anthropomorphisierungen der Natur und Ähnlichkeiten besteht, die einen synästhetischen Erzählraum bilden. In diesem Sinne ist die Stille in ihrer Blauigkeit gefangen, der Horizont, der auch in einer unerreichbaren Dimension liegt, ist mit rot gefärbt. Das vom Gedicht wiedergegebene poetische Bild der Ferne ist also in einen erzählerischen Hintergrund eingefügt, in dem sich Blau und Rot abwechseln und damit die innere Trennung der Dichterin zwischen Empfindungen von Wärme und Leidenschaft und Gefühlen, die mit Sehnsucht und eben Ferne zusammenhängen, hervorheben. Die visuelle Dimension, die durch die Darstellung der Natur betont wird, trifft auf die akustische Dimension durch das Vorkommen einer aus der unbekannten und unzugänglichen Ferne dringenden Melodie: Es geht hier um eine stilistische Entscheidung, die wesentlich zur Schaffung eines synästhetischen Raumes beiträgt, in dem mehrere Sinne zusammenarbeiten, um die Pluralität des Ferne-Konzepts[22] herauszuarbeiten.
Meerbaum-Eisingers weltoffene poetische Kraft und interidentitäre Schwingung zwischen territorialer, sprachlicher und religiöser Identität entstehen in ihren poetischen Kompositionen durch den Einsatz poetischer Figurationen, die durch die Begriffe Ferne und Sehnsucht vermittelt werden. Meerbaum-Eisingers Nostalgie entpuppt sich in diesem Sinne als eine Identitätsnostalgie und eine Neigung zum Absoluten, die es ihr ermöglicht, den historischen Wechselfällen und Schmerzen, die durch die Abwesenheit ihres Freundes Lejser Fichman erzeugt werden, zu entfliehen.
Um diese Suche nach dem Unendlichen, die durch den Raum der Nostalgie vermittelt wird, entwickelt sich auch das Gedicht Das Glück (18. August 1941), in dem das lyrische Ich die Beschaffenheit seiner eigenen Sehnsucht erkundet und dabei auch die Dimension darlegt, in der sie handelt.
Schlafen möcht’ ich,
Der Wind wiegt mich ein,
Und die Sehnsucht singt mich zur Ruh’.
Weinen möcht’ ich.
Schon die Blumen allein
Flüstern Tränen mir zu.
Sieh die Blätter:
Sie blinken im Wind
Und gaukeln Träume mir vor.
Ja und später –
Lacht wo ein Kind,
Und irgendwo hofft ein Tor.
Sehnsucht hab’ ich
Wohl nach dem Glück?
Nach dem Glück.
Fragen möcht’ ich:
Kommt es zurück?
Nie zurück.[23]
Der innere Dialog beginnt mit der Beschreibung einer Abendlandschaft, in der das lyrische Ich behauptet, schlafen zu wollen. Der Wind und seine Sehnsucht sind an dem Vorgang beteiligt, der es zum Schlafen führt. Dieses poetische Bild hat die Funktion, das unmittelbar folgende Szenario vorwegzunehmen, in dem das Verlangen nach Schlaf durch das Verlangen nach Weinen ersetzt wird, begleitet von Blumen, die sie mit Diskretion einladen, Tränen zu vergießen. Bereits in der ersten Strophe wird auf eine innere Bedrängnis hingewiesen: Das lyrische Ich wird zwischen Schlaf und Tränen aufgeteilt, während die Natur (der Wind, die Blumen) und seine Empfindungen (Nostalgie, Wille) an seiner Entscheidung teilnehmen und es in die eine oder die andere Richtung ausrichten. Im zweiten Vers beginnt ein für Meerbaum-Eisingers Gedichte typischer Prozess: Natur und Welteindrücke, zunächst getrennt, werden zusammengeführt und tragen zur Neubeschreibung des inneren Panoramas des lyrischen Ichs bei: Das lyrische Ich macht daher kein Geheimnis daraus, dass es sich im Gleichgewicht zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit befindet, und gibt sowohl der Natur als auch ihren tiefsten und schmerzhaftesten Gefühlen eine gemeinsame Stimme. Der poetische Raum erweitert sich dadurch, und die Erzählung deutet auf eine chorale Natur hin, in der sich das lyrische Ich als Vermittler zwischen dem, was außerhalb der Identität liegt, und der Identität selbst erweist.
In diesem Sinne gelangt sogar die Duplizität der Identität des lyrischen Ichs in eine poetische Landschaft, in der sie mit sich selbst in Dialog tritt: Das, was in den letzten Zeilen des Gedichts deutlich wird, ist tatsächlich eine Problematisierung der Identität. Das lyrische Ich vermittelt somit nach außen eine Nostalgie, die sich nicht nur als eine Sehnsucht nach einem verlorenen und unwiederbringlichen Glück, sondern als eine Sehnsucht nach einer unerreichbaren Vollständigkeit der Identität herausstellt.
Im selben Jahr verfasst (am 23. Dezember 1941), kurz vor ihrer Deportation in das ukrainische Konzentrationslager Michajlowka, in dem sie kurz darauf ihr Leben verlor, unterstützt das Gedicht Müdes Lied die Idee, dass Meerbaum-Eisinger in melancholischen, pseudomärchenhaften und nostalgischen Tönen den Ausdruck ihrer eigenen vielfältigen Innerlichkeit gefunden hatte. Man bedenke, dass im August 1941 das Ghetto von Czernowitz errichtet wurde, in dem Meerbaum-Eisinger selbst zusammen mit 50.000 anderen Menschen jüdischen Glaubens zum Bleiben gezwungen wurde: Das Gedicht, das wir nun analysieren werden, wurde daher vermutlich in einer Zeit maximaler innerer Anspannung geschrieben.
Ich möchte schlafen, denn ich bin so müde,
und so müd und wund ist mein Glück.
Ich bin so allein – selbst mein liebstes Lied
ist fort und will nicht mehr zurück.
Schlaf’ ich einmal, so träume ich auch,
und Träume sind so wunderschön.
Sie zaubern einen lächelnden Hauch
auch übers schwerste Geschehn.
Träume tragen Vergessen mit sich
und schillernden bunten Tand.
Wer weiß es – vielleicht auch bannen sie mich
für ewig in ihr Land.[24]
Man nimmt in diesem Gedicht die Verwandlung der Nostalgie in eine existenzielle Ermüdung wahr, die durch die poetische Erfahrung entmystifiziert wird und die in die Territorien des Traums übergeht. Fast wie in einem Tagebuch, in dem die innere Stimme Gestalt annimmt und ein Gefühl starker Niederlage und ewiger Nostalgie ausdrückt, beginnt Meerbaum-Eisinger ihre Rede mit dem Bedürfnis zu schlafen und zu träumen: Gerade in einer traumähnlichen Dimension findet die Dichterin Zuflucht. Müdes Lied stellt in seiner Wesentlichkeit die Synthese der inneren und äußeren/historischen Situation der Dichterin dar, das in der Tat auf eine Reihe von Metaphern zurückgreift. Erstens entspricht das fehlende Lieblingslied sowohl der Tatsache, dass ihr Freund Lejser Fichman abwesend ist, als auch den vergangenen Zeiten bzw. den Zeiten vor dem Ausbruch des Krieges und der Errichtung des Ghettos. Das Schlafen und die Träume beschreiben dagegen die Möglichkeit, der Realität zu entfliehen, um sich selbst und die Leidenschaft für das Leben zu finden, während das lyrische Ich sich nostalgisch mit verzaubertem Lächeln sogar mit dem härtesten Schicksal konfrontiert. Die innere Idylle ist jedoch dazu bestimmt, zu verblassen, wenn die Dichterin mit der Realität konfrontiert wird, der sie wiederum zu entkommen versucht.
Schlussbemerkungen
Der vorliegende Aufsatz hat sich zum Ziel gesetzt, die poetische Produktion der in der Stadt Czernowitz (Bukowina) geborenen und aufgewachsenen deutschsprachigen Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger zu untersuchen.
Ausgehend von der Prämisse der deutschsprachigen Bukowina als multikulturelles und interkulturelles Land aus historischer und kulturwissenschaftlicher Sicht hat sich der Beitrag auf einige Gedichte Meerbaum-Eisingers konzentriert, in denen eine Identitätsduplizität und eine kontinuierliche Schwingung zwischen Identitätsformen und Repräsentationen des Konflikts zwischen Innerlichkeit und dem Äußeren entsteht. In diesem Sinne lag der Fokus auf der Rolle der Farben, der Thematisierung des Begriffs der Ferne und einer Identitätsnostalgie, die mit der dichterischen und sprachlichen Schaffung synästhetischer Erzählräume untermauert wird.
[1] Vgl. Gatscher-Riedl, Gregor. Czernowitz – Klein-Wien am Ostrand der Monarchie. Ein k.u.k. Sehnsuchtsort (K.u.k. Sehnsuchtsorte), Berndorf: Kral Verlag, 2017.
[2] Die Angelegenheiten um Meerbaum-Eisingers Tod sind von dem rumänischen Maler Arnold Daghani und seiner Frau angegeben worden. Sie befanden sich im selben Konzentrationslager wie die Dichterin und haben den Verlauf ihrer Krankheit sowie ihren anschließenden Tod miterlebt. Daghani zeichnete auch den Leichnam der jungen Selma, die auf einer Holzfläche lag. (Siehe „Selma stirbt“: https://selma.ws/bogen/de, eingesehen am 01.04.2021).
[3] Vgl. Hofmann, Michael / Patrut, Iulia-Karin (Hrsg.). Einführung in die interkulturelle Literatur. Darmstadt: WBG Verlag, S. 22ff.
[4] Vgl. Beyersdörfer, Frank. Multikulturelle Gesellschaft: Begriffe, Phänomene, Verhaltensregeln. Münster: LIT Verlag, 2004, S. 19-50.
[5] Czernowitz gehört heute zur Ukraine.
[6] Weitere Informationen zu diesem Thema findet man in Schnellbach, Christoph. „Vielvölkerstaat“. In: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2016, https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de, (eingesehen am 8.11.2020); Judson, Pieter M. Habsburg. Geschichte eines Imperiums. 1740-1918. München: C.H. Beck, 2017.
[7] Vgl. Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix. Kafka, pour une littérature mineure. Paris: Les Éditions de Minuit, 1975.
[8] Zur Behandlung der historischen Begebenheiten von Bukowina siehe Scharr, Kurt. Die Landschaft Bukowina. Das Werden einer Region an der Peripherie 1774 – 1918. Wien/Köln/Weimar: Böhlau, 2010; vgl. noch Hofbauer, Hannes / Roman, Viorel. Bukowina, Bessarabien, Moldawien: Vergessenes Land zwischen Westeuropa, Rußland und der Türkei. Wien: Promedia,1993; vgl. auch Erzherzog, Rudolf. Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Band 20: Bukowina. Wien: k.k. Hof- und Staatsdruckerei, 1899.
[9] Zum Verhältnis zwischen Bukowina und deutschsprachigen Ländern vgl. Weczerka, Hugo. „Die Deutschen im Buchenland“. In: Der Göttinger Arbeitskreis 51 (1954); vgl. Freiherr von Kapri, Emanuel. Buchenland. Ein österreichisches Kronland verschiedener Völkergruppen. Stuttgart/München: Landsmannschaft der Buchenlanddeutschen, 1974. Zum Verhältnis zwischen Bukowina und Juden siehe Kassner, Salomon. Die Juden in der Bukowina. Wien: Löwit, 1917; vgl. auch Gold, Hugo (Hrsg.). Geschichte der Juden in der Bukowina. Ein Sammelwerk. Tel Aviv: Edition Olamenu, 1958-1962 (Band I und Band II); vgl. Shchyhlevska, Natalia. Deutschsprachige Autoren aus der Bukowina. Frankfurt u.a.: Lang, 2009, hier S. 13-75.
[10] Vgl. Welisch, Sophie A. The Bukovina-Germans During the Habsburg Period: Settlement, Ethnic Interaction, Contributions”. In: Immigrants & Minorities, vol. 5, no. 1 (1986), S. 81-98, hier 82-87.
[11] Vgl. Corbea-Hoișie, Andrei / Astner, Michael (Hrsg.). Kulturlandschaft Bukowina. Studien zur deutschsprachigen Literatur des Buchenlandes nach 1918. Jassy Konstanz: Hartung-Gorre, 1990; Vgl. noch Goltschnigg, Dietmar / Schwob, Anton (Hrsg.). Die Bukowina. Studien zu einer versunkenen Literaturlandschaft. Tübingen: Francke, 1990.
[12] Vgl. Breysach, Barbara. „Meerbaum-Eisinger, Selma“. In: Kilcher, Andreas B. (Hrsg.). Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2012, S. 365f.; vgl. auch Niethammer, Ortrun. „Innere Differenzierung. Selma Meerbaum-Eisinger: Rezeption ihrer Gedichte nach 1980“. In: Hansen-Schaberg, Inge (Hrsg.). Als Kind verfolgt. Anne Frank und die anderen. Berlin: Weidler, 2004, S. 194-210; vgl. auch Lăzărescu, Mariana-Virginia. „Schau, das Leben ist so bunt“. Selma Meerbaum-Eisinger, Karin Gündisch und Carmen Elisabeth Puchianu: drei repräsentative deutsch schreibende Autorinnen aus Rumänien. Berlin: WVB, 2009, hier S. 11-40; Vgl. auch May, Markus. „Wie eine Linie dunkelblauen Schweigens“. Selma Meerbaum-Eisinger im Kontext der Lyrik der Bukowina der 1930er und 1940er Jahre“. In: Busch, Walter / Conterno, Chiara (Hrsg.). Weibliche jüdische Stimmen deutscher Lyrik aus der Zeit von Verfolgung und Exil. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012, S. 27-44.
[13] Vgl. Stein, Ute. Geschichte der Selma Meerbaum – Eisinger. www.meerbaum-haus.de; vgl. auch Serke, Jürgen. Geschichte einer Entdeckung. In: Selma Meerbaum-Eisinger: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2005, S. 107ff.
[14] Vgl. Emmerich, Wolfgang. „Selma Meerbaums Gedichte als Chronik der laufenden Ereignisse 1939-41“. In: Goltschnigg, Dietmar / Schwob, Anton (Hrsg.). Die Bukowina. Studien zu einer versunkenen Literaturlandschaft. Tübingen: Francke, 1990, S. 275ff.
[15] Vgl. Winkler, Markus. „Von der Sprache zum Raum: Heimat als geographische Landschaft in der Lyrik Rose Ausländers“. In: Analele Universității „Alexandru Ioan Cuza” din Iași. Secțiunea IIIe. Lingvistică, tomul LVII, (2011), S. 143-153, hier S. 145ff.
[16] Ausländer, Rose. Bukowina III. https://www.lyrikline.org/en/poems/bukowina-i-545 (eingesehen am 10.10.2020).
[17] Vgl. Russo, Eriberto. „Elaborazioni della Liebessehnsucht nella raccolta poetica Blütenlese di Selma Meerbaum-Eisinger“. In Cultura tedesca 57 (2020), S. 317-329. Vgl. auch Russo, Eriberto. „‘Ich bin der Regen und ich gehe barfuß einher von Land zu Land‘. Selma Meerbaum-Eisingers identitätsfindende Sehnsuchtsfigurationen“. In: Greif, Stefan / Kurultay, Turgay, Roßbach, Nikola (Hrsg.). Kein Ende des Gerüchts. Antisemitismus in Kultur und Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Kassel: kassel university press, 2020.
[18] Meerbaum-Eisinger, Selma. Abend I, url: https://www.deutschelyrik.de/abend-i.html (eingesehen am 11.10.2020).
[19] Vgl. Gercke, Hans (Hrsg.). Blau: Farbe der Ferne. (Ausstellungskatalog). Heidelberg: Das Wunderhorn, 1990.
[20] Meerbaum-Eisinger, Selma. Abend II. https://www.deutschelyrik.de/abend-ii.html (eingesehen am 11.10.2020).
[21] Die von Meerbaum-Eisinger dargestellte Natur ist eine synästhetische und metamorphe Natur, die von den Sinnen, die gemeinsam an der poetischen Erfahrung teilhaben, ständig kontaminiert wird. Vgl. dazu Marks, Lawrence E. The Unity of the Senses. Interrelations among the modalities. New York: Academic Press, 1978; vgl. auch Cytowic, Richard E. Synesthesia: A Union of the Senses (2nd edition). Cambridge: MIT Press, 2002; vgl. auch Emrich, Hinderk M./ Schneider, Udo/ Zedler, Markus. Welche Farbe hat der Montag? Synästhesie: Das Leben mit verknüpften Sinnen. Stuttgart: Hirzel, 2002.
[22] Vgl. Gotthard, Axel. In der Ferne: die Wahrnehmung des Raums in der Vormoderne. Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2007, S. 72-143. Hervorzuheben ist auch, dass das Ferne-Konzept auch aus psychologischer und soziologischer Sicht als grundlegender Bestandteil des Raumes des Andersseins und der Fremdheit zu betrachten ist: vgl. dazu Schneider, Christoph. „Das Ferne, das uns nahe ist: Zur Phänomenologie der Fremdheit“. In: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 70 (9) (2016), S. 923-948.
[23] Meerbaum-Eisinger, Selma. Das Glück. https://www.deutschelyrik.de/das-glueck.html (eingesehen am 02.04.2021).
[24] Meerbaum-Eisinger, Selma. Müdes Lied. https://www.deutschelyrik.de/muedes-lied.html (eingesehen am 25.10.2020).