Nov 2021
„Heim in den fremden Krieg…“ – Mehrsprachigkeit und alpine Identitätsdiskurse vor dem Hintergrund der Weltkriege
von Sophia Mehrbrey
Maßgeblich von regionalen Identitätsdiskursen dominiert, sind die Alpen gleichzeitig ein Raum, der von nationalen Grenzlinien und deren Verschiebungen strukturiert wird,[1] welche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederholt neu verhandelt wurden. Obschon die inneralpinen Grenzen seit 1945 weitgehend stabil blieben, ließen die jahrzehntelangen Konflikte tausende Menschen mit einer zwischen nationaler und ethnischer Zugehörigkeit zerrissenen Identität zurück.[2] Wurde dieser Multikulturalismus zunächst verdrängt, brechen die unterdrückten Fragestellungen seit dem Jahrtausendwechsel wieder vermehrt hervor. So gilt es zu untersuchen, wie zeitgenössische Autor:innen, die die Weltkriege selbst nicht erlebt haben, die fragmentierten Selbsterfahrungsprozesse fiktiver oder (auto-)biographischer Figuren vor dem Hintergrund der alpinen Kriegsvergangenheit thematisieren. Das Motiv der Doppelidentität soll dabei vor allem anhand des Sprachgebrauchs untersucht werden, da die linguistische Zugehörigkeit entscheidend ist für die Selbstwahrnehmung von Individuen und das Abstimmen subjektiver, regionaler und nationaler Identitäten.[3] Dies ist besonders zutreffend für die von den Grenzverschiebungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betroffenen Bevölkerungsgruppen in den Alpenregionen. Sprachgrenzen lassen sich weniger leicht verschieben als Landesgrenzen, und das aggressive Eingreifen in die Sprachlandschaft einer Region, das von totalitären Regimen wie den Nationalsozialisten oder den italienischen Faschisten besonders propagiert wurde,[4] ließ regelmäßig tiefe Narben zurück.[5] Deutsch sowie deutsche Dialekte und Idiome spielen innerhalb Europas für die daraus resultierenden (Sprach-)konflikte eine wichtige, ambivalente Rolle, da deutsche Sprachen sowohl als Sprache der Unterdrücker als auch als Sprache der Vertriebenen oder Unterdrückten auftreten. Anhand dreier ausgewählter Werke – Immer noch Sturm von Peter Handke, Sonnenschein von Daša Drndić und Eva dorme von Francesca Melandri – soll untersucht werden, wie Mehrsprachigkeit[6] in diesem Kontext inszeniert wird und die Zerrissenheit betroffener Protagonist:innen zum Ausdruck bringt. Hierfür habe ich bewusst sowohl ein deutschsprachiges Werk mit slowenischen Elementen als auch einen kroatischen und einen italienischen Text mit deutschen Fragmenten ausgewählt. Die Herausarbeitung einer mehrsprachigen, binären Identität soll auf vier Ebenen untersucht werden: Zunächst möchte ich mich der Frage widmen, wie Orts- und Eigennamen in den Texten zu einer Poetik der Mehrsprachigkeit[7] beitragen. In einem zweiten Schritt soll anhand ihres Sprachgebrauchs die kulturelle und innere Zerrissenheit der Protagonist:innen untersucht werden. Anschließend möchte ich aufzeigen, inwiefern das Buch selbst als zweisprachiges Artefakt die Idee von Doppelidentität transportiert, bevor schließlich die Rolle der Rezipient:in und deren Sprachkapazitäten untersucht werden soll.
Bevor ich mit der Analyse im eigentlichen Sinn beginne, erscheint es mir sinnvoll, die drei behandelten Werke und den entsprechenden historischen Kontext kurz zu skizzieren. Das Theaterstück Immer noch Sturm (2010) von Peter Handke hat eine starke autobiographische Dimension.[8] In einem traumartigen Zustand begegnet der Ich-Erzähler seinen Vorfahren:[9] der Mutter, seiner Tante Ursula, den Onkeln Gregor, Valentin und Benjamin sowie Großvater und Großmutter. Das Stück wechselt zwischen Dialogen und Erzähltext. Zurückversetzt in die Zeit um den Zweiten Weltkrieg, diskutieren die Familienmitglieder das Schicksal ihrer Familie als Kärntner Slowenen.[10] Die Familie gehört somit zu einer sprachlichen Minderheit Österreichs, die nach 1920 und bis zur Annexion Österreichs durch Hitler im Zuge seiner ,Heim-ins-Reich‘-Politik über weitgehende Minderheitenrechte verfügte. Unter der nationalsozialistischen Besatzung fürchten vielen Kärntner Slowenen Diskriminierung und Verfolgung. Während die slowenischen Männer als deutsche Reichsbürger in die Armee eingezogen werden, schließen sich gegen Ende des Krieges vermehrt Männer und Frauen (wie Ursula und später Gregor) den Partisanen an.[11] Die Vorfahren des Ich-Erzählers verteidigen ihre Muttersprache vehement,[12] wohin gehend er selbst feststellen muss, dass er den Bezug zu dieser Sprache und damit auch einen Teil seiner Identität verloren hat.
Eva dorme (2010) von Francesca Melandri beschreibt die Fahrt einer jungen Frau über Südtirol nach Kalabrien, wo sie ihren im Sterben liegenden Ziehvater noch einmal besucht. Auf der langen Fahrt reist sie in ihren Gedanken zurück in ihre Jugend und darüber hinaus. Sie konfrontiert die Leser:in mit der Chronik ihrer Familie und dem Lebensweg ihrer Mutter Gerda Huber, beide stark verwoben mit der Geschichte Südtirols: von der Zwangsitalianisierung unter den Faschisten nach dem Ersten Weltkrieg über die Besetzung durch die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg bis hin zu den Unabhängigkeitsbestrebungen der sechziger und siebziger Jahre[13]. In dem auf Italienisch verfassten Roman finden sich regelmäßig Fragmente auf Deutsch, oder genauer gesagt Südtirolerisch – der Muttersprache der beiden Protagonistinnen.
Sonnenschein. Dokumentarni Roman (2007) von Daša Drndić ist, wie der Titel vermuten lässt, vom Leben historischer Personen inspiriert. Der Roman beschreibt das Warten der in Gorizia lebenden Haya Tedeschi auf ihren vor 60 Jahren von den Nazis entführten Sohn, der aus ihrer Beziehung mit dem SS-Offizier Kurt Franz gezeugt wurde. Während sie wartet, lässt sie, ähnlich wie die beiden anderen Erzähler:innen, die Geschichte ihrer Familie vor ihrem inneren Auge Revue passieren.[14] Die Familie stammt aus Görz/Gorizia, einer Stadt an der heutigen Grenze zwischen Italien und Slowenien, die jedoch bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zu Österreich-Ungarn gehörte.[15] Im Zweiten Weltkrieg wurde sie vorübergehend von den Deutschen besetzt. Im Rhythmus dieser Grenzverschiebungen ergreift die jüdische Familie von Hayas Mutter Ada, später von Haya immer wieder die Flucht: Von Albanien verschlägt es sie nach Süditalien, eine Generation später von Italien in die Schweiz. Durch diese stetigen Wechsel ist es schwierig, der Familie überhaupt eine klare Muttersprache zuzuschreiben.
Namensgebung: Identität, Ideologie, Poetik
Noch bevor der tatsächliche Gebrauch einer zweiten Sprache auf die Doppelidentität der Protagonist:innen verweist, wird der Namensgebung von Orten und Personen in allen drei Werken eine zentrale Rolle beigemessen. In Handkes Immer noch Sturm scheint die Namensfindung der Figuren auf den ersten Blick wenig entscheidend, schon allein deswegen, weil große Teile des Textes in Form eines oneirischen Zwiegesprächs zwischen dem Erzähler und seinen Vorfahren gehalten sind. Doch auch wenn die Vornamen der verschiedenen Familienmitglieder im Text selten genannt werden und nicht explizit einer bestimmten Ethnie oder Kulturgruppe zugeordnet werden können, wird die große Bedeutung von Eigennamen für den sprachlich dominierten Identifikationsprozess des Individuums herausgestellt. „Warum habt ihr mich bloß Benjamin genannt?“, fragt einer der Onkel des Erzählers seine Eltern. „Ewig muss ich der jüngste sein.[16] Warum nicht Hans? Lukas? Absalom? Mein Name, mein Gefängnis.“[17] Der letzte Ausspruch bringt nicht nur den hier wörtlich verstandenen Einfluss des Namens auf die Identität des Trägers zum Ausdruck. Der Verweis auf die Position des Jüngsten schlägt auch eine direkte Brücke zum Erzähler, welcher, der nächstjüngeren Generation zugehörig, darunter leidet, durch diesen Altersunterschied den Zugang zu Sprache und Herkunft zu einem gewissen Teil verloren zu haben. Denn der Verlust der slowenischen Wurzeln begünstigt in keinem Fall, wie sich im Laufe des Werks herausstellt, eine solidere, da nur einer Nationalität und Sprache zugehörige, Identität – im Gegenteil, dieser linguistischen wie kulturellen Wurzeln beraubt, fühlt sich der Ich-Erzähler und Protagonist halt- und heimatlos.[18] Diese (verlorene) Heimat wird im Text meist zweisprachig erwähnt:
Doch das hier ist unsere Gegend. Es ist das Jaunfeld, im Land Kärnten, slowenisch Koroška […] Und da hinten irgendwo mußt [sic] oder kannst du dir unsere Saualpe oder die Svinjska planina vorstellen, die, obwohl sie ja nach außenhin daliegt wie eine Riesen-Sau, in Wirklichkeit nach dem Blei, in unserer Haussprache svinec, heißt, dem Blei oder svinec innen im Berg […].[19]
Die Heimat lässt sich in immer kleinere geographische Einheiten auffächern: von Kärnten/Koroška, dem Bundesland, über die Saualpe oder Svinjska planina[20], bis hin zum Jaunfeld. Die Betrachtung der Heimatregion folgt dabei einer kameraähnlichen Bewegung: Je näher an die Region herangezoomt wird, desto stärker wird auch das Heimatgefühl. Die starke Bindung der Familie zur Heimat kommt dabei über das Slowenische zum Ausdruck, denn das Wort „svinec“ gibt nicht nur dem Alpenzug seinen slowenischen Namen, sondern ist gleichzeitig der Nachname der Stammfamilie.
Auch in Sonnenschein wird die Symbolkraft der Namen explizit herausgestellt. „Vor seinem Namen kann man nicht davonrennen. Hinter jedem Namen versteckt sich eine Geschichte“[21], erklärt die Erzählerin von Sonnenschein relativ zu Beginn des Romans. In der Tat holt der jüdische Nachname ,Tedeschi‘ die Familie immer wieder ein. Die Vornamen der vier Kinder wiederum spiegeln die rastlose Geschichte einer sich ständig auf der Flucht befindlichen Familie wider: Während Haya, der Name der ältesten Tochter und Protagonistin des Romans, hebräischen Ursprungs ist, trägt der jüngste, in Neapel geborene Sohn Oreste einen eindeutig italienischen Namen. Schon die Namenswahl verweist somit auf die chamäleonartigen Anpassungsversuche dieser jüdischen Familie. Am eindrücklichsten jedoch zeigt sich die Zerrissenheit der Familie und insbesondere der Protagonistin am sich wandelnden Namen ihrer Geburtsstadt. „Ihr Großvater ist in Görz geboren. Ihre Mutter [Ada] ist in Görz geboren. Sie selbst ist in Gorizia/Gorica geboren“[22], beginnt die Erzählerin die Lebensgeschichte der Haya Tedeschi. Wenige Zeilen weiter ergänzt sie:
Ihr Großvater, ihre Großmutter [Marisa] und Mutter [Ada] sind als Untertanen der Habsburger Monarchie geboren […]. Sie kommt in Italien zur Welt. In der Familie sprechen sie Deutsch, Italienisch und Slowenisch, hauptsächlich Italienisch. Oma Marisa war ebenso wie Urgroßmutter Maria Slowenin […]. Heute ist die ganze Familie vermischt, unentwirrbar.[23]
Obwohl alle hier genannten Familienmitglieder aus derselben (oder sollte man sagen der gleichen?) Stadt stammen, gehören sie verschiedenen Nationalitäten an, und der wechselnde Sprachgebrauch deutet auch auf unterschiedliche kulturelle und nationale Zugehörigkeitsgefühle und Selbstwahrnehmungen hin.[24] Der je nach Sprache der Machthaber wechselnde Name für den geographischen Anker der Familie reflektiert in diesem Sinne deren gespaltene Identität.
Im Gegensatz zu den Protagonist:innen von Immer noch Sturm und Sonnenschein tragen die Hauptfiguren von Eva dorme explizit ethno-linguistisch konnotierte Namen, die auf den ersten Blick fast stereotyp wirken, in Wirklichkeit jedoch lediglich die Gespaltenheit der italienischen Nation, bzw. die deutsche Vergangenheit Südtirols zum Ausdruck bringen. So tragen die in Südtirol stationierten Carabinieri aus dem italienischen Süden Namen wie Vito Anania oder Giorgio Almirante, während wir unter der autochthonen Bevölkerung vorrangig Namen wie Hermann Huber und Joseph Schwingshackl finden, die besonders in ihren abgekürzten Formen wie Sepp oder Wastl einer deutsch geprägten Regionalidentität zugeschrieben werden können. Ortsnamen hingegen spielen in Eva dorme eine überraschend geringe Rolle: Bisweilen spiegelt sich in Verkehrsschildern wie „Südtirol/Alto Adige“ oder politischen Slogans wie „Los von Trient! – Via da Trento“[25] die Mehrsprachigkeit der Region. Während der Text von deutschen Begriffen für traditionelle, regionale Kulturgüter durchzogen ist, bleibt die Erzählerin bewusst verhalten, was die Benennung von Ortsnamen betrifft. Von einigen urbanen Zentren abgesehen, spielt die Handlung sich in einem unbenannten, geographisch nur vage verorteten, ländlich-alpinen Kontext ab. Das Fehlen präziser Ortsnamen verleiht der Erzählung in diesem Sinne eine gewisse Allgemeingültigkeit: Sie erzählt weniger die Geschichte eines bestimmten Dorfes als vielmehr der Südtiroler Alpenbevölkerung an sich.
Mehrsprachigkeit als Spiegel kultureller und persönlicher Zerrissenheit
Neben der Namensgebung findet man in allen drei Texten Spuren der Zweitsprache, die dazu beitragen, eine Sprachpoetik herauszuarbeiten, in welcher sich die Dichotomie des Selbst spiegelt, da es immer darum geht, einzelne regionalsprachliche Begriffe von der dominanten Nationalsprache abzuheben oder mit dieser in direkten Vergleich zu stellen.[26] So unterstreichen die Autor:innen den Konflikt zwischen einer aufgezwungenen Nationalsprache und einer als Herzens- oder Heimatsprache empfundenen Muttersprache. Dabei können sich die Protagonist:innen nicht selbstverständlich mit der Muttersprache identifizieren, sondern sind von diesem, immer auch politisierten[27] Sprachkonflikt innerlich zerrissen. Hierbei zeigt sich die besondere Bedeutung des Alpenraums als Transit- und Migrationsraum, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zudem von wiederholten Grenzverschiebungen geprägt ist. Genau diese stetigen Veränderungen sind nämlich für die gespaltene Sprachidentität der Protagonist:innen verantwortlich.
In Immer noch Sturm ist dieser Konflikt von einer starken ideologischen Dimension geprägt: Im nationalsozialistisch besetzten Kärnten verfolgen die Nazis eine kompromisslose Sprachpolitik, die ein generelles Verbot des Slowenischen zur Folge hat.[28] Neben der Eindeutschung des österreichischen Dialekts, auf den ich noch zurückkommen werde, verfolgen sie eine Linie der radikalen Umbenennung, die selbst vor den Eigennamen der Menschen nicht Halt macht: „Gregor Svinec“, stellt sich der Onkel des Erzählers vor, „oder Gregor Bleier – wie unser Name, wie du weißt, oder nicht weißt, dann zwangseingedeutscht wurde.“[29] Doch so einfach lassen sich die Familienmitglieder dies nicht gefallen. Die Mutter des Ich-Erzählers imitiert die patriotische Einstellung ihres Bruders Gregor, indem sie ihre widerständige Treue zur Muttersprache erklärt:
„Nas ne bodo odvadili slovenščine. Sie werden uns die slowenische Sprache nicht abgewöhnen. Weit mehr als früher werden wir nun unsere Muttersprache ehren. Was uns die Mutter gegeben hat, wird uns niemand entreißen. Was wir sind, das sind wir, und niemand kann uns vorschreiben: Du bist ein Deutscher. Kar smo, to smo, nihče nem ne more predpisati: ti si Nemec.”[30]
Laut ihrer zweisprachig vorgebrachten Definition bestimmt die durch die Muttermilch aufgesogene Wiegensprache die Identität der Familie weit mehr als die von äußeren Autoritäten erzwungenen Grenzverschiebungen. Denn Sprache gibt offensichtlich Halt, definiert, wie man denkt und fühlt. In Immer noch Sturm hat sie einen geradezu organischen Charakter. Für diese Sprache schließt sich Gregor den Partisanen an, um nach Kriegsende frei zu sein, „frei vor allem, um unsere Sprache zu sprechen“[31], eine Sprache, die tief mit der Region verbunden scheint:
Und auch im Krieg, sooft ich jenseits der Karawanken[32] war, konnte ich es nicht erwarten, heimzukommen, hierher zur Svinjska planina, an unsere Sprachgrenze. Heimweh, ewigliches, domotožje, od vekomaj do vekomaj. Heimweh nach dem schönen Kärnten, nach der lepa Koroška, weiblich in unserer Sprache…[33]
Während der Einmarsch der Deutschen den Heimatboden nicht neu definieren kann, scheint die dort gesprochene Sprache die Region abzustecken und zu formen. Diese Sprache ist nicht einfach Slowenisch, es ist, so ihre Sprecher:innen, ein ihnen eigener Dialekt, eine „Sprache, die nirgendwo sonst gesprochen wird, [ein] Tonfall, der oft etwas ganz anderes sagt als die Wörter, und an dem [die Sprecher] einander erkennen“[34] – kurz, ein Kärntner Slowenisch, oder vielleicht sogar das Slowenisch der Svinjska planina, der Saualpe.
Doch eben diese Sprache, die Gregor und sein Vater verehren, wird für andere Familienmitglieder zum Gefängnis.[35] „Verdammt soll sie sein, diese Sprache“[36], entrüstet sich Valentin, denn die Liebe zur „Haus- und Sippensprache“[37] sei zum Zwang geworden, zur Obsession. Im Gegensatz zu Gregor und Ursula kämpft er bereitwillig auf der deutschen Seite, nicht weil er sich mit deren Ideologie identifizieren kann, sondern weil er nur jenseits der Heimat und der Muttersprache die Freiheit findet, nach der er sich sehnt: „Und meine Entscheidung heißt: Westen. Westwelt. Heraus aus der Eingeschlossenheit in die Berge und in die verstockte berglerische Sprache. Ins Offene. Weltbürger werden.“[38] Auf der Suche nach Freiheit, dem Streben nach Befreiung von der Begrenztheit der Bergwelt, zieht es Valentin „heim in den fremden Krieg“[39]. Doch auf welcher Seite dieser Krieg gefochten wird, im Dienst der Besetzer oder für die Partisanen, spaltet die Familie, genauso wie die Frage, welchen Wert sie ihrer Muttersprache zugestehen.
Aber ist die Haltung der Familie zur Muttersprache wirklich so radikal? Bei näherer Betrachtung stellt man fest, dass in ihren Gesprächen eine fast natürliche Vermischung der beiden Sprachen stattfindet.[40] Obwohl der Familienvater die slowenische Sprache propagiert, haben offenbar viele österreichische Alltagsbegriffe so weit in die Lebenswelt der slowenischstämmigen Familie Einzug gehalten, dass derselbe Vater diese gegen ihre vom neuen Besatzer aufoktroyierten deutschen Varianten verteidigt: „Wer ,Schrank‘ sagt statt ,Kasten‘, ,Jacke‘ statt ,Rock‘, und ,Káffe‘ statt ,Kaffee‘, der hat schon die Heimat verloren.“[41] Auf der anderen Seite wird implizit die von Valentin kritisierte Beschränktheit der Muttersprache auch von Ursula und Gregor bestätigt. „Ich habe bei der Osvobilna fronta einen neuen Namen“, erklärt Ursula, bzw. Snežena. Ihr Bruder antwortet darauf: „,O-svo-bo-dil-na fron-ta, was heißt das?‘ – Sie: ,Befreiungsfront‘.[42] Verstehst du denn deine eigene Sprache nicht mehr?‘ – Er: ,Doch. Aber nur, wenn sie ausdrückt, was man sehen, hören und riechen kann.‘“[43] Gregor ist ohnehin ein einfacher Mann, und abstraktes Denken liegt ihm fern. Seine Gedanken sind im Jaunfeld verankert, im Apfelanbau, in der slowenischen Muttersprache. Dennoch bringt dieser kurze Dialog ein Paradox hervor: Das Konzept der Befreiungsfront, der sich Gregor selbst bald anschließen wird, versteht er nur auf Deutsch, der Sprache seiner zukünftigen Gegner, gegen die er das Slowenische ein für alle Mal in ,seinem‘ Jaunfeld durchsetzen möchte. Erneut zeigt sich hier, wie sehr die Familie im Strudel der Zweisprachigkeit verworren ist.
Die innere Zerrissenheit des Ich-Erzählers hingegen resultiert nicht aus einem geographischen oder politischen, sondern aus einem diachronen Konflikt. Spielt man das auto-biographische Spiel bis zum Ende, weiß man, dass für den Erzähler Slowenisch nicht die Wiegen- und Muttersprache ist. Denn Peter Handke ist mit Deutsch aufgewachsen, Slowenisch hat er lediglich in der Schule gelernt und lange Jahre abgelehnt.[44] Der Text bringt dieses Ungleichgewicht deutlich zum Ausdruck: Er ist auf Deutsch verfasst, nur wenige Brocken des Erzähltexts sind auf Slowenisch. Im Gespräch mit den Familienmitgliedern müssen diese die slowenischen Sätze immer wieder für ihn übersetzen, z.B. als sie gemeinsam Auszüge aus Gregors Buch über Apfelanbau lesen. Mit „Alle (bis auf mich)“[45] leitet der Erzähler mehrmals die Übersetzung der slowenischen Sätze ein. Ganz offensichtlich führen die schlechten Kenntnisse der „Heim- und Sippensprache“ zumindest zum teilweisen Ausschluss aus der Familiengemeinschaft. Die Folge ist eine innere Heimatlosigkeit, die den Erzähler im Traum auf die Suche nach seinen Ursprüngen drängt.[46] Slowenisch wird zu einer Sprache, nach der er sehnsuchtsvoll die Hand austreckt, obwohl er diese nicht lückenlos beherrscht. Das Verhältnis der beiden Sprachen hat sich somit gewandelt, und der Konflikt der Zweisprachigkeit eine völlig neue Dimension angenommen.
Auch in Eva dorme ist der Sprachkonflikt maßgeblich durch die diskriminierende Politik der Faschisten bestimmt. Der Streit um die offizielle Sprache in Südtirol zieht sich durch die gesamte Erzählung (von 1919 bis 1992). Unter den italienischen Faschisten kann Deutsch nur noch heimlich in den sogenannten Katakombenschulen unterrichtet werden. Nach Hitlers Machtübernahme werden die Südtiroler dann vor eine skurrile Wahl gestellt: Die Dableiber stellen die geographische Heimat über die sprachliche Identität, während die Optanten für diese Sprachzugehörigkeit bereit sind, ihre Heimat anderorts wiederaufzubauen. Die Erzählerin kommentiert dies mit Ironie: „Chi amava l’Heimat era certo pronto ad abbandorla per ricostruirla altrove, tale e quale, in seno al Reich millenario. Restare, invece, era inequivocabile segno di tradimento.“[47] Doch nicht nur nach Ansicht der Nationalsozialisten bestimmt die Sprachzugehörigkeit auch maßgebend die eigene Identität. Es handelt sich vielmehr um eine Idee, die sich durch den ganzen Roman zieht. Und diese Zugehörigkeit, sie hat nach institutioneller Auffassung einheitlich zu sein. Man kann schließlich „nicht Knödel mit Spaghetti mischen“[48], weswegen 1981 auch die Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung eingeführt wird, die auf bürokratische Weise den Konflikt beilegen soll, auch wenn viele Südtiroler sich inzwischen ihren ganz persönlichen, zweisprachigen Ausweg gesucht haben. So ist Gerda Huber, Evas Mutter, der italienischen Kultur durchaus zugetan, hört italienische Schlager, da diese mehr dem Zeitgeist und ihrem Selbstbild einer modernen Frau entsprechen, während sie als ledige Mutter unter der von Konservatismus geprägten Südtiroler Mentalität leidet.[49]
Als Gerda ihren italienischen Liebhaber der Familie vorstellt, beeindruckt dieser durch eine Geste der Verständigung:
Quando Gerda lo presentò a Maria, Sepp et tutta la loro vasta famiglia, Vito entrando nella Stube disse:
„Griastenk!“
Era più di mezzo secolo che soldati, impiegati, funzionari e insegnanti si rivolgevano ai due anziani contadini in italiano, che pretendevano che rispondessero in italiano, che ridevano del loro pessimo italiano.[50]
Obwohl Vito als Carabinieri, als Vertreter der italienischen Staatsmacht also, das Vorrecht hätte, seine Muttersprache auch in der ihm fremden Gegend durchzusetzen, wählt er den Südtiroler Dialekt zur Begrüßung.[51] Dem Dialekt kommt damit eine besonders identitätsstiftende Rolle zu, die die Erzählerin nicht ohne Ironie thematisiert:[52] Als 1957 der Südtiroler Politiker Silvius Magnago[53] in Bozen spricht, kommen über dreißigtausend Südtiroler aus verschiedenen Gemeinden zusammen, „dai posti dove in dialetto si conta oasn, zwoa…, et da quelli dove invece si dice aans, zwa…“[54]. Die Erzählerin verdeutlicht so die kategorisierende, grenzziehende und definierende Dimension von Sprache. Gleichzeitig verweist die Trennung bestimmter Regionen nur auf Grundlage kleiner Ausspracheunterschiede auch auf die Absurdität des Konzepts der Sprachgruppenzugehörigkeit als alleiniges und exklusives Merkmal kultureller und ethnischer Identität. Dennoch zeigt sich die essentielle Wichtigkeit des Mutterdialekts in den vielen unübersetzbaren Begriffen, die den Roman bestücken. So der Begriff Heimat, den die Ich-Erzählerin jedoch nicht anbringt, um sich von Italien abzugrenzen, sondern vielmehr, um ihre verworrene Doppelidentität besser zu fassen:
Improvisamente, un sillogismo semplice:
l’Alto Adige è la mia Heimat-
l’Alto Adige è in Italia-
Ergo
l’Italia è il mio…
Come si dice Heimat in italiano? E una parola che con l’Italia non centra niente, sa troppo di pane al cumino, di Stube tiepida quando fa freddo, di Adventskalender. Neanche “patria” va bene, questa invece sa di monumenti in granito, di linee di confine tracciate da cancellieri distratti, di ragazzi mal equipaggiati spediti a morir da generali anziani. “Paese”? Ecco, si:
l’Italia è il mio Paese.[55]
Südtirol ist demnach Evas Heimat, Italien ihr Land, beide Sprachen, beide Kulturen sind ihr vertraut, und doch beschäftigt sie die konfliktgeladene Vergangenheit Südtirols, die auch ihre eigene Lebensgeschichte bestimmt hat, ganze 1397 km lang. Die im ganzen Text verteilten Avatare des Südtiroler Dialekts durchziehen alles Sprechen und Denken: Manchmal sind es abstrakte Ideen, öfter ganz konkrete kulturelle Artefakte, vermehrt kulinarischer Natur: „Knödel“, „Wiener Schnitzel“, „Linzertorte“, „Spitzbuben“[56], etc.
Die essentielle Bedeutung der Sprache für die kulinarische Identität einer Gruppe zeigt sich auch in Sonnenschein, wo im italienischen Gorizia zum Beispiel nach wie vor „Kaiserfleisch“[57] serviert wird. Die Frage nach der Muttersprache scheint in Sonnenschein jedoch wesentlich komplexer. Im kaiserlich-habsburgischen Görz geboren, stöhnt Adas Mutter, Marisa Baar, 1918 ihre letzten Worte auf Slowenisch: „otroci moji, otroci moji“[58]; ihr jüngster Sohn hingegen äußert seine Verunsicherung ob der Ereignisse des Ersten Weltkriegs, der Vater und Kinder ohne die Mutter zur Flucht zwingt, auf Deutsch.[59] Seine Frage „Wo ist Mama?“ klingt wie das Echo der klagenden, slowenischen Rufe der Mutter nach ihren Kindern. „Wann werden die Deutschen kommen?“[60], fragt er auf der Flucht durch Italien, ganz so, als wolle er sich mit den deutschen Soldaten solidarisieren, um sich vom italienischen Fluchtort abzugrenzen.[61] Niemand weiß eine Antwort, doch ein alter Mann verlängert diesen kurzen Moment, in dem die gemeinsame Sprache eine Nähe erlaubt, die rein emotional ist und sich der geographischen Distanz zwischen Heimat- und Fluchtort trotzig entgegenstellt: „Dies ist mein Haus. Wenn ich weggehe, werde ich alles verlieren. Aber bleiben kann ich nicht…“[62] Genau wie diesen alten Mann lassen die zwei Weltkriege und besonders die stetigen Verschiebungen der sprachlichen und kulturellen Zugehörigkeit Haya Tedeschis Familie orientierungslos zurück. Eine Landesgrenze teilt das italienische Gorizia, in dem sich Haya nach Kriegsende wieder niederlässt, vom slowenischen Nova Gorica. Ob Haya deswegen nun Italienerin ist, oder doch mehr Österreicherin oder Slowenin, scheint für ihre Geschichte fast unbedeutend, zu oft haben die nationalen Zugehörigkeiten gewechselt, zu viel hat es sie auf ihrem Lebensweg von einer Nation in die andere verschlagen. Dass die willkürlich gezogenen Grenzen dennoch ihren Preis fordern, macht die Erzählerin eindeutig klar:
Die Geschichte […] ersinnt heimlich immer neue Grenzwelten. Und die Grenze ist, wie jede lange und tiefe Wunde, selbst wenn sie verheilt und sich nicht in einen eitrigen Herd verwandelt, eine einzige Narbe aus wucherndem Fleisch, die die Toten von den Lebenden trennt.[63]
Die Grenze, von der die Erzählerin spricht, ist nicht nur geographischer Natur, sie trennt nicht nur Slowenien von Italien und Österreich, sie trennt auch die Lebenden von den Toten, die Schrecken der Vergangenheit von der schattenhaften Existenz, die die Protagonistin in der Gegenwart führt: Die Narben ziehen sich durch ihr gesamtes Dasein und entstellen ihr Leben, nun, da sie es rückblickend betrachtet. Ein Konflikt sticht dabei besonders hervor, gerade auch, wenn man die sprachliche Dimension berücksichtigt: Die Familie Tedeschi ist jüdisch, und doch schafft sie es durch Zurückhaltung und Opportunismus, den Zweiten Weltkrieg unbeschadet zu überstehen, während der Roman gleichzeitig das Leid thematisiert, das Millionen von Juden – auch aus Gorizia – erfahren mussten, unter anderem durch die grausamen Taten von Kurt Franz, Hayas Liebhaber und Vater ihres Sohnes. Die Ambiguität, die dem Namen Tedeschi innewohnt, wird im Roman eindrücklich hervorgehoben und geradezu symbolisch aufgeladen. 1943 bemüht Ada sich im deutsch besetzten Albanien um die Freilassung eines festgesetzten Bekannten und versucht dabei mittels ihres Nachnamens eine Brücke zwischen sich und ihrem deutschen Gegenüber zu schlagen: „Slušajte, kaže Ada, Sandro je čestit čovjek, to vam kažem ja koja se prezivam Tedeschi […]. Tedesco na taljinaskom znači Nijemac“[64], erklärt Ada, als würde die ihrem Nachnamen ähnliche italienische Übersetzung für „deutsch“ ihre arische Rassenzugehörigkeit und damit auch ihre Glaubwürdigkeit begründen. Der SS-Offizier zeigt sich unberührt und antwortet nur „Ja, Tedeschi […] ein jüdischer Name“[65]. Die Stigmatisierung des Namens als jüdisch kehrt an zwei Stellen wieder, jedes Mal auf Deutsch. Auf unangenehme Weise scheint die jüdische Herkunft der Familie mit der deutschen Sprache verbunden: Wie ein drückender Stein im Schuh lässt sie die Familie nicht mehr los, flüstert auf der Ebene der Narration die Frage, die das ganze Buch durchzieht – die Frage nach der Schuld der Familie Tedeschi, einer jüdischen Familie, einer deutschen Familie? Zu Teilen zumindest einer deutschsprachigen Familie, deren Wandelbarkeit so groß scheint, dass sie sie letztendlich zerreißt – ganz so wie Haya und ihr von den Nazis entführter Sohn auseinandergerissen wurden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass alle drei Werke sich weit über die Poetik der Namensgebung hinaus durch eine gewisse Zweisprachigkeit auszeichnen. Hierbei ist bemerkenswert, dass den jeweiligen Sprachen nicht die gleiche Bedeutung zugestanden wird. Quantitativ gibt es ein entscheidendes Gefälle zwischen einer dominanten Erzählsprache, in die Fragmente der jeweils anderen Sprache eingewebt sind: Slowenisch in Immer noch Sturm, Deutsch in Sonnenschein und Eva dorme. Betrachtet man jedoch die qualitative Dimension der in der Zweitsprache verfassten Sätze bzw. deren strategischen Gebrauch im Gesamttext, stellt sich heraus, dass der Zweitsprache (egal, ob Muttersprache oder nicht) eine besonders intensive Bedeutung für die Inszenierung der binären Identität zukommt. Die Sprache wird zum ‚Ausdruck der Seele‘, zur Familien- und Heimatsprache, oder zum Ausdrucksmittel der innigsten Gefühle. Das Schwanken zwischen zwei Sprachen zeugt so auch immer von einer inneren Zerrissenheit und begründet diese gleichzeitig.
Das Buch als Artefakt regional bedingter Doppelidentitäten
Sprache ist jedoch niemals rein subjektiv, und auch die in den behandelten Werken auftretenden Phänomene der Mehrsprachigkeit sind keine rein persönliche Angelegenheit. In allen drei Texten ist die Zweisprachigkeit das Schicksal einer ganzen Familie, das sie gleichermaßen eint und entzweit. Doch auch über die familiäre Sphäre hinaus, so suggerieren es die drei Autor:innen, zeugen die sozio-kulturellen Sprachkonflikte von der Gespaltenheit einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Dass das Motiv der Doppelidentität somit als eine strukturelle Problematik wahrgenommen wird, zeigt sich in den drei Werken dadurch, dass unabhängig von der binnenfiktionalen Handlung danach gestrebt wird, dem Buch als kulturellem Artefakt eine sichtbare zweisprachige Struktur zu verleihen. Auch ohne in die Lektüre einzutauchen, vermittelt bereits das Objekt ‚Buch‘, dass es sich in einer linguistischen Grenzzone ansiedelt. Der Einsatz der Zweitsprache geschieht in diesem Sinne sehr bewusst und wird durch verschiedene Strategien markiert.
Alle drei Autor:innen finden Wege, die Präsenz der Zweitsprache schon beim bloßen Überfliegen der Seiten ins Auge stechen zu lassen. Peter Handke setzt vorrangig auf den visuellen Wiedererkennungswert der slowenischen Akzente im deutschen Text. Sätze wie „Koža gladka, zelena, pozneje rumena na sončni strani živordeče barvana“[66] stechen so direkt ins Auge, aber auch einzelne Wörter wie „oče“, „slovenščine“, „róža“ oder „srečno“[67] heben sich gut sichtbar vom deutschen Text ab und durchwirken diesen so mit einem slowenischen Substrat, das schon auf den, im wahrsten Sinne des Wortes, ersten Blick erkennbar ist. Auf der textuellen Ebene kann man ferner ein subtiles Spiel mit der Schreibweise deutscher Wörter feststellen: „die Feindeserde sei ihm leicht… láiht… láiht… láiht“[68], erklingt es beispielsweise aus den Mündern der Familie. Das Adjektiv ‚leicht‘ wird hier nicht ins Slowenische übersetzt, in der echoähnlichen Wiederholung wird das Wort lediglich nach slowenischen Regeln transkribiert. In einem einzigen Wort werden so Elemente des Deutschen und des Slowenischen vereint. Dieses Verschwimmen der beiden Sprachen wird jedoch im gesprochenen Dialog weniger offenbar als im gedruckten Text.
In Eva dorme und Sonnenschein werden die Zweitsprachen maßgeblich durch die Kursivierung der deutschen (und in Sonnenschein auch der italienischen) Wörter und Sätze hervorgehoben. Regelmäßig stechen aus Melandris italienischem Text Sätze wie „Des madl will i net weggian lossn“[69] oder „Gerda gibs lai oane“[70] hervor. Schon beim Durchblättern fällt somit auf, dass der Südtiroler Dialekt nicht nur in der binnenfiktionalen Handlung gesprochen wird, sondern auch auf der Textebene reproduziert wird.
Daša Drndić setzt die Kursivierung auf besonders subtile Weise ein. Die in den Text eingespeisten Zeitzeugenberichte, die die Erzählung der Geschichte der Familie Tedeschi unterbrechen, sind meist kursiv gedruckt. Im Fall der Erzählung von Elvira Weiner, einer Schweizerin, die von den Judentransporten durch den Gotthardtunnel berichtet, bringt dies erneut den deutschen Namen mit der Frage nach der Täterschaft in Bezug: Elvira Weiner beschreibt, wie Schweizer:innen jüdische Deportierte mit Suppe und Decken versorgen, während die Schweiz sich gleichzeitig durch die Durchfuhrerlaubnis der Transporte zur Mitschuldigen macht. Weiners Name, nicht kursiviert, ragt dabei prominent aus dem kursiv gedruckten Text hervor, jedes Mal, wenn die Autorin ohne augenscheinlichen Grund die Erzählung durch ein „priča [erzählt] Elvira Weiner“[71] unterbricht. Elvira Weiner, eine Schweizerin mit deutschem Namen, berichtet von der fragwürdigen Position der Schweiz im Zweiten Weltkrieg: Ihr Name symbolisiert auf typographischer Ebene die Verantwortung der Schweizer an den Verbrechen gegenüber der jüdischen Bevölkerung. So wird die Leser:in schon beim Überfliegen des Textes auf eine deutsche Präsenz in Zusammenhang mit der NS-Vergangenheit aufmerksam gemacht, die sich jedoch bei eingehender Lektüre als kein rein deutsches Problem entpuppt und zudem an die Zerrissenheit der Protagonistin anknüpft.
Die Kommunikation mit der Rezipient:in
Einen Text in mehreren Sprachen zu verfassen, bringt zwangsweise die Frage nach der Verständlichkeit und der Wahl, beziehungsweise Konstituierung einer Modell-Leserschaft mit sich. Während ein einsprachiges Werk sich selbstredend an eine der entsprechenden Sprache mächtige Leserschaft richtet, scheinen sich die drei Autor:innen der hier behandelten Werke darüber bewusst, dass die im Text auftauchenden Zweitsprachen den Lesenden nur bedingt zugänglich sind. Auf den ersten Blick wirkt es, als erwarten sie von ihren Leser:innen zwar ein gewisses Interesse an der zweiten Sprache – so wird die kroatische Leser:in den deutschen Titel von Daša Drndićs Roman im Lexikon nachschlagen müssen –, während Francesca Melandri die Bereitschaft erwartet, einen Roman mit regelmäßigen Fußnoten zu lesen, ohne dabei jedoch Vorkenntnisse zu implizieren oder sich gar an ein zweisprachiges Publikum zu richten. Um der Leserschaft die in der Zweitsprache verfassten Fragmente zugänglich zu machen, bedienen sich die drei Autor:innen unterschiedlicher Methoden.
Peter Handke entwickelt den Wechsel zwischen Deutsch und Slowenisch zu einer eigenen Poetik, die zum Eintauchen in die Zweisprachigkeit einlädt, jedoch in ihrer ganzen Subtilität einer rein deutschsprachigen Leserschaft verschlossen bleibt.[72] Gerade die Meta-Überlegungen zum Thema Sprache und ihrer Bedeutung für das Selbst basieren auf dem sich ergänzenden Gebrauch des Deutschen und Slowenischen.[73] Hierbei pflegt Handke eine chiasmatische Ästhetik, d.h. er übersetzt bestimmte Satzsegmente, behält es sich jedoch vor, diese neu anzuordnen. So zum Beispiel in der Begrüßungsformel „Guten Tag, Großmutter, stara mati, dober dan“[74]: Die Übersetzung enthält zwar alle Bausteine der ursprünglichen Aussage, gibt diese jedoch in umgekehrter Reihenfolge wieder – ein Detail, welches nur von zumindest in begrenztem Maß zweisprachigen Leser:innen sofort bemerkt wird. Durch dieses wiederholt eingesetzte Verfahren entwickelt sich im Text ein fast schon rhythmischer Wechsel der beiden die Identität des Sprechers prägenden Sprachen. Ein besonders prägnantes Beispiel ist die erste Erwähnung der Heimatregion der Familie: „Es ist das Jaunfeld, im Land Kärnten, slowenisch Koroška, lepa Koroška, schönes Kärnten.“[75] Durch den stetigen, fast schon organischen Sprachwechsel gewinnt die Region an Plastizität, während der Erzähler gleichzeitig eine Art Melodie der Mehrsprachigkeit komponiert. Diese schließt die Leser:in, ungeachtet ihrer Sprachkenntnisse, auf besonders behutsame Weise in das Klima der Zweisprachigkeit ein, das die Stimmung innerhalb der Familie und die Zerrissenheit der einzelnen Familienangehörigen, insbesondere des Ich-Erzählers, definiert. Dennoch bleiben der ausschließlich deutschsprachigen Leser:in bestimmte Nuancen verschlossen. Beispielsweise als die Mutter des Erzählers einen Frontbrief des Bruders Valentin vorliest: „Aber ich weiß eh, dass Ihr Euch keine Sorgen um mich macht […] Eine Sorge, in unserer Stallsprache ein hart in den Ohren klingendes Wort: skrb, otrok ga skrbi, er sorgt sich ums Kind.“[76] Auch hier finden wir eine chiasmatisch strukturierte Symmetrie, die sich jedoch von der eingespielten Übersetzungspraxis entfernt, da sie sich auf semantischer Ebene vollzieht. Denn „oktrok ga skrbi“ bedeutet übersetzt „das Kind sorgt sich um ihn“. In wieder anderen Beispielen kann man von der Leser:in erwarten, dass sie die Verständnislücke durch den Kontext zu schließen vermag. In einem Feldbrief von Gregor liest man: „Tages- und Nachtmärsche von fünfzig Kilometern: nema problema, umgerechnet in Werst sind es entschieden weniger.“[77] Dass „nema problema“ kein Problem bedeutet, lässt sich relativ leicht erschließen, ebenso wie die Tatsache, dass Werst eine slawische Maßeinheit ist. Gleichzeitig greift der Autor hier mit Ironie die Idee auf, nach der Sprache unsere Realität formt.[78] Ein wiederkehrendes Dilemma scheint in diesem Zusammenhang die Übersetzung des deutschen Heimatbegriffs. Gregor bezeichnet die durch den Horizont begrenzte Lebenswelt als „unsere Heimstätte“ und übersetzt diese mit „naša hiša, naša domovina“[79] – also „unser Haus, unsere Heimat“, einer Doppelübersetzung, die dem deutschen Begriff nicht vollends gerecht wird, in der Kombination mit diesem den Heimatbegriff aber noch vertieft bzw. ausweitet. Zusammenfassend kann man sagen, dass nur die zweisprachige Leser:in alle Nuancen von Handkes poetischem Verweben der beiden Sprachen erfasst. Nur der zweisprachigen Leser:in fällt auch ein kleiner Übersetzungsfehler auf: Der „devet in dvajesetega februara“ wird von den Familienangehörigen nicht mit dem neunundzwanzigsten, sondern mit dem „siebenundzwanzigsten Februar“[80] übersetzt. Ein weiterer, ebenso subtiler wie rührender Verweis darauf, dass die Erzählerfigur, die in vielerlei Hinsicht dem biographischen Autor ähnelt, den Zugang zur „Haus- und Sippensprache“ der Familie mehr und mehr verliert?
Francesca Melandri hingegen wählt, wie bereits erwähnt, oft die recht erudierte Variante der Fußnoten: Auf Deutsch oder im Südtiroler Dialekt verfasste Begriffe und Sätze versieht sie mit Fußnoten, die die italienische Übersetzung oder Paraphrasierung enthalten. So übersetzt sie Mohnstrudl mit „Strudel di semi di papavero“[81], Schweinerei mit „Porcilaia. Macello“[82] und den Ausruf „Vofluicht no amol“ mit „Maledizione“[83]. Das Dirndl beschreibt sie als “Abito tradizionale femminile“[84], und für die Stube gibt sie gar die etymologische Entwicklung wieder: „Stufa. Il termine indica per estensione la stanza rivestita di legno cuore delle case tradizionali tirolesi, con al centro la stufa a legna.”[85] Nicht ausschließlich jedoch greift Melandri auf diese Übersetzungstechnik zurück. Mitunter, wenn auch seltener, übersetzt sie deutsche oder Südtiroler Fragmente im Fließtext selbst, ganz so, als läge ihr in diesen Momenten an der Vermittlung einer zweisprachigen Ausdrucksform, die beide Sprachen auf dasselbe Niveau stellt. So zum Beispiel anlässlich der Beerdigung eines Südtiroler Freiheitskämpfers. Die am Blumenkranz angebrachte Aufschrift integriert die Erzählerin in beiden Sprachen in den Text: „Niente scariche di fucile, quindi, solo una corona di fiori con il cartiglio a caratteri gotici: Im Schoß der Heimaterde, nel grembo del patrio suolo.“[86] Was bei Melandri ins Auge sticht, ist das Bemühen, bei der Rezipient:in im Laufe der Lektüre ein erweitertes Verständnis für spezifische Südtiroler Begriffe und die damit verbundene Lebenswelt zu schaffen und sie so in das zweisprachige Universum einzuführen.[87] Sie erwartet dabei, dass Wörter, die sie einmal per Fußnote übersetzt oder erklärt hat, in den Wortschatz der Lesenden übernommen werden – sie sind insbesondere nicht in einem Glossar nachzuschlagen. Begriffe wie Knecht, Katakombenschulen oder Stube werden so wie selbstverständlich in das italienische Narrativ integriert. In ihrem Text „la scrittura assume un ruolo di comunicazione biculturale“[88]: zwischen Südtirolern und Italienern, zwischen deutschsprachigen Südtirolern und italienischsprachigen Altoatesini, zwischen Südtiroler Dialekt und Italienisch.
Obgleich in Sonnenschein die dokumentarische Dimension eine nochmals größere Rolle spielt als in Eva dorme, pflegt Daša Drndič einen freieren Umgang mit den deutschen Begriffen und Sätzen, der zu einer Verdichtung der Botschaft über das reine Signifikat hinausführt. In der Tat bietet die Autorin ihrer Leserschaft nur äußerst selten eine explizite Übersetzung deutscher Textstellen an. In diesen Fällen stellt sie, anders als Melandri, die kroatische Variante voran und liefert die deutsche Übersetzung, gewissermaßen als Ergänzung für besonders wissbegierige Leser:innen, hinten nach. So spricht sie von „dva lutkara – dva Tockenmachera“[89], ein veralteter Ausdruck für Puppenmacher, der durch das grammatikalische Angleichen enger mit dem kroatischen Text zusammenwächst. Viel häufiger jedoch müssen die deutschen Begriffe für sich stehen. Dies gilt vorrangig für das NS-Vokabular (z.B. Sturmführer, Scharführer, Einsatzkommando Reinhard) aber auch für Werkstitel sowie deutsche Bezeichnungen, die durchaus übersetzbar wären, wie „Mädchenpensionat“ oder „Kinderheim“.[90] Besonders auffällig sind jedoch die fehlenden Übersetzungen ganzer Dialoge. So zum Beispiel Adas Unterhaltungen mit einem deutschen Soldaten:
Komandant njemačkih snaga u Gorizii, pukovnik Scharenberg, dočekuje Adu s osmijehom, zavlači ruku u košaricu prekrivenu salvetom kao da se sprema na zavođenje, trpa dva roščića u usta i žvačući kaže danke. Po brkovima mu plešu slatke pahuljice, nestašno, Ada na njih pokazuje prstom i kaže Staubzucker. Tako zvati put.[91]
Die ideologische Flexibilität der Familie, deren Verhalten sich vor allem durch ihren Opportunismus auszeichnet, wird hier durch die Bereitschaft, Deutsch zu sprechen, im Text besonders deutlich, da die Intimität der Unterhaltung nur einer zweisprachigen Leser:in zugänglich ist – der Text spiegelt so die privilegierte Situation der polyglotten Ada wider. Einigen der nicht übersetzten deutschen Sätze kommt darüber hinaus, wie weiter oben bereits angeführt, eine besonders tiefgreifende Bedeutung für die Konstituierung des Selbst zu. Marisa Baar, Adas Mutter, ist vor ihrem Tod der Sprachbarriere hilflos ausgeliefert. Als sie von ihrer Familie im deutsch besetzten Laibach in einem Hospiz zurückgelassen wird, fragt sie wiederholt auf Slowenisch nach ihren Kindern. Die Antwort der deutschen Schwestern – „Hier spricht man Deutsch“[92] – schlägt der Sterbenden, wie auch der nicht-deutschsprachigen Leser:in mit unverständlicher Härte entgegen. Wiederholt werden Sätze, die das Individuum besonders prägen, sei es wie hier durch den Ausdruck innerster Herzensangelegenheiten oder durch die Brandmarkung des äußeren Blicks (wie z.B. der dreimal wiederholte Satz „Tedeschi, ein jüdischer Name“), ausschließlich auf Deutsch formuliert und bleiben einer relativ großen Gruppe der Lesenden verschlossen. Einerseits kann man argumentieren, dass die Autorin sich offenbar bewusst an eine mehrsprachige Leserschaft richtet. Darüber hinaus regt sie aber auch insbesondere Leser:innen, die nicht alle im Buch vertretenen Sprachen von vornherein verstehen, zum Nachdenken über das Dilemma der Zweisprachigkeit an: Sonnenschein führt eindringlich vor Augen, wie die Koexistenz verschiedener Sprachen als völlig natürlich wahrgenommen werden oder aber die Kommunikation gänzlich unmöglich machen kann.
Fazit
Abschließend lässt sich sagen, dass alle drei behandelten Werke die Zweisprachigkeit ihrer Protagonist:innen gezielt im Text sichtbar machen und einsetzen, um deren Doppelidentität zum Ausdruck zu bringen. Diese linguistisch fundierte Doppelidentität steht zugleich immer in engem Zusammenhang mit der Identität einer Familie oder gar einer ganzen ethnischen Gruppe, wie es in Immer noch Sturm und mehr noch in Eva dorme herausgestellt wird. Dennoch zeigen alle drei Texte, dass der Umgang mit der Zweisprachigkeit sehr subjektiv ist und so die Selbstwahrnehmung und die Konstituierung der eigenen Identität entscheidend mitbestimmt. Noch Jahrzehnte nach der Beilegung der politischen Konflikte in den Alpenregionen stellen die gebliebenen Narben Grenzen dar, die in der Frage der Sprachzugehörigkeit besonders spürbar sind. Denn obwohl Sprache die Identität von Einzelpersonen wie von Gruppen maßgeblich beeinflusst, ist der Spracherwerb und -erhalt einem zeitlichen Vektor unterworfen, Sprache damit ein besonders flüchtiges kulturelles Gut. Alle drei Werke, besonders jedoch Immer noch Sturm und Sonnenschein, zeigen, wie schnell der Bezug zu einer Sprache verloren gehen kann. Der Identitätskonflikt, der sich daraus ergibt, ist daher auch doppelt: Er zieht sich einerseits durch die Familien, bringt die Mitglieder gegeneinander auf, andererseits scheint er einzelne Personen innerlich zu zerreißen. Doch, und auch dies machen alle drei Autor:innen klar, die sprachliche Doppelidentität führt nicht ausschließlich zu Zerrissenheit, Halt- und Orientierungslosigkeit. Im Gegenteil liegt in der Zweisprachigkeit auch eine Chance, ein Potential der Verständigung und der Bereicherung des Selbst. Gerade diese Dimension tragen die Autor:innen nach außen, wenn sie Mehrsprachigkeit nicht nur zu einer binnenfiktionalen Problematik machen, sondern sie auch über das kulturelle Artefakt ‚Buch‘ an ihre Leserschaft weitergeben.
Fußnoten
[1] Vgl. Lughofer, Johann (Hg.). Das Erschreiben der Berge. Die Alpen in der deutschsprachigen Literatur. Innsbruck: Universität Innsbruck, 2014; Weigel, Sigrid. „Zum ,topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften“. In: KulturPoetik 2 (2002), S. 151-165.
[2] Vgl. Wille, Christian (Hg.). Räume und Identitäten in Grenzregionen: Politiken – Medien – Subjekte. Bielefeld: transcript, 2014.
[3] Zur Konstituierung von Identität durch Sprache und Sprechen vgl. Czeglédy, Anita. „Sein in der Sprache“. Poetische Identitätskonstruktionen im multikulturellen mitteleuropäischen Raum. Wien: Praesens Verlag, 2019, S. 25-26; Kresic, Marijana. Sprache, Sprechen und Identität. Studien zur sprachlich-medialen Konstruktion des Selbst. München: Iudicium, 2006, S. 185ff. Nach Kresic sind „Identitäten zu einem wesentlichen Teil sprachlich-medial hervorgebrachte Konstrukte“. Vgl. außerdem Millner, Alexandra; Teller, Katalin (Hg.). Transdifferenz u. Transkulturalität: Migration und Alterität in den Literaturen und Kulturen. Bielefeld: transcript, 2018, insb. S. 155-211.
[4] Vgl. Scholten, Dirk. Sprachverbreitungspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands. Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang, 2000, S. 22f.
[5] Wie entscheidend Sprache für die Identitätsbildung gerade in Grenzlandschaften ist, zeigen Dominic Watt und Carmen Llamas in ihrer Einführung zu Llamas, Carmen; Watt, Dominic (Hg.). Language, Borders and Identity. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2014.
[6] Zur Definition von Zwei- und Mehrsprachigkeit, vgl. Czernilofsky, Barbara. Regionale Sprachenpolitik in Europa. Südtirol und Languedoc-Roussillon: zwei Eckpunkte? Wien: Praesens Verlag, 2000, S. 16-17 und Riehl, Claudia Maria: Schreiben, Text und Mehrsprachigkeit. Zur Textproduktion in mehrsprachigen Gesellschaften am Beispiel der deutschsprachigen Minderheiten in Südtirol und Ostbelgien. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 2001, S. 49-58. Es soll an dieser Stelle darauf verwiesen werden, dass aus sprachgeschichtlicher oder -politischer Perspektive die Zweitsprache in der Regel die zusätzlich zur Muttersprache erlernte Sprache bezeichnet. Im Folgenden werde ich als Zweitsprache jedoch die Sprachen bezeichnen, die in den jeweiligen Werken sekundär verwendet werden, also Slowenisch bei Handke, Deutsch bei Melandri und Slowenisch, Italienisch und Deutsch bei Drndič.
[7] In allen drei Werken ist die Grenze zwischen Zwei- und Mehrsprachigkeit fließend. Zum einen, weil die offiziellen Nationalsprachen oft um regionale Idiome und Dialekte ergänzt werden. Zum anderen auch, weil mitunter weitere Sprachen eine Rolle spielen. Während man in Immer noch Sturm vor allem einen gewissen kosmopolitisch bedingten Polyglottismus beobachtet, ist die Handlung von Sonnenschein auf der linguistischen Kreuzung zwischen Slowenisch, Italienisch und Deutsch angesiedelt (während der Erzähltext auf Kroatisch verfasst ist).
[8] Vgl. Hannesschläger, Vanessa. „Immer noch Sturm. Entstehungskontext“. In: Handke online. Forschungsplattform Peter Handke, https://handkeonline.onb.ac.at/node/623 (eingesehen am 12. November 2020).
[9] Vgl. Höfer, Kristina. „Immer noch Sturm (Peter Handke)“. In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs „Europäische Traumkulturen“, 2016. http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Immer_noch_Sturm%22_(Peter_Handke) (eingesehen am 10. November 2020).
[10] Vgl. Amann, Klaus: „Ein Traum von Geschichte“. Zu einigen Voraussetzungen von Peter Handkes Immer noch Sturm. In: Estermann, Anna ; Höller, Hans (Hg.). Schreiben als Weltentdeckung. Neue Perspektiven der Handke-Forschung. Wien: Passagen, 2014, S. 17-46; Leskovec, Andrea. „Peter Handkes Immer noch Sturm oder zur Hintergehbarkeit der Festschreibung“. In: Zagreber Germanistische Beiträge 22 (2013), S. 31-51.
[11] Valentin Hellwig: Der Sonderfall. Kärntner Zeitgeschichte 1918-2004. Klagenfurt/Ljubljana/Wien: Hermagoras/Mohorjeva, 2005.
[12] Zur identitätsstiftenden Rolle der Muttersprache, vgl. Wetenkamp, Lena. Europa erzählt, verortet, erinnert. Europa-Diskurse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017, S. 323.
[13] Vgl. Czernilofsky. Regionale Sprachpolitik in Europa, S. 37-42; Manuela Zappe: Das ethnische Zusammenleben in Südtirol. Frankfurt a.M.: Peter Lang, 1995, S. 67-83.
[14] Vgl. Giergiel, Sabina. „The Saving Narratives of Daša Drndić”. In: Studia Judaica 21, 1/41 (2018), S. 97-116; Jambrešić Kirin, Renata. „Sur l’histoire, l’amour et la douleur dans les romans féminins croates”. In: Ethnologie française 43/2 (2013), S. 243-254.
[15] Vgl. Goebl, Hans. „Konflikte in pluriethnischen Staatswesen. Ausgewählte Fallstudien aus Österreich-Ungarn (1848-1918)“. In: Vogel, Friedemann; Luth, Janine; Ptashnyk, Stefaniya (Hg.). Linguistische Zugänge zu Konflikten in europäischen Sprachräumen. Korpus – Pragmatik – kontrovers. Heidelberg: Winter, 2016, S. 203-233, hier S. 211-214.
[16] Diese Bedeutung leitet sich aus dem biblischen Vorbild ab, da Benjamin der jüngste der zwölf Söhne Jakobs war (Gen. 35,18).
[17] Handke, Peter. Immer noch Sturm. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2010, S. 29.
[18] Vgl. Czeglédy, „Sein-in-der-Sprache“, S. 67. Czeglédy unterstreicht „die Identitätsprobleme und die Heimatslosigkeit des ,Kärntner slowenischen Dörflers, zugleich Deutschbastards‘, wie sich Peter Handke nennt“.
[19] Handke, Immer noch Sturm, S. 12.
[20] Die Svinjska planina oder Saualpe ist ein Gebirgszug der Zentralalpen, der in der Region Kärnten liegt.
[21] Drndić, Daša. Sonnenschein. Roman. Übers. Brigitte Döbert u. Blanka Stipetić. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2015, S. 67. Deutsche Kursivschreibung im Folgenden stets im Original. („ne možeš pobjeći od svog imena. Iza svakog imena krije se priča.“ Drndić, Daša. Sonnenschein. Dokumentarni Roman. Novi Sad: Akademska Knjiga, 2018 (2007), S. 67).
[22] Drndić, Sonnenschein. 2015, S. 11. („Djed joj se rodio u Görzu. Majka joj se rodila u Görzu. Ona se rodila u Gorizii/Gorici.” Drndić. Sonnenschein. 2018, S. 13).
[23] Drndić, Sonnenschein. 2015, S. 12. („Njeni djed, baka i majka rađaju se kao podanici Habsburške Monarhije […] Ona se rađa u Italiji. U obitelji govore njemački, talijanski i slovenski, najviše talijanski […] Danas su svi njeni preci posve pomiješani, nerazmrsivo.” Drndić, Sonnenschein. 2018, S. 13-14).
[24] Czeglédy verweist darauf, dass „das aktuelle ,Sprechen‘ als der Modus der Identitätskonstruktion aufgefasst“ werden kann, mehr noch als die Sprache an sich. Czeglédy, „Sein-in-der-Sprache“. S. 36.
[25] Melandri, Francesca. Eva dorme. Milano: Arnoldo Mondadori Editore S.p.A, 2010, S. 18 und 53.
[26] Zur Frage der zweisprachigen Literatur vgl. Leben, Andreas; Koron, Alenka. „Auf dem Weg zu literarischer Mehrsprachigkeit“. In: Dies. (Hg.). Literarische Mehrsprachigkeit im österreichischen und slowenischen Kontext. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2019, S. 11-29.
[27] Vgl. Kleinert: „Il problema identitario nell’Alto Adige: discorso politico e letteratura a confronto (Joseph Zoderer, Francesca Melandri)“. In: Cazalé, Claude (Hg.). Noires ambivalences: à la mémoire d’Alain Sarrabayrouse. Nanterre: Presses universitaires de Paris Ouest, 2012, S. 63-85, hier S. 63.
[28] Vgl. Knight, Robert: Slavs in Post-Nazi Austria. Carinthian Slovenes and the Politics of Assimilation. 1945-1960. London: Bloomsbury Press, 2010, 5-26.
[29] Handke, Immer noch Sturm, S. 23.
[30] Ebd., S. 51-52.
[31] Ebd., S. 125.
[32] Die Karawanken sind ein Gebirgsstock der Alpen, der seit 1919/20 die Grenze zwischen dem österreichischen Kärnten und dem slowenischen Gorenjska markiert.
[33] Handke, Immer noch Sturm, S. 126.
[34] Ebd., S. 52.
[35] Vgl. Abbott, Scott: „Storm still. Klartext und Poesie in Peter Handkes Immer noch Sturm“. In Handke online. Forschungsplattform Peter Handke, 2015, https://handkeonline.onb.ac.at/forschung/pdf/abbott-2015.pdf (eingesehen am 10. November 2020), S. 1.
[36] Handke, Immer noch Sturm, S. 14.
[37] Ebd.
[38] Ebd., S. 82.
[39] Ebd., S. 99.
[40] Aus theoretischer Perspektive stellt sich zudem die Frage nach der klaren Unterscheidung und Abgrenzung der Sprachen voneinander. Vgl. hierzu: Gramling, David. „Einsprachigkeit, Mehrsprachigkeit, Sprachigkeit“. In: Dembeck, Till; Parr, Rolf (Hg.). Literatur und Mehrsprachigkeit: Ein Handbuch. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2017, S. 35-44; Hannesschläger, Vanessa. „,Wahrheit des Klangs‘: Die vielen Sprachen und ihre Funktion(en) im dramatischen Werk Peter Handkes“. In: Leben/Koron, Literarische Mehrsprachigkeit, S. 141-157, hier S. 142-144.
[41] Handke, Immer noch Sturm, S. 23.
[42] Die Osvobodilna Fronta oder Befreiungsfront war von 1941-1945 die politische Widerstandsbewegung im slowenischen Teil Jugoslawiens, der sich auch Kärntner Slowen:innen anschlossen.
[43] Handke, Immer noch Sturm, S. 92.
[44] Vgl. Handke, Peter u. Hamm, Peter. Es leben die Illusionen. Gespräche in Chaville und anderswo. Göttingen: Wallstein, 2006, S. 121.
[45] Handke, Immer noch Sturm, S. 25.
[46] Zur Frage des Sprachverlusts und der Heimatlosigkeit in anderen Werken von P. Handke vgl.: Grabow-Ax, Dorit. Geschichte schreiben. Geschichtsvermittlung in fiktiven (Auto-) Biographien. Marburg: Tectum Verlag, 2007, S. 165; Czeglédy, Anita. „Heimkehr in das Schreiben. Peter Handkes Prosa zwischen der Heimkehr-Tetralogie und Mein Jahr in der Niemandsbucht“. In: Bombitz, Attila (Hg.). Brüchige Welten. Von Doderer bis Kehlmann. Szeged/Wien: Praesens/JATE Press, 2008, S. 117-129.
[47] Melandri, Eva dorme, S. 32. („Wer seine Heimat liebe, müsse bereit sein, sie zu verlassen, um sie anderswo im Tausendjährigen Reich identisch wieder aufzubauen. Zu bleiben aber sei ein untrügliches Zeichen von Verrat“ Melandri, Francesca. Eva schläft. Übers. Bruno Genzler. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 2018, S. 37).
[48] Melandri, Eva dorme, S. 262.
[49] Vgl. Kleinert, Susanne. “Il problema identitario nell’Alto Adige”, S. 81.
[50] Melandri, Eva dorme, S. 280. Kursivschreibung im Original. („Als Gerda ihn Maria, Sepp und der ganzen vielköpfigen Familie vorstellte, sagte Vito, der die Stube betrat: ‚Griastenk!‘ Seit mehr als einem halben Jahrhundert waren es die beiden alten Leute gewohnt, dass Soldaten, Beamte, Funktionäre oder Lehrer sie auf Italienisch ansprachen, dass man italienische Antworten von ihnen erwartete und dass man sich über ihr schlechtes Italienisch lustig machte.“ Melandri, Eva schläft, S. 350).
[51] Zum Verhältnis von dominanter und dominierter Sprache, bzw. Sprachgruppe, vgl. Czernilofsky, Regionale Sprachenpolitik in Europa, S. 17.
[52] Vgl. Kleinert, „Il problema identitario nell’Alto Adige“, S. 83.
[53] Silvius Magnago (1914-2010) war ein Südtiroler Politiker, der einer zweisprachigen Familie entstammte. Von 1960 bis 1989 war er Südtiroler Landeshauptmann und trug maßgeblich zur Erlangung des Autonomiestatuts bei.
[54] Melandri, Eva dorme, S. 52.
[55] Melandri, Eva dorme, S. 188. Kursivschreibungen im Original. („Plötzlich fällt mir ein einfacher Syllogismus ein: Südtirol ist meine Heimat. Südtirol gehört zu Italien – ergo Italien ist meine … Was heißt Heimat auf Italienisch? Heimat, ein Wort, das nicht zu Italien passt – zu viel hat es von Kümmelbrot und Adventskalender, von warmer Stube, wenn es draußen friert. Patria (Vaterland) jedenfalls trifft es nicht, das schmeckt zu stark nach granitenen Denkmälern, nach von kurzsichtigen Politikern gezogenen Grenzen, nach schlecht ausgerüsteten jungen Burschen, die von alten Generälen zum Sterben hinausgeschickt werden. Paese (Land), ja das ist es: Italien ist mein Land.“ Melandri, Eva schläft, S. 232-233).
[56] Melandri, Eva dorme, S. 59 u. 82.
[57] Drndić, Sonnenschein, 2018, S. 410. Diese kulinarische Tradition stammt aus der Zeit, als Gorizia, damals Görz, Teil der österreich-ungarischen Monarchie war.
[58] Ebd., S. 29 („Meine Kinder, meine Kinder“, Drndić, Sonnenschein, 2015, S. 28).
[59] 1916 gelingt der italienischen Armee die Eroberung von Görz, das in der zwölften Isonzoschlacht (24.10.1917-27.10.1917) von den österreich-ungarischen Truppen zurückgewonnen wird. Die militärischen Auseinandersetzungen zwingen hunderttausende Zivilisten wie die Familie von Ada Tedeschi zur Flucht. Ihre Mutter Marisa jedoch wird während des Beschusses der Stadt am 25. Oktober verletzt und in einem Krankenhaus in Laibach zurückgelassen, wo sie kurz darauf verstirbt.
[60] Drndić, Sonnenschein, 2018, S. 31.
[61] Die Flucht der Familie führt zunächst durch Norditalien, das ähnlich wie Görz, von österreichischen und deutschen Truppen umkämpft wird.
[62] Drndić, Sonnenschein, 2018, S. 31. Die Passage spielt auf der Flucht in Richtung Udine. Haus und Heimat des alten Mannes befinden sich somit in einer grenznahen Region, die im Laufe der Geschichte wiederholt unter österreichischer Vorherrschaft stand, was den Gebrauch des Deutschen durch den alten Mann erklärt.
[63] Drndić, Sonnenschein, 2015, S. 33. („Povijest […] smišljajući u potaji sve nove i nove granične svjetove. A pretvori u vrelo putridnog zadaha, sva je u ožiljku od divljega mesa što dijeli žive od mrtvih. Granica je ‚zemlja‘ duhova koji tule u potrazi za obličjem.“ Drndić, Sonnenschein, 2018, S. 33).
[64] Drndić, Sonnenschein, 2018, S. 66. („Hören Sie […] Sandro ist ein Ehrenmann, das sage ich Ihnen, und ich heiße Tedeschi […]. Tedesco bedeutet auf Italienisch Deutscher.“ Drndić, Sonnenschein, 2015, S. 67).
[65] Ebd.
[66] Handke, Immer noch Sturm, S. 24.
[67] Ebd., S. 11, 51, 56 u. 97.
[68] Ebd., S. 66.
[69] Melandri. Eva dorme. S. 55.
[70] Ebd. S. 144.
[71] Drndić. Sonnenschein. S. 129.
[72] Vgl. Abbott. Storm still. S. 5. Scott beobachtet eine „poetic form that connects, that includes“ und bezieht sich dabei explizit auf die Mehrsprachigkeit des Stücks.
[73] Zum Thema Sprachreflexion im Werk von P. Handke vgl. Czeglédy, „Sein-in-der-Sprache“, S. 61-67.
[74] Handke, Immer noch Sturm, S. 11.
[75] Ebd., S. 12.
[76] Ebd., S. 64.
[77] Ebd., S. 54.
[78] Kresic und Czeglédy analysieren Sprache als ein „Metamedium der Wirklichkeitskonstruktion“. Czeglédy, „Sein-in-der-Sprache“, S. 36. Zu Handkes Werk erklärt Czeglédy explizit: „Dass man Wirklichkeit und Identität in der Sprache und mit der Sprache konstituiert, hat Peter Handke jedoch bereits früh […] gelernt.“ Ebd., S. 71.
[79] Handke, Immer noch Sturm, S. 80.
[80] Ebd., S. 25.
[81] Melandri, Eva dorme, S. 24.
[82] Ebd., S. 210.
[83] Ebd., S. 28.
[84] Ebd., S. 14.
[85] Ebd., S. 12.
[86] Ebd., S. 211. („Keine Gewehrschüsse also gab es für Peter, nur einen Kranz mit einer Schleife, auf der in gotischen Buchstaben Im Schoß der Heimaterde stand.“ Melandri, Eva schläft, S. 262).
[87] Susanne Kleinert erklärt, dass sich Melandris Roman weniger an deutschsprachige Südtiroler richtet als vielmehr „al resto del pubblico italiano che secondo l’opinio della scrittrice ignora les particolarità storiche dell’Alto Adige“ (Kleinert, „Il problema identitario nell’Alto Adige“, S. 84). Damit bezieht sie eine dezidiert andere Position als viele zweisprachig schreibenden Südtiroler Autor:innen. Vgl. hierzu: Ebd., S. 71-80; Beyer, Rahel; Plewnia, Albrecht (Hg.). Handbuch des Deutschen in West- und Mitteleuropa. Sprachminderheiten und Mehrsprachigkeitskonstellationen. Tübingen: Narr, 2019, S. 253f.
[88] Kleinert, „Il problema identitario nell’Alto Adige“, S. 84.
[89] Drndić, Sonneschein, 2018, S. 314.
[90] Ebd., S. 348 u. 360.
[91] Ebd., S. 103. („Der Kommandeur der deutschen Truppen in Gorizia, Oberst Scharenberg, erwartet Ada lächelnd, steckt die Hand in ihr mit einer Serviette bedecktes Körbchen, als schicke er sich an, sie zu verführen, stopft zwei Hörnchen in den Mund und sagt kauend danke. In seinem Schnurrbart tanzen freche weiße Flocken, Ada zeigt mit dem Finger darauf und sagt, Staubzucker. So geht es jedes Mal.“ Drndić, Sonnenschein, 2015, S. 105).
[92] Ebd., S. 29.