Nov 2021

Kur

von Gabriele Eckart

 

All die Erinnerungen, seit ich im Ruhestand bin! Wohin damit?, frage ich meinen Mann. If life gives you lemons, make lemonade. Geschichten schreiben? Of course. Dann fügt er hinzu: But nobody tells you that sugar is needed! Was wäre der Zucker in diesem Fall? Die Kunst, eine Geschichte gut zu erzählen.

Herz-Kreislauf-Kur, zweiundachtzig. Aprilwetter, windig, kalt, diesig. Eine bleigraue Ostsee und eine Parole von der Herrschaft der Arbeiterklasse am Eingang der Kurklinik geben den Bildern ihre Grundierung.

In meiner Erinnerung reißt ein Gewittersturm an den Fensterläden. “Wie Mehltau liegt mir das auf der Seele”, sagt Evelyns Stimme vom Fenster her, sie und ich teilen ein Zimmer. Nach ein paar Tagen des Schweigens, in denen ihr die Kehle wie zugeschnürt schien. “Ach Gott”, hatte sie, wenn sie nicht einschlafen konnte, in dieser Zeit ein paar Mal gemurmelt, in einem Ton, der heftige innere Bewegungen verriet, kein Wort mehr. Einmal, mitten in der Nacht, von ihrem Bett her ein herzerbarmendes Wimmern. Und jetzt auf einmal ihr sprudelnder Redefluss, Dammbruch, das Wort kommt mir in den Sinn. Ich öffne die Augen, war schon eingeduselt. Evelyns Schattenriss. Der Pagenhaarschnitt. Von diesem Haarschnitt abgesehen, sah sie aus, wie ich mir Claudia Chauchat vorstellte; Thomas Manns Roman war gerade meine Lektüre. Nur die Türen schmeißt sie nicht, sagte ein Mann im Speisesaal gestern, als wir an seinem Tisch vorübergingen. Nein, schmeißt sie nicht, sagte sein Tischnachbar, mit ihren Männerblicken verschlangen sie sie, bevor sie zu ihrem Gesprächsthema zurückkehrten, “nicht die Errungenschaften des Sozialismus leichtfertig verspielen”. Im Licht eines Blitzes sehe ich, wie sich Evelyn mit der Hand an den Hals fährt. Atemnot. Deshalb ist sie wohl hier.

An ihren Redestrom erinnere ich mich noch genau. Ihr Mann, ein Westdeutscher, Unternehmersohn aus Baden-Württemberg, Sportwagen, Weltreisen, war ihr zuliebe DDR-Bürger geworden, aber er kam mit der Unfreiheit und der Misswirtschaft nicht zurecht. Und auch nicht mit der persönlichen Bereicherung der Bonzen. Bis zum Hals stand ihm alles, und er konnte nicht mehr fort. In der Falle saß er… Damit ist schon beinahe alles erzählt. Welch eine Wohltat, seinen Kummer mit jemandem teilen zu können! Ich stehe auf, gehe nacktfüßig zu ihr, lege ihr meine Hand auf die Schulter: Bitte versuch, es nicht so schwer zu nehmen! “Ja, aber er raucht sich zu Tode, und ich habe dieses Gefühl des… des Erwürgtwerdens!” Wieder fährt sie sich mit der Hand an den Hals. Iss eine von den Likörbohnen!, sage ich und wickele eine Praline aus dem Papier, hier… Das hatte sie gestern Abend gesagt, als ich nicht einschlafen konnte, die Mischung aus Zucker und Alkohol hatte mich von meiner Unrast im Gehirn erlöst. Wieder im Bett, erinnere ich Evelyn an das autogene Training heute. Sprich mir nach: “Ich bin ganz ruhig. Beide Arme sind ganz schwer. Beide Beine sind ganz schwer. Beide Arme sind strömend warm. Beide Beine sind strömend warm. Es atmet ganz ruhig. Mein Bauchraum ist strömend warm. Meine Stirn ist angenehm kühl.”

Auf unserem Spaziergang am nächsten Tag, aufgewühlt die See, wir stemmen uns gegen den Wind, nasser Sand saugt sich an unseren Schuhen fest, erzählt Evelyn mehr.

Ingenieur in einem großen Industriebetrieb ist ihr Mann. Fleißig, klug und hilfsbereit, “fügt sich gut ins Kollektiv ein”, wie wir damals sagten. Und der beste Mann, den sie hätte heiraten können. Zwölf Jahre Ehe, zwei Kinder, sie liebten sich immer noch leidenschaftlich. Aber sein Vorgesetzter war ein Nichtskönner und Speichellecker. Das Blaue log er vom Himmel herunter: “Im Mittelpunkt steht der Mensch.” Als er sich durch die Partei Zement für sein Gartenhäuschen besorgen ließ, Nicht-Parteimitglieder hatten dieses Privileg nicht, war Evelyns Mann eine giftige Bemerkung entschlüpft. Eine Antihaltung zum Sozialismus warf ihm der Vorgesetzte, rachsüchtig wie er war, daraufhin öffentlich vor. Undankbar sei er. Zu den Siegern der Geschichte gehöre er doch jetzt als DDR-Bürger. Aber sein Verhalten verrate kein Zeichen der Dankbarkeit. Zum Ersten Mai sei er mit den Händen in den Taschen an der Tribüne vorbeigelaufen. Evelyn, die ihren Mann liebte, wie litt sie mit ihm!

Ihr Seelenschmerz. Neben der Atemnot Stiche im Herzen wie von einer stumpfen Nadel. Von Spaziergang zu Spaziergang, schon nach zehn Minuten dachte ich immer, sie geht nicht, sie schleppt sich hin, wie oft mussten wir Pausen einlegen, erfahre ich mehr über ihr Leben. Wie ich war sie in einer Parteifamilie linientreu aufgewachsen, im Schoß des alleinigen Glaubens, wie wir es nannten. Als erfolgreiche Handballerin durfte sie mit ihrer Mannschaft einmal in den Westen reisen. Dort traf sie ihren Mann, der auch Sportler war. Welch eine Liebesgeschichte. Hunderte lange Briefe über die Jahre, dann, nachdem alle Versuche, sie in den Westen zu holen, gescheitert waren, wurde er DDR-Bürger, um sie heiraten zu können. Nicht lau wurde die Liebe über die Jahre. “So schwunglos erzählst du das, Evelyn.” “Na ja, darin besteht ja unser Problem. Ohne die Liebe würde er, koste es, was es wolle, in den Westen zurückgehen, selbst, wenn er die Grenze durchbrechen müsste.” Ihre Schuldgefühle.

Eiskalte, graue Tage. Evelyns rot angelaufene Augen. Ein Ausdruck der Trostlosigkeit darin. Die See in blaugrau-schwarzen Farbabstufungen, züngelnd kriechen Wellen an den Strand und umspielen das Strandgut, alle möglichen Hölzer, dazu Milchtüten aus Dänemark. Wegen einer Maul- und Klauenseuche gab es im Heim keine Abendveranstaltungen. Ich las Thomas Mann. Evelyn schrieb ihrer Familie Briefe. Ab und zu begann ihre Hand zu zittern, dann hörte sie auf zu schreiben und sah mich wie ein kleines, zu Tode erschrockenes Tier an.

Manchmal redeten wir über unsere Kurklinik. Man war hier, um vier Wochen dahinzudämmern oder mit einem Kurschatten ins Bett zu springen, kurze Liebschaft, nichts Ernstes. Aber an jüngeren Frauen gab es nur Evelyn und mich, sie war absolut begehrenswert, nicht unattraktiv war ich. Balzende Männer, aber wir waren beide an einem Abenteuer nicht interessiert. Seit wir entdeckt hatten, dass wir politisch auf der gleichen Welle sendeten (jenseits der Gläubigkeit angelangt, verschlissen die Ideale, Zweifel über Zweifel), waren wir nur noch mit Reden beschäftigt, einen Schwatz machen, nannte es Evelyn. Unsere Erfahrungen verglichen wir. Auch für mich war die Realität brüchig geworden, Risse, Sprünge, beiden tat es uns gut, das Herz einmal ausschütten zu können. Gutgläubige Närrinnen, die wir früher gewesen waren! Ich war eine Zeitlang aus politischer Naivität mit der Stasi verstrickt gewesen, sie war in die SED eingetreten, in Selbstvorwürfen wanden wir uns. Wie konnte ich nur! Wie konnte ich nur! In der Partei war sie immer noch, ihr Parteisekretär bekrittelte ihre “schwankende ideologische Haltung”, aber wie kam man aus der Partei heraus? Tritt aus!, sagte ich forsch. “Geht nicht, ich würde ausgeschlossen werden. Austritte darf es nicht geben. Und bei einem Ausschluss… unsere Kinder dürften später nicht studieren! Hättest du Kinder, wärest du nie von der Stasi weggekommen!” Das gab mir Stoff zum Nachdenken; bis heute bin ich erleichtert, mir in der DDR kein Kind angeschafft zu haben. Lieber kinderlos im Alter, als in dem Spinnennetz hängen geblieben zu sein.

Keine Gebirgs-, aber Seeluft. Gierig saugten wir sie ein. Zauberbergatmosphäre? Evelyn hatte Thomas Manns Roman auch gelesen, vor längerer Zeit, die Lektüre wirkte in ihr noch nach. Dieses Insel-Gefühl, ja schon. Für Wochen jeder Verantwortung enthoben sein. Aber alles in allem, nein, keine DDR in der Nussschale war das hier. Zu wenige Frauen und von den Männern zu viele in leitender Stellung. Indessen, die Herzkrankheit, an der die meisten litten, schien uns symbolisch, war sie nicht ein Bild dieser bleiernen Zeit?

Auch grässliche Albträume hatten viele Patienten, stellte sich in den Gruppengesprächen mit dem Therapeuten heraus, der uns das autogene Training beibrachte. Manche waren nach dem Erwachen halbtot vor Grauen. Mord- und Totschlag, Rauchpilze, Nomaden aus dem Osten, Schreckgespenster, makabre Szenerien. Evelyn hatte von einem Amoklauf ihres Mannes geträumt. Ich rannte im Schlaf ständig, entkam den Verfolgern im letzten Moment. Letzte Nacht war ich in meiner Not auf einen Zug aufgesprungen, ohne Fahrkarte und ohne zu wissen, wohin der Zug ging… Das ist normal, sagte uns der Therapeut. Hier haben Sie keinen äußeren Druck. Da kommt in Träumen alles hoch, was Sie in sich hineingefressen haben, verdrängt und weggeschoben über Monate und Jahre, das arbeitet Ihr Körper im Schlaf nun ab. Am häufigsten träumen die Patienten seit Jahren davon, eine Rede halten zu müssen, aber plötzlich wissen sie nicht weiter. Wer das träumte, dem sagte er: Überfordert sind Sie! Überfordert? Ja, von Ihrer Arbeitsstelle! “Lassen Sie uns jetzt die Zusatzformeln üben, bitte wiederholen Sie: Ich bleibe ruhig und gelassen! Worte wirken weiter. Ich behalte stets Ruhe und Übersicht. Nur Positives wirkt in mir stark. Mir gelingt alles immer leichter und besser. Es schläfert mich ein. Ich werde müder und müder und gleite in einen tiefen wohltuenden Schlaf. Ich schlafe ruhig tief und fest. Es geht vorüber. Ganz angenehm kühl und frei. Ich bleibe ruhig und abgeschirmt.”

Das Wetter blieb scheußlich, schwache Sicht. Wir froren am Strand. Stürme. In Wasserpfützen standen die Strandkörbe. Flucht in das nächste Strandcafé. Zwei Kurgäste an einem Tisch, ein ergrauter und ein kahler Kopf. “Apel”, hörten wir. Das Gespräch verstummte sofort, als wir an ihnen vorbeigingen. Wir setzten uns drei Tische weiter. Apel?, frage ich Evelyn leise, irgendwie kam mir der Name bekannt vor. “Der sich fünfundsechzig erschossen hat”, flüsterte sie, “Leiter der staatlichen Plankommission, ‘Nervenzusammenbruch und Kurzschlussreaktion’ stand in der Zeitung. Was sich wirklich hinter dem Selbstmord – falls es denn wirklich ein Selbstmord war – verbarg, ist Staatsgeheimnis.” Sie fügte hinzu: “Mein Mann denkt, Selbstmord war es schon. Erich Apel erschoss sich mit seiner Dienstpistole, als er begriff, nicht mehr als eine sowjetische Kolonie war die DDR. Aber mein Vater sagt, Schwarzmalerei! Apel erschoss sich, weil es bei ihm im Kopf nicht stimmte, eine Schraube war locker geworden.” Der Kellner kam an den Tisch. Wie gern hätten wir einen Grog getrunken. Der Bedienung war nicht verboten, Kurgästen Alkohol zu servieren, aber der Chefarzt, hieß es, sprang manchmal aus dem Gebüsch und befahl Patienten: Hauchen Sie mich mal an! Wer nach Alkohol roch, musste sofort abreisen und die Kur selbst bezahlen, neunhundertsechzig Mark. Tee mit Zitrone bestellten wir.

Später kommt die Sonne heraus. Zurück an den Strand! Auf einem Felsbrocken sitzen, die See betrachten, zerwühlt vom ewigen Warum Wozu. Wir rauchen eine, hoffentlich sieht uns niemand, schnipsen die Asche von den Zigaretten in den Wind. Möwengekreisch. Schaumflocken und Büschel von fauligem Tang vor unseren Gummistiefeln. Vor einem Jahr, sagt Evelyn, kam ein Journalist von der Bezirkspresse zu meinem Mann, fragte ihn, warum er damals DDR-Bürger geworden war. Er sagte: “Ich sage es Ihnen gleich, ich bin einzig und allein meiner Verlobten und jetzigen Frau wegen herübergekommen!” In der Zeitung stand dann: “Not, Elend und Verderben bringen immer mehr Bürger der Bundesrepublik dazu, diesen Staat zu verlassen und Zuflucht und Schutz in der DDR… und so weiter.” Dann der Name ihres Mannes und des Betriebs, in dem er arbeitete. Evelyns Chef hatte den Artikel zuerst entdeckt und ihn ihr, sehr verlegen, gezeigt. Bleich hatte sie nach der Lektüre gesagt: Ich beschwere mich, mache eine Eingabe an Honecker, das müssen die zurücknehmen, ich gehe bis sonst wohin… Ich gebe dir einen guten Rat, hatte ihr Chef geantwortet, unternimm nichts! Du kriegst sowieso kein Recht! Nur Unannehmlichkeiten, und deine Kinder wollen doch mal studieren, nicht? Widerstrebend befolgte sie seinen Rat. “Wie reagierte dein Mann auf den Artikel?”, fragte ich Evelyn. “Verrückt wurde er, tobte, danach redete er nicht mehr, eine lange Zeit, seither raucht er noch mehr, zu Tode raucht er sich.” Wieder griff sie sich an den Hals.

Später Abend, wie oft können Evelyn und ich keinen Schlaf finden. Nach meinen Problemen fragt sie. Ein Herzanfall, so jung? Einen Zusammenstoß mit der Zensur hatte ich, und was für einen, verbotenes Buch, berichtete ich ihr, danach furchtbarer Druck in der Brust, zusammengeklappt war ich auf offener Straße. “Aber Zensur gibt es nicht in der DDR, sagt mein Vater.” Lachen muss ich. Ein Rest von Kindergläubigkeit rumort noch in dir, Evelyn! Doch, Zensur gibt es, man spricht nur das Wort nicht aus, Druckgenehmigungspraxis heißt es stattdessen. Ich erklärte ihr, wie es funktioniert. Zuerst im Verlag, sogenannte Wissenschaftler schreiben in der Rolle von Literaturpolizisten anonyme Gutachten. Dann eine Liste Änderungsvorschläge. An diesem Punkt musst du zum ersten Mal streichen. Danach wird dein Manuskript an das Kulturministerium weitergereicht. Dort der Rotstift des Zensors… Wieder streichen. Seit ich diesen Mechanismus begriffen hatte, versuche ich Evelyn zu erklären, war ich verunsichert, konnte nicht mehr schreiben, jedes Wort, das ich aufs Papier setzte, schien danach zu schreien, gestrichen zu werden. Seufzen hörte ich sie. Dann ihre Stimme: “Wie unter Metternich… Eigentlich ist Zensur ja in der DDR verfassungswidrig!”

Im Speisesaal Vierertische. Von unseren Tischnachbarn in meinem Gedächtnis nur noch die Andeutung zweier Bilder. Ende fünfzig beide. Der eine, erinnerte er mich nicht an Leo Naphta, dunkles Haar, scharf der gebogene Nasenrücken, hart und blank die Augen, Kiesel. Wieder und wieder erklärte er uns mit rhetorischer Leidenschaft, während er mit einem nikotingelben Finger an einem Nasenflügel kratzte, frühere Übergangsperioden von einer Gesellschaftsordnung zur nächsthöheren hätten viel länger als vierzig Jahre gedauert, das Entstehen des Kapitalismus in England zum Beispiel, siebzig Jahre mindestens, mehr als fast vierzig hatte die DDR ja noch nicht. Ja, ja, sagte der andere Tischnachbar, ein gutmütig aussehender Mann mit Geheimratsecken, lichtem Haar am Oberkopf und einer knolligen roten Nase. Betriebsleiter in einem Gummiwerk war er, immer sah er lächelnd auf Evelyns schön geformte und gepflegte Hände. Den Eindruck hatte ich, dass es ihn Anstrengung kostete, eine gelassene Miene zu bewahren, wenn die Platte von den Übergangsperioden zum dritten oder vierten Mal aufgelegt wurde. Leicht ironisch klang es, wenn er ab und zu mehr als ja, ja sagte. Evelyn und ich nickten zu allem brav, machten Konversation, über das Aprilwetter gibt es ja immer etwas zu sagen, und kratzten die Kurve, sehr höflich, sobald eine Mahlzeit vorüber war.

In seltenen Stunden mit klarem Himmel, ein silberner Schimmer lag dann auf dem Meer, trafen wir manchmal den uns sympathischen Tischnachbarn mit dem ja, ja am Strand, leicht gehbehindert humpelte er dahin, ziegelrote Steppjacke, blaue Wollmütze, den Arm hob er zum Gruß. Einmal blieb er kurz stehen und sagte, fast entschuldigend klang es, der Anspruch auf Allwissenheit unseres Tischnachbarn provoziere ihn auch, wir sollten das nur wissen, aber ihn mit Fragen in die Enge treiben… nein. “Sie wissen schon, gute Manieren.” Er machte noch eine ironische Bemerkung über das Abflussrohr, das nur einige Meter von uns entfernt eine dunkelbraune, stinkende Lauge ausspuckte, sie floss in die Ostsee, dann verabschiedete er sich, bis bald! Naphta trafen wir nie auf Spaziergängen. Dabei sahen wir ihn bei der Rückkehr, wenn wir die Sandkrusten von den Schuhen kratzten, auch öfters das Haus verlassen. Eine Baskenmütze flott aufs Ohr geschoben, sah er eher wie Bulgakows Held Voland aus. Wahrscheinlich rauchte er, Kippen umherstreuend, irgendwo heimlich.

Der Tisch zur Linken war ein sogenannter “Reduktionstisch”, übergewichtige Kurgäste, die auf Schmalkost gesetzt waren und sich meist mit lauten Stimmen unterhielten, am lebhaftesten an ihren Sauermilchtagen. “Eisbein, natürlich nur ab und zu…” “Eine schöne Dicke, sagt man doch. Eine schöne Dürre, habe ich noch nie gehört.” Viel Gelächter. Vom Tisch zur Rechten kam kein Pieps. Vier Tapergreise mit pergamentenen Lippen, ihren früheren Berufen nach blätterten die meisten, wenn sie träumten, in Aktenordnern, oder sie hetzten von Termin zu Termin, jetzt hatte ein Herzinfarkt ihren Lebensabend empfindlich gestört. Der da, flüsterte ich Evelyn ins Ohr, immer Ausdruck von kalter Strenge und Argwohn, wie vermisst er seine abgewetzte schweinslederne Aktentasche! Und die anderen drei wirken wie hypnotisiert, antwortete sie im Flüsterton.

Nach der täglichen Behandlungsroutine – Frühsport, Abgespritztwerden mit einem eiskalten Wasserstrahl (Großer Gott!, dachte ich, wenn ich Evelyn nackt sah, und nach einer Woche trat der Gedanke hinzu, kein Wunder, dass ein westdeutscher Unternehmersohn für sie den Verstand verliert und seine Freiheit aufgibt), autogenes Training – gingen Evelyn und ich spazieren, oder, wenn es wegen Regen, Schnee, Graupel nicht möglich war, in den Aufenthaltsraum. Sie hatte immer eine schicke rote Tasche am Riemen über die Schulter gehängt, ich trug einen kleinen Kunstlederrucksack. Wir setzten uns in zwei bequeme Sessel, versuchten zu lesen, aber konnten uns nicht konzentrieren. Evelyn störte das Angestarrtwerden; nicht nur, dass sie schön war, den textilen Bestandteilen und dem Schnitt ihrer Kleidung nach war, was sie auf dem Leib trug, nicht in der DDR hergestellt. Ich, immer neugierig darauf, was die Leute fühlten, dachten, hofften, horchte auf die Gespräche im Raum. Ein Betriebsleiter, Herzinfarkt, hatte zum Beispiel den Anspruch verfolgt, technische Defizite seines Werkes durch mehr Engagement seiner Arbeiter auszugleichen. In der DDR Betriebsleiter sein, sagte sein Gesprächspartner, der auch an den Folgen eines Herzinfarkts litt, mit gedämpfter Stimme, ist eigentlich ein Sein zum Tode, findest du nicht? Wieder in unserem Zimmer, stellte sich heraus, Evelyn hatte dem Gespräch auch gelauscht. Zögernd stellte sie die Frage in den Raum, hat Krankheit nicht mit der Art zu tun, wie man in der Welt ist? Endloses Gespräch, an dessen Details ich mich nicht erinnere.

An die zwei anderen Frauen unter den vierhundert Kurgästen erinnere ich mich gut, an der Grenze zum Alter beide. Die eine häkelte immer, Filetdecke, und schwelgte in Klatschgeschichten über die Ärzte, die sie, je nachdem, was sie am liebsten verschrieben, Wasserarzt und Spritzenarzt nannte. Wie gern sie den Spritzenarzt nachäffte: “Wenn Sie ein Sperrschild sehen, das Nicht weitergehen! sagt, müssen Sie umkehren, dahinter ist ein Armee-Manövergelände! Und fallen Sie mir nicht vom Pferdchen… ha ha, als ob man hier reiten könnte!” Die andere Frau las, während sie mit der freien Hand eine graue Haarsträhne um den Finger rollte. Einmal hörte ich sie einem schnurrbärtigen jüngeren Mann, mit dem sie sich gern unterhielt, etwas aus ihrem Buch vorlesen: “Komm hoch, man kann mal zu Boden gehen, aber man darf sich nicht auszählen lassen!” “Werde versuchen, das zu beherzigen, meine Liebe!” Zu turteln begannen sie nach einer Woche, vor aller Augen. Der Klatsch!

Kiesbestreute Wege um das Heim herum. Wenn Evelyn sich zu erschöpft fühlte für einen längeren Spaziergang, gingen wir hier ein bisschen im Kreis herum. Blühende Weidenkätzchen. “Einkaufen gehen ist für meinen Mann auch ein Problem, nach so vielen Jahren noch”, sagte sie. Neulich zum Beispiel, sein unbeherrschter Ausbruch in der Kaufhalle. Die Verkäuferinnen fürchten ihn. Aber du sagtest doch, er sei ruhig und freundlich. “Ja schon, aber er hat eben immer noch seine Maßstäbe von drüben!” Nach einer Verschnaufpause fährt sie fort: “Vor ein paar Wochen gab es ausnahmsweise Weintrauben. Er entdeckte, dass die Verkäuferin in jede Tüte auch ein paar faule Trauben warf, los wetterte er… Sie sagte: Ach, die muss ich auch verkaufen, und es kommen ja in jede Tüte nur ein paar… Das ist Qualität Eins A dem Preis nach, ich verlange anständige Ware!, unterbrach er sie tobend. Schließlich füllte sie für ihn eine neue Tüte, nur mit guten Trauben, langsam beruhigte er sich.” Außer Atem und niedergeschlagen geht Evelyn ins Haus zurück, ich mache mich auf zum Strand, wenigstens einmal am Tag das Meer anrufen! Unterwegs stoße ich an einer Wegbiegung auf unseren Tischnachbarn, den Betriebsleiter, der fast immer nur ja, ja sagt. Mit so einem strengen Gesichtsausdruck hatte ich ihn bisher noch nicht gesehen. Nachdruck in die Stimme legend, sagt er: “Hören Sie auf, Ihr Herz auf der Zunge zu tragen, das bringt nichts!” Was habe ich denn gesagt? “In der Strandperle gestern… Sie sprachen über Schriftstellerkollegen, einige nannten Sie namentlich. Sie sagten, deren feiges Sich-Beugen unter die Zensur sei bedrückender als die Zensur selbst! Mehrere Personen von den Nachbartischen hatten zugehört.” Danke, Sie haben Recht, Herr Sielaff!, sage ich reumütig. Ich versuche mich zu bessern! “Schon gut!” Er stapft weiter. Nichts mit Meer-anrufen an diesem Tag. Kriegsschiffe vor einem aschgrauen Horizont, dicke Brummer.

Nur selten schlenderten Evelyn und ich auf der Strandpromenade, die von manchen Kurgästen im Scherz “Idiotenrennweg” genannt wurde. Zu viele Spaziergänger, vermummt in Anoraks, Mäntel, Steppjacken, Schals und Mützen. Die meisten gingen in Paaren, ein Alter mit Pelzmütze ging allein, beim Gehen vor sich hinbrabbelnd. Arbeiter strichen das Geländer mit hellblauer Farbe an. Ein Spaziergänger, den wir als einen Mitpatienten erkannten, warf schnell eine halbgerauchte Zigarette beiseite, als er uns kommen sah. Immer trug er ein weißes Hemd und einen roten Schlips, sogar zum Frühsport unter dem moosgrünen Trainingsanzug. Rosa Luxemburg habe ihre Behauptung, dass Freiheit stets die Freiheit Andersdenkender sei, widerrufen, sagte er im Vorbeigehn laut zu seinem Begleiter. Der erwiderte: “Woher weißt du das?” “Die Information bekamen wir zur letzten Parteianleitung.”

Natürlich zogen wir über die Männer her, die mit uns anbandeln wollten. Schau mal, der da!, sagte Evelyn. Sieht aus wie ein Hollywood-Star, aber ein Tropfen hängt ihm immer an der Nase. Der guckt nach dir, sagte sie. Habs schon bemerkt, sagte ich, wir haben doch zusammen die Moorwanderung gemacht, auf die du nicht mitkommen wolltest. Er ist nett, aber ich habe kein Interesse! Warum nicht? Du bist nicht verheiratet. Ich sagte, er streut zu viele Füllwörter ein, und “ja nich” hängt er an jeden Satz an, kann ihm nicht gut zuhören. Und dann immer die Bemerkung: “Der Zahn wurde uns doch gezogen!” Was für ein Zahn?, fragte Evelyn. Na, zum Beispiel erzählte er mir von Problemen auf seiner Arbeitsstelle, und er sagte, aber der Zahn ist uns doch längst gezogen worden, dass man glaubt, man könne Widersprüche benennen und damit etwas verändern… Ach so, sagte sie, ja, früher glaubte man das, heute nicht mehr. Was ist er eigentlich von Beruf? Irgendwas mit Bau, industrialisierter Wohnungsbau, er erzählte mir von Taktstraßen, Umprojektierungen und dergleichen. Und warum ist er hier? Herz-Kreislauf-Probleme. Er hätte nicht die richtige Einstellung zu irgendwelchen Planauflagen gehabt, Beschlüsse missachtet, Aussprachen, dann ein Zusammenbruch. “Entschieden wird auf Bezirksebene, ja nich?”, ist auch so einer seiner Sätze, die ich nicht mehr hören kann.

Immer (wir haben kein Telefon im Zimmer, und vor dem einzigen öffentlichen Apparat in unserem Gebäude steht immer eine lange Schlange) erhält Evelyn viel Post. Briefe, Zeichnungen der Kinder. Ab und zu ein Päckchen mit westdeutschen Likörbohnen. Die Blätter und Fotos auf dem Tisch zusammenraffend, sagt sie lächelnd: “Beide Kinder sind so blond wie mein Mann.”

Einmal ein Toter in einem der Nachbarzimmer. Herzinfarkt. Weiße Kittel wieseln hin und her. Der lange Lulatsch mit dem schütteren Haar, sagt Evelyn, schon seit Tagen schien er mir jenseits von Gut und Böse. Danach einige Tage lang ihr Gefühl der totalen Panik, ihre Bewegungsunfähigkeit. Sie liegt stundenlang auf dem Bett und schaut an die Decke. Alle Aufregung ist Gift für Sie!, hat ihr der behandelnde Arzt gesagt. Ihr Herz spielt nicht mehr lange mit! Was soll nur werden?, fragt sie mich. Da fällt das Wort “Ausreiseantrag”. Warum stellt ihr keinen, so was geht doch jetzt, sage ich naiv. Evelyns Vater, stellt sich heraus, ist Kreisparteisekretär, keinen Kummer möchte sie ihm machen. Habt ihr das Thema Ausreiseantrag gegenüber deinen Eltern schon einmal erwähnt? “Ja, ganz vorsichtig. Ihr braucht ideologische Hilfe, hatte mein Vater sofort gesagt.”

Aber es ist nicht nur das. Sie mag ihre Arbeit und ihre Kolleginnen. Und die Kinder hängen an ihren Klassenkameraden. Immer vor sich her schieben sie und ihr Mann das Wort “Ausreiseantrag”. Wie ein Haufen Schnee, den du mit der Schneeschaufel vor dir herschiebst, wird es immer größer dabei.

Ist eure Gegend wenigstens hübsch?, hatte ich Evelyn, sie kam aus der Lausitz, gefragt. “Wäre sie, wenn nicht ein Kohlekraftwerk in der Nähe stünde. Wie es stinkt, wenn der Wind aus dieser Richtung kommt. Und kilometerweit färbt sich die Wäsche auf der Leine schwarz. Zum Glück haben wir einen Trockner.”

Am letzten Tag (es ist der dreißigste April, endlich zeigen sich hellgrüne Blättchen an Bäumen und Büschen, der Ort wird für die Erster-Mai-Feierlichkeiten mit Fähnchen geschmückt, manche Kurgäste versuchen in den Strandcafés einander unter den Tisch zu trinken) verabschieden wir uns voneinander, Evelyn und ich. Eine lange Umarmung, gute Wünsche für die Zukunft, Ratschläge. Weggehen, wenn das Maß voll ist! Aber wie weiß man das?

 

Wie ging es weiter?, fragt mein Mann. Hat die Familie einen Ausreiseantrag gestellt? Weiß ich nicht, sage ich. Jahre später traf ich Evelyn zufällig auf einem Aussichtsturm im Erzgebirge, war es nicht im Sommer sechsundachtzig? Meine Freude darüber, dass sie noch lebte! In Begleitung war sie, zwei hochgewachsene blonde Kinder, Junge und Mädchen, und ein altes Ehepaar, die Frau hatte Evelyns exquisit geformte Nase. Um den Hals flog mir Evelyn, als sie mich erkannte. Schwarz gekleidet?, fragte ich sie; schwarz, daran erinnerte ich mich genau, war ihre Farbe nicht, sie hatte sich während unserer Kur darüber, dass ich nur schwarz trug, belustigt. “Mein Mann!” Sie brach in Tränen aus. Neugierig kamen ihre Eltern näher, sie stellte uns einander vor. Auch sie in schwarz. Der Vater ein Parteiabzeichen an der Sportjacke, schwarzer Schlips. Er hatte den Gesichtsausdruck eines Mannes, der die Wahrheit mit Löffeln gefressen hat. Vielsagend sah Evelyn mich an. Weil ihre Eltern zuhörten, wagte ich nicht zu fragen, was denn um Gotteswillen geschehen war. Wir redeten über das Erzgebirge, Waldsterben. Bald verließ ich die DDR. Nie wieder hörten wir voneinander.

Gute Geschichte?, frage ich meinen Mann. Weiß nicht, eigentlich nicht, kein closure. Man will doch wissen, was mit Evelyns Mann passiert ist. Denk es dir aus, sage ich, drei Möglichkeiten liegen nahe…

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