Nov 2021
Zwei Seelen? Ein Blick auf die polnische Germanistin Elida Maria Szarota
von Karol Sauerland
Eine Frau mit fünfzig
Es gibt wohl nur wenig Beispiele dafür, dass eine Frau mit fast fünfzig Jahren sich entscheidet, eine akademische Karriere einzuschlagen und schnell zu einer bekannten Gelehrtin wird. Ein solches Beispiel stellt der Fall Elida Maria Szarota dar. Im März 1957 habilitierte sie sich im Alter von 53 Jahren als Polin an der Ostberliner Humboldt-Universität über Lessings Laokoon. Sie war im Herbst 1956 in die DDR gefahren, da ihr ein älterer polnischer Professor für Germanistik Steine in den Weg gelegt hatte, nicht als Gutachter figurieren wollte.[1] Es war die Zeit des sogenannten Tauwetters, das in Polen zu dem von der Bevölkerung erzwungenen Machtwechsel an der Spitze der kommunistischen Partei führte. Plötzlich konnte man auch nach Berlin fahren, obwohl es dort freien Zugang zum Westen gab. So mancher Pole nutzte dies und kehrte nicht wieder in sein Heimatland zurück.
1960 wurde endlich die Studienrichtung Germanistik an der Warschauer Universität eröffnet. Vier Dozenten wurden eingestellt, unter ihnen befand sich auch Elida Maria Szarota. Sie erwies sich als die bedeutendste. Ein Jahr zuvor war ihre Habilarbeit unter dem Titel, der nicht der ihrige war, Lessings Laokoon. Eine Kampfschrift für eine realistische Kunst und Poesie im Weimarer Arion-Verlag erschienen. Viele marxistisch klingende Formulierungen hatte der Philosoph Wolfgang Heise ihr hineingeschrieben. Sie hatte es zugelassen, um sich habilitieren zu können. Sie bedauerte es später, sich nicht genügend gewehrt zu haben.
Überaus interessant sind jene Partien des Buches, in denen Szarota auf die Grenzen der Lessingschen Argumentation verweist, die bereits von Herder, Goethe und anderen aufgezeigt worden waren. Innerhalb dessen, was in jener Zeit in der DDR zu germanistischen Problemen erschien, zeichnete sich die Arbeit durch die Kenntnis des europäischen Kontextes und der internationalen Sekundärliteratur aus, deren Thesen Szarota in einem sehr sachlichen Ton akzeptiert oder ablehnt.
Wie sie in ihren Memoiren berichtet, spielte bei der mündlichen Verteidigung ihr Habilitationsvortrag über „Die Wandlungen der Klopstockschen lyrischen Kunst, aufgewiesen an der Wingolf-Ode“ eine wichtige Rolle. Der Vortrag konnte allerdings nicht in der DDR erscheinen, dagegen druckten ihn die Etudes Germaniques[2] bereitwillig. Er fand breite Beachtung, und vor allem schickte Bruno Breitbach der Verfasserin einen begeisterten Brief, woraus sich ein intensiver Kontakt zwischen ihnen ergeben sollte. Breitbach unterstützte sie in der Folge durch zahlreiche Büchergeschenke. Das Überraschende an ihrem Aufsatz ist, dass sie aufzeigen konnte, wie Klopstocks Ode Wingolf von 1767 „horazischer“ klingt als die fast gleichlautende, um zwanzig Jahre früher entstandene Ode „An meine Freunde“, in der die Figuren aus dem antiken und nicht germanischen Mythos stammen.
Die französische Seele
Szarota betonte gern, dass sie in Paris geboren sei. Sie sprach mit Leidenschaft Französisch, gab sich in Gesellschaft als die Grande Dame, was oft, besonders in Deutschland, auf Befremden stieß. Man lachte über sie, zumal nur wenige des Französischen mächtig waren, und meinte, dass dies eine alte polnische Adelsmanier sei.
Wissenschaftlich schlug sich ihre Kenntnis des Französischen und der französischen Literatur in so gut wie all ihren Schriften nieder. So nimmt in dem Lakoonbuch Lessings Polemik mit den Franzosen einen großen Raum ein. Innerlich stand Szarota auf Seiten von Racine und Corneille, weniger auf der von Lessing. Es kündigte sich bereits ihre Hinwendung zum Barock an. Ihre erste Vorlesung an der Warschauer Germanistik war zum Leidwesen der Mehrzahl der Studenten und Studentinnen der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts gewidmet.
Ihre Studien führten schließlich zur Veröffentlichung des Buches Künstler, Grübler und Rebellen. Studien zum europäischen Märtyrerdrama des 17. Jahrhunderts, das 1967 im Franke-Bern-Verlag erschien. Hier erwies sie sich als eine gelehrte Europäerin. Dramen von Lope de Vega und Calderón, Corneille und Rotrou, Gryphius und Lohenstein sowie Vondel, um nur die großen Namen zu nennen, interpretierte sie aufgrund des Originals, wobei sie beim Spanischen und Holländischen gewisse Hindernisse zu überwinden hatte, wie sie bekannte.
Europäerinnen
Im Mai 1973 kam Ingeborg Bachmann auf Einladung des Österreichischen Kulturinstituts, wohl noch Lesehalle genannt, zu einer Rundreise nach Polen. In Warschau las sie Das Gebell. Den Großteil der Zuhörerinnen und Zuhörer bildete die Studentengruppe von Frau Szarota. In dem folgenden Gespräch fragte sie die Autorin, ob sie nicht bei der Niederschrift ihrer Erzählung Tiecks Blonden Eckbert vor Augen gehabt habe. Im Gebell spreche die alte Frau Jordan zwar selber den Hundenamen aus, der übrigens wie bei Tieck mit „i“ ende (hier Nuri, dort Strohmi), aber auch in dieser Erzählung erinnere der Hund mit seinem Bellen an Verdrängtes, Unbewältigtes. Die alte Frau Jordan habe ähnlich wie Berta dem Hund gegenüber ein schlechtes Gewissen, wenngleich die eine ihn nur weggegeben, während die andere ihn dem Hungertod ausgesetzt hatte. Bachmann reagierte auf diesen Vergleich mit Irritation. Sie kenne den Blonden Eckbert nicht. Sie sagte es in einer Weise, als habe sie nie von ihm gehört, so dass man annahm, sie kenne ihn nur zu gut. Als sich dann Szarota und Bachmann bei einem Nachtessen bei Dr. Johann Marte, dem damaligen Leiter des Österreichischen Kulturinstituts, begegneten, war zu erwarten, dass beide miteinander rivalisieren werden. Und tatsächlich kam es zu einer Art Duell. Es war spannend und amüsant zugleich. Bachmann war durch den guten Wodka aufgelebt und wurde immer witziger. Als Szarota ins Italienische überwechselte, bemerkte Bachmann spitz, Frau Professor spreche ja mit einem französischen Akzent, was Szarota geistesgegenwärtig mit einem „Und wenn schon“ quittierte. Aber nach einer gewissen Zeit begannen sie, sich zu mögen. Als Bachmann von ihrem über eine Stunde währenden Telefongespräch mit Kanzler Kreisky nach dem Attentat auf der Münchner Olympiade berichtete – sie war für die Abberufung der Olympischen Spiele -, war das Eis gebrochen. Es kam zu einer tiefschürfenden Debatte.
Hier erlebte man ein Stück altes Europa, als Mehrsprachigkeit in gebildeten Kreisen, das Wechseln von einer Sprache in die andere etwas Selbstverständliches erschien. Das Französische dominierte, aber es stellte nicht eine ausschließliche Sprache dar wie heute das Englische oder wie einst das Lateinische.
Protestantisch, Katholisch, A-gläubig
Ihr katholisches Herz fand bei ihren Studien zum Märtyrer- und Jesuitendrama Satisfaktion,[3] obgleich sie protestantisch aufgewachsen war. Als junges Mädel verliebte sie sich in einen deutschen Pfarrer. 1938 trat sie jedoch zum Katholizismus über, was mit der Heirat des im polnischen Geistesleben bekannten Kritikers und Essayisten Rafał Blüth (Jg. 1891) verbunden war.[4] Er gehörte zu den Herausgebern der reformorientierten katholischen Zeitschrift Verbum.
Obwohl Elida Maria Szarota-Blüth nur kurz mit ihrem Mann zusammenleben konnte – er wurde als einer der ersten im November 1939 in einer von dem deutschen Besatzer veranstalteten Massenexekution in Warschau erschossen –, blieb sie dem Katholizismus verhaftet. Insbesondere lobte sie dessen Marien- und auch Bilderkult. Aber eine wirklich Gläubige war sie nie. Der Kampf der kommunistischen Nachkriegsmachthaber gegen die Kirche und den Glauben überhaupt scheint sie beeindruckt zu haben. Drei Seelen schienen in ihrer Brust gelebt zu haben, die jedoch nicht in Konflikt miteinander gerieten, zumal sie sich für dogmatische Fragen nur oberflächlich interessierte. Sie war in einer eher naiven Art gläubig, wodurch sie auf mich im Grunde a-gläubig wirkte.
Deutsch-Polnisch
Konfliktreicher war ihr Verhältnis zu Deutschland und Polen. Ihre schönste Zeit scheint sie Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre erlebt zu haben, als sie an der Odenwaldschule die Abiturklasse absolvierte und später in Frankfurt am Main studierte. Sie sprach immer wieder begeistert von Paul Geheeb und auch von ihrem Deutschlehrer Werner Kirchner[5] sowie von Erika und Klaus Mann, die eine Zeitlang die Odenwaldschule besucht hatten. Zu ihren Mitschülern gehörte Raymond Klibansky, mit dem sie mich in Wien bekannt machen konnte. Ich sehe dessen zierliche Gestalt vor mir. Wir unterhielten uns über Gundolf, den er sehr verehrte, und vor allem über Dilthey. Er schrieb mir später einen Brief voll des Lobes ob meines Diltheybuchs.[6] An der Odenwaldschule lernte Szarota im Wesen nur Latein und deutsche Literatur. Deutsch war das einzige obligatorische Fach. Hier las man mit Begeisterung Gundolfs Goethebuch. Man durfte nicht, nicht enthusiasmiert sein, bemerkte sie mehrmals. Der Deutschlehrer Kirchner war im übrigen Gundolfschüler.
Nach dem Abitur wählte sie als Studienfach Romanistik. Ihr Vater wollte, dass sie in Lemberg studiere, sie ging jedoch an die Sorbonne. Schnell war sie über den dortigen altertümlichen, wie sie sagte, Lehrbetrieb enttäuscht. Sie begab sich nach Genf, wahrscheinlich auch aus finanziellen Gründen, denn dort konnte sie aus verschiedenen Sprachen beim Völkerbund dolmetschen und somit ihren Unterhalt bestreiten. Sie setzte jedoch schnell ihr Studium an der Frankfurter Universität fort.
Dort machte Erhard Lommatzsch, den sie als ihren ersten Lehrer bezeichnete, nicht nur mit französischer Literatur bekannt, sondern auch mit provenzalischer und italienischer Dichtung (Dante, Petrarca, Boccaccio sowie mit den Dichtern des 19. Jahrhunderts: Manzoni, Leopardi, Carducci, Pascoli). Im Seminar spielten vom Methodologischen her gesehen die Stilstudien Spitzers stets eine grundlegende Rolle. Da Szarota Latein als die Grundlage ihres Bildungswegs ansah („Ohne meine lateinischen Studien wäre nichts aus mir geworden“, erklärt sie in ihren Memoiren), nahm sie an den Seminaren und Vorlesungen Walter F. Ottos besonders aktiv teil. Sein Buch Die Götter Griechenlands war für sie grundlegend. „Ich kannte dieses Buch fast auswendig, und ich dachte in den Kategorien der griechischen Götter, die ich bei Otto gelernt hatte. So hatte ich mir Pallas Athene zu meiner eigenen Göttin erkoren, die Kameradin und Gefährtin des Mannes, die dem Geiste verschworene Göttin. In einer Nacht dichtete ich den ‚Amphitrion’ von Kleist um und zwar so, dass Alkmene kein Weib war, sondern ein Mann, Pallas Athene – nicht Jupiter – ihn (d.h. Alkmenus) in einer Nacht besucht […] So lebte ich in antiken Vorstellungen und Wertkategorien, in der Welt des Mythos […]“.[7] Bei Otto schrieb sie ihre Staatsexamensarbeit über den Amphitruo des Plautus, den sie mit Molières Komödie verglich. Die Arbeit wurde von Otto hoch gelobt. Ihre Dissertation verfasste sie bei Lommatsch, auf dessen Vorschlag sie ein mittelalterliches Thema bearbeitete: die Marienlyrik von Gautier de Coincy (1177-1236).[8] Der Tag der Verteidigung war für Szarota ein großer Augenblick, denn sie gehörte zu den Besten und nahm von ihren Lehrern schönste Gratulationen entgegen. Doch im Prinzip ging alles zu Ende. Die Verteidigung hatte am 27. Februar 1933 stattgefunden. Am nächsten Tag war sie gerade bei den Horkheimers, wo sie Frau Horkheimer Französisch lehrte. Entgegen allen Gepflogenheiten öffnete Herr Horkheimer die Flügeltür und trat mit den Worten ins Zimmer: Das ist das Ende. Das Ehepaar verließ im März Deutschland, „nachdem das Institut wegen staatsfeindlicher Tendenzen geschlossen, das Gebäude und die 60000 Bände zählende Bibliothek beschlagnahmt“ worden war.[9]
Das neue Regime sagte ihr nicht zu, zumal ihre Mutter, die Schriftstellerin Eleonore Kalkowska,[10] 1933 von den Nazis verhaftet worden war und nur dank der Intervention der polnischen Botschaft wieder freikam und über Paris nach England emigrieren konnte. Sie verstarb nach einer Schilddrüsenoperation 1937 in Bern. Szarota kehrte nach Polen zurück. Als die Wehrmacht Polen überfiel, wollte sie so wie die polnische Regierung Warschau verlassen, aber ihr Mann meinte, so schlimm seien die Deutschen als Okkupanten nicht, er habe sie schließlich in dieser Rolle während des Ersten Weltkriegs erlebt. Sie sah ihn skeptisch an, war aber als hochschwangere Frau auf ihn angewiesen. Er fand, wie gesagt, bereits im November den Tod durch Erschießen. Sie war dank ihrer Schwangerschaft nicht verhaftet worden. Doch sollte ihr das Gefängnis nicht erspart bleiben. Am 15.9.1940 wurde sie inhaftiert. Durch einen Glücksfall und durch ihr perfektes Deutsch kam sie ein Jahr später frei.
Im Gefängnis muss sie sich ganz und gar als Polin gefühlt haben. Von nun an war sie zwischen beiden Kulturen, beiden Völkern hin und her gerissen. Ihre kritischen Bemerkungen über die Deutschen und Deutschland, konnten ihre deutschen Gesprächspartner nur schwer verknusen, wenngleich sie es rational verstanden. Aber niemand von ihnen wusste, was sie zwischen 1933 und 1945 erleben musste. Dazu sprach sie zu gut Deutsch. Man ist wohl nur Pole oder Polin, wenn man die andere Sprache heraushört. Sie war nun einmal bei ihren Großeltern in Breslau aufgewachsen, während ihre Mutter in dieser Zeit bei Max Reinhart in die Schauspiellehre gegangen war.
Im Gegensatz zur Posener Germanistik, die die antipolnischen Akzente in der deutschen Literatur des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts in zahlreichen Studien herausarbeitete,[11] war Szarota in ihrer Forschung bemüht, auf das positive Polenbild in der deutschen, aber auch europäischen Literatur zu verweisen. Sie beschränkte sich hierbei vor allem auf das Barockzeitalter. So erschien im Neophilologus die kleine Studie über „Dichter des 17. Jahrhunderts über Polen. (Opitz, Dach, Vondel, La Fontaine und Filicaia) und in einer Sammelpublikation der polnische Artikel „Piastowie w literaturze niemieckiej XVII wieku“ (Die Piasten in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts).[12] In diesem Artikel gibt Szarota auch einen Überblick über die Chroniken, die den deutschen Autoren eine Möglichkeit verschafften, sich über die Geschichte Polens und auch Schlesiens zu informieren. Szarota bespricht hier eingehend die Chroniken von Joachim Cureus (1532-1573) und Jacob Schickfuss (1574-1636). Die zentralen Ereignisse, welche die von ihr besprochenen Autoren berührten, waren der Sturmdorfer Waffenstillstand von 1635 zwischen Polen und Schweden, die überraschende Wahl des Polen Michał Tomasz Korybut Wiśniowiecki 1669 zum König, sowie der Sieg über die Türken 1683 bei Wien, bei dem das Heer des polnischen Königs Jan Sobieski eine entscheidende Rolle spielte. Zu diesen Ereignissen entstanden in unterschiedlichen Sprachen die verschiedenartigsten literarischen Werke, die Szarota eingehend zu analysieren suchte.
Und 1972 brachte sie die umfangreiche Sammlung Die gelehrte Welt des 17. Jahrhunderts über Polen. Zeitgenössische Texte im Europa-Verlag heraus.[13] Sie hat hier in einer über fast neunhundertseitigen Ausgabe lateinische, französische, italienische, englische und deutsche Berichte über das Polen des 17. Jahrhunderts zusammengestellt und alle nicht deutschsprachigen Texte selber ins Deutsche übersetzt. Wir bekommen auf diese Weise einen umfassenden Überblick über das Polenbild, das solche Gelehrte wie Germanico Malaspina, Giovanni Francesco Olmo, Christoph Hartknoch, Martin Opitz, Joost van den Vondel, Gottfried Wilhelm Leibniz, Samuel von Pufendorf, Bernard O’Conner[14] und andere in ihren Schriften überliefert haben. Viele Berichte sind noch heute interessant, denn sie zeigen, wie verwundert die Poleninteressierten damals waren, als sie sich mit dem komplizierten Aufbau dieses Staates, einer ausgebauten Adelsdemokratie, in der etwa 200000 Personen Stimmrecht hatten, bekannt machten.
Diese Texte, die ich bei der Manuskriptgestaltung mitlas und kommentieren sollte, veranlassten uns zu endlosen Diskussionen über Polen und Deutschland, über die gegenseitigen Beziehungen bzw. mangelnden Beziehungen. Szarota war voller Skepsis, eigentlich voller Unlust beiden Gebilden gegenüber. Sie hatte zu viel von dem, was man unmenschlich nennt, erlebt. Da war ihr Gefängnisaufenthalt, bei dem sie immerhin über ihre Mitinsassinnen, einfache Frauen, Polinnen, kein böses Wort verlor; da waren die Erschießungen von Polinnen und Polen; da war aber auch das Warschau der Okkupationszeit, wo Schlitzohren, Betrüger, Gauner, mit einem Wort der Abschaum (Szarota gebrauchte das Wort swołocz) das Sagen hatte,[15] und schließlich das Warschau der Nachkriegszeit, als weitestgehend Ungebildete, frische Mitglieder der neu gegründeten kommunistischen Partei, mit Hilfe der Sowjets die Macht an sich reißen konnten. Szarota versuchte als alleinstehende Frau, sich in der neuen Ordnung bzw. Unordnung mit ihrem Sohn zurechtzufinden.
Dass es Polen war, welches ihr ermöglichte, noch im späten Alter eine akademische Karriere erfolgreich einzuschlagen, wollte sie nie so recht einsehen. In Deutschland, was ich mehrmals ihr gegenüber betonte, wäre dies undenkbar gewesen, zumal sie eine Frau war. Professorinnen gab es in den 1950er und 1960er Jahren in der Bundesrepublik kaum. Ich verglich ihr Schicksal immer wieder mit dem von Käthe Hamburger, die es 1957 nur zu einer außerplanmäßigen unbesoldeten Professorin an der Technischen Hochschule Stuttgart bringen konnte, obwohl sie durch ihre Publikationen eine bekannte Literaturwissenschaftlerin war.
Wie stand es mit ihrer Seele? War sie gespalten?
Wenn man von ihrer Freude am Leiblichen absieht, war Szarota ganz und gar ihren geistigen Interessen zugetan. Sie lebte im Grunde genommen nicht im Zwiespalt zwischen nationalen Identitäten, indem sie meinte, sich mit einer ganz identifizieren zu müssen. Bei den Nationen, deren Sprachen sie mehr oder weniger gut beherrschte, interessierte sie sich für deren kulturellen Höhenflüge, lebte förmlich in ihnen. Diese zu erkunden, erfreute sie bis in ihr hohes Alter: Mit dreiundachtzig gab sie ihr letztes über vierhundertseitiges Buch Stärke, dein Name sei Weib. Bühnenfiguren des 17. Jahrhunderts heraus. Bei aller Freude am Glänzen in Gesellschaft, bei aller scheinbaren (manchmal unausstehlichen Eitelkeit) war ihr geistiges Schaffen ein und alles.
Sie gehörte noch einer Generation an, in der Bildung an oberster Stelle stand. Für die Ungebildeten, d.h. diejenigen, die nicht in den „Genuß“ von Bildung kommen konnten – in erster Linie Frauen –, verkörperten die Gebildeten etwas Außerordentliches, etwas, was Sehnsüchte erweckte, aber auch frustrierend wirkte – beiderseitig, denn die Gebildeten waren sich in großer Zahl ihrer Privilegien bewusst. Das traf besonders auf Frau Szarota zu, die mit Leidenschaft unterrichtete und selbst diejenigen zu fördern suchte, bei denen es unseres Erachtens verlorene Liebesmühe war, für sie eigene wertvolle Zeit zu verschwenden.
Wagner und Faust. Leben und Geist
Faust spricht von den beiden Seelen in Antwort auf Wagners Missachtung des lebendigen Lebens, der nur „von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!“ seinen Geist befruchten lassen will. Von der Handlung aus sind Wagners Worte, er habe nie solch „grillenhafte Stunden“ gehabt, für die Erklärung vonnöten, warum Faust zu einem Pakt mit dem Teufel bereit ist. Würde man an die Stelle Wagners einen „Ungebildeten“ oder eine „Ungebildete“ setzen, würde die Antwort anders klingen.
Szarota, die „von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!“[16] eilte, um nach Habilitation auch noch die Professur, die von einer nächsten Schrift abhängig war,[17] zu erlangen, hätte trotzdem dem „Ungebildeten“ gegenüber Schuldgefühle verspürt, in der Jugendzeit über das Privileg des Sich-Bilden-Könnens verfügt zu haben, obwohl sie aus bescheidenen Verhältnissen stammte und größtenteils für ihren Unterhalt selber aufkommen müsste, aber die Idee, als Frau studieren zu wollen, war ihr schon dadurch eingegeben, dass sowohl ihr Vater Marceli Szarota, Diplomat und Chefredakteur der Gazeta Lwowska (Lemberger Zeitung), als auch ihre Mutter studiert und überaus gebildet waren. Eine akademische Laufbahn konnte sie allerdings erst nach Kriegsende ins Auge fassen. Sie wollte sie anfänglich als Romanistin einschlagen, aber die Konkurrenz ließ es nicht zu und an die Germanistik war in den ersten Nachkriegsjahren nicht zu denken. Im entsprechenden Ministerium hieß es, dass in Polens Hauptstadt nie wieder die deutsche Kultur gepflegt werde. Nach dem polnischen Oktober 1956 sollte sich die Einstellung ändern und Szarota nahm die Gelegenheit wahr. An Leben hatte es ihr – im Gegensatz zu Faust – nicht gefehlt, eher an Freude. Der Geist war zu kurz gekommen. Die letzten drei Jahrzehnte sollten von ihm erfüllt werden. Das letzte konnte sie dank der Unterstützung von Richard von Weizsäcker und Paul Raabe in Wolfenbüttel, dem Zentrum der deutschen Barockforschung, verbringen. Der Seelenpein ward ein Ende.
[1] Siehe hierzu: Karol Sauerland, Mein Jahr 1956, in: Erinnern für die Zukunft. Griechenland, Polen und Deutschland im Gespräch, hg. zusammen mit Sieghild Bogumil-Notz, Aglaia Blioumi, Berlin 2016, S. 21-38.
[2] Etudes Germaniques, 14, 1959, S. 106-127.
[3] In ihrem Buch Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17. Jahrhunderts stellte sie u.a. die These auf, dass man das protestantische Schuldrama als eine Reaktion auf das Jesuitendrama sehen müsse. So sei der Leo Armenius von Gryphius eine Antwort auf das gleichnamige Drama von Joseph Simon. Gryphius umgehe jedoch die Problematik des Bilderstreites, die Simon in den Mittelpunkt gerückt hatte. Anstelle des konfessionellen Konflikts gestalte er einen politischen. Die Catharina von Georgien stelle ebenfalls eine Antwort auf das Jesuitendrama dar. Szarota führt hier vor allem Nicolas Caussin (1583–1651) an, dessen lateinische Stücke sie im ersten Teil ihres Buches über der Geschichte des Jesuitendramas behandelt hatte. Die späteren Trauerspiele von Gryphius zeigen dagegen einen geringeren Zusammenhang mit dem Jesuitendrama, obwohl die Opposition zu ihm nach wie vor bestehen bleibt. Auch die Stücke von Johann Christian Hallmann, denen Szarota ein umfassendes Kapitel widmete, seien im Umfeld des Jesuitendramas zu sehen. Zwischen 1979 und 1982 gab sie Das Jesuitendrama. Eine Periochen-Edition in drei Teilen mit je zwei voluminösen Bänden heraus. Es handelt sich um die umfassendste Sammlung dieser Art. Eines der Ziele Szarotas war es, die unerhörte Wirkung des Jesuitendramas auf die Massen zu dokumentieren. In der Einleitung erklärt sie: „Die Jesuitendramatik war eine literarische Bewegung, von der Tausende erfaßt wurden. Organisatoren und Mitspieler, deren Familien, Nachbarn und Freunde, der Hof, der Adel, die Gebildeten als Zuschauer, die zahlreichen Bürger, die bei Massenszenen als Statisten mitwirkten und in gewissen Fällen die gesamte Stadtbevölkerung […] Bei der Münchner Aufführung der Hester (1577) ‚zogen gegen 1700 Kostümierte zu Fuß, auf Triumphwagen, zu Pferd durch die Straßen von München; und zwischen ihnen Riesen, Teufel, Menschen mit Löwenköpfen, Tiger, Elefanten, auf denen Neger saßen, Delphine, Wölfe, Henker, Liktoren, Zauberer, Janitscharen’. In Graz wurde Ferdinand II. 1617 bei seiner Rückkehr von der Krönung zum König von Böhmen mit einem Aufzug der Jesuitenschauspieler empfangen, in denen Vertreter aller Erdteile, nebst Elefanten, Seekrebsen, Erzengeln aufrückten und große Wagen zu sehen waren, von denen herunter die jugendlichen Darsteller Reden an das prachttrunkene Volk hielten’. Die Festaufführungen fanden zumeist im Freien statt […] Hingegen wurde der Godefridus Bullionius (1596), an dem 152 Schauspieler beteiligt waren, in der ‚aula Gymnasii’ vor einer ‚unnumera turba’ gegeben“. Szarota erkennt im Jesuitendrama mit seinen Aufführungspraktiken einen Vorläufer der modernen Massenmedien. Nach einer gewissen Zeit stellten die Jesuiten fest, daß es gut wäre, zu den lateinischen Stücken Programmzettel, d.h. Periochen, zu verfassen und zu verteilen. In ihnen wurde der Inhalt der einzelnen Stücke zusammengefaßt, es wurden wichtige lateinische Sätze angeführt und ins Deutsche übersetzt sowie das Dargestellte, der Stoff und die Themen erläutert. Szarota hat über sechshundert solcher Periochen zusammengestellt und sie mit gründlichen, manchmal mehrseitigen Kommentaren versehen. Vielfach musste sie die deutschen Texte anhand der lateinischen erklären, denn die deutschen waren oft nicht verständlich. Man hat den Eindruck, dass die Jesuiten nicht immer des Deutschen mächtig gewesen sind. Eine Reihe von Periochen hat Szarota in Bibliotheken und Archiven entdeckt und in ihrer Edition zum ersten Mal abgedruckt, andere waren zwar schon einmal erschienen, sind aber heute schwer zugänglich und waren vor allem nicht kommentiert worden. In der Einleitung gibt die Autorin einen ausführlichen Überblick über die zweihundertjährige Geschichte des Jesuitendramas.
[4] Er war ein bekannter Kritiker der polnischen und russischen Literatur. In mehreren Schriften verurteilte er das Sowjetsystem. Sie erschienen 2016 gesammelt (Rafał Marceli Blüth, „Likwidacja leninowskiej elity” oraz inne pisma sowietologiczne 1933-1938 /“Die Liquidierung der Leninschen Elite“ und andere sowjetologische Schriften/).
[5] Werner Kirchner (1895-1961) war von 1922 bis 1930 an der Odenwaldschule tätig (siehe hierzu Alfred Kelletat, „Werner Kirchner zum Gedächtnis“ in: Hölderlin-Jahrbuch 1961/62, S. 268-272, insb. S. 269).
[6] Diltheys Erlebnisbegriff. Entstehung, Glanzzeit und Verkümmerung eines literaturhistorischen Begriffs, Quellen und Forschungen Bd. 45 (169), Walter de Gruyter, Berlin, New York 1972.
[7] Das Manuskript der Memoiren befindet sich im Marbacher Literaturarchiv. Es ist in deutscher Sprache abgefasst. Hier zitiert S. 49.
[8] Der genaue Titel der Dissertation lautet: Studien zu Gautier de Coincy. Sie erschien in Limburg an der Lahn, 1934.
[9] Helmut Guminior, Rudolf Ringguth, Max Horkheimer, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 54.
[10] Eleonore Kalkowska (1883-1937) schrieb ihre ersten Erzählungen auf Polnisch, um dann ins Deutsche überzuwechseln. Bekannt wurde sie durch ihre Dramen Josef, das im März 1929 im Dortmunder Stadttheater und einen Monat später in der Berliner Volksbühne aufgeführt wurde, und die Zeitungsnotizen, die das Berliner Schillertheater Ende 1932 auf seine Bretter brachte. In beiden Stücken zeigt sich die Autorin sozial engagiert.
[11] Jan Berger, „Zwiastun grozy hitlerowskiej. Henryk Kleist“ (Ein Vorbote des Hitlerschreckens. Heinrich Kleist), in: Przegląd Zachodni, Poznań 1948, S. 384-421; Jan Chodera, Literatura niemiecka o Polsce (Die deutsche Literatur über Polen), Katowice 1969; Hubert Orłowski, „Polnische Wirtschaft“. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit, Wiesbaden 1996.
[12] erschienen in: Europejskie związki literatury (Festschrift für Zofia Szmidtowa), Warszawa 1969, S. 155-186.
[13] Verlagsorte: Wien, München, Zürich.
[14] Er war der Leibarzt von Jan Sobieski.
[15] Ich habe in meinem Buch Polen und Juden zwischen 1939 und 1968 (Berlin 2004) versucht darzustellen, wie der polnische Widerstand die Straße zurückeroberte. Den Höhepunkt bildete der Warschauer Aufstand.
[16] Faust 1, Vers 1105.
[17] In der Volksrepublik Polen war die Universitätskarriere in keiner Weise von Berufsverfahren abhängig. Man wurde auf Empfehlung des Professors bzw. Professorin mit Einverständnis einer Kommission Assistent/Assistentin und musste dann in einem bestimmten Zeitraum seine Dissertation verfassen, um „Adiunkt“ werden zu können. Die nächste Qualifikationsschrift war die Habilitation, die zum Dozententitel berechtigte. Danach erfolgte die außerordentliche Professur, die mit einem komplizierten Verfahren verbunden war: wenn die Fakultät der Meinung war, dass es Zeit sei, eine Professur zu beantragen, wandte sie sich mit einem entsprechenden Antrag an den Senat, der diesen an eine Zentrale Kommission für die Verleihung von Professorentiteln weiterleitete. Wenn sie das als begründet ansah, bat sie den Vorsitzenden des Staatsrates, dem Kandidaten (der Kandidatin) das Diplom für diesen Titel auszuhändigen. Gleiches betraf die ordentliche Professur. Frau Szarota erlangte die außerordentliche Professur nach der Veröffentlichung des Buchs Künstler, Grübler und Rebellen und die ordentliche gleich zu Beginn der 1970er Jahre.