Sep 2023

Auszüge aus der Erzählung mit Diskussionsvorschlägen für den Unterricht

Diskussionsthema 1: Deutsch-deutsche (Miss-)Verständnisse
Diskussionsthema 2: Der Roman als Heimatroman, die DDR als Heimat
Diskussionsthema 3: Ostalgie und das Zimmerspringbrunnenmodell Atlantis
Diskussionsthema 4: Ein komischer Roman

Thema 1: Deutsch-deutsche (Miss-)Verständnisse

Am Ende des zweiten Kapitels unterhalten sich Hinrich Lobek und sein künftiger Chef Boldinger, der hier schon entschlossen ist, Lobek als Vertreter anzustellen. Boldinger nennt dafür einige Gründe, darunter Lobeks Wohnort Ost-Berlin und sonstige Erfahrung mit dem ‚Standort Ost‘. Dieser wiederum kämpft während des Gesprächs mit einem arg zähen Stück Schwarzwälder Schinkens: 

„‚Alles Punkte, die alle sehr für Sie sprechen, Herr Lobek. Und dunkle Punkte in Ihrer Vergangenheit gab es ja meines Wissens auch nicht?‘ 

Ich schüttelte atemlos den Kopf, wobei sich allerdings mein Schinkenkloß in Erinnerung brachte – er war ein Stück in den Hals hinabgerutscht. Mit einem kurzen, kräftigen Würger, ich mußte die Augen fest zusammenpressen, brachte ich ihn wieder, ehe es zu einem Erstickungsanfall kam, in die Ausgangslage … Boldinger sah mich forschend an. Ich atmete schwer. 

‚Aber – wenigstens in der Partei, in der Partei waren Sie doch?‘ fragte Boldinger nun vorsichtig nach. 

Ich nickte zaghaft. Doch ehe ich den Mund aufbekam, um – wie ich sie für diesen Fall parat hatte – ein paar orientierende Worte zu sagen, hatte er mir schon fest und aufrichtig die Hand gedrückt. (Unsere Hände müssen in diesem Moment ausgesehen haben wie auf dem Parteiabzeichen.) In Boldingers Augen las ich ein stummes ‚Sag jetzt nichts, Hinrich!‘ 

Dafür sprach er nun auf mich ein, leise, beschwörend: ‚Sie wollten sich etwas schaffen, aber es war eben die falsche Gesellschaft, in die Sie hineingeraten waren. Nur – einfach so herumsitzen, die Hände in den Schoß zu legen: das war Ihre Sache nicht. Sie wollten … nein, Sie mußten etwas bewegen. – Das kann ich sehr, sehr gut verstehen, Herr Lobek.‘“ (S. 35 f.)[1] 

Fragen zur Diskussion

  • Hier sprechen ein künftiger Arbeitgeber und ein dringend Arbeit suchender Mann miteinander. Der eine kommt aus dem Westen, der andere aus dem Osten. Merkt man diese beiden Asymmetrien dem Gespräch an, genauer: seiner Nacherzählung durch Lobek? Wie? 
  • Was erfahren wir durch die Textpassage über das, was Boldinger, der Westdeutsche, über Lobek, den Ostdeutschen, und die DDR annimmt und glaubt?  
  • Und was erfahren wir durch die Textpassage über das, was Lobek von solchen Annahmen weiß und hält? 
  • Gibt es heutzutage auch noch solche nur halb verdeckten Annahmen, die im Westen über den Osten verbreitet sind – oder im Osten über den Westen? 

Thema 2: Der Roman als Heimatroman, die DDR als Heimat

Zum Abschluss des dritten Kapitels sitzt Hinrich Lobek allein in seiner etwas schäbigen Pension im Schwarzwald-Örtchen Bad Sülz und denkt über sich und sein Leben nach: 

„So saß ich an diesem Abend für mich allein und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Sollte Bad Sülz tatsächlich zu einem Wendepunkt in meinem Leben werden? Es sah ganz danach aus, obwohl es sicher noch zu früh war, an diesen kleinen Erfolg große Hoffnungen zu knüpfen. So beschloß ich also, anstatt in der Zukunft herumzuspekulieren, zunächst – nach der Erinnerung – meine Protokollaufzeichungen zu [Verkaufsleiter] Strüvers Seminar zu vervollständigen. 

Als ich damit fertig war, sah ich mich im Aufenthaltsraum um. In der Nußbaumvitrine zwischen den Fenstern war bis auf ein Halma-Spiel (leider unvollständig), ein Fahrplanheft der Deutschen Bundesbahn aus dem Jahre 1988 (Winterhalbjahr), eine zerlesene Floristenzeitschrift und einen Fotobildband ‚Du, unsere schöne Heimat – Der Hochschwarzwald‘, leider nichts zu finden. Also pendelte ich zwischen den bunten Fernsehprogrammen, die aus der grau-grünen Topfpflanzenecke herüberflimmerten, hin und her. 

Au[f] dem französischen Kanal gab es eine Sportsendung, bei der dicke Männer sich abwechselnd gegenseitig auf die Matte warfen. Das war jeweils mit Applaus verbunden. Das Bild war aber schlecht. Gleich daneben eine Talkshow. Leider begriff ich nicht, worum der Streit ging. […] 

Noch einen Klick weiter gab es einen deutschen Film, wahrscheinlich aus den siebziger Jahren; man sah es an den Autos. Das fand ich eher nicht so spannend. Bald aber merkte ich, daß es sich hier doch um einen Sex- oder wenigstens Aufklärungsfilm handelte. Also blieb ich dran. Ein Sprecher erzählte von verschiedenen ‚Fällen‘. Ein Wohnwagen auf einem Campingplatz war nun zu sehen. Zum Beispiel, sagte der Sprecher, der ‚Fall Monika F.‘ Der Wohnwagen begann hin und her zu schaukeln. – So ging das den ganzen Film. Über den Zeltplatz schlichen Teenager und Bademeister. Sie verdrehten bedeutungsvoll die Augen und wiesen sich immer wieder gegenseitig auf den Wohnwagen hin. Darin vor allem bestand die Handlung dieses Films, der übrigens unsynchronisiert, in bayrischer Sprache, lief. Wieder ein Schnitt, wieder der vor sich hinrammelnde Wohnwagen … 

Mein Gott! Ich stöhnte auf. Ich dachte an Julia [seine Frau], an Zuhause. Und auf einmal, ich wußte nicht, wie, kam es über mich, und ich mußte hier, im Aufenthaltsraum des ‚Föhrentaler Hofs‘, unter dem imitierten Holzbalken der Decke, eingerahmt von Schwarzweißfotografien des Schwarzwalds, vor mir auf dem Tisch einen verjährten Fahrplan, dem längst alle Züge davongefahren waren – mußte ich plötzlich, ohne mich dagegen wehren zu können, wie zwanghaft einen Satz sagen, der mir so bisher noch nie in meinem Leben von den Lippen gekommen war: ‚Ich liebe meine Heimat, die Deutsche Demokratische Republik.‘“ (S. 53-55) 

Fragen zur Diskussion:

  • Lobek ist in den frühen neunziger Jahren als Ostdeutscher im Hochschwarzwald gelandet. Was für ein Image hat diese Gegend (vermittelt etwa in dem Fotobildband, der Lobek in die Hände kommt)? Und wie verhält sich dieses Image zu dem Begriff ‚Heimat‘? 
  • Was für eine Realität erlebt Lobek in dieser Pension, dem Föhrentaler Hof? Versuchen Sie, die erwähnten Objekte seiner Betrachtungen und Wahrnehmungen, den Fahrplan, den Film im Fernsehen etc., entsprechend einzuschätzen und zu deuten. 
  • Dass Hinrich Lobek, alleine in seiner Pension, Heimweh hat, ist sicherlich verständlich. Es überfällt ihn hier aber schon sehr plötzlich, überwältigend („auf einmal, ich wußte nicht, wie“) und unkontrollierbar. Wieso eigentlich? Und wieso bezieht sich sein Heimweh auf „die Deutsche Demokratische Republik“? 
  • Und wieso kam ihm diese Liebeserklärung an die DDR früher, also als es die DDR noch gab, nie von den Lippen? Haben Sie eine Idee? 
  • Die Heimweherfahrung zeigt: Heimat ist uns besonders wichtig, wenn sie vermisst wird, wenn man ihr fern ist oder wenn man sie, wie Lobek im Roman, verloren hat. Was unterscheidet den wendebedingten Heimatverlust derer, die in der DDR aufgewachsen sind oder gelebt haben, vom Heimatverlust von Flüchtlingen, die aus ihren Heimatländern geflohen sind? Und worin gleichen sich diese verschiedenen Arten von Heimatverlust? 

Thema 3: Ostalgie und das Zimmerspringbrunnenmodell Atlantis

Bevor seine Zimmerspringbrunnenvertreterkarriere so richtig anlaufen kann, demolieren Hinrich Lobek und sein Hund Freitag eines der zu verkaufenden Jona-Modelle. Hinrich entscheidet sich, aus eigener Kraft und Phantasie für Ersatz zu sorgen und entwickelt sein Modell „Atlantis“. Auch der Name ist von ihm. In den nachfolgenden Textpassagen werden die Herstellung und ersten Verkäufe von Atlantis und damit das neue Zimmerspringbrunnenmodell selbst beschrieben: 

„Vor mir stand das unbrauchbare Jona-Modell. Und da ich es nicht länger untätig anstarren konnte, zog ich mir meinen blauen Arbeitskittel über, öffnete den Werkzeugschrank und begann mit der Arbeit. Wenn man nicht weiß, was man machen soll, muß man etwas tun. 

Später bin ich oft gefragt worden, wie ich damals auf meine Idee gekommen bin, ob vielleicht ‚Auferstanden aus Ruinen‘ mich inspiriert hätte? Ich weiß es nicht. Ich konnte es nie genau sagen. 

Beim Heimwerker arbeiten die Hände! Der Kopf, als stiller Beobachter, kann von seiner hohen Warte aus dem Treiben der Hände nur staunend folgen. […] 

So mußte ich etwa, wegen des gekürzten Zuleitungsschlauches, auch den Fernsehturm, der jetzt das Zentrum bildete, ein Stück kürzen. Ich sägte ihn, bevor ich ihn wasserfest aufklebte, unerhalb der Kuppel ab. Dadurch wurde er zum Kegelstumpf, was wiederum den Gedanken nahelegt, um ihn herum eine Vulkanlandschaft entstehen zu lassen.  

Und so weiter. – Ich deute das nur an, um zu zeigen, daß im Schaffensprozeß auch Zufälliges mit im Spiel war. 

Ebenso war es beim Namen. Als ich, spät nach Mitternacht (Freitag, der Sünder, schlief schon längst) den ersten Probelauf durchführte, wußte ich sofort: es muß Atlantis heißen. […] 

[Bei dem Fernsehturm handelt es sich] um Geschenkartikel, ca. 250 Stück Kugelschreiber in Form des DDR-Fernsehturms, die ich noch aus meiner KWV-Zeit [Kommunale Wohnungsverwaltung] herübergerettet hatte. […] 

Das Bemerkenswerte, was ich nun herausgefunden hatte, war: schraubte man so einen Kugelschreiber auseinander und nahm Mine und Feder heraus, ergab sich eine ideale Hohlform, in die der Jona-Wasserzuleitungsschlauch genau hineinpaßte! 

Die goldene Aufschrift ‚Berlin – Hauptstadt unserer Republik‘ hatte ich bei meinem ersten Versuch zwar ausgekratzt; später, als ich mit Atlantis in Serie ging, ließ ich sie einfach stehen.“ (S. 94-96) 

„Mir dämmerte allmählich, daß die Intuition (oder was immer es sonst gewesen sein mag) mich damals, an jenem traurigen Abend mit dem defekten Jona, durchaus auf den richtigen Weg geleitet hatte, als sie mich in müseliger Nachtarbeit die Umrisse der DDR, meines untergegangenen Landes, aus der Kupferplatte heraussägen ließ.“ (S. 104) 

„So kratzte ich etwa bei dem einen Modell Städtenamen in die Kupferplatte, zum Beispiel (und in voller Absicht) ‚Karl-Marx-Stadt‘ dort, wo sich Chemnitz heute befand, bei anderen Ausführungen wiederum beließ ich es bei der vulkanischen Ausgestaltung der Landschaft. 

Der Erfolg, den ich mit Atlantis hatte, war mir unbegreiflich, ja, bisweilen auch unheimlich. […] 

Ich sah mir meine Kunden genau an. Natürlich, etliche betrachteten das als Kuriosum, als Party-gag vielleicht. Die meisten aber behandelten Atlantis wie einen Kultgegenstand. Es waren regelrechte Altarecken, wo er landete; manchmal hatte ich den Eindruck, in einem Traditionskabinett gelandet zu sein.“ (S. 105 f.) 

Fragen zur Diskussion

  • Lobeks Zimmerspringbrunnenmodell Atlantis symbolisiert zweifellos die DDR. Inwiefern und wie tut es das? Wie erscheint die so repräsentierte DDR? 
  • Das neue Zimmerspringbrunnenmodell wird von Hinrich Lobek spontan „Atlantis“ benannt. Man kann aber davon ausgehen, dass der Romanautor Sparschuh den Gegenstand ganz bewusst und in voller kommunikativer Absicht so genannt hat. Wofür steht der Name „Atlantis“ – gerade im Zusammenhang mit der DDR? 
  • Das Zimmerspringbrunnenmodell Atlantis ist zweifellos ein ‚ostalgischer‘ Verkaufsschlager. Das Wort und das Phänomen „Ostalgie“ sind etwa ebenso alt wie Sparschuhs Roman. Recherchieren Sie, was Ostalgie war (oder ist) und wie sie sich äußerte. Wie verhält sich der Kult um Lobeks Zimmerspringbrunnen zur realen, historischen Ostalgie? 

Thema 4: Ein komischer Roman

Das vierte Kapitel des Romans – Julia hat Hinrich nach einem heftigen Streit gerade ausgesperrt – endet mit einem Witz, und das nachfolgende fünfte Kapitel – Hinrich hat die dem Kapitel den Titel gebende Erfolgsformel des Persönlichkeitstrainers N. Enkelmann bereits verinnerlicht – beginnt mit einem Gag: 

„So ging ich also mit festen Schritten zurück in den Hobbyraum. Wenigstens war ich nun entschlossen, mich darauf zu freuen, daß demnächst der Außendienst beginnen würde. 

‚Weißt du eigentlich, wie wahnsinnig du mich aufregst?‘ hatte mir Julia noch zum Abschluß dieses denkwürdigen Tages ins Gesicht geschrien und sich dann für mehrere Stunden im Bad eingeschlossen. Nein, das hatte ich nicht gewußt. Spät in der Nacht hielt ich es im Protokollbuch fest: ‚Julia findet mich wahnsinnig aufregend!‘ 

Ansonsten verhielt ich mich wachsam, still und abwartend. Doch es geschah nichts weiter. 

 

– Ich will. Ich kann! Ich werde!!! – 

– diese Erfolgsformel für positiv denkende Menschen, die goldenen Worte Nikolaus Enkelmanns also im Ohr, lag ich im Bett. Es war Viertel nach neun, Julia mußte längst zur Arbeit gegangen sein. 

Am Nachmittag sollte ich mich mit Strüver treffen. Ich wollte ausgeruht sein, also stellte ich den Wecker auf halb zwölf, legte meinen Kopf vorsichtig wieder zurück aufs Kissen und konzentrierte mich: Ich will weiterschlafen. Ich kann weiterschlafen. Ich werde …“ (S. 66 f.) 

Fragen zur Diskussion

  • Finden Sie den ersten Witz (am Ende des vierten Kapitels) komisch? Haben Sie beim Lesen gelacht (gelächelt, geschmunzelt)? Wie funktioniert der Witz? Können Sie ihn erklären? 
  • Und dasselbe mit dem zweiten Witz (zu Beginn des fünften Kapitels) … 
  • Das Thema des Romans – die durchaus belastenden Folgen der Wiedervereinigung für Teile der ostdeutschen Bevölkerung, die als Heimatverlust erzählt werden können – ist ja durchaus ernst. Wieso hat Jens Sparschuh dann dennoch einen komischen Roman geschrieben (die beiden komischen Textpassagen sind ja bei Weitem nicht die einzigen)? Welche Funktion hat die Komik hier? Haben Sie eine Idee? 

[1] Alle Textzitate folgen der Erstausgabe: Sparschuh, Jens. Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995.

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