Sep 2020

I. Einführung: Wind of Change: Transatlantic Soundtracks after 1945, Part I

Einführung: Wind of Change:

 

Transatlantic Soundtracks after 1945, Part I

 

Frederick A. Lubich, Norfolk, Virginia

 

 „The future is in the air,
I can feel it everywhere.“
Scorpions, „Wind of Change“

 

Keine Kunstform ist so mannigfaltig und facettenreich, einerseits so erotisch-emotional und andrerseits so spirituell-transzendental, kurzum, so sinnlich-übersinnlich wie das Wesen und die Wirkung der Musik. Um hier nur einige sinnbildliche Beispiele aus der Alten und Neuen Welt zu nennen: Sie quillt aus dem sumpfigen Untergrund, wie man es gewissen wasserreichen Regionen entlang des Mississippi-Deltas nachsagt, dem sagenhaften Geburtsort des afro-amerikanischen Rhythm ‘n’ Blues, sie verwandelt sich in die entzückt berückenden Tanzbewegungen des Tangos und Flamencos iberisch-argentinischer Herkunft und steigert sich schließlich über die gregorianischen Mönchsgesänge des christlich-abendländischen Mittelalters bis hinauf in die weltentrückten Sphärenklänge der Cherubim und Seraphim morgenländischer Provenienz und jüdisch-alttestamentarischer Observanz.

Will man die so permanent ephemerische Kunst der Musik auch metaphorisch noch etwas weiter interpretieren und charakterisieren, so ließe sich sicherlich argumentieren, sie sei sowohl die evokative Verdichtung der früher so oft beschworenen Volksseele, als auch des heute noch so vielzitierten Zeitgeistes. Und damit ist die Musik nicht zuletzt – mehr oder weniger frei nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel – die klangliche Verkörperung des geschichtsschwangeren Weltgeistes par excellence. Und dergestalt erlebt sie denn auch in jeder folgenden Generation immer wieder von Neuem ihre ethnische Wiedergeburt und zeitgenössische Renaissance.

Was immer man von derartigen Vergleichen und Gleichnissen halten mag, in jedem Falle kann die Musik heute auf komplex-kommunikative Art und Weise mehr denn je die Herzen der Menschen im sprichwörtlichen Sturm erobern und dies zudem immer leichter und schneller auf Grund der sich rapide ausbreitenden Vernetzung der elektronischen Medien rund um die Welt. Von der Schallplatte zum Tonband und vom Walkman zum Smartphone, dieser technisch-systematische Fortschritt ist jedenfalls bezeichnend für die heutige Musikindustrie und ihre multimediale Marketing-Strategie ganz nach den gängigen Mottos und Mantras wie „music to go“, „music is in the air“, in anderen Worten, „music is everywhere“!

„First we take Manhattan, then we take Berlin”, so lautet der Refrain eines Leonard-Cohen-Songs aus dem Jahr 1987 – also zwei Jahre vor dem Berliner Mauerfall – in dem es weiter heißt, „I’m guided by a signal in the heavens […] I’m guided by the beauty of our weapons.“ Genauer betrachtet, entpuppt sich diese so esoterisch, ja geradezu chiliastisch-millenarisch anmutende Eroberung von Berlin und Manhattan als eine ruminierende Rhapsodie auf das Wunderwerk der Musik und ihrer so irdisch-überirdischen Macht und Magie.

Es war vor allem in Berlin und New York, zwei der bedeutendsten Metropolen der Hochmoderne, in deren Glanzzeiten sich die moderne Musik voll entfalten konnte, sei es in der Cabaret-Kultur im Berlin der Weimarer Republik oder in den neuen Tanzformen und Musikstilen im New York des Jazz Age und seiner legendären Harlem Renaissance. Die kreative, innovative Energie dieser transatlantischen Roaring Twenties sollte zwei Generationen später vor allem in der Rockmusik der weltweiten Woodstock-Nation ihr großes, internationales Comeback feiern.

Für letztere wurden Songs wie „Born to Be Wild“ von Steppenwolf, „Heroes“ von David Bowie oder „Imagine“ von John Lennon zu romantisch-rebellischen und letztlich utopisch-futuristischen Hymnen, die während des Kalten Krieges Jugendliche diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs in ihrer Sehnsucht nach der großen, grenzenlosen Freiheit und einer neuen, besseren Welt mehr und mehr beflügelte, grad so, als wäre in der Tat nur noch der Himmel die Grenze.

Doch kein Lied fing diesen ruhelosen Zeitgeist, diesen Sturm und Drang einer weltweit bewegten Jugendgeneration besser ein als „Wind of Change“ der deutschen Rockband Scorpions. Diese rockende Power-Ballade aus dem Jahr 1990 wurde zum epochalen Blockbuster, der die große geschichtliche Wende des zwanzigsten Jahrhunderts, den Fall der Berliner Mauer und den Zusammenbruch des gesamten Ost-Block-Imperiums besang und beschwor und bald auch noch als Soundtrack in mehreren Filmen überall mehr und mehr zum Klingen brachte.

„Wind of Change“ war das globale Fanal für das internationale Finale der Ost-West-Konfrontation, die eine ganze Welt seit Ende des Zweiten Weltkrieges jahrzehntelang in Atem gehalten hatte. Das Lied der Scorpions führte zu jener Zeit lange die Musik-Charts zahlreicher Länder diesseits und jenseits des Atlantiks an, erreichte Platz 4 in Amerika, Platz 2 in England und Platz 1 in Ländern kreuz und quer durch ein mehr und mehr vereinigungsfreudiges Europa.

Zum zehnjährigen Jahrestag des Mauerfalls spielten die Scorpions zur Feier des Tages dieses Lied direkt am Brandenburger Tor, um den großartigen Zauber jenes geschichtlich so einzigartigen Augenblicks – „the magic of the moment“, wie es in diesem Song so zutreffend heißt – noch einmal für alle erneut zum Leben zu erwecken. Und einige Zeit später, im Jahr 2005, sollten die Zuschauer des Zweiten Deutschen Fernsehens in der Tat wortwörtlich weit in die Ferne sehen, um schließlich im Rückblick auf die Geschichte „Wind of Change“ zum „Lied des Jahrhunderts“ zu ernennen.

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Wir hatten als Herausgeber von Glossen gehofft, mit unserem Aufruf zu Beiträgen für diese Ausgabe die musikalischen Evolutionen mitsamt den politischen und kulturellen Revolutionen der modernen Musikgeschichte etwas genauer konturieren und illuminieren zu können. Und wir wurden nicht enttäuscht, ganz im Gegenteil, wir bekamen so viele Zusendungen, dass wir die ausgewählten Beiträge schließlich auf zwei Ausgaben verteilten mussten.

Glossen #46, die Folgenummer zu diesem Thema, ist für Ende 2020 vorgesehen und einmal mehr „the Magic of the Moment“, wie es in „Wind of Change“ heißt, also der Magie der Musik und dem Zauber ihres Augenblicks gewidmet, und der bezeichnet in diesem Falle nicht nur den Augenblick des musikalischen Erlebnisses, sondern auch den Augenblick der historischen Zeiterfahrung und bildet auf diese Weise gewissermaßen eine höhere Einheit, eine Art unio mystica, wie sie wohl auch Leonard Cohen in seinen oft so enigmatisch wirkenden, mystisch-orphisch aufsteigenden Gesängen immer wieder vorgeschwebt haben mag.

Da wir als Herausgeber soweit wie möglich die gesamte Bandbreite und Reichweite der musikalischen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest im weiteren Überblick zur Darstellung bringen wollten, also das gesamte komplementäre Spektrum, das man früher als Ernste Musik und Unterhaltungsmusik zu bezeichnen pflegte, wurden deshalb auch mehrere Beiträge zu klassischen und klassisch-modernen Musiktraditionen in diese beiden Ausgaben mit aufgenommen.

Der Großteil der Beiträge beschäftigt sich jedoch mit der modernen Populärmusik und ihrer wechselseitigen, transatlantischen Rezeptionsgeschichte und dabei vor allem mit ihrer Rolle hinter dem Eisernen Vorhang. Und im Geiste – im Einklang mit dem gegenwärtigen Zeitgeist – der musikalischen Regeneration, schließen denn auch mehrere Erlebnisberichte von Beiträgern aus der jüngsten Generation, die ebenfalls dem Zauber der Musik verfallen sind, den thematischen Teil diese vorliegende Ausgabe ab. Letztlich sind sie die vielberufenen Millennials, denen die millenarische Herausforderung zukommt, die Zukunft unserer heutigen Gesellschaft und ihre weitere Gestaltung so gut wie möglich zu meistern. Oder in den Worten von „Wind of Change“: „Where the children of tomorrow share their dreams”.

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