Dec 2020

IV. Autobiografische Texte: Szenen zu Leonard Cohen

„But you don’t really care for music,

 

do you?“

 

Szenen zu Leonard Cohen

 

Gabrielle Alioth, Thunderhill, Termonfeckin, Irland

 

„It’s time that we began to laugh and cry and cry and laugh“

Ich bin dreizehn Jahre alt, meine ältere Schwester liest Salut les Copains und hört Jacques Brel. Wir haben die Maiunruhen, den Prager Frühling und den Vietnamkrieg am Fernsehen gesehen. An diesem Morgen stehe ich an der Haltestelle und warte auf den Bus, mit dem ich in die Stadt zur Schule fahren werde. Das rote Beret trage ich nicht mehr, es verrutscht auf meinem glatten braunen Haar. Dolly hat blondes gewelltes Haar, und ich bewundere sie. Sie kennt sich aus, auch mit Männern. An diesem Morgen singt sie den Refrain eines englischen Liedes. Ich verstehe fast alles, obwohl ich in der Schule nicht Englisch, sondern Altgriechisch lerne, und summe mit. Bis sie inne hält: „Du weißt natürlich, dass es laugh heißt, lachen und nicht lieben?“ „Natürlich“, lüge ich.

 

„Many loved before us, I know that we are not new“

Ich bin fünfzehn Jahre alt, und meine ältere Schwester hat mir ihr Moped geliehen. Es ist Samstagabend, und ich fahre an das Sommerfest auf dem Hügel am Stadtrand. Es dauert nicht lange, bis ich ihn finde. Urs hat blaue Augen und gewelltes Haar. Er ist auf dem Weg zu einem Konzert und überrascht, als ich frage, ob ich mitkommen dürfe. Das Konzert findet in einem Gemeindesaal statt. Die erste Band spielt schon, als wir ankommen, und es ist dunkel, aber ich sehe Dolly in einer Ecke in den Armen ihres Freundes. Wir hocken uns auf den Boden zwischen die anderen. Urs küsst mich. Ich überlege, was er mit seiner Zunge in meinem Mund sucht, aber ich weiß es nicht.

 

„I will help you if I must, I will kill you if I can“

Ich bin siebzehn Jahre alt, und meine ältere Schwester wohnt nicht mehr zu Hause. Es ist Herbst, und ich fühle mich gut, aber ich kann es nicht länger verbergen. Ich muss etwas tun. Es macht überhaupt nicht weh, und als in der Nacht das Wasser bricht, hänge ich das nasse Leintuch über den Stuhl und lege mich wieder schlafen. Ich schlafe so gut in diesem Jahr. Am übernächsten Morgen bestellt meine Mutter ein Taxi. Ich schreie während der Fahrt und im Treppenhaus vor der Arztpraxis. Ich weiß, dass es Frauen gibt, die ihre Kinder allein im Urwald gebären. Eine Woche später gehe ich wieder in die Schule.

 

„Just win me or lose me“

Ich bin neunzehn Jahre alt, meine ältere Schwester ist nach Salzburg gezogen. Martin hat blaue Augen und blondes gewelltes Haar. Ich öffne den Mund, als er mich küsst. Martin ist aus gutem Haus und kennt sich aus. Ich erzähle ihm von dem Kind, aber er weiß, was er will. Nach dem Studium heiraten wir.

 

„Waiting for the miracle to come“

Es ist Sonntagnachmittag, und wir spazieren den Rhein entlang. Martin spricht über die Arbeit an seiner Dissertation. Ich denke an die Servietten, die ich noch bügeln muss, und die Kurzgeschichte über die toten Katzen, die ich gern schreiben würde. Wir setzen uns auf eine Bank. Martin erklärt mir, wer von seinen Verwandten in den Patrizierhäusern am gegenüberliegenden Ufer wohnt, und ich weiß, dass ich das nicht ein Leben lang aushalten werde.

 

„And is this what you wanted, to live in a house that is haunted, by the ghost of you and me“

Ich bin neunundzwanzig Jahre alt, und wir haben ein Haus in Irland gekauft. Es hat keine Heizung, kein Bad, die Fenster sind zerbrochen, aber es liegt am Hang eines Tales, durch den ein Bach fließt. An einem Morgen im ersten Winter stehe ich am Ufer, als die Sonne aufgeht, und sehe den Tau in den Spinnweben zwischen den Schilfhalmen glitzern. Ich weiß, dass ich so lange hierbleiben werde, wie ich kann.

 

„Give me back the Berlin Wall“

Im Sommer 1987 fahren wir zum ersten Mal nach Berlin. Die Grenzposten sehen so aus wie in Irland, nur dass die Soldaten ihre Gesichter nicht mit Tarnfarbe beschmiert haben. Während Martin Zeitungsredaktionen besucht, fahre ich mit der U-Bahn in den Osten und kaufe günstige Buchausgaben von Goethe, Fontane, Heinrich Mann. Unter den Linden muss ich an das Lied von Hildegard Knef denken.

 

„And no one knows why the wine is flowing“

Wir haben uns in dem Haus über dem Tal eingerichtet und mehr Land gekauft, nun gehört uns auch der Bach. Ich habe meinen ersten Roman veröffentlicht und beschlossen, weiterzuschreiben anstatt Kinder zu haben. Martin ist erfolgreich als Journalist; wenn es nötig ist, helfe ich ihm. Manchmal gehe ich gegen Abend an den Bach hinunter und schaue dem Wasser zu. In den kleinen Buchten am Ufer dreht es sich in Wirbeln. Das Tal ist ein Teil von mir, aber ich weiß es noch nicht.

 

„Everybody knows that the war is over“

Am 31. August 1994 gehe ich wie jeden Morgen mit den Hunden am Strand spazieren. Am Abend zuvor hat die IRA eine unbefristete Waffenruhe erklärt. Es wird noch vier Jahre dauern, bis das Karfreitagsabkommen unterzeichnet wird. Der Kormoran, der an diesem Morgen in der Mündung des Flusses sitzt, hat seine Flügel zum Trocknen ausgebreitet. Er sieht aus wie ein Wappentier.

 

„Dance me to the end of love“

Am Montagabend fahren wir in die Stadt für die Tanzstunden. Es ist kalt in dem großen Saal, wir sind allein mit der Lehrerin, und sie muss uns die Schritte immer wieder zeigen. Martin wird wütend, wenn er Fehler macht. Wir wissen beide, dass wir den Tango niemals lernen werden. Ich würde gern Rumba tanzen können. Es heißt, Rumba sei der Tanz der Liebe.

 

„That’s how the light gets in“

Ich arbeite an meinem vierten Roman. Es ist der hermetischste, den ich je schreiben werde, und ich weiß, dass ich am Ende eines Weges bin. Für drei Monate lebe ich in Santa Monica. Die Jacarandas blühen. Gegen Abend spaziere ich manchmal zum Meer hinunter, um den Sonnenuntergang zu sehen.

 

„If you want a lover“

Ich bin dreiundvierzig Jahre alt, als ich Dich wieder treffe. Ich weiß sofort, dass ich Dich liebe. Du sagst, es ist genauso wie damals. Ich bin glücklich, ich sehe es, als ich in den Spiegel schaue. Ich nehme mir vor, die zweite Chance nicht zu vertun.

 

„There ain’t no cure“

In unserer ersten Nacht klingelt Dein Telefon. Ein Notfall, Du musst ins Krankenhaus zurück. Vom Fenster des dunklen Zimmers aus sehe ich, wie Du auf dem Hotelparkplatz ins Auto steigst und den Motor startest. Bevor Du losfährst, blendest Du den Schweinwerfer für einen Augenblick auf. Die Zärtlichkeit des Lichts schnürt mir die Kehle zu.

 

„It don’t matter how you worship as long as you’re down on your knees“

Wir sehen uns heimlich, und oft muss ich auf Dich warten. Aber es ist besser, als nicht zu warten, und wenn Du da bist, ist es nicht mehr wichtig. Es fällt mir leicht, ein Doppelleben zu führen, und manchmal macht es auch Spaß. Ich schreibe über die Liebe.

 

„The odds are there to beat“

An einem Abendessen nach einer Lesung in Dhaka liest mir mein Tischnachbar aus der Hand. „There was an accident in your life“, sagt er. Ich weiß, wovon er spricht. „And there is another one to come.“ Die Gespräche am Tisch verstummen. Als ich am Tag darauf in einer Maschine der Bangla Airlines nach Kalkutta zurückfliege, überlege ich, ob ein Flugzeugabsturz ein accident ist. Aber natürlich stünde der nicht in meiner Hand.

 

„If it be your will“

Nach zehn Jahren erfährt Martin, dass ich ihn betrüge. Er sagt, er habe immer gewusst, dass ich eine Lügnerin sei. Der Scheidungstermin ist Ende Dezember. Die Verhandlung dauert nur ein paar Minuten, dann wünscht die Richterin uns Glück. Ich sehe Martin in seinem Regenmantel die Straße hinuntergehen und denke, dass er Dir dankbar sein sollte.

 

„And thanks, for the trouble you took from her eyes, I thought it was there for good so I never tried“

Ich gewöhne mich an das Alleinleben; an den Verlust des Tales werde ich mich nie gewöhnen. Ich richte mich in einem kleinen Haus auf einem Hügel ein, und jeden Morgen gehe ich mit dem Hund am Strand spazieren. Ich treffe Dich alle paar Wochen für zwei, drei Nächte, meist in einer fremden Stadt. Es ist nicht wichtig wo.

 

„Everything depends upon, how near you sleep to me“

Ich bin dreiundsechzig Jahre alt, Leonard Cohen ist vor zwei Jahren gestorben, meine Schwester lebt immer noch in Salzburg. Ich dachte stets, dass ich lieber ein interessantes als ein glückliches Leben hätte; es ist so schwer, über Glück zu schreiben. Heute scheint mir, dass wir unsere Möglichkeiten, über unser Leben zu entscheiden, maßlos überschätzen. Das meiste passiert einfach – Liebe, Tod – und wir wissen nicht warum.

 

„The story’s told, with facts and lies.“

 

© G. Alioth 2018

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