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Aug 18 2016

Meine Vorväter im Remstal: Treue Soldaten ihres Kaisers und Führers

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von Hans Mayer

Meine Familie stammt mütterlicherseits aus dem württembergischen Breuningsweiler auf der Buocher Hochebene über dem lieblichen Remstal, wo schon im frühen Mittelalter, vielleicht auch bereits unter den Römern, Weinanbau betrieben wurde. Das Dorf mit seinen noch in den 1930er Jahren nicht einmal dreihundert Einwohnern, wurde 1293 zum ersten Mal urkundlich erwähnt. 1 Bruningswilar hieß es damals, war zu einem großen Teil, aber nicht ausschließlich im Besitz des Benediktinerklosters Lorch und gehörte zur Herrschaft Winnenden. Eine Vicinalstraße führte von Buoch durch den Ort nach Winnenden hinunter, vorbei an den Weinbergen des Haselstein. Die Familie Layer war seit Generationen hier als Weingärtner tätig. Zwei Söhne des Jakob Layer (auch Laier) vom Spechtshof bei Berglen hatten Ende des 17. Jhs. nach Breuningsweiler geheiratet und sich dort auf dem Kol-Lehen niedergelassen. 2
Die Einwohner Breuningsweilers, so heißt es in einer Beschreibung des Oberamtes Waiblingen 1850, gehörten zu einem kräftigen Menschenschlag. 3 Sie werden als listig, klug und zugleich sehr arbeitsam geschildert. Anstellig seien sie überdies. Die Armut herrsche gleichwohl überall. Ein einziger vermögender, kein reicher Mann sei im Dorf. Ich erinnere mich noch meiner Kindheitsbesuche bei den Großeltern in den 1950er Jahren. Es gab nur einen Bauern, der Pferde besaß und der sich auch als erster einen Traktor anschaffen konnte. Die Anderen spannten ihre Kühe vor den Leiterwagen, um ihr Getreide oder ihr Heu einzubringen.
Mein 1883 geborener Großvater Wilhelm Layer war eins von zwölf Kindern, in der Mehrzahl Söhne. Bei der württembergischen Erbteilungsregelung blieb da für den Einzelnen wenig übrig, um einen Bauernhof und eine Familie zu gründen. Mit dem väterlichen Wohnhaus hinter der Mistjauche, der dazugehörigen Scheuer und etwas Land war er noch gut bedient und nur äußerster Sparsamkeit war es zu verdanken, dass er nach und nach zukaufen konnte. Ein größerer Garten, ein paar Obstwiesen, zwei kleine Weinberge, Äcker, Wiesen und ein Stück Wald, dazu ein paar Kühe, Ziegen und Hühner erlaubten der Familie mit vier Kindern trotz allem nur einen äußerst bescheidenen Lebensstandard, verbunden mit harter Arbeit auf dem hügeligen, ja zum Teil steilen Gelände. Getreide und Gras wurden mit der Sense und an besonderen Stellen auch mit der Sichel geschnitten, Erdbeeren und Kirschen von Hand gepflückt, die Weintrauben mit der Tragbütte an den Hängen der Weinberge geerntet und in die Kelter gebracht. Zu großen Teilen war es eine Selbstversorgungslandwirtschaft. Im Sommer aber wurde das Obst an fahrende Händler verkauft, vor allem Steinobst und Erdbeeren, die auf dem im Allgemeinen wenig fruchtbaren, leichten Sandboden gut gediehen. Nichts durfte bei der Ernte gegessen oder gar vergeudet werden. Der Verkauf brachte Geld für notwendige Anschaffungen. Äpfel wurden für den Winter im Keller der Scheune eingelagert oder als Most vergoren, der dem Familienoberhaupt zustand. Wie Viele musste Wilhelm Layer jedoch dazuverdienen. Traditionell ging man als Schnitter ins Tal; Wilhelm wurde nach dem Ersten Weltkrieg Postbote im Nebenerwerb und blieb dies bis zu seiner Pensionierung in den späten 1940er Jahren.
Sein Sohn Gustav Layer wurde als zweites Kind am 17. Juli 1919 geboren. Er hatte eine ältere Schwester Maria und sollte noch zwei jüngere Schwestern, Luise und Rosa, bekommen. Gustav war also der einzige männliche Nachkomme. Die Familie Layer war seit Generationen protestantisch, man ging am Sonntag in die 1923 errichtete Dorfkirche, alle Kinder wurden konfirmiert. Mein Großvater wurde 1929 mit der zweithöchsten Stimmenzahl in den Kirchengemeinderat gewählt und blieb über zwei Wahlperioden dessen angesehenes Mitglied. 4
Über die Kindheit von Gustav in Breuningsweiler ist nur wenig bekannt. Seine siebenjährige Schulzeit verbrachte er in der zweiklassigen Dorfschule im Breuningsweiler Rathaus unter dem Lehrer Friedrich Stahl. Es war nicht unüblich, dass die Kinder der Bauern während der Erntezeit die Schule gelegentlich schwänzten, um den Eltern bei der Ernte zu helfen. Rechnen und Schreiben lernten sie gleichwohl. Die Realteilung in Württemberg berechtigte ihn vor dem Reichserbhofgesetz der Nationalsozialisten im September 1933 zwar nicht automatisch zur späteren Übernahme des väterlichen Hofes, jedoch wurde dies von dem einzigen männlichen Nachfahren im Allgemeinen erwartet. Gustav entschied sich jedoch anders. Im Frühjahr 1933 begann er eine Malerlehre bei dem Malermeister Rudolf Nißler in Winnenden. Eine finanzielle Kraftanstrengung für den kleinen Bauernhof, die man sich nur einmal leisten konnte. Die älteste der drei Schwestern war zu diesem Zeitpunkt schon in Stellung bei einer Familie in Stuttgart, bald sollte ihr die zweite Schwester folgen, die jüngste blieb bis zu ihrer Heirat auf dem elterlichen Bauernhof. Doch bereits im Sommer 1938 entschloss sich Gustav Layer, den Malerberuf an den Nagel zu hängen und stattdessen eine Karriere in der SS anzustreben.
Wie konnte es dazu kommen und an welchen Taten der verbrecherischen SS war er beteiligt? Ich habe es zu Lebzeiten meiner Mutter versäumt, sie genauer danach zu befragen. Die meisten Zeitzeugen sind verstorben. Wie lässt sich unter diesen Umständen noch ein Bild von meinem Onkel rekonstruieren? Meine Recherchen führen mich in das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde. Dort liegen die SS-Personalakten, auch die von Gustav Layer. 5 Die Akte Gustav Layer hat einen Umfang von 42 Seiten und folgt unmittelbar auf die Akte von Karl Layer. Wie sich bald herausstellt, ist das der Sohn von Ernst Layer, einem Bruder meines Großvaters. 6 Es ist der zweite SS-Fall in der Familie.
Von den Akten erwarte ich ausführliche Informationen über Gustav Layers Bewerbung bei der SS, Tätigkeiten, Einsatzorte, Ausbildung, weltanschaulichen Schulungen und Beförderungen, und vieles mehr zu erhalten, was mir erlauben würde, mir ein genaueres Bild von meinem Onkel bei der SS zu machen. Außer einem handgeschriebenen Lebenslauf und einigen nicht immer sehr präzisen, zum Teil auch widersprüchlichen Hinweisen zu seiner Karriere und zu seinen Einsatzorten finde ich dann vor allem eine überaus ausführliche Korrespondenz mit dem Rasse- und Siedlungshauptamt der SS zu seinen Heiratsplänen.
Erste Umrisse eines zukünftigen SS-Mannes wurden bei Gustav Layer frühzeitig sichtbar. 1934, ein Jahr nach der Machtübergabe an Hitler, jedoch bevor die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend im Dezember 1936 für alle Jugendlichen ab zehn Jahren verpflichtend wurde, trat mein Onkel Gustav in die HJ ein. 7 In seiner SS-Personalakte gab er später an, dass er das HJ-Leistungsabzeichen erworben habe und noch als SS-Gefreiter heftete er sich das silberne Leistungsabzeichen der HJ an die Brust, obwohl jedermann wusste, dass die Anforderungen dafür nicht sehr hoch waren und eigentlich nur dazu dienten, seinen Träger dem Hitler-Staat zu verpflichten. Die Teilnahme an einem dreiwöchigen Führerlehrgang in einer der HJ-Gebietsführerschulen weist ihn schon in der HJ-Zeit als jemand aus, der Amibitionen im nationalsozialistischen Staat hat. Nach dem Ende der Malerlehre begann er eine einjährige Beschäftigung bei seinem Lehrmeister in Winnenden. 8 Vermutlich hat Gustav Layer während dieser Zeit bereits Kontakt zu seinem Vetter Karl, dessen Vater in Waiblingen an der Rems ein Bildergeschäft betrieb. 9 Der elf Jahre ältere Kaufmann Karl Layer, den Gustav in seinen SS-Personalakten immer mal wieder als Referenz angab, hatte sich mit der Mitgliedsnummer 111078 bereits am 15.4.1933 der SS angeschlossen, im Jahr als die ersten Konzentrationslager eingerichtet wurden und die SS sich allmählich gegenüber der SA durchzusetzen begann. Im gleichen Jahr trat er auch der NSDAP bei, was darauf hindeutet, dass es nicht reiner Opportunismus, sondern eher grundlegende Überzeugungen waren, die ihn zur Mitgliedschaft in der SS bewegten.
Die Personalakte von Karl Layer ist vergleichsweise dick. Er zählte zwar nicht zu den alten Kämpfern im nationalsozialistischen Sinne, konnte aber im Verlauf seiner zwölfjährigen Dienstzeit bis in die mittlere Führungsebene der Waffen-SS aufrücken. Zu Beginn seiner Karriere waren die SS-Wachverbände noch eine vergleichsweise kleine Truppe. Karl Layer konnte für sich in Anspruch nehmen, dass er in den Jahren 1934 bis 1940 bei allen bedeutenden Einsätzen der SS im In- und Ausland dabei gewesen war. Er gehörte zu den wenigen Wachmännern, die 1934 im KZ Sachsenburg und danach im Columbia-Haus in Berlin ihren Dienst versahen, wo die Gestapo nach der Machtübergabe Nazigegner zunächst selbst gefoltert und ermordet hatte, bis 1934 die SS die Regie im Columbia-Haus übernahm und den systematischen Terror nach dem Modell des KZ Dachau einführte. Im KZ Sachsenburg und im Columbia-Haus, wo er Rechnungsführer war, sammelte Karl Layer seine ersten Gewalterfahrungen. „Die Gewalt“, heißt es in einer Dokumentation zum Columbia-Haus, „beginnt meist schon mit der Einlieferung, wenn die Häftlinge von den SS-Wachen mit Beschimpfungen, Schlägen und Tritten empfangen werden und oft stundenlang im Gang mit dem Gesicht zur Wand stehen müssen. Viele Häftlinge werden hier so sehr misshandelt, dass sie noch jahrelang an den Folgen leiden.“ 10 Einige wurden auch „wegen Übertretung der Hausordnung“ erschossen. 11
Kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Österreich im März 1938 wurde er 2. Verwaltungsführer der Totenkopfstandarte „Ostmark“, die mit dem Aufbau des Arbeits- und späteren Vernichtungslagers Mauthausen beschäftigt war. Als am 1. September 1939 der Angriffskrieg gegen Polen erfolgte, war auch Karl Layer als Mitglied der Totenkopfdivision „Brandenburg“ wieder dabei. Und auch am Frankreichfeldzug nahm er teil. Im Lauf der Jahre brachte er es bis zum Hauptsturmführer, ein Dienstgrad, der dem des Hauptmanns oder Kapitänleutnants in der Wehrmacht entsprach. Allerdings stand Karl Layer bei den Angriffskriegen nie an vorderster Front; er war nach dem, was ich den Akten entnehmen konnte, in erster Linie Verwaltungsmensch und Schreibtischtäter. Vor dem Feinde, heißt es in einer Beurteilung, habe er noch keine Gelegenheit gehabt. Sein Können sei vorwiegend verwaltungstechnisch. Darauf wird er sich später berufen. Und auch im Hinblick auf seine charakterlichen Eigenschaften bemängelten seine Vorgesetzten fehlendes Selbstbewusstsein, fehlende Umgangsformen und einen gewissen Hang zum Alkohol. So reichte es nicht zum Sturmbannführer, einer Position, die er nur zu gerne gehabt hätte.
Es liegt nahe anzunehmen, dass sich Gustav Layer an seinem Vetter ein Beispiel nahm, als er sich bei der SS bewarb. Aus formalen Gründen hätte er zum damaligen Zeitpunkt eigentlich nicht in die SS aufgenommen werden dürfen, denn er war nur 169 cm groß. 12 Möglicherweise ermöglichte dies aber die sich abzeichnende Kampagne Himmlers zur Vergrößerung der Totenkopfverbände. Überdies verkörperte Gustav die Verbindung der SS zum Bauerntum, die Himmler so am Herzen lag. Und da war ja auch noch sein Vetter Karl, auf den er verweisen konnte. Wie dem auch sei: Einem SS-Ritual folgend wurde Gustav Layer am 9. November 1937, dem Jahrestag des Münchner Bierkellerputsches, von der HJ in den 11. Sturm der 81. SS-Standarte „Würzburg“ überführt.13 Aus der Evangelischen Kirche in Winnenden trat er aus, was in seiner Familie auf wenig Verständnis stieß. Es wäre auch nicht nötig gewesen, denn es gab nicht wenige SS-Männer, die in der Kirche verblieben waren. Zum Eintritt in die NSDAP konnte er sich jedoch nicht entschließen.
Ich frage mich, wie man 1933 in Breuningsweiler gewählt hat, ob dort eine breite nationalsozialistische Grundstimmung herrschte, von der auch der damals noch junge Gustav mitgerissen wurde? Eine Anfrage beim Stadtarchiv in Winnenden ergibt, dass die entsprechenden Akten in Breuningsweiler „gesäubert“ wurden. Auf der Internetseite des Landesarchivs finde ich schließlich die Wahlergebnisse zu den Reichstagswahlen im Juli 1932. .14 Ein erster Hinweis auf das politische Klima in dem Dorf meiner Großeltern. Die NSDAP erzielte damals in Breuningsweiler mit 55,1% der abgegebenen Wählerstimmen ein für das Reich und für Württemberg geradezu überwältigendes Ergebnis. Der Bauern- und Weingärtnerbund, kaum weniger republikfeindlich und antisemitisch dazu, aber in Gegnerschaft zur NSDAP, kam noch auf 14,6%. Rechnet man die Stimmen der KPD hinzu, so ergibt das stolze 90% von Republikgegnern. Die Freunde der Weimarer Republik spielten im Breuningsweiler jener Zeit keine Rolle. Nur einzelne Stimmen gingen an die SPD und die deutsche Volkspartei. Für wen haben sich der Weingärtner Wilhelm Layer und seine Frau bei dieser Wahl entschieden? Mit Sicherheit nicht für die KPD, soviel weiß ich.
Gustavs Vater Wilhelm, mein Großvater, erschien mir als Kind unnahbar. Mit seinem Kaiser-Wilhelm-Bart war er für mich Teil einer längst vergangenen Zeit, von der ich aber keine genaue Vorstellung hatte. Ich wusste nur, dass er als einfacher Soldat am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte.15 Ausgerüstet mit einem Waffenrock, einer Hose, einer Unterhose, Hemd, Mütze und Stiefeln, Feldflasche, Brotbeutel, Karabiner 98 und die Gasmaske Größe 3 im Gepäck, so konnte ich in seinen Militärakten nachlesen, war er am 31. August 1914 im Alter von 31 Jahren mit der 3. Kompanie des Reserveinfanterieregiments „Alt-Württemberg“ in den Krieg gezogen. Gelöhnt und verpflegt von der württembergischen königlichen Armee. Bereits am 5. Oktober 1914 bei Thiepval an der Somme wurde er bei einem Granateinschlag am linken Bein verletzt. Nach einem längeren Lazarettaufenthalt in Sedan ging es am 21.März 1915 erneut ins Feld. Sein Militärpass weist die berüchtigten Stellungskämpfe in Lothringen, im Artois und vor Verdun aus, bevor er nach einer weiteren Verwundung am Oberarm mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse bei Kriegsende mit 50,- Mark Entlassungsgeld nach Hause geschickt wurde. Weiterhin kriegsverwendungsfähig, wie ihm bescheinigt wurde. Den toten Kriegern wurde an der Dorfkirche von Breuningsweiler ein Denkmal gesetzt. Die Uniform des Soldaten tauschte mein Großvater mit der des Postboten.
Von den seltenen Besuchen, bei denen ich mit meiner Mutter in der Eisenbahn von Göppingen nach Winnenden fahren durfte, von wo uns ein Magirus-Bus mit großer Schnauze in das auf dem Berg gelegene Dorf brachte, erinnere ich einen älteren Mann, hager von Gestalt, der morgens seinen Muckefuck mit einem Stück Zopfbrot schmatzend in sich hineinschlürfte. Zwischendurch strich er sich über den Kaiser-Wilhelm-Bart, alles ohne ein Wort zu sagen. Ich saß zumeist still auf der Eckbank am langen Tisch und beobachtete ihn, während meine Großmutter an der großen Küchenmaschine etwas vor- oder zubereitete. Danach verließ er die gute Stube und ward erst einmal nicht mehr gesehen. Auf einem Bauernhof gab es ja immer was zu tun. Er verschwendete keine freundlichen Worte zum Abschied, nichts Aufmunterndes. Körperkontakt, ein in den Arm nehmen, auf den Schoß setzen, ein zartes Durch-meine-Haare-Fahren ‒ undenkbar.
Bei der sommerlichen Obsternte galt die strenge Anweisung, Gepflücktes in den Korb zu legen und auch dort zu lassen. Dabei hatte ich als kleiner Erntehelfer auf nichts sehnlicher gehofft, als die eine oder andere Beere oder Kirsche vom Korb mit der Hand in den Mund zu schieben. Knackige Sauerkirschen hatten es mir besonders angetan. So blieb nur schadhaftes, am Boden liegendes Obst zum unmittelbaren Verzehr, es sei denn, man riskierte einen bärbeißigen Wutanfall des Großvaters. Seine eigenen Kinder hatte er noch mit dem Rohrstock verdroschen, so wie man das Getreide mit dem Dreschflegel bearbeitete. Unter dem Schutz meiner Mutter blieb mir das erspart, das blieb das Vorrecht meines Vaters. Von meiner Mutter blieb mir auch im Gedächtnis, dass sie als junges Mädel bei Nachbarn mit deren Kleinkind eingesperrt wurde, die Tür fest verschlossen von außen, bis die Nachbarn vom Feld wieder nach Hause kamen. Das Kleinkind fing irgendwann an zu schreien, schrie und schrie, ohne dass jemand meiner Mutter, selbst ein kleines Mädchen, zur Hilfe kam.
Das Leben auf dem Land war noch bis in die 1950er Jahre hart, manchmal auch derb herzlich. Nicht alle Straßen im Dorf waren geteert. Kaum im Dorf angekommen, riefen Nachbarinnen den Namen meiner Mutter, so dass man es im ganzen Gässle, der Straße, wo die Großeltern wohnten, hören konnte: „Liesl, ja bisch au wiedr do?“ Von einem älteren Vetter meiner Mutter erhielten wir bei jedem Besuch frische Eier und im Holzbackofen gebackenes Brot, das wir gerne auf die Heimreise mitnahmen. Es roch nach Holzasche vom gemeinschaftlichen Backhaus des Dorfes, hatte eine harte Rinde und schmeckte ganz leicht salzig und herzhaft, jedenfalls um vieles besser als das Brot Göppinger Bäckereien. Im Hof befand sich ein Kaninchenstall. Wie die Kühe, so hatten auch die Kaninchen Namen. Sie hießen Flecki, Bommel, Felix oder Hansi ‒ also so wie ich. Onkel Albert, der ja eigentlich kein Onkel war, packte eins im Nacken und ich durfte ihm mit der Hand durch das weiche Fell fahren. Alleine hätte ich mir das nicht zugetraut, denn als Stadtkind hatte ich gehörige Angst vor Tieren, von Kanarienvögeln einmal abgesehen.
Was hat Gustav Layer nach dem Eintritt in die SS gemacht und was hat die SS mit ihm gemacht? Der SS-Personalakte im Bundesarchiv ist zu entnehmen, dass Gustav Layer am 5. Januar 1938 als Staffel-Anwärter in den Dachauer SS-Totenkopfsturmbann „Oberbayern“ eintrat. An den folgenden Tagen erfolgten normalerweise die militärärztliche Untersuchung, die Niederschrift seines Lebenslaufs und die anschließende Überprüfung seines Bildungsstandes. Letzteres eine kaum anspruchsvoll zu nennende und daher leicht lösbare Aufgabe für SS-Kandidaten. Nach der Ausbildung in Dachau wurde Gustav Layer zur 32. Hundertschaft bzw. der 8. Kompanie der 3. Totenkopfstandarte „Thüringen“ nach Buchenwald versetzt und war dort Teil der Wachmannschaften unter dem späteren Sturmbannführer und Regimentskommandeur Hansheinrich Kaltofen.16 Es war nur eine kurze Unterbrechung seiner Zugehörigkeit zu den Dachauern, denn noch vor dem Herbst 1938 kehrte er von Buchenwald dorthin zurück.
Schon während der Exerzier- und Gefechtsausbildung wurden die Angehörigen des Sturmbanns im vierwöchigen Rhythmus zu Wachaufgaben, Bereitschaftsdienst und Gefangenenbegleitung herangezogen. Frühzeitig sollten sie daran gewöhnt werden, Gewalt auszuüben, „mit eigenen Händen zu foltern und zu töten.“17
Eine zwischenzeitliche Erkrankung an Paratyphus, ausgelöst durch das Bakterium Salmonella Schottmuelleri, erzwang einen längeren Aufenthalt in der Freiburger Universitätsklinik.18 Nach seiner Genesung kehrte Gustav Layer zunächst in das KZ Dachau zurück, um im September 1938 als SS-Staffelanwärter in Richtung Oberpfalz auszurücken und an den ersten verdeckten Kriegshandlungen im Osten teilzunehmen. Das Tragen der SS-Erinnerungsmedaille19 an den 1. Oktober 1938 weist ihn jedenfalls als Mitglied eines Totenkopf Sturmbanns aus, der unter der operativen Leitung von Max Simon an der Besetzung des Ascher Zipfels in der Tschechoslowakei beteiligt war.20 1806 war das kleine Ascher Ländchen, das wie eine kleine Landzunge in die bayrische Oberpfalz hineinragt, dem Königreich Böhmen angegliedert worden und gehörte so nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie 1918 zur neu entstandenen Tschechoslowakei. Seit Mai 1938 war Hitler entschlossen, die Tschechoslowakei zu zerschlagen. Die Sudetendeutsche Partei Konrad Henleins diente ihm dabei als Fünfte Kolonne, die im Ascher Zipfel einen bewaffneten Aufstand vom Zaun brach, zu dessen Unterstützung am 26. September unter größter Geheimhaltung und mit gefälschten Ausweisen von Henleins Sudetendeutschem Freikorps zwei SS-Sturmbanne einmarschierten. Die Angelegenheit war nicht nur völkerrechtswidrig, sondern auch politisch hoch brisant, denn erst am 30. September war das Münchner Abkommen mit Chamberlain und Daladier, das die Annexion des Sudetenlandes durch Hitler sanktionierte, vollständig unter Dach und Fach.
Mit Sicherheit ist davon auszugehen, dass Gustav Layer wenige Wochen später, genauer gesagt am 9.11.1938, dem Jahrestag des Münchner Hitlerputsches als Staffelvollmitglied in die SS aufgenommen wurde. Am selben Tag wurden im KZ Dachau als Folge des Novemberpogroms über zehntausend Juden eingeliefert. „Die SS isolierte sie von den anderen Häftlingen und zwang sie tagelang zum Strafstehen oder Exerzieren. Innerhalb von zwei Monaten kamen 151 Juden ums Leben. Die meisten der Überlebenden wurden zwar nach und nach entlassen, einige hundert befanden sich jedoch noch Mitte 1939 in KZ-Haft.“21
Von wann bis wann bewachte Gustav Layer Häftlinge im KZ Dachau oder in anderen KZ und bei welchen Transporten in die KZ war er dabei? Von meiner Mutter weiß ich nur, dass er an Transporten im Stuttgarter Raum mitgewirkt hat ‒ vermutlich im Zusammenhang mit der Pogromnacht im November 1938. Sein auf einer Seite handschriftlich abgefasster Lebenslauf in der SS-Personalakte gibt dazu und über die Zeit bis zum Mai 1940 keinerlei Auskunft. Den Überfall auf Polen vom September 1939 dürfte er aus der Ferne im KZ Dachau beobachtet haben, denn erst für den 10. Mai 1940 gab er sich als Frontkämpfer der SS-Totenkopfstandarte aus.22
Am 17. Mai 1940, das KZ Dachau war seit September 1939 geschlossen, erhielt die 11. Kompanie des Totenkopf-Infanterieregiment 1 von Gustav Layer nach einer seit September 1939 andauernden Vorbereitungsphase den Marschbefehl für den Angriffskrieg gegen Frankreich. Bei Catillon kam es zu grausamen Gefechten mit französisch-marokkanischen Truppen. Gustav Layers 11. Kompanie konnte den Gegner nördlich Rejet nach Osten zurückwerfen. Die von den Franzosen erlittenen unverhältnismäßig hohen Verluste lassen vermuten, dass die Totenkopfdivision insbesondere im Fall von afrikanischen Einheiten keine Gefangenen machte, sondern den Gegner kaltblütig erschoss.23 Weitere Verbrechen des 1. Infanterieregiments unter Max Simon während des Frankreichfeldzugs sind mittlerweile gut dokumentiert.24
Bereits nach einer Woche im Einsatz an der Westfront wurde Gustav Layer am 24. Mai das Eiserne Kreuz II. Klasse für besondere Tapferkeit vor dem Feind verliehen25 – die übliche Begründung. Ich lerne, dass das Eiserne Kreuz II. Klasse massenhaft vergeben wurde, in der Waffen SS noch häufiger als in der Wehrmacht. Es diente vor allem der Motivation der Frontsoldaten. Am 10. Juni, etwas über zwei Jahre nach seinem Eintritt in die SS, wurde er dann bereits zum Unterscharführer befördert26, der untersten Stufe bei den Unteroffizieren. Davor lag das übliche Karrieremuster: Schütze, Oberschütze, Sturmmann, Rottenführer. Eine Offizierslaufbahn, obwohl bei der SS auch mit einem Hauptschulabschluss möglich, blieb ihm allerdings bis zuletzt verwehrt.
Aus der Jahreswende 1940/41 stammen zwei kurze Briefe an meine Mutter, die eine besondere Beziehung zwischen den Geschwistern erkennen lassen.27 Sie sind beide mit einem kleinen kunstvollen Monogramm mit den Anfangsbuchstaben seines Vor- und Nachnamens verziert. Die Weihnachtskarte mit Poststempel vom 17.12. ist in ordentlicher Druckschrift an seine Schwester Fräulein Liesl Layer adressiert und enthält die üblichen Weihnachtswünsche unter einem von ihm in einfachen Strichen gezeichneten Tannenzweig mit brennender Kerze. Seine Schwester antwortete ihm am 25.12. und bedankte sich für die Fotos, die ihr gefallen haben müssen, wie er am 4. Januar in einem kurzen Brief voller Stolz schrieb. Es handelte sich wohl um eines dieser SS-Soldatenfotos, die mir meine Mutter hinterlassen hat: schwarze Ausgehuniform, weißes Hemd, dazu eine schwarze Krawatte in Kunstseide, auf dem Kopf die Schirmmütze mit dem silbernen Parteiadler und dem Totenkopf der SS. Die Schirmmütze hatte er sich leicht schräg auf den Kopf gesetzt, das Haar darunter war kurz geschoren. Das Bild strahlt weder Entschlossenheit noch Brutalität aus. Die Augen sind weit geöffnet, der Blick starr, kein Lächeln auf den Lippen. Ohne Uniform würde man einen schüchternen jungen Mann Anfang zwanzig dahinter vermuten. Der Fotograf wird ihm gesagt haben, er solle den Kopf etwas zur Seite drehen und die Augen nicht so aufreißen. Den Blick nach vorne gerichtet, wirkt er auf einem später entstandenen Foto entschlossener, optimistischer, er ist jetzt Unterscharführer. In der Familie war man immer auch stolz auf diese Fotos. Er sei ein gut aussehender junger Mann gewesen. Meine Cousine schwärmt noch heute von ihm. In den 1950er und 1960er Jahren konnte man sie ja nur verschämt in alten Fotoalben anschauen, sofern sie aus Angst vor den Alliierten bei Kriegsende nicht zerrissen und verbrannt wurden – es gibt erstaunlich viele leere Stellen in den Fotoalben der Familie Layer. Später, die Angst und auch die Schamfrist waren vorbei, wurden sie wieder herausgeholt und zusammen mit anderen Fotos der Familie in einer Ahnengalerie in unserem Treppenhaus aufgehängt.
Was stand noch in dem Brief? Es geht gleich noch einmal um eine schicke Uniform eines Bekannten oder Freundes meiner Mutter und dann um kleine Soldaten (sind es Zinnsoldaten?), die er an seinen Neffen Ludwig als Weihnachtsgeschenk verschickt hat – der gute Onkel! Kein Wort zu seinen Lebensumständen, zu dem etwa, was er an Weihnachten tun wird oder getan hat. Kein Wort zu seinem Aufenthaltsort und schon gar kein Wort zum Krieg oder zur Besatzung in Frankreich. Er verspricht der kleinen Schwester nur, dass er sie in seinem nächsten Urlaub besuchen wird. Gustav hielt sich strikt an die Regeln, die ihm der Erfinder der Totenkopfdivision Theodor Eicke vorgeschrieben hatte: Keine Informationen über Standort oder Marschroute der Truppe an die Familie und auch keine Informationen über Stimmungen, Sorgen oder Nöte; es drohte ein Kriegsgerichtsverfahren.
Es waren eher seltene Besuche, die ihn nach Hause führten, und sie verliefen nicht immer konfliktfrei, denn man war in der Familie wohl nicht so ganz glücklich darüber, dass er in die SS eingetreten war. Jedenfalls wurde mir das so von meiner Mutter berichtet. Ob es stimmt angesichts der vielen Legenden, die Eltern ihren Kindern nach dem Zweiten Weltkrieg auftischten; ich wollte es, trotz gelegentlicher Zweifel, gerne glauben. Schon die Tatsache, dass Gustav sich gegen den Bauernhof und für die Lehre entschieden hatte, war nicht gerade auf Wohlwollen gestoßen. 1942 will meine Mutter bei der Familie, wo sie arbeitete, von den Naziverbrechen in den KZ erfahren haben, vom Mord an den Juden. Ihr Bruder Gustav sei bei einem Besuch bei den Eltern in Breuningsweiler damit konfrontiert worden, habe aber nur geantwortet: „Ich darf nichts erzählen.“ Man habe ihn ermahnt, sich nichts zuschulden kommen zu lassen. Wie sollte das gehen in der SS?
Am 3. Juni 1941 erging der Marschbefehl von Frankreich nach Marienwerder bei Danzig/ Ostpreußen.28 Der Angriff auf Russland stand unmittelbar bevor. Ziel war die Eroberung von Leningrad. Zwischen dem 20. und 21. Juli kam es zu verlustreichen Kämpfen des Totenkopf-Infanterieregiments 1 im Waldgebiet nordwestlich von Solzy, einer kleinen Provinzstadt am Fluß Schelon. Im Verlauf dieser Kämpfe muss Gustav Layer einen Kniekehlendurchschuss erlitten haben.29 Genaueres ist nicht bekannt. Von der Front wurde er zunächst in das Feldlazarett Pskow abtransportiert. Pskow, rund 300 km südwestlich von St. Petersburg/Leningrad war eine der ersten russischen Städte im Zweiten Weltkrieg, die von den Deutschen erobert wurden, und eine der letzten, die befreit wurden; 90 Prozent der Stadt waren 1945 zerstört. Von Pskow ging es in das Kriegslazarett 1/608 Dünaburg (Daugavpils). Am 22. August erfolgte eine weitere Verlegung mit dem Lazarett-Zug, vermutlich ins Reichsgebiet.
Ich interessiere mich weniger für die nüchterne Kriegsberichterstattung deutscher Truppen auf dem Vormarsch Richtung Leningrad und Moskau, wie man sie in den Kriegstagebüchern des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) nachlesen kann. Was mich interessiert, sind die Taten der SS im Osten und Gustav Layers Beteiligung an diesen Taten. Eicke hatte verkündet, dieser Krieg „sei eine weltanschauliche Auseinandersetzung, ein Ringen zwischen dem Nationalsozialismus und dem jüdischen Bolschewismus auf Leben und Tod – deswegen werde eine völlig rücksichtslose und kompromisslose Kriegsführung notwendig.“30 Die Härte der Kämpfe in der Sowjetunion ging deshalb weit über alle bisherigen Erfahrungen in Frankreich hinaus. Sicher ist auch, dass der Massenmord an sowjetischen Gefangenen, die Plünderung von Häusern und die Ermordung von Juden gängige Praxis der Soldaten Simons waren, unter dem Gustav Layer diente. Über Verbrechen der 11. Kompanie des 1. Totenkopf-Infanterieregiments, wo Gustav Layer als Unterscharführer diente, ist freilich bislang wenig bekannt. In einer Meldung, die am 6. Juli 1941 an das LVI. Panzerkorps weitergeleitet worden war, „beschrieb Simon, wie eine Gruppe von zweihundert russischen Soldaten sich Einheiten des 1. Totenkopf-Infanterieregiments mit erhobenen Händen näherten, als ob sie sich ergeben wollten, sich dann aber (…) zu Boden fallen ließen und das Feuer eröffneten. Bei diesem Schusswechsel töteten die SS-Soldaten alle Russen, auch diejenigen, die um Schonung baten und in Gefangenschaft gehen wollten.“31 „In einem Befehl an sein Regiment kam Simon zu dem Schluss, dass es sich bei diesen Einheiten von russischen Versprengten um ‚Banditen‘ handle, die von bolschewistischen Kommissaren und fanatischen Offizieren der Roten Armee organisiert und aufgehetzt worden waren.“32 Das rechtfertige jede Aktion.
Als Gustav Layer im Juli/August im Lazarett lag, wurden in Dünaburg etwa 9.000 Juden durch ein SS-Kommando und lettische Hilfspolizei ermordet. 33 Man wird im Lazarett darüber geredet haben. Entgegen landläufiger Behauptungen: Es wurde ja doch über diese Verbrechen geredet, weniger nach dem Krieg als während des Kriegs, weniger mit den Zivilisten als unter den Soldaten selbst. Mehr kann ich zum 1. Totenkopf-Infanterieregiment nicht sagen, zur 11. Kompanie finde ich rein gar nichts. Eine individuelle Tatbeteiligung an den Verbrechen der SS in Frankreich, in der Sowjetunion oder in den Konzentrationslagern werde ich Gustav Layer nicht nachweisen können. Dass die SS überall Verbrechen ungeheuren Ausmaßes begangen hat, steht außer Frage. Und Gustav Layer war Teil dieser verbrecherischen Organisation.
Die Verletzung an der Kniekehle muss schwerwiegend gewesen sein, denn es vergingen fast fünf Monate in Lazarett und Rehabilitation bis Gustav Layer wieder eingesetzt wurde, und sie muss so schwerwiegend gewesen sein, dass ein weiterer Einsatz an der Front nicht mehr in Frage kam. Im November 1941 wurde er in einen knapp einmonatigen Genesungsurlaub entlassen. 34 Am 12. Dezember erfolgte seine Versetzung zur SS-Wachkompanie Berlin-Lankwitz, eine Berliner SS-Einheit der Stadtkommandantur.35 Nach nicht einmal drei Monaten wurde Gustav Layer mit Schreiben der Wachkompanie vom 5.3.1942 zur 3. Stabskompanie des Führungshauptamts versetzt, das ihn unter Kommandierung [d. h. vorübergehend] an das SS- und Polizeigericht III in Berlin weiterreichte. Die 1939 eingeführte Sondergerichtsbarkeit hatte ausschließlich Strafsachen gegen SS- und Polizeiangehörige zu verhandeln, vorwiegend Eigentumsdelikte und Verstöße gegen die Manneszucht.36
Dem SS- und Polizeigericht III unterstellt war die in einem größeren Komplex der Berliner Polizei untergebrachte SS- und Polizeihaftanstalt in der Grunewaldstr. 68 in Berlin-Schöneberg, wo Gustav Layer seit März 1942 wohl seinen Wachdienst bei verurteilten SS- und Polizeistraftätern bzw. Untersuchungshäftlingen verrichtete. Er wohnte um die Ecke in der Eisenacherstraße 78 zur Untermiete. Als ich in den 1980er Jahren im Bayrischen Viertel lebte, bin ich oft an dem prachtvollen Eckhaus der Gründerzeit vorbeigegangen, ohne auch nur das Geringste zu ahnen.
Im Juni 1942, viereinhalb Jahre nach seinem Eintritt in die SS, wurde er zum Oberscharführer [=Feldwebel] und Befehlshaber eines Trupps von bis zu sechzig Mann ernannt. Allerdings war er, bedingt durch seine Kriegsverletzung, nicht mehr in den beiden Kernbereichen der Waffen-SS, an der Front und in den KZ, verwendbar. Knapp zwei Jahre später wechselte er in das SS-Strafvollzugslager Genshagen. Mit der Ernennung Albert Speers zum Reichsminister für Bewaffnung und Munition am 15. Februar 1942 war der Druck auf die Kriegswirtschaft, die Rüstungsproduktion zu erhöhen und damit auch die Notwendigkeit zusätzliche Arbeitskräfte einzusetzen, gewachsen. In Genshagen bei Berlin hatte Daimler-Benz bereits 1936 ein Flugzeugmotorenwerk errichtet, in dem seit März 1943 neben den zahlreichen Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen auch erstmals SS-Strafgefangene aus Danzig-Matzkau eingesetzt wurden.
Auch Genshagen wurde von den alliierten Bombern nicht verschont. Bereits im März 1944 wurde das Werk bei einem Fliegerangriff so sehr beschädigt, dass eine Verlagerung an einen sichereren Standort notwendig erschien. Zusammen mit Daimler-Benz beschlossen die NS-Behörden, die Produktion und mit ihr die Häftlinge und Zwangsarbeiter weiter nach Westen in einen Stollen bei Obrigheim in Württemberg zu verlegen. Es entstand das Lager Neckarelz als Außenlager des elsässischen KZ Natzweiler-Struthof. Ab Anfang Juli wurden auch die SS-Strafgefangenen von Genshagen nach Neckarelz überführt.
In diesen Zeitraum zwischen 1942 und 1944 fällt auch eine äußerst umfangreiche Korrespondenz zwischen Gustav Layer und dem Rasse- und Siedlungshauptamt. Gustav Layer wollte heiraten und geriet auf der Suche nach seinem persönlichen Glück in Konflikt mit dem Nationalsozialismus. Im Dezember 1931 hatte Himmler gegen einigen Widerstand in den eigenen Reihen den „Verlobungs- und Heiratsbefehl der SS“ erlassen, nach dem alle SS-Angehörigen eine Heiratsgenehmigung einholen mussten, die nach rassischen und erbgesundheitlichen Kriterien erteilt oder verweigert werden konnte.37 Ziel war die Schaffung eines rassischen Ordens von Sippengemeinschaften, zu denen auch die Frauen gehörten. Die Korrespondenz befasst sich folgerichtig aufs penibelste mit der biologischen, aber auch wirtschaftlichen Verfasstheit der zukünftigen Ehepartner, vermeintlich um einer glücklichen und dauerhaften Ehe willen.
Ein erstes Heiratsgesuch hatte Gustav am 1.5.1942 eingereicht38, dann aber von einer Ehe mit der in Wolznach bei Freising geborenen Maria Ostermeier wieder Abstand genommen. Eineinhalb Jahre später unternahm er einen zweiten Heiratsversuch. Mittlerweile näherte sich sein 25. Geburtstag, das Alter, das Himmler als Heiratsalter festgelegt hatte.39 Über einen SS-Kollegen mit Vornamen Rudolf hatte er die Bekanntschaft von Margarete Elfriede Vorbuchner, geborene Scheffler gemacht.40 Die Stenotypistin und DRK-Helferin Vorbuchner war bis März 1943 noch in zweiter Ehe mit dem Kaufmann Norbert Vorbuchner verheiratet. Aus erster Ehe stammte ein Sohn. Die Ehe mit Vorbuchner war zerrüttet. Im Scheidungsverfahren gab sie an, der letzte Eheverkehr habe im November 1942 stattgefunden, jede Partei unterhalte ehewidrige Beziehungen zu einem Partner des anderen Geschlechts.41 Ich denke: sie mit Gustav Layer. Auf Klage und Wiederklage wurde die Ehe Anfang April 1943 aufgelöst. Im Januar 1944 strebte sie ihre dritte Ehe mit Gustav an. Margarete Vorbuchner gab an, dass sie sich von der Ehe mit dem SS-Oberscharführer ein harmonisches Zusammenleben verspreche und sie den innigsten Wunsch hege, seine Frau zu werden und ihm noch einige Kinder schenken wolle. Margarete hatte ihre bevölkerungspolitische Aufgabe im Nationalsozialismus verstanden.
Margarete war blond, vollschlank, und mit ihren fünfunddreißig Jahren noch sehr attraktiv. Eine lebenslustige Sächsin aus Kötschenbroda, einem Ortsteil von Radebeul in Sachsen. Ihr Vater Karl Wilhelm, ein Kaufmann, entstammte einer deutschstämmigen Familie in Chile. Bis zu ihrem 15. Lebensjahr ging sie auf das Dürer-Lyzeum in Berlin-Lichterfelde. Danach besuchte sie ein Jahr die Hausfrauenschule in Leipzig, bevor sie als Stenotypistin und technische Zeichnerin ihren Lebensunterhalt und den ihres damaligen Ehepartners verdiente. Seit einiger Zeit arbeitete sie als Zivilangestellte bei der Waffen-SS. Auf dem Formular zum Vermögens- und Schuldenstand zeichnete sie für ein Barvermögen von sechstausend Reichsmark und fünfzehntausend Reichsmark an Sachwerten in ihrer Wohnung in der Rosenheimerstraße 28 in Berlin-Schöneberg, nur ein paar Schritte von Gustav Layers Unterkunft entfernt. Nicht gerade viel, wenn man weiß, dass ein Arzt im öffentlichen Dienst in etwa 16.000,- RM im Jahr verdiente, aber doch bei weitem mehr als das, was Gustav Layer vorweisen konnte. Für Gustav Layer, den SS-Oberscharführer, war sie der zweite Schlüssel zum sozialen Aufstieg, glaube ich.
Im Januar 1944 hatte Gustav Layer einen Eilantrag zur Genehmigung seiner Heirat mit Margarete Vorbuchner gestellt. Die Hochzeit sei für Mitte Februar geplant, gab er zur Begründung an. Es begann das übliche Procedere beim Rasse- und Siedlungshauptamt. Bevor der SS-Mann Gustav Layer seine Heiratsgenehmigung erhalten konnte, musste er den Ariernachweis, einen Erbgesundheitsbogen über mögliche erbliche Belastungen in der Familie und einen ärztlichen Untersuchungsbogen zum Nachweis der Gesundheit und zur rassischen Beurteilung beibringen. Gustav begab sich nach Dachau zum stellvertretenden KZ-Lagerarzt Sturmbannführer Fritz Hintermayer.42

Hintermayer stellte fest:
Vorwiegender Rasseanteil: nordisch;
Augenfarbe: hellblau;
Nase: stark gebogen;
Körperbau: schlank, kräftig;
Zeugungsfähigkeit: wahrscheinlich;
Fortpflanzung: ist im bevölkerungspolitischen Sinne wünschenswert;
Gustav gab an, dass er bis zu zehn Zigaretten am Tag rauche.

Auf einem beigefügten Foto zeigt sich ein 25-jähriger junger Mann mit schütterem Haar und ausgeprägten Geheimratsecken.
Aus der Sicht von Hintermayer stand einer Ehe von Gustav Layer nichts im Wege. Mich wundert allerdings, dass die Zeugungsfähigkeit eines SS-Mitglieds angesichts ihrer Bedeutung für die Fortpflanzung der nordischen Rasse nicht genauer untersucht wurde. Eine Zeugungsfähigkeit, die nur „wahrscheinlich“ ist? Wie lässt sich eine solche Nachlässigkeit bei der Durchsetzung der Kernideologie des nationalsozialistischen Regimes erklären? Ich finde keine Antwort.
Anders als bei Maria Ostermeier ging die Angelegenheit jedoch keineswegs schnell über die Behördenbühne. Zunächst wurde beim Rasse- und Siedlungshauptamt der Verdacht geäußert, Frau Vorbuchner könnte wegen einer 1935 erlittenen Unterleibsentzündung nicht mehr gebärfähig sein, ein schwerwiegender Mangel aus nationalsozialistischer Sicht. Im Unterschied zu Gustav Layer sollte bei ihr nun ganz genau hingeschaut werden. Trotz mehrfacher Aufforderung entzog sich Margarete Vorbuchner einer Untersuchung im SS-Lazarett Lichterfelde und begab sich im März in das KZ Dachau, um sich dort von Dr. Rossmann untersuchen zu lassen. Erst Anfang Juli traf von dort ein Attest ein, das die einwandfreie Durchgängigkeit der Tuben von Margarete bescheinigte, so dass von dieser Seite bei Konzeption keine Schwierigkeiten bestehen würden. Alles schien in bester Ordnung, aber mit Datum vom 4. Juli erhielt Gustav Layer vom Stabsarzt des Rasse- und Siedlungshauptamtes die Nachricht: „Die endgültige Bearbeitung Ihres Verlobungs- und Heiratsgesuchs bleibt einer späteren Zeit [kriegsbedingt, wie es hieß] vorbehalten. Nach den bisher hier vorliegenden Unterlagen ist festgestellt worden, dass zwischen Ihnen und Frau Vorbuchner ein ungünstiger Altersunterschied besteht. Aus diesem Grund wird bei der endgültigen Bearbeitung ihres Verlobungs- und Heiratsgesuchs die Heirat auf beiderseitige Verantwortung freigegeben werden. Beiliegende Erklärung ist von Ihnen und Frau Vorbuchner zu unterschreiben und umgehend nach hier zurückzusenden.“43 Die Freigabe der Heirat auf eigene Verantwortung hatte allerdings formal zur Konsequenz, dass Gustav und Margarete aus dem engeren Kreis der als hochwertig betrachteten SS-Sippen ausgeschlossen wurden. 44 Wollten sie eine erneute Verschiebung der Heiratsgenehmigung auf die Zeit nach dem vermeintlichen Endsieg nicht riskieren und unterschrieben die Erklärung oder war es eine Schwangerschaft von Margarete Vorbuchner, die das Rasse- und Siedlungsamt schließlich überzeugten? Aus den Akten geht lediglich hervor, dass am 5. Juli, die Heiratsgenehmigung erteilt wurde, über sechs Monate nachdem das Gesuch eingereicht worden war.
Am 15.7.1944 fand die Heirat im Standesamt im Schöneberger Rathaus statt. 45 Trauzeugen waren die zwei SS-Kollegen Sturmscharführer Fritz Bohn und Hauptsturmführer Franz Sturmmann. Gemeinsam posierten sie für den Fotografen vor einem Seiteneingang des Rathauses. In der Mitte Gustav und Margarete, er in der grauen Felduniform der Waffen-SS mit Feldmütze, die Braut im hellen Kleid, einem eleganten Hut mit breiter Krempe und einem Blumenstrauß im Arm, rechts und links die beiden Trauzeugen Bohn und Sturmmann. Sie lächelt.46 Für den 5. 7. 1946 wird für Margarete ein Mütterschulungskurs anberaumt; sie hätte eigentlich vor der Hochzeit an so einem Kurs teilnehmen müssen. Ob sie noch an den Endsieg glaubten?
Mit dem Beschluss zur Verlagerung des SS-Straflagers nach Mosbach änderten sich auch die Lebensumstände für Gustav und seine neue Frau. Gustav Layer musste an den Gefangenentransporten teilnehmen. Ende August/Anfang September, als das Lager provisorisch eingerichtet war – die ersten Häftlinge in Zelten und Baracken eines Arbeitsdienstlagers, zog er schließlich mit seiner Frau nach Mosbach und fand beim Lehrer Bock eine kleine Mansardenwohnung.47 Man besuchte zum ersten Mal nach der Heirat die Eltern in Breuningsweiler. Aus Erzählungen weiß ich, dass diese Begegnung nicht sehr glücklich verlief. Die Großstädterin mit dem sächsischen Einschlag dürfte von dem kleinen Gehöft mit dem Misthaufen davor nicht gerade angetan gewesen sein. Die Mutter Maria, mit 1.45m überaus klein, der Vater Wilhelm Layer gertenschlank, an den Wangen eingefallen, beide von der jahrelangen Arbeit auf den Äckern ausgezehrt, verkörperten sie einen Bauernstand, wie er in den idealisierten Nazi-Gemälden eines Adolf Wissel nicht vorkam. „Trachte Dich und deine Kinder aufs Land zurückzubringen“48 , hieß es in den SS-Richtlinien zur Gattenwahl. Auch dies ein frommer Wunsch der Nazi-Propaganda. Die Schwiegereltern ihrerseits konnten mit der Schwiegertochter nichts anfangen. Sie galt als arrogant. Schon der sächsische Einschlag in der Sprache schreckte ab, ganz zu schweigen von der Kleidung und dem Gestus. Es sollte die einzige Begegnung bleiben.
So kehrten Gustav und seine Frau in die SS-Lagerwelt nach Mosbach zurück, einer Kleinstadt im Badischen, auch das im Grunde schon eine Zumutung für Margarete. Das bescheidene Glück in der Mansardenwohnung war nur von kurzer Dauer. Am 8. Dezember 1944 gab es einen Fliegerangriff auf das SS-Straflager.49 Gustav blieb am Mansardenfenster seiner Wohnung stehen, um trotzig den Angriff zu beobachten, während seine hochschwangere Frau Margarete in den Keller rannte. Die Tochter des Lehrers Bock, eine Medizinstudentin, fand Gustav Layer schließlich schwer verletzt von Schüssen aus der Bordkanone der Jagdbomber oder Splittern der Sprengbomben. Er starb wenig später und wurde in Mosbach beerdigt. Wie hieß es doch in einem von der SS gerne gesungenen Lieder: „Kein schönrer Tod ist in der Welt, als wer vorm Feind erschlagen.“ Meine Mutter meinte später zu mir, es wäre gut so, denn sonst hätte er sich möglicherweise für seine Taten in der SS vor Gericht verantworten müssen. Man kann das auch bedauern. Vielleicht wäre es ja gut gewesen, er hätte sich öffentlich dafür verantworten müssen. Der Oberscharführer Layer war ein netter Mann, gab ein Zeitzeuge aus dem SS-Straflager später zu Protokoll. Aber was heißt das in einem Lager, wo SS-Wachmänner straffällig gewordene SS-Wachmänner bewachten?

Epilog
Jahre später, es muss Anfang der 1950er Jahre gewesen sein, unternahm seine jüngste Schwester Rosa einen Ausflug nach Mosbach zum Grab ihres Bruders. Sie machte ein Foto von einem Soldatengrab und schickte es an meine Mutter Luise.50 Im März 1962 gab es noch einmal eine Anfrage der Landespolizei I, Berlin an das Berlin Document Center der USA wegen Gustav Layer. Es wurden Ermittlungen gegen ihn und Obersturmführer August Winnefeld wegen zwei Tötungsdelikten im SS- und Polizeigefängnis Grunewaldstraße 68 angestellt.51 Über das Ergebnis dieser Ermittlungen konnte ich nichts herausfinden. Margarete Layer wurde 1946 von der Sowjetischen Militäradministration verhaftet und zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt.52 Zwei Jahre davon verbrachte sie in dem berüchtigten NKWD-Speziallager Sachsenhausen-Oranienburg, dem früheren KZ. Bald nach ihrer vorzeitigen Entlassung durch die DDR-Behörden 1952 emigrierte sie nach Sao Paulo in Brasilien, wo sie vermutlich verstarb. Karl Layer kam 1945 auf der Flucht vor der sowjetischen Armee in amerikanische Gefangenschaft.53 Nach einem kurzen Aufenthalt im Kriegsgefangenenlager Riegsee bei Murnau wurde er als potenzieller Kriegsverbrecher in das Internierungslager 74 bei Ludwigsburg überführt, wo es am 18.11.1947 zur Anklage vor der lagereigenen Spruchkammer kam. Als leitender Angehöriger einer verbrecherischen Organisation wurde er durch den öffentlichen Kläger der Gruppe der Hauptschuldigen zugerechnet. In seiner unglaublich unverfrorenen Verteidigungsrede behauptete Karl Layer, er habe sich wohl Gedanken gemacht über die KZ, aber er habe nur gehört, „dass dort arbeitsscheue Menschen und Zuchthausinsassen untergebracht seien.“ (…) „Was im KZ gespielt wurde, wusste ich nicht und glaube auch nicht, dass die Insassen des KZ Oranienburg misshandelt wurden.“ „So wie die Politik damals anzusehen war, waren wir nicht die Urheber des Krieges.“ Sein Rechtsanwalt Dr. Karl Wanner argumentierte, Layer habe nie KZ-Wachdienste geleistet, habe lediglich eine Verwaltungskarriere gesucht und sei nicht politisch gewesen. Er müsse deshalb als Mitläufer oder Minderbelasteter eingestuft werden. In ihrem Urteil sprach die Spruchkammer schließlich von einem „Belasteten“, der als überzeugter Anhänger durch seine „Tätigkeit, die Gewaltherrschaft der NSDAP wesentlich gefördert“ habe. Er wurde zu 2 ½ Jahren Arbeitslager verurteilt, die bei Urteilsverkündung durch die Zeit im Internierungslager bereits annähernd vollständig abgeleistet waren. Im März 1948 wurde er zu seiner Familie nach Lorch/Württemberg entlassen. Die Berufsbeschränkung wurde 1951 auf seinen Antrag vom Innenministerium Württemberg-Baden aufgehoben.

Notes

1 Vgl. Roman Janssen: Breuningsweiler im Mittelalter: In: Stadtarchiv Winnenden (Hg.): Breuningsweiler, Einblicke in 700 Jahre Ortsgeschichte, Winnenden – Gestern und Heute, Bd. 5, Winnenden 1993, S. 39-60.
2 Vgl. Eberhard Schauer: Die Familien von Breuningsweiler: In: Stadtarchiv Winnenden (Hg.): Breuningsweiler, Einblicke in 700 Jahre Ortsgeschichte, Winnenden – Gestern und Heute, Bd. 5, Winnenden 1993, S. 61-68.
3 Vgl. hierzu und im folgenden bei https://de.wikisource.org/wiki/Beschreibung_des_Oberamts_Waiblingen.
4 LKA Stuttgart, DA Waiblingen A III.5, Winnenden-Breuningsweiler.
5 BArch R 9361/III/115515; Layer, Gustav, 16.7.1919 (ohne Paginierung).
6 Weitere Akten liegen bei der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WASt) IIB 413-141001 142-677/282 (Wehrstammbuch und Soldbuch fehlen) und beim Standesamt Tempelhof-Schöneberg, Berlin (Heiratsakte vom 15.7.1944).
7 Vgl. dazu und im folgenden BArch R 9361/III/115515; Layer, Gustav, 16.7.1919 (ohne Paginierung).
8 BArch R 9361/III/115515 (ohne Paginierung). Lebenslauf vom 26.11.37.
9 Vgl. dazu und im folgenden BArch VBS 286/6400025777 (ehemal. BDC), SSO, Layer, Karl, 5.4.1908 und StAL EL 903/2 Bü 1070.
10 Zitiert nach Karoline Georg, u.a.: Warum schweigt die Welt, Häftlinge im Berliner Konzentrationslager Columbia-Haus 1933-1936, Berlin 2013, S.19.
11 Ebd., S.102.
12 BArch R 9361/III/115515 (ohne Paginierung). Gefordert war eine Mindestgröße von 174cm, in Ausnahmefällen auch 170cm. Vgl. dazu Bernd Wegner, Hitlers politische Soldaten, Paderborn 2008, S. 135.
13 BArch R 9361/III/115515 (ohne Paginierung).
14 Vgl. http://www.leo-bw.de/web/guest/detail-gis/-/Detail/details/ORT/labw_ortslexikon/1674/Breuningsweiler+%5BAltgemeinde-Teilort%5D
15 Vgl. Militärpass und Soldbuch Wilhelm Friedrich Layer, Privatarchiv Hans Mayer.
16 BArch NS 3/1567, Bandnummer 2.
17 Vgl. Karin Orth: Egon Zill – ein typischer Vertreter der Konzentrationslager-SS, S. 266, in: Klaus-Michael Mallmann u.a.: Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien, Darmstadt 2011.
18 BA R 9361/III/115515 (ohne Paginierung); Lebenslauf vom 12.1.1944.
19 Foto Gustav Layer, München, o. D., Privatarchiv Hans Mayer.
20 Vgl. Franz-Josef Merkl: General Simon, Lebensgeschichten eines SS-Führers, Augsburg 2010, S.123f.
21 http://www.kz-gedenkstaette-dachau.de/209.html
22 BArch R 9361/III/115515 (ohne Paginierung); Lebenslauf vom 12.1.1944.
23 Vgl. Merkl (2010), S. 169/70.
24 Ebd. S. 172/73.
25 BArch R 9361/III/115515 (ohne Paginierung); Lebenslauf vom 12.1.1944.
26 Ebd.
27 Feldpostbriefe vom 17.12.1940 und 6.1.1941. Privatarchiv Hans Mayer.
28 Vgl. dazu Niels Weise: Eicke. Eine SS-Karriere zwischen Nervenklinik , KZ-System und Waffen-SS. Paderborn 2013, S. 297f. sowie Merkl (2010), S. 190f.
29 Vgl. Deutsche Dienststelle (WASt) IIB 413-141001 142-677/282.
30 Charles W. Sydnor: Soldaten des Todes: Die 3. SS-Division „Totenkopf“ 1933-1945, Paderborn 2002, S. 130.
31 Sydnor (2002), S. 136.
32 Ebd.
33 http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2011/02/Kriegsverbrechen.
34 BArch R 9361/III/115515 (ohne Paginierung).
35 Ebd.
36 Vgl. BArch NS 19/1916, Bl.132.
37 Vgl. dazu Isabel Heinemann: Rasse, Siedlung, deutsches Blut, Göttingen 2003.
38 BArch R 9361/III/115515 (ohne Paginierung).
39 Vgl. Heinemann (2003), S. 56, Anm. 28.
40 BArch R 9361/III/115515 (ohne Paginierung).
41 BArch R 9361/III/115515 (ohne Paginierung), Lebenslauf Margarete Vorbuchner.
42 https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Hintermayer
43 BArch R 9361/III/115515 (ohne Paginierung).
44 Vgl. Heinemann (2003), S.59.
45 Heiratseintrag vom 15.7.1944, Familienbuch Nr. 708, Standesamt Berlin-Schöneberg.
46 Hochzeitsfoto Gustav Layer/Margarete Vorbuchner. Privatarchiv Hans Mayer.
47 Vgl. Eckard Teichert: Mosbach im 3. Reich, 3. Heft, Zeitzeugen berichten aus der Nazizeit, Mosbach 1995, S.124.
48 https://archive.org/stream/SS-Rassenkunde-und-Richtlinien-zur-Gattenwahl/Ss-RassenkundeUndRichtlinienZurGattenwahl23S.Text_djvu.txt
49 Vgl. Eckard Teichert: Mosbach im 3. Reich, 3. Heft, Zeitzeugen berichten aus der Nazizeit, Mosbach 1995, S.124.
50 Postkarte von Rosa Lang, geb. Layer, Privatarchiv Hans Mayer.
51 BArch R 9361/III/115515 (ohne Paginierung) und BArch B 162/829, Bl.79.
52 Zentrale Auskunfts- und Dokumentationsstelle des DRK, I/5 2000238250.
53 Vgl. dazu und im folgenden StAL EL 903/2 Bü1070.

Benutzte Archive, Internet und Literatur

Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde;
Deutsche Dienststelle (WASt), Berlin;
Deutsches Rotes Kreuz, Zentrale Auskunfts- und Dokumentationsstelle;
Landeskirchliches Archiv Stuttgart;
Privatarchiv Hans Mayer;
Staatsarchiv Ludwigsburg;
Standesamt Berlin-Schöneberg.

https://archive.org/stream/SS-Rassenkunde-und-Richtlinien-zur-Gattenwahl/Ss-RassenkundeUndRichtlinienZurGattenwahl23S.Text_djvu.txt
https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Hintermayer
https://de.wikisource.org/wiki/Beschreibung_des_Oberamts_Waiblingen
http://www.kz-gedenkstaette-dachau.de/209.html
http://www.leo-bw.de/web/guest/detail-gis/-/Detail/details/ORT/labw_ortslexikon/1674/Breuningsweiler+%5BAltgemeinde-Teilort%5D
-www.zeit.de/zeit-geschichte/2011/02/Kriegsverbrechen

Karoline Georg, u.a.: Warum schweigt die Welt, Häftlinge im Berliner Konzentrationslager Columbia-Haus 1933-1936, Berlin 2013, S.19.
Isabel Heinemann: Rasse, Siedlung, deutsches Blut, Göttingen 2003.
Roman Janssen: Breuningsweiler im Mittelalter. In: Stadtarchiv Winnenden (Hg.): Breuningsweiler, Einblicke in 700 Jahre Ortsgeschichte, Winnenden – Gestern und Heute, Bd. 5, Winnenden 1993, S. 39-60.
Klaus-Michael Mallmann u.a.: Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien, Darmstadt 2011.
Franz-Josef Merkl: General Simon, Lebensgeschichten eines SS-Führers, Augsburg 2010.
Karin Orth: Egon Zill – ein typischer Vertreter der Konzentrationslager-SS, S. 266, in: —–
Eberhard Schauer: Die Familien von Breuningsweiler. In: Stadtarchiv Winnenden (Hg.): Breuningsweiler, Einblicke in 700 Jahre Ortsgeschichte, Winnenden – Gestern und Heute, Bd. 5, Winnenden 1993, S. 61-68.
Charles W. Sydnor: Soldaten des Todes : Die 3. SS-Division „Totenkopf“ 1933-1945, Paderborn 2002.
Eckard Teichert: Mosbach im 3. Reich, 3. Heft, Zeitzeugen berichten aus der Nazizeit, Mosbach 1995.
Bernd Wegner: Hitlers politische Soldaten, Paderborn 2008.
Niels Weise: Eicke. Eine SS-Karriere zwischen Nervenklinik , KZ-System und Waffen-SS. Paderborn 2013.

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Aug 17 2016

Über das Schriftstellerdasein im 21. Jahrhundert – Interview mit Tobias Hülswitt, Autor des Romans Dinge bei Licht, Blogger, und Performance-Intellektueller

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von Rachel J. Halverson1

Tobias Hülswitt, a 2001 graduate of the Deutsches Literaturinstitut in Leipzig, is a prolific younger generation writer whom Sigrid Löffler described as a “Quereinsteiger” and one of the “urwüchsigeren Autoren-Gestalten” that contemporary German literature urgently needs (12).2 Surviving and thriving in Germany’s competitive publishing industry today, however, is easier said than done. Devoted to exploring the conditions for success in the writing profession, Schreiben jetzt. Wie Autoren auf dem Markt überleben, a special issue of Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen, describes the marketing mayhem governing German literary production in the twenty-first century. Publishing houses are releasing new publications at a higher rate, bookstores and online sellers are following suit by showcasing potential bestsellers in correspondingly shorter marketing cycles, and authors are seeing their literary achievements relegated to the bargain bin after six weeks if they do not rapidly ascend the bestseller lists to top the charts (Löffler 7). As Marlen Schachinger asserts in her Werdegang. Varianten der Aus- und Weiterbildung von Autor/innen, the classic image of the impoverished, bespectacled author huddled at his writing desk in the attic is no longer valid (18). She describes the profession for today’s nascent author as: “Schreibend Sein, als Existenzform, als Notwendigkeit, und dies mit dem Anspruch nach einem das Sein ermöglichenden finanziellen Auskommen aufgrund des eigenen Tuns, . . . ” (18).To survive, young Germans embarking on literary careers in the new millennium must be able to write in a wide range of genres and to publish in a diverse array of venues, extending beyond the traditional print novel and collections of short stories and poetry (Biendarra 26; Gerstenberger and Herminghouse 1, Löffler 12). They must also be capable of earning supplementary income preferably in areas related to literature, such as teaching or editing (Schachinger 20).

Similar to several of his contemporaries, Hülswitt has successfully mastered the multi-tasking strategies that are essential for professional survival in the 21st century.3 In the thirteen years since his graduation from the Deutsches Literaturinstitut Leipzig, he has published four novels with Kiepenheuer & Witsch (Saga: Ein Roman [2000], Ich kann dir eine Wunde schminken [2004], Der kleine Herr Mister [2006], and Dinge bei Licht [2008]), as well as blogs, numerous essays and short stories. His work in developing and performing interactive video shows has resulted in the publication of Handbuch des Nonlinearen Erzählens (2011), a book on narrative theory, and Werden wir ewig leben? Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie (2010), a co-edited volume of interviews published by Suhrkamp.

In the following interview, Hülswitt reflects on becoming and living as an author, pursuing sources of supplementary income, creating narratives in interactive video shows, writing in the Digital Age, his career trajectory, and literary influences.

R.J.H.: 1993 bis 1996 hast du eine Lehre als Steinmetz/Steinbildhauer an der Meisterschule für Handwerker in Kaiserslautern gemacht und anschließend ein Jahr als Steinmetzgeselle gearbeitet. Wie kam es dazu, dass du dich um einen Studiumplatz am Deutschen Literaturinstitut Leipzig beworben hast und dich letztendlich für die Literatur entschieden hast?

Tobias Hülswitt: Ich hatte keine Lust mehr, als Steinmetz zu arbeiten, weil ich, dadurch dass das so physisch anstrengend war, abends keine Kraft mehr hatte zu lesen, geschweige denn zu schreiben, und das war auf Dauer dann eben nach dem halben Jahr so unbefriedigend geworden. Dann kam noch dazu, dass mein Altgeselle bei einem Unfall ums Leben kam und ich mich mit meinem Meister danach nicht mehr so gut verstand. Und das beides zusammen hat dann dazu geführt, dass ich nach der Weihnachtspause meinen Chef angerufen habe und ihm gesagt habe, ich glaube, ich komme nicht mehr. Und dann habe ich mich über das Künstlerhaus Edenkoben beworben und habe im Künstlerhaus Schöppingen ein Stipendium bekommen. Dann habe ich zwei Monate Ferien gemacht und bin dann nach Schöppingen gezogen und habe dort geschrieben und habe dann geguckt, was ich studieren könnte, und habe zunächst an Jura gedacht und Germanistik und habe dann gesucht, wo ich was studieren könnte. Wobei Germanistik nicht erste Wahl war, ich glaube, ich habe wahrscheinlich gar nicht viel nach Germanistik geguckt, wirklich eher nach Jura und habe dann in Leipzig im Vorlesungsverzeichnis diese Fußnote gesehen bei der Germanistik dann doch dass es da dieses Literaturinstitut gibt, und die eine Schreibausbildung anbieten, dann habe ich mich da beworben, habe mich nirgendwo anders beworben und bin genommen worden.

R.J.H.: Am 19. Oktober 2000 kurz vor dem Abschluß deines Studiums am Deutschen Literaturinstitut erschien ein Artikel von dir in Die Zeit – “Die Dekonstruktion des Dichters. Krisen als Geschenk des Himmels. Erfahrungen mit dem Schreibstudium.”4 In dem Artikel äußerst du schon Bedenken, die du hast, dich dem Schreiben völlig zu widmen. Schon zu der Zeit hast du eingesehen, dass das Leben als Schriftsteller ein ganz Isoliertes sein kann. Siehst du diesen Beruf aus heutiger Sicht anders? Hast du je die Entscheidung bereut, Schriftsteller zu werden?

Tobias Hülswitt: Ich sehe es ganz genau wie damals. Ich glaube, das hat sich alles genau bewahrheitet, was ich damals gesehen hab’. Ummm . . . und das Lustige war, dass ich die Ausbildung unter anderem gemacht hab’ und dann nach dem Jurastudium geguckt habe, zum Beispiel, weil ich, als ich gemerkt habe, dass ich schreiben will, auch den Gedanken gleich hatte, ich muss mich irgendwie versorgen können. Man hatte mir immer inzwischen erzählt, dass Max Frisch Architekt gewesen war. Es ist mir ganz wichtig, dass ein Schriftsteller einen bürgerlichen Beruf ausgelernt hat, in den er immer zurückkehren könnte, falls er scheitert oder so. Aber dann hat dieser Wunsch, oder Zwang zu schreiben, es dann aber einfach weggespült. Und zwar für viele, viele, viele Jahre eigentlich, weil dieser Wunsch eben so stark ist und ich beobachtete das nicht nur bei mir. Ich glaube, dass es für einen bestimmten Typus vom Schreibenden zutrifft, dass dieses Schreiben wie ’n . . . man kann es jetzt ein Talent oder eine Begabung oder eine Berufung nennen, auch eine Orientierung, um die andere einem beneiden, die es nicht haben. Man kann es aber als Fluch sehen oder als Deformation, weil man muss das wirklich machen, ob man es mag oder nicht, und das ist schon eine ganz besondere psychische Architektur, mit der man dann noch umgehen muss. Man muss dann lernen, wenn man eben nicht sofort davon leben kann, wie man das kombiniert mit anderen Arbeiten, die es aber einem erlauben, die Zeit aufzubringen zum Schreiben, weil man sonst nicht unbedingt glücklich wird, wie es eben mir beim Steinemetzen gegangen ist, das ging dann nicht mehr. Da hatte ich überhaupt keine Freiräume, keine Kraft mehr. Deswegen konnte ich einfach nicht weiter machen.

R.J.H.: Im Laufe deiner Karriere warst du und bist du immer noch in anderen Bereichen tätig. Du arbeitest schon öfters an Kulturprojekten für das Goethe-Institut, du arbeitest gelegentlich als DaF-Lehrer, und du hast als Gastdozent an der Universität der Künste Berlin, am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und an der Universität Hildesheim gewirkt. Natürlich spielt die finanzielle Not hier eine Rolle. Abgesehen aber davon, was bringen dir und deinem Schreiben diese Nebentätigkeiten?

Tobias Hülswitt: Na ganz unterschiedlich also. Es ist nicht nur das Finanzielle. Es hilft, oder es tut ja auch gut sozusagen, gebraucht zu werden oder was tun zu können. Beim Schreibenlehren bin ich mir nicht so ganz sicher, ob das einem viel bringt, höchstens dass man sich über seine eigenen Ideen noch mal klar wird oder so, klarer wird. Aber irgendwann muss man dann auch einfach schreiben und die Vermittlung ist eigentlich gar nicht so wahnsinnig spannend. Bei mir ist es ja so, dass die Theorie des Nonlinearen Erzählens mir viel gebracht hat, aber ich habe jetzt gerade nicht das Bedürfnis sozusagen, daraus meinen Lebensinhalt zu machen. Lieber wieder zum Schreiben zurückzukehren, weil ich habe das Gefühl, ich beherrsche das und weiß, was ich da tue. Aber die anderen Nebentätigkeiten, wie das Unterrichten in Schulen, also das bringt einen gewissen Rhythmus, eine gewisse Beständigkeit, einen Austausch mit Leuten, . . . sehr interessante Erfahrungen, vor allem im Bereich der Integrationskurse. Was ich jetzt mache, einfach so Wohlhabenden, Kindern wohlhabender Eltern Deutsch beizubringen, das ist wiederum weniger interessant, aber die Integrationskurse hier in Kreuzberg, wo Menschen aus aller Welt mit den unterschiedlichsten Hintergründen zusammen kamen, das war super spannend. Das war richtig, richtig super.

R.J.H.: Das sind die Erfahrungen, die man dann halt in dieser Kurzgeschichte “Engelbecken” auch sieht. Du hast die dann literarisch verarbeitet.

Tobias Hülswitt: Ja, und es gibt diesen Ausspruch von Bohumil Hrabal5. Der sagt, der hat ganz spät in seinem Leben angefangen, richtig produktiv zu werden als Schriftsteller. Der hat es ein bißchen blöd ausgedrückt. Er hat vorher gesagt, er will sich noch, bevor er anfängt zu schreiben, er will sich mit Menschen besudeln. Das ist natürlich ein bißchen disrespektierlich ausgedrückt, aber ich verstehe dieses Gefühl, dass man sagt, man will überhaupt unter Menschen sein und einfach noch mehr sehen und hören von denen und mit dabei sein, bevor man sich wiederum in diese sehr einsame Tätigkeit des Schreibens begibt.

R.J.H.: Als du 2002 Stadtschreiber in Cairo warst, hast du am Goethe-Institut Florian Thalhofer kennengelernt. Darauf folgten acht Jahre Zusammenarbeit, darunter die Begründung des Korsakow-Instituts für Nonlineare Erzählkultur 2008 mit Matt Soar (Montreal) und eine Reihe von interaktiven Shows nicht nur in Deutschland, sondern auch in Venezuela und Prag. Im Nachhinein wie siehst du diese Arbeit mit dem nonlinearen Erzählen, was eigentlich aus dem literarischen Bereich stammt, und den interaktiven Shows, die eher zum Bereich öffentlicher Diskussion gehören? Das heißt Literaturtheorie in einem nicht literarischen Kontext.

Tobias Hülswitt: Das ist für mich als Schreibenden spannend aber nicht so befriedigend und auch nicht so aufwühlend wie wenn ich selber schreibe. Diese große Gratifikation des Schreibens, dieser Glücksmoment, der fehlt da, ist da nicht so stark, und gleichzeitig ich habe diese Instabilitäten, die das Schreiben mit sich bringt, diese mentalen, kritischen Zustände sage ich mal, die bleiben auch aus. Die Höhen und Tiefen, die Amplitude ist kleiner. Aber gerade vor dem Hintergrund der Theorie des Nichtlinearen Erzählens ist es, finde ich, perfekt so was zu machen, weil das in meinen Augen ein offenes Kunstwerk ist oder ein Kunstwerk in Bewegung, wie Umberto Eco das beschrieben hat, wo nicht nur die Reihenfolge offen ist, oder es ’ne sehr große Anzahl von gleichberechtigten, möglichen Anordnungen des Materials gibt, sondern weil das Publikum sogar tatsächlich die physische Anordnung des Materials mit bestimmt und noch selber ganz spontan sozusagen sein eigenes Material in Form von Beiträgen, SMS oder Redebeiträgen mit einbringt, und dadurch dass es den Verlauf bestimmt, eben sozusagen das physische Arrangement des Materials bestimmt, und das steht eins zu eins so darin im offenen Kunstwerk von Umberto Eco. Deshalb finde ich es hochspannend.

R.J.H.: Haben deine Erfahrungen in diesem Bereich deine Meinung dazu geprägt, welche Rolle die Literatur in der deutschen Gesellschaft spielen sollte? Und Schriftsteller?

Tobias Hülswitt: Das finde ich schwierig, weil ich eigentlich grundsätzlich davon ausgehe, dass Literatur keinen Auftrag haben sollte. Jedenfalls nicht von außen. Also keinen, den sich der Autor nicht selber gibt. Ich möchte eigentlich nicht, dass die in irgendeiner Form instrumentalisiert wird, weil das ein Bereich ist, der Wichtiges, Unplanbares hervorbringen kann, was die Gesellschaft auch ganz dringend braucht. Es muss also einen Bereich geben, in dem Leute sich mit völlig randständigen Themen beschäftigen, die aber vielleicht später eine große Bedeutung bekommen, oder die einfach wichtig sind, damit es so eine Diversität von Ideen und Gedanken und Themen gibt, mit denen Leute sich beschäftigen. Deshalb finde ich es fast gefährlich, wenn man sagt, der Schriftsteller soll dies oder das tun. Ich bin immer ein bißchen skeptisch, wenn Schriftsteller sich gesellschaftlich engagieren und es sehr stark mit ihrer Schriftstellerrolle in Verbindung bringen. Ich kann es eher verstehen, wenn jemand sagt: Als Schriftsteller bin ich vollkommen autonom, vollkommen autark. Oder wie Katja Müller-Lange mal gesagt hat: “Ich bin meine eigene Nation, ich bin mein eigener Staat, mich interessiert der deutsche Staat nicht.”
R.J.H.: 2008 hast du Roman Brinzanik, der Physiker und Bioinformatiker ist und am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin arbeitet, kennengelernt. Inzwischen habt ihr sämtliche interaktive Shows zusammen aufgeführt und eine Anthologie Werden wir ewig leben? Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie (2010) veröffentlicht. Was bedeutet dir diese Zusammenarbeit mit einem Naturwissenschaftler? Hat sich dein Verständnis vom Beruf Schriftsteller dadurch geändert?

Tobias Hülswitt: Ne, hat sich gar nicht geändert. Also, die Arbeit hat mir Horizonterweiterung gebracht, und das hat mir viele Themen erschlossen, auch naturwissenschaftliche Themen, gesellschaftsrelevante, gesellschaftspolitische Themen, die ich vorher nicht so auf dem Schirm hatte. Also, irgendwie bin ich dadurch, glaube ich, in der Gesellschaft erst so richtig angekommen. Vorher war ich einfach viel mehr bei mir, und jetzt habe ich einfach eine ganz andere Perspektive von Dingen und Zusammenhängen . . . habe auch viel gelernt, und es war wichtig mit Roman zu arbeiten. Erstmal, es wäre mir viel schwerer gefallen, die richtigen naturwissenschaftlichen Interviewpartner zu finden, weil er einfach viel besser beurteilen kann, wer ist jetzt wirklich hier crème de la crème und was sind die wichtigen Themen, die zu so einem Themenkomplex gehören, und so weiter, und das konnte er besser beurteilen als ich, und auch in den Interviews selbst hat er immer die naturwissenschaftliche Perspektive reingebracht. Das hätte ich selber so eigentlich nicht gekonnt. Also, es wäre einfach die Hälfte dessen, was wir da produziert haben, ohne ihn gar nicht möglich gewesen. Von daher brauchte das Projekt das einfach auch. Aber meine Rolle als Schriftsteller oder meine Vorstellung von Literatur oder mein Schreiben veränderte das eigentlich nicht.

R.J.H.: Wie haben das Internet und das damit verbundene digitale Zeitalter dich und dein Schreiben beeinflusst? Die Literatur und den Leser? Wie es ist, als Schriftsteller im digitalen Zeitalter zu schreiben? Anders

Tobias Hülswitt: Ich glaube eigentlich gar nicht unbedingt anders. Vielleicht ist tatsächlich der größte Einfluß, den das Internet auf das Schreiben hat, wahrscheinlich der des Onlines, Onlineseins, was einen aus dem Schreiben reißen kann. Also, wenn man nicht aufpasst und man schreibt und dann checkt man einmal Emails, und die Zeit ist vorbei. Also, man muss halt entweder sehr selbstdiszipliniert sein und Offline bleiben, oder wirklich das ausschalten, während man schreibt, oder man sagt, ich habe diese vier Stunden morgens und da mache ich nichts anderes. Ob das mental sozusagen irgendwie das Schreiben groß verändert, weiß ich gar nicht. Das hat das Leben verändert, und wir merken vielleicht gar nicht mehr diese große Veränderung, weil wir uns mit verändert haben, mit dem Medium, und unser Denken sich mit verändert hat. Was ich merke, wie ich eben schon mal gesagt habe, dass ganz viele Leute so partizipative Formate entwickeln und nicht linear denken, nicht mehr in so einfachen Bahnen denken, und Leute, die niemals wirklich was mit Literatur zu tun hatten, die nicht geschrieben haben, nicht gelesen haben. Das kommt sicherlich durch das Internet mit, glaube ich, diese Art von vernetztem Denken und nichtlinearem Denken. Und vielleicht beeinflusst uns das auch. Aber der Roman, glaube ich, ist im Vergleich zum Film ohnehin schon immer viel freier gewesen und hat sehr viele, sehr viele nichtlineare, wilde, anarchische Formen hervorgebracht. Das, was wir heute sehen, was das Internet kann und macht – die Verknüpfung, Verbindung, die Sprünge, diese völlig unvermittelten Schnitte, wenn du von YouTube von einem Video zum anderen springst oder eben das Fernsehen selbst, was man da produziert an Schnitten sozusagen. Wenn man gute Autoren liest, Saul Bellow, Herzog zum Beispiel, da sieht man, das sind ja praktisch fast so cut-up Techniken, die da verwendet werden, die ganze Zeit schon. Also, der Roman war zum Glück eh nie so klassisch streng, oder nur selten, fast nur in Ausnahmeform linear, aristotelisch. Oder wie der Sigmund Haupt das mal gesagt hat, dieser Wahn, alles mit allem in Verbindung zu setzen. Das macht diese Technik ja sozusagen, potenziell, setzt alles mit allem in Verbindung, und das haben Schreibende, glaube ich, sowieso oft gemacht.

R.J.H.: Fernöstliche Religionen kommen oft in Deinen Texten vor. Warum? Was bringen sie deiner Meinung den Europäern, den Abendländern?

Tobias Hülswitt: Na ja, also . . . sagen wir mal, bei den Abendländern herrscht eben dieser Komplex . . . man könnte ja fast sagen . . . der industrielle, militäre narrative Komplex. So nenne ich das. Das ist ein teleologisches System sozusagen. Man muss immer gegen Widerstände etwas erreichen, und die Narration, die diese Gesellschaft hervorbringt, ohne Auftrag witzigerweise, während eine Propagandamaschine wie Hollywood permanent produziert. Das ist total verrückt. Das System belohnt aber sozusagen die Produzenten dieser Propaganda finanziell, oder durch Starkult und so weiter, so dass sie ständig diese teleologische Erzählung wiederholen und ständig in alle Köpfe verpflanzen. Das Wesentliche daran ist, dass das völlig unabhängig vom Inhalt passiert, glaube ich, dass diese linearen Erzählungen immer eben uns vier Botschaften mehr oder weniger vermitteln. Das heißt:

• Die Zeit läuft ab.
• Wir befinden uns in einer Arena und im ständigen Konflikt. Man muss kämpfen, um seine Wünsche und Träume zu erfüllen.

R.J.H.: Und es ist möglich, die Träume und Wünsche zu erfüllen.

• Ja, genau, auch ein Irrsinn schon fast. Dazu muss man auch wahnsinnig viel opfern, und so weiter.
• Man muss effizient sein, es muss effizient sein, weil die Erzählung, Hollywood oder die aristotelische Erzählung ist wahnsinnig effizient. Das ist eine Effizienzideologie, weil jeder Erzähler, der halt darin nicht dem Fortgang der Handlung dient, muss eigentlich eliminiert werden.
• Und das ist ein metaphysisches Konzept, weil man hat immer die übergeordnete Dramaturgie, die einem sagt, alles, was in dieser Erzählung passiert, hat seinen höheren Sinn auf dieser übergeordneten Ebene.

Und so laufen wir durchs Leben dann und denken eben, meine Zeit läuft ab, ich muss gegen Widerstände meine Wünsche erfüllen, ich muss effizient sein dabei, möglichst keine Zeit verschwenden, keine Energie verschwenden, und irgendwie hat alles, was ich mache, was hier passiert und so, irgendwie hat das da oben irgendwo einen Sinn, in so einer höheren Welt. Ja, selbst wenn es sie nicht gibt, man sagt dann immer, irgendeinen Sinn wird es gehabt haben. Irgend jemand hat’s daoben, irgendwas hat sich was dabei gedacht oder so, ja? Egal was in so einer Erzählung an Schrecklichem passiert – das Kind stirbt auf tragische Weise, fällt aus dem Fenster – es hat aber in der höheren, in der Dramaturgie der Handlung seinen Sinn, weil das zum Fortlauf der Handlung beiträgt. Es ist eine perverse Erzähltechnik.

R.J.H.: Und du bietest das in deinen Werken als Gegenbild an.

Tobias Hülswitt: Irgendwie ist es immer ein bißchen da, in [partizipativen] Shows6 ja auch. Das hat mich auch so fasziniert, weil es eben dieses Gegenbild auch ist, weil du auch nicht raus gehst und sagst, jetzt weiß ich es, die eine große Erleuchtung habe ich gehabt. Oder die eine große Weisheit habe ich mitgenommen. In Hollywood Filmen gibt es immer eine bescheuerte Weisheit, oder? Selbst wenn der Film ein absoluter Müll ist, am Ende muss irgend so was da sein. Das gibt’s bei der Show nicht, das gibt’s in Zen eben auch nicht. Die Zen Geschichten funktionieren völlig anders. Ja, man kann das in den aristotelischen Begriffen einfach auch nicht richtig beschreiben, glaube ich. Ja, den Geist leeren von Inhalten, oder diese Inhalte nur beobachten. Beoabachtung ist schon fast zu viel. Du stehst nicht, du kannst nochmal durchblicken, von oben bis unten, die Zeit, die Zeit steht oder es spielt keine Rolle, dass sie läuft. Du befindest dich nicht im Konflikt mit nichts. Es gibt überhaupt nichts zu kämpfen. Witzlos. Du musst auch nicht effizient sein, weil du ja auch nicht kämpfen musst, weil du auch deine Wünsche abgeschnitten hast, wenn es dir gelungen ist, oder sie wenigstens erkannt hast in ihrem Wesen. Und es gibt natürlich auch keinen übergeordneten Sinn.

R.J.H.: Was sind Deine literarischen Vorbilder?

Tobias Hülswitt: Gute Frage. Vorbilder, ja eben, ich glaube, das sind schon die Leute, die über die Jahre gehalten haben, aber ich kann die nicht wirklich Vorbilder nennen, weil ich das auch nicht kann, was die können. Das sind Leute eben wie der Zygmunt Haupt, das war ein polnischer Schriftsteller Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Er hat mich sehr beeindruckt. Ich lese es auch immer wieder. Es ist wirklich eine ganz großartige Art von Literatur, eben auch vollkommen nichtlinear, vollkommen . . . die Dinge reihen sich so an einander aus einer inneren Notwendigkeit und haben so eine starke innere Strahlkraft, dass jede Handlung vollkommen schnuppe dabei ist. Das ist wirklich fantastisch, und dann kommt man wieder zum Fernöstlichen, also weil die Anschauung an sich dann so stark ist, dass mir persönlich das vollkommen reicht. Das ist auch bitte nicht metaphysisch. Das erfüllt all diese Dinge nicht; es ist nicht effizient, alles, was da drinne steht, darf um unseren Selbstwillen existieren. Das ist eben an dieser Effizienzideologie so gefährlich. Wenn man das auf eine Gesellschaft überträgt, darf jede Einheit nur existieren, wenn sie einen bestimmten Fortgang, eine bestimmte Idee dieser Gesellschaft beiträgt, und wenn das eine Rassenideologie ist und die Juden passen nicht rein in diesen Effizienzgedanken sozusagen, dann müssen sie verschwinden so. Und das sind eben auch politische Dimensionen von Erzählung, so finde ich. Und das ist bei ihm ganz, ganz toll gelöst. Ich weiß nicht, ob er jemals darüber nachgedacht hat, aber er war eigentlich Maler. Vielleicht kommt es daher, dass er stark anschauend auch geschrieben hat. Andrzej Stasiuk . . . der mit manchen seiner Bücher in der Nachfolge von Zygmund Haupt steht, finde ich auch ganz toll. Von den Amerikanern hat mich Richard Ford auch stark beeindruckt, Philip Roth natürlich, jetzt jüngst eben Saul Bellow. Aber ich kann nicht sagen, dass die Vorbilder sind. Sie inspirieren mich auf jeden Fall stark, und irgendwie fließt das auch in das ein, was ich mache. Man versucht ihnen nachzueifern, vielleicht ohne den Anspruch, ihnen das genau so gut zu machen. Wenn wir das unter Vorbildern verstehen, dann wären das schon Vorbilder. Weil ich weiß, dass ich nie wie Andrzej Stasiuk7 oder Zygmunt Haupt8 schreiben kann, oder auch nicht wie Philipp Roth.

R.J.H.: Aber das nimmst du dir auch nicht vor.

Tobias Hülswitt: Genau, ich weiß aber auch, das ist nicht das, was ich kann. Ich kann irgendwas, aber das ist nicht das, was die machen. Aber trotzdem inspiriert’s mich auf eine Weise in dem, was ich mache.

R.J.H.: Wenn du auf deine bisherige Karriere zurückblickst, wie verstehst du sie? Empfindest du sie als eine Reihe von Entwicklungs- und Schaffensphasen, Kontinuitäten, oder wild aneinander gereihte Ereignisse?

Tobias Hülswitt: Ja, es gibt irgendwie so eine seltsame Wechselwirkung, wenn du das so beschreibst, dass ich diese Lebensphasen immer so abarbeite, das stimmt. Insofern gibt’s, glaube ich, im Schreiben da schon gewisse Kontinuitäten, obwohl ich ja . . . genau obwohl ich finde, dass ich mit Saga und Dinge bei Licht näher an dem bin, was so meine eigene Art des Schreibens ist als in Ich kann dir eine Wunde schminken und in Der kleine Herr Mister. Das waren Versuche. Ja, und gleichzeitig steht natürlich eben, wie ich am Anfang beschrieben habe, das Schreiben dann sozusagen der persönlichen Entwicklung, der Entfaltung des persönlichen Lebens irgendwie im Weg, weil man einfach so viel Zeit und Energie und Gedanken darauf verwendet, diese Bücher zu schreiben. Und dann endet man am Ende so, dass das Scheitern im bürgerlichen, privaten Leben dann eben wieder der Stoff für das nächste Buch wird, und so weiter. Das ist irgendwie das Feedbackloop an dem Ganzen. Es ist wirklich nicht so, dass man sich mit dem Schreiben irgendwie das Leben rettet oder sich heilt oder so was. Das findet überhaupt gar nicht statt.

R.J.H.: : Das ist aber, was mit deinen früheren Sachen, mit den Kurzerzählungen, tatsächlich gesagt wird. Dass das Schreiben einem das Leben retten kann, alles heilen kann.

Tobias Hülswitt: Ja, und teilweise hat’s auch funktioniert. Saga zum Beispiel . . . das hatte wirklich eine therapeutische Wirkung auf mich gehabt, weil ich all die Dinge, die sich vorher so wirklich permanent immer in meinem Kopf bewegt haben. . . wirklich so Tag und Nacht . . . immer diese Themen, die in Saga drinne stehen, und das war auf einmal still, still und weg, fertig, aufgeschrieben, rausgegeben, ich konnte völlig neu, völlig neu anfangen zu denken. Vielleicht passiert es jetzt auch wieder. Ich glaube, wenn man schreibt, lernt man nicht daraus. Also, ein guter Satz macht keinen besseren Menschen. Das ist eben das Problem. Anstatt eine Erfahrung in sich zu nehmen und zu fragen – Was habe ich erlebt? War das gut? Will ich das nochmal? Was muss ich ändern, damit es nicht nochmal passiert? Das findet nicht statt, während man schreibt. Während dem Schreiben nimmt man diese Erfahrung und denkt, okay, wie kann ich die gut darstellen. Das macht man dann. Und die Zeit, die man dazu braucht, um das zu tun, die hat man nicht mehr, oder man macht es wie beschrieben eben nicht mehr, weil man es pseudo bewältigt hat. Dabei entwickelt man sich persönlich eigentlich gar nicht wahnsinnig viel . . . durch das Schreiben. Das ist meine Theorie, ich glaube, viele würden mir widersprechen, aber mir scheint es so zu sein. Und da fällt mir auch noch ein. Das hat wiederum mit der Theorie des Nonlinearen Erzählens zu tun, dass dieses Schreiben auch ein Versuch ist, das was ich als das Irritierende an der Komplexität meiner Person erlebe und da muss ich immer noch dazu sagen, dass ich nicht deshalb so sehr viel über mich schreibe als Person, weil ich mich so wahnsinnig interessant finde oder besonders finde, sondern weil ich sozusagen meine beste Informationsquelle bin, weil ich mich am besten beobachten kann, weil ich einfach am nächsten an mir daran bin. Weil ich über mich sehr gut berichten kann, weil ich es sehr nah beobachten kann, näher als bei jedem anderen und deshalb schreibe ich auch über meine Nächsten so viel, weil ich an denen auch so gut beobachten kann. Und die Theorie des Nichtlinearen Erzählens ist wahrscheinlich auch der gleiche Versuch, ein Gerüst zu schaffen innerhalb dessen die Widersprüchlichkeit und Komplexität auch von einer Person und meiner Persönlichkeit vielleicht plötzlich eine Stärke statt eine Schwäche wird. Wenn man sagt, ich will das gar nicht reduzieren und niedrigkomplex darstellen, sondern ich will es so komplex darzustellen, das ist eben sozusagen eine Not und eine Tugend dann gleichzeitig, weil die Irritation durch die Komplexität der eigenen Person relativ groß ist, bei mir zum Beispiel, immer versuchen auch im Leben wie kann ich das alles mit einander in Bilanz bringen und so. Und das gleiche für den Schreibenden findet eben auch statt. Das kann auch wiederum Teil des Sichnichtentwickeltseins. Also, wenn man versucht, an sich zu arbeiten, kann es sehr hilfreich sein, linear zu denken. In diesem Zusammenspiel von Leben und Literatur spielt das auch eine Rolle.

Notes

1 Hülswitt, Tobias. Personal Interview. 22 May 2013. This interview was made possible by generous funding from the Marianna Merritt and Donald S. Matteson Professorship in Foreign Languages & Cultures and has been edited for length.
2 In addition to Hülswitt, Löffler lists Johann Trupp, Josef Winkler, Ilija Trojanow, Raoul Schrott, Christoph Ransmayr and Alex Capus as examples of the type of authors of which German literature is in dire need (12).
3 For an examination of Hülswitt’s early work in both traditional publications and online, see Halverson.
4 “Die Dekonstruktion des Dichters. Krisen als Geschenk des Himmels. Erfahrungen mit dem Schreibstudium.” Die Zeit 19 Oct. 2000: n. pag.
5 Bohumil Hrabal (1914-1997) gilt als einer der bedeutendsten tschechischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
6 Aus juristischen Gründen wird die Erwähnung von Korsakow Shows an dieser Stelle aus der Transkription gestrichen.
7 Andrzej Stasiuk (geb. am 25 September 1960) ist ein polnischer Schriftsteller, Journalist und Literaturkritiker.
8 Zygmunt Haupt (1907-1975) war ein polnischer Schriftsteller und Maler.

Works Cited

Biendarra, Anke S. Germans Going Global: Contemporary Literature and Cultural Globalization. Berlin: Walter de Gruyter, 2012.

Gerstenberger, Katharina, and Patricia Herminghouse. Introduction. German Literature in a New Century: Trends, Traditions, Transitions, Transformations, edited by Katharina Gerstenberger and Patricia Herminghouse. New York: Berghahn Books, 2008, pp. 1-11.

Halverson, Rachel. “The Deutsches Literaturinstitut Leipzig and the Making of an Author.”
German Literature in a New Century: Trends, Traditions, Transitions, Transformations, edited by Katharina Gerstenberger and Patricia Herminghouse. New York: Berghahn Books, 2008, pp. 56-72.

Hülswitt, Tobias. Dinge bei Licht. Erzählung. Cologne: Kiepenheuer & Witsch, 2008.

—. Handbuch des Nonlinearen Erzählens. Hildesheim: Edition Pächterhaus, 2011.

—. Ich kann dir eine Wunde schminken. Cologne: Kiepenheuer & Witsch, 2004.

—. Der kleine Herr Mister. Cologne: Kiepenheuer & Witsch, 2006.

—. Saga. Roman. Cologne: Kiepenheuer & Witsch, 2000.

Hülswitt, Tobias, and Roman Brinzanik, ed. Werden wir ewig leben? Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie. Berlin: Suhrkamp, 2010.

Löffler, Sigrid. “Im Sog der Stromlinie: Der deutsche Literaturmarkt zwischen Moden und Trends.” Schreiben jetzt. Wie Autoren auf dem Markt überleben. Spec. issue of Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen, vol. 1, no. 2, 2008, pp. 6-13.

Schachinger, Marlen. Werdegang. Varianten der Aus- und Weiterbildung von Autor/innen. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2013. Europäische Hochschulschriften 2040.

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Aug 17 2016

Über das „Gefühl des Glücks …einfach raus zu sein“: Von Ostberlin an die Ostküste Amerikas. Ein Gespräch mit Wolfgang Müller, dem langjährigen Herausgeber des transatlantischen Online-Journals Glossen

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von Frederick Lubich

Müller
Wolfgang Müller vor der Küste von Virginias Eastern Shore:
Der Kapitän von Glossen im wohlverdienten Ruhestand

 

 

Frederick Lubich: Lieber Wolfgang, von den letzten drei Generationen, die von Deutschland in die Vereinigten Staaten ausgewandert sind, gehören wir beide altersmäßig mehr oder weniger zur zweiten Generation. Im Gegensatz zur ersten Generation, deren Vertreter vor allem als Verfolgte des Dritten Reiches hier in Amerika eine neue Heimat gefunden haben, sind wir nach dem Krieg in einem geteilten und mit sich verfeindeten Deutschland aufgewachsen. Vergleicht man unsere Lebensgeschichten, so weisen sie sowohl Gegensätze wie auch Gemeinsamkeiten auf, die zusammengesehen auch immer wieder die Geschichte Nachkriegsdeutschlands repräsentativ illustrieren können, und so möchte ich zu Beginn unseres Gesprächs auch einige ihrer Leitmotive stichwortartig miteinfließen lassen. Du bist in Ost-Deutschland aufgewachsen und vor allem vom dortigen politischen System sozialisiert worden. Ich bin in West-Deutschland aufgewachsen und in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren nicht zuletzt auch von der bundesrepublikanischen Studentenbewegung mitgeprägt worden. Erzähl von Deiner Jugendzeit.

Wolfgang Müller: Trotz der besonderen Situation in Berlin, wo man bis zum Bau der Mauer am 13. August 1961 wie selbstverständlich zu Fuß, per Straßenbahn, S-Bahn und U-Bahn von Ost- nach Westberlin und umgekehrt gelangte, waren einerseits meine Familie und deren Umfeld und andererseits auch der Staat DDR der prägende Nexus, in dem ich aufgewachsen bin.
Der etwa zehn Jahre jüngere Uwe Kolbe hat mit dem Titelgedicht seines ersten Lyrikbandes Hineingeboren(1980) auch mein Verhältnis zu diesem Vaterland ziemlich genau getroffen:

Hineingeboren

Hohes weites grünes Land,
zaundurchsetzte Ebene.
Roter
Sonnenbaum am Horizont.
Der Wind ist mein
und mein die Vögel.

Kleines grünes Land enges,
Stacheldrahtlandschaft.
Schwarzer
Baum neben mir.
Harter Wind.
Fremde Vögel.

    Ich benutze das Wort „Vaterland“, weil Ostberlin und DDR das Land meines Vaters war, denn obwohl meine Eltern und die meisten meiner Verwandten nach dem Krieg erst einmal am Rande der Hufeisensiedlung in Britz wohnten, also im amerikanischen Sektor Berlins, bin ich in Ostberlin aufgewachsen. Das lag daran, dass mein Vater als „alter Genosse“ – er war seit 1930 Mitglied der KPD – es vorzog, in den russischen Sektor umzuziehen, als er die Anordnung der amerikanischen Militärverwaltung an alle Polizisten bekam – mein Vater war auf Anweisung des kommunistischen Antifa-Komitees Polizist geworden – entweder aus der kommunistischen Partei auszutreten und in die SPD einzutreten oder Arbeit und Dienstwohnung zu verlieren. Ironischerweise musste er nach dem Umzug in den russischen Sektor ein von der SED initiiertes Parteiverfahren über sich ergehen lassen, weil diese neue KPD mit anderem Namen ihre Leute dort belassen wollte, wo die Macht der „Imperialisten“ angesiedelt war, und die lag u.a. bei der Polizei im Westen.
Für mich war dieser Umzug bis in die fünfziger Jahre weitgehend unbedeutend, weil Kinder in Ost-und Westberlin anfangs sehr ähnlich aufwuchsen, nämlich auf den Straßen und in den Ruinen der Stadt, wo sie nach „Schätzen“ suchten, nach Waffen stöberten, gefundene Gewehrpatronen auseinandernahmen und das Pulver anzündeten, Kippen sammelten, um sie dann in Zeitungspapier neu gerollt zu rauchen, in Lebensmittelläden Bonbons klauten, auf der Straße Fußball und Hopse spielten, auf die nicht vorhandenen Väter warteten und auf die Mütter, die sich irgendwie und irgendwo ein wenig Geld verdienten, bis sie gegen Abend nach Hause kamen. Und dann waren da die Albträume von Luftangriffen und brennenden Häusern, die viele der Kriegs- und Nachkriegskinder heimsuchten.
Im Gegensatz zu anderen Kindern hatte ich insofern Glück, als ich einen Vater hatte, der noch dazu seinem Sohn gegenüber sehr sanft und tolerant war. Allerdings war er Stalinist und glaubte an das neue, sozialistische Deutschland Stalinscher Prägung im Osten, das über kurz oder lang, so meinte er in Übereinstimmung mit den „ehernen Gesetzen“ der Geschichte auch im Westen entstehen würde. Stalin war eben sein Held. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass er alle Zeitungsartikel zum Tode Stalins aus der Parteizeitung Neues Deutschland ausschnitt und in einem Pappkarton aufbewahrte.
Meine politische „Erziehung“ in der Familie erfolgte aber nie durch politische Standpauken, sondern eher ganz nebenbei durch Gespräche und Diskussionen im Freundeskreis meiner Eltern, und durch das, was die Schule und die staatseigenen Medien an Propaganda über das Land, in dem wir lebten, verbreiteten.
Soweit sie den Krieg überlebt hatten, wohnten viele dieser Freunde, die meine Eltern seit den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren aus dem linken Ruderverein „Freiheit“ kannten, im russischen Sektor. Andere waren im Westen Berlins zu Hause. Wenn sich die alten Freunde, zu denen auch einige Verwandte gehörten, trafen, wurde es oft spannend für mich, besonders wenn sie sich im verqualmten Wohnzimmer von Onkel Willy bei Schnaps und Bier über Politik stritten, z. B. über die Machtergreifung Hitlers und den Reichstagsbrand. „Als der brannte, hätten wir zuschlagen müssen“, sagte Onkel Ernst immer. „Wir hatten doch die Waffen in unseren Bootshäusern.“ „Quatsch“, widersprach mein Vater, „da war es schon zu spät. Wenn ihr uns nicht vorher schon verraten hättet, wäre diese ganze braune Scheiße nicht über uns gekommen.“ „Wer hat denn hier wen verraten“, entgegnete Onkel Ernst dann wütend. „Wer hat denn mit den Nazis beim großen Streik der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) gemeinsame Sache gemacht? Wir, die Sozialdemokraten oder ihr Kommunisten?“ Obwohl ich von all dem noch nicht sehr viel verstand, schon weil ich überwiegend mit dem Ansehen der bunten Bilder aus Westberliner Illustrierten beschäftigt war, blieben solche und andere Sätze fest in meinem Gedächtnis haften.
Richtig politisch wurde das Leben für mich jedoch erst später, als die DDR am 13. August 1961 eine Mauer um Westberlin errichtete, die mein Vater in der Nähe des Brandenburger Tors in Kampfgruppenuniform und russischer Maschinenpistole verteidigte, obwohl ihm klar war, dass er von nun an weder seine Schwestern noch seine Mutter im Westen besuchen durfte.
Wie auch die meisten Schüler meiner Oberschulklasse, war ich empört über den Mauerbau und gleichzeitig traurig. Denn vor dem 13. August waren viele von uns wie selbstverständlich unbehelligt in Westberliner Kinos gegangen, den Kudamm rauf- und runtergeschlendert und nun einem wichtigen Teil unserer Freiheit beraubt. Für Teenager ein unerträgliches Gefühl.
Aber da sich die politischen Zügel bis circa 1965, dem Jahr in dem ich mein Abitur machte, etwas lockerten, entstand bei mir und vielen Altersgenossen schließlich die Überzeugung, dass der Sozialismus in der DDR im Vergleich zum Kapitalismus das bessere Gesellschaftssystem sei, wenngleich es nicht wirklich „unseres“ war. Wolf Biermann brachte dieses Gefühl in einem frühen Lied auf den Punkt: „Er ist für den Sozialismus / und den neuen Staat / aber den Staat in Buckow / den hat er gründlich satt.“

 

Frederick Lubich: Du schreibst in Deinem Lebensabriss über Deine Jugend als eine Zeit der „politischen Bauchschmerzen“, die Du als „philosophischen Existentialismus“ diagnostiziert hast. Auch wir in West-Deutschland waren Mitte der sechziger Jahre noch vom französischen Existentialismus beeinflusst. So gründeten wir zum Beispiel an meinem Gymnasium eine Arbeitsgruppe für Philosophie, in der wir die Werke von Sartre und Camus lasen und mehr oder weniger begeistert debattierten. Ich kann mir andererseits gut vorstellen, dass Deine Existentialismus-Studien eher heimlich, still und leise unter der Bettdecke stattfanden.

Wolfgang Müller: Die politischen Bauchschmerzen waren tatsächlich chronisch, bezogen sich aber mit ein oder zwei Ausnahmen weniger auf den Existentialismus sondern eher auf die Diskrepanz zwischen dem, was uns von der Partei, den Zeitungen und der Schule erzählt wurde und der realen ökonomischen, kulturellen und politischen Situation, in der wir uns zurechtfinden mussten.
Eine Ausnahme, mit Bezug auf den Existentialismus, hatte bei mir mit einem Deutschaufsatz in der 11. Klasse zu tun, in dem wir ein Zitat aus dem Wallenstein interpretieren sollten: „Denn Recht hat jeder eigene Charakter, der übereinstimmt mit sich selbst. Es gibt kein andres Unrecht als den Widerspruch.“ Was erwartet wurde, war so etwas wie, dass jemand Unrecht hat und tut, wenn er gegen die Gesetze des Staates und der Partei verstößt, doch ich schrieb bewusst und sogar mit einem Gefühl des Stolzes genau das Gegenteil, weil ich mit diesen Worten der Gräfin Terzkys aus Schillers Stück gefühlsmäßig übereinstimmte. Damit kam ich, ohne es zu ahnen, Grundkonzepten des Existentialismus wie Selbstentwurf, Freiheit und Selbstbestimmung sehr nahe, was glücklicherweise meinen Deutschlehrer nicht störte.
Zu einem echten Problem wurde die “falsche Interpretation”, als ich den Aufsatz einem gleichaltrigen Mädchen aus der Ostberliner Käthe-Kollwitz-Oberschule gab, ohne zu ahnen, dass sie ihn weitergeben würde und er schließlich bei der Schulkommission des Stadtbezirks und schließlich bei der Partei-, Schul- und FDJ-Leitung der Kantschule im Berliner Stadtteil Lichtenberg, meiner Oberschule, landete. Jedenfalls wurde ich eines Tages aus dem Staatskundeunterricht herausgerufen und zum Schuldirektor beordert. Auf der Treppe zu seinem Zimmer kam mir mein Deutsch- und Klassenlehrer entgegen, der mir mit ernstem Gesichtsausdruck riet, dass es nicht gut wäre, in ein Maschinengewehrfeuer zu laufen. Aha, dachte ich, der Aufsatz. Als ich in das Amtszimmer des Direktors kam, saßen dort schon mindestens zwölf Personen um einen langen Tisch herum. Ich setzte mich auf den mir angebotenen Stuhl und wartete auf die Dinge, die da kommen sollten. Unsere Mathematiklehrerin, die gleichzeitig Freundschaftsratsvorsitzende, also “Chefin” der Freien Deutschen Jugend (FDJ) an der Schule war, eröffnete eine Art politischer Befragung mit der Bauchschmerzenfrage: “Wolfgang, wir haben gehört, dass Du gewisse ‚politische Bauchschmerzen’ hast. Erklär uns doch bitte, worum es sich dabei handelt.” Meine Güte dachte ich, soviel Aufwand und so viel Personal wahrscheinlich wegen dieses Aufsatzes, und was hatte das alles mit dem Maschinengewehrfeuer zu tun? Verwirrt versuchte ich, mich an ein paar “meiner politischen Bauchschmerzen” zu erinnern, aber mir fiel in meiner Aufregung einfach nichts ein, und von meinem Aufsatz wollte ich nichts erzählen, weil es auch meinen Deutschlehrer gefährdet hätte, der ihn akzeptiert hatte. Also am besten ablenken, Thema ändern, dachte ich mir. Schließlich „gestand“ ich ein, dass mir nicht klar war, warum die Rote Armee Mitte September 1939 von Osten her in Polen einmarschiert war. Die Lehrer und die anderen Leute am Tisch schauten einander verwundert an. Mit solcher Art Bauchschmerzen hatten sie nicht gerechnet. Ich hatte diese unangenehme geschichtliche Tatsache, glaube ich, auch erst einen Tag vorher im Radio gehört oder irgendwo gelesen. Da niemand so recht wusste, wie auf dieses Geständnis zu reagieren sei, wurde der Geschichtslehrer gebeten, mir die Sache zu erklären, was er dann schlecht oder recht auch tat.  An seine Erklärung kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich ließ mich auf jeden Fall freundlich lächelnd von ihm überzeugen. Und auf die weitere Frage der Pionierleiterin, einer Frau Lehmann, ob ich denn keine anderen „politischen Bauchschmerzen“ hätte, antwortete ich mit einem munteren “Nein”. Daraufhin wurde ich wieder in meine Klasse zurückgeschickt. Also kein Maschinengewehrfeuer, kein “Toter”, dachte ich. Erst später wurde mir klar, dass sie mich bei dieser Ansammlung von Personal, von dem ich mindestens die Hälfte nicht kannte, auf der Stelle auch von der Schule hätten relegieren können.
So endete diese absurde „Sache mit dem Existentialismus“ für mich eher harmlos. Als ich später erfuhr, dass eine Schülerin aus einer Parallelklasse ein Jahr davor wegen Tendenzen zum Existentialismus von der Schule verwiesen worden war, fühlte ich mich ein wenig wie der Reiter über den Bodensee in der Ballade von Gustav Schwab.
Es gab für eine kurze Zeit an der Schule auch andere, ernstere Diskussionen, z. B. über Pazifismus, als Bernhard Wickis Die Brücke für ein oder zwei Wochen in einigen DDR-Kinos lief. Pazifismus war ja besonders für die Jungs ein großes Thema, weil wir wussten, dass uns nach dem Abitur eine „Einladung“ von der Nationalen Volksarmee (NVA) ins Haus flattern würde. Außerdem gab es Diskussionen über Goethes Faust in der Studentenzeitung Forum, in den Weimarer Beiträgen und sogar bei uns im Deutschunterricht, weil Walter Ulbricht die DDR für eine Art Faust III hielt und er diese Interpretation des großen Weimarers der Bevölkerung verklickern wollte, um zu zeigen, dass die DDR selbst durch das klassische deutsche Erbe legitimiert war.
Diskussionen im eher privaten Kreis entfalteten sich um Havemanns Vorlesungsreihe “Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme”, die er im akademischen Jahr 1963/64 an der Humboldt Universität hielt, aus der dann das Buch Dialektik ohne Dogma hervorging, in dem er auf der Grundlage physikalischer Erkenntnisse für Freiheit und einen undogmatischen Marxismus plädierte. Ich hatte das große Glück, mir über einen Freund, der schon studierte, eine Abschrift dieser Vorlesungen beschaffen zu können, die ich nach dem Lesen auch in der Schule weitergeben wollte, was aber nicht gelang, weil mir der Direktor, das Manuskript abschwatzte, als er es unter meinem Arm gesehen hatte. Er wolle es nur auch einmal lesen und würde es mir dann zurück geben. Natürlich habe ich es nie wiederbekommen. Bis heute weiß ich nicht, ob er mich schützen oder die Schule vor ideologischer Unterwanderung bewahren wollte.
Besonders schmerzhafte chronische „Bauchschmerzen“ hatten wir wegen des Verbotes der Rockmusik an den Oberschulen, die via American Forces Network (AFN), Radio Luxemburg, Sender Freies Berlin (SFB) und Radio im Amerikanischen Sektor (Rias) über die Mauer schwappte. In diesem „imperialistischen Kulturmüll“ sah die Partei die Gefahr einer Unterwanderung der marxistischen Ideologie, übrigens mit recht, denn wer hörte sich schon die Rolling Stones, die Beatles, die Zombies oder die Animals in den westlichen Rundfunkstationen an und zog sich am nächsten Morgen für die Schule das blaue FDJ-Hemd über. O-Ton Walter Ulbricht 1965: „Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je, und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen.“

Frederick Lubich: Im Schützengraben des Kalten Krieges: In Deiner Altersgruppe in Ost-Deutschland mussten viele immer wieder Anwerbungsversuche der Staatssicherheit über sich ergehen lassen – Du allein hast drei durchgemacht – , in meiner Altersgruppe in West-Deutschland war es umgekehrt vor allem die sogenannte Außerparlamentarische Opposition, in der viele von uns aktiv waren, während einige darüber hinaus in den Sympathisantenkreis der Roten Armee Fraktion gerieten oder der Mitgliedschaft in dieser terroristischen Untergrundorganisation verdächtigt wurden. Wie hast Du Deine Jugendzeit politisch erlebt und überlebt?

Wolfgang Müller: Alle Fragen, die Du hier angeschnitten hast, sind ein „weites Feld“, um ein Wort von Theodor Fontane zu gebrauchen. Sowohl die APO, die Studentenbewegung und nach 1970 auch die RAF wurden von den Leuten meines Jahrgangs, die ich so kannte, nicht besonders ernst genommen. Zu den Gründen dafür gäbe es sehr viel zu sagen. Sicher scheint mir, dass uns unsere Altersgenossen im Westen mit wenigen, aber für mich wichtigen, Ausnahmen auch nicht ernst nahmen bzw. uns gar nicht wahrnahmen. Sie interessierten sich zwar für die blutigen Konflikte in fernen Ländern, was aber ein paar Kilometer weiter hinter der Mauer geschah, war für sie nicht so interessant; und wer wusste schon, dass man im Osten u. a. für ein paar Gedichte oder einen politischen Witz ins Gefängnis kommen konnte und dass wir „flächendeckend“, wie sich herausgestellt hat, von den „Kämpfern an der unsichtbaren Front“ observiert wurden. Dieses beiderseitige Desinteresse ist übrigens trotz der wenigen Tage der Utopie nach dem Fall der Mauer im November 1989 weitgehend geblieben.
Apropos Stasi, es stimmt schon, von 1965 bis zu meiner Flucht im April 1974 wollte man mich drei Mal anwerben. Das dritte Mal war besonders unangenehm, weil nach meiner Ablehnung der ominöse Satz fiel: „Wenn Sie in ihrem Leben einmal Schwierigkeiten bekommen, glauben Sie nicht, dass unser ‚Organ’ damit etwas zu tun hat.“ Die Schwierigkeiten kamen dann natürlich, aber das ist eine längere und auch wieder eher eine absurde und eigentlich auch komische Geschichte. Außerdem fand ich nach dem Fall der Mauer einen so genannten Operativen Vorgang (OV Konvent, 1969) bei dem es um verschiedene Treffen zuerst in einer Kirche und dann in meiner kleinen Dachwohnung zwischen einer Jugendgruppe der evangelischen Kirche in Bremen und einigen Jugendlichen aus dem Osten ging, die Mitglieder der Brandenburgischen Kirche waren, der ich übrigens nicht angehörte. Ich war so etwas wie ein „Quotenagnostiker“, der von zwei Teilnehmern, die meine Freunde waren, zu dem ersten Treffen „mitgeschleppt“ worden war. Natürlich war bei diesen Treffen auch die Stasi, durch einen Medizinstudenten, vertreten. Nach dem man die Akten einsehen konnte, stellten meine Freunde und ich mit einigem Erstaunen fest, dass die Stasi uns ursprünglich wegen „staatsfeindlicher Gruppenbildung“ belangen wollte, auf die 10-12 Jahre Zuchthaus standen. Am Ende kam es aber „nur“ zu einer Anklage wegen „staatsfeindlicher Hetze“ gegen einen meiner Freunde, der an der Humboldt Universität öffentlich seine Gedichte vorgelesen hatte, die dem Staat nicht genehm waren. Er erhielt „nur“ 2 ½ Jahre „Knast“ und wurde, nachdem er die Hälfte dieser Zeit abgesessen hatte, von der Bundesrepublik freigekauft.
Allerdings würde ich weder die Anwerbungsversuche noch den OV mit dem Kalten Krieg in Verbindung bringen; vielleicht eher mit dem „Krieg“ der SED gegen die eigene Bevölkerung und ihrer Angst vor Machtverlust durch „unsere Menschen“, wie sie ihre Bevölkerung nannte. Die Jahre 1953, 1956 und 1968 steckten den Usurpatoren der Macht bis zur Implosion der DDR ganz schön in den Knochen.

Frederick Lubich: Dein Vater war seit 1930 Mitglied der Kommunistischen Partei und zog nach Kriegsende mit der Familie von West-Berlin nach Ost-Berlin. Hat er in späteren Jahren diese ursprünglich so idealistische Entscheidung bereut?

Wolfgang Müller: Nein, mein Vater hat nie bereut, in den Osten gegangen zu sein, obwohl er der neuen, der DDR-Generation von Kommunisten immer auch ein wenig skeptisch gegenüber stand. Z. B. hat er an Feiertagen nie die DDR-Fahne aus dem Fenster gehängt, obwohl er mehrfach dazu aufgefordert worden war. Bei uns hing die rote Fahne aus dem Fenster. Er hatte nur einmal richtige, schwere „politische Bauchschmerzen“; und das geschah nach einer Nacht im Jahre 1961, in der die große bronzene Stalinstatue in Ostberlin abgerissen wurde, und die Straße, in der sie stand, nicht mehr Stalinallee hieß. Im Übrigen war er nicht nur stalinistisch, sondern wie Du schon sagtest, auch idealistisch und romantisch veranlagt. Er glaubte an die „große Sache“, obwohl es im Konsum oder der HO, oft weder das eine noch das andere Lebensmittel gab, wie ihm meine Mutter schimpfend berichtete. Aber das sah er nicht selbst; es war seine Frau, die einkaufen ging.

Frederick Lubich: „Wer in die Fremde will wandern, der muss mit der Liebsten gehen“. So wusste es schon der Freiherr von Eichendorff in seinem Gedicht „Heimweh“ und in seinem so doppeldeutigen Text „Schöne Fremde“ schwärmte er angesichts der verheißungsvollen Fremde(n) geradezu das Blaue vom Himmel. Wir beide sind seinem romantischen Rat prompt gefolgt, haben auf den Ruf der Vielversprechenden gehört und sind schließlich in der Tat an ihren schönen, südlichen Ufern hier in der Neuen Welt gestrandet. Du hast Deine einstige Entführerin in Ost-Berlin, ich die meine in Alt-Heidelberg kennengelernt. Aber wie konnte sich eine junge Amerikanerin aus der Hochburg des westlichen Kapitalismus überhaupt erst einmal hinter den Eisernen Vorhang in die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik verirren?

Wolfgang Müller: O je, das ist eine lange Geschichte. Vielleicht nur so viel: Jane, die junge Amerikanerin aus Iowa, hatte in ihrem „Junior Year Abroad Program“ Kurse zur europäischen Integration und Osteuropa in Belgien belegt und besuchte über Ostern 1969 ihre Schwester, die in Westberlin Deutsch studierte und bei einem Besuch in Ostberlin einen Freund von mir kennengelernt hatte, einen Greifswalder, der damals in Ostberlin Theologie studierte, übrigens der gleiche Freund, der bei dem Treffen mit den Bremern dabei war. So wurde die Schwester mit mir und unserem ganzen Freundeskreis bekannt. Was lag da näher als Jane in diesen Freundeskreis einzuführen. Und dann war da diese Party im Ostberliner Paulinum, wo der Freund studierte, auf der ich Jane kennenlernte. Die Verständigung war anfangs etwas mühsam, weil sie kein Deutsch konnte und mein Englisch sich weitgehend auf politisches Vokabular beschränkte, also auf die Wörter, die man in DDR-Lehrbüchern fand, wie z. B. „Klassenkampf“, „Arbeitslosigkeit“, „kapitalistische Länder“, „Imperialismus“, „sozialistisches Weltsystem“, „diplomatische Anerkennung der DDR“ usw. Dieses Vokabular eignete sich nicht besonders gut zum Flirten. Aber dafür konnte ich ein wenig Gitarre spielen, „House of the Rising Sun“ und Sachen dieser Art. Kurz und gut, wir verliebten uns in einander auf den „ersten Blick“, genauso, wie man es aus einigen Filmen kennt. Wegen ihres Studiums in Belgien und ihres Engagements in der Anti-Vietnamkriegsbewegung war sie schon auch sehr neugierig auf die DDR, die ich/wir eher langweilig aber auch bedrohlich fanden. Es dauerte nicht sehr lange, bis wir beschlossen, zusammen zu bleiben und vereinbarten, dass sie nach ihrem Collegeabschluss versuchen würde, erst einmal ein Jahr in der DDR zu verbringen. Nach vielen Mühen, Schwierigkeiten, Lachen, einigen Tränen und am Ende einem glücklichen Zufall gelang das. Sie bekam befristete Stellen als Englischlehrerin am Institut für Sprachausbildung, an der Akademie der Wissenschaften und schließlich eine unbefristete Stelle an der Humboldt Universität. Doch uns wurde sehr bald klar, dass wir aus politischen und persönlichen Gründen nicht in der DDR bleiben konnten, zumal man uns nicht erlaubte, dort zu heiraten. Am Ende blieb nur noch die Flucht.

Frederick Lubich: Du hattest mit Deiner „Liebsten“ obendrein eine abenteuerliche Romanze, was ihre geradezu schon filmreife Hollywood-Dramatik betrifft. Erzähl uns Genaueres.

Wolfgang Müller: Nach einem reichlich naiven Versuch via Bulgarien auf einer Fähre nach Istanbul zu kommen und einem am Ende aussichtslosen Plan mit Hilfe eines gefälschten amerikanischen Reisepasses von der CSSR aus ein westliches Land zu erreichen, hatten wir Ende 1973 die „Rohfassung“ eines Fluchtplanes, den wir nach zwei, drei Fehlversuchen so verbessern konnten, dass wir glaubten, eine kleine Chance zu haben: Ich müsste in Berlin als amerikanischer Soldat durch den Checkpoint Charlie in den Westen gelangen. Das bedeutete unter anderem, dass Jane irgendwie eine amerikanische Uniform für mich bekommen und sie in den Osten schmuggeln musste. Außerdem musste sie herausbekommen, wann die Wachablösungen am Checkpoint Charlie stattfanden. Und, vielleicht am wichtigsten, dieser Plan würde sich nur realisieren lassen, wenn ein Doppelgänger, ein echter amerikanischer Soldat, gefunden werden würde. All das und am Ende auch die Flucht selbst gelang, obwohl nicht alles so lief, wie wir uns das vorgestellt hatten. Zum Beispiel wurde es ein Problem ¬– ich konnte ja nicht mit dieser Uniform das Haus verlassen, in dem ich wohnte –, dass ich die amerikanische Uniform nicht dort anziehen konnte, wo es vereinbart worden war. Als Alternative blieb nur eine der Toiletten im Pergamonmuseum, wo ich auch den amerikanischen Soldaten treffen sollte, der mich zum Checkpoint Charlie fahren würde. Doch leider ging der Sachenwechsel dort nur mit Schwierigkeiten, weil eine der beiden Toiletten wegen Reparatur geschlossen war und vor der anderen eine Schlange von Leuten wartete. Nachdem mich Ned, der amerikanische Soldat und spätere Freund, mit seinem VW-Bus an der Ostseite des Checkppoins absetzte, wurde es zu einem weiteren Problem, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich durch den Checkpoint laufen musste, um zum Westausgang zu gelangen, denn ich war ja nie den umgekehrten Weg in den Osten gegangen. So lief ich in Richtung Wachturm. Als ich dem näher kam, hörte ich durch das untere offene Fenster einen Offizier aufgeregt mit irgendjemandem telefonieren; offenbar war mein Doppelgänger entdeckt worden. Es gab also für die Grenzsoldaten der DDR einen amerikanischen Soldaten zu viel in Ostberlin. Da ich aber, mir nicht gleich bewusst, nun fast schon am Ausgang war – ein anderer Offizier, der vor dem Wachturm stand, hatte wohl meine Verwirrung bemerkt und mir befohlen, nach links zu gehen, wo tatsächlich der Ausgang war – , hatten die Grenzsoldaten nur etwa dreißig Sekunden bis eine Minute, um zu entscheiden, ob ich oder mein Doppelgänger „echt“ war. Ich hatte Glück, sie trafen die falsche Entscheidung. Mein Doppelgänger aber wurde ein paar Stunden festgehalten, bis die amerikanische Militärpolizei von russischen Offizieren gerufen wurde und die amerikanische Identität des Doppelgängers bestätigte. Ned fuhr mich dann noch zu einer nahe gelegenen U-Bahnstation, wo Jane und einige Freunde schon auf uns warteten. Ich glaube, wir beide fielen mehr aus dem Bus als wir ausstiegen und lagen uns und mit den Wartenden dann alle lachend und weinend in den Armen.

Frederick Lubich: Du hast nach Deiner Flucht in den Westen sowohl an der Freien Universität in Berlin als auch an der Universität in Madison, Wisconsin studiert. Was waren Deine ersten Erfahrungen im Westen und vor allem an seinen Institutionen der höheren Bildung?

Wolfgang Müller: Ich kannte Westberlin natürlich schon von vor der Mauer. Trotzdem, alles war nach fast dreizehn Jahren seit dem Mauerbau sehr anders. Die Stadt war unwahrscheinlich aufregend und anregend für mich, ich habe diese Zeit in „meiner Stadt“ sehr genossen. Hinzu kam ein Gefühl des Glücks „raus zu sein“ aus Ostberlin, „einfach raus zu sein“ und der immer wiederkehrende Gedanke, „die können mir nichts mehr anhaben“ – was allerdings so nicht stimmte, denn die Stasi operierte in Westberlin so frei wie im Osten. Gleichzeitig war Westberlin aber auch rein physisch eine große Belastung. Das Laute dieser modernen Stadt, die Schnelligkeit, die grellen Farben, die ständige Werbung und die prachtvollen Angebote in den Läden machten mich einfach schwindlig. Am Anfang hielt ich es z. B. in großen Läden und Kaufhäusern einfach nicht aus und musste sehr schnell wieder hinausgehen. Auch die dumme, und natürlich nicht erfüllbare Erwartung, dass einer meiner Ostberliner Freunde oder sogar meine Eltern an dieser oder jener Straßenkreuzung um die Ecke kommen würden, machte mir zu schaffen. Wahrscheinlich erfuhr ich nun den Schmerz der Trennung durch die Mauer von der anderen Seite her.
Nach meiner Flucht hatte ich zwei drei „temp jobs“ und studierte fast zwei Semester Japanologie und Germanistik an der FU. Doch das war eine große Enttäuschung. Ich erwartete, dort Freunde zu finden, mit denen man gut wissenschaftlich arbeiten konnte, die sich vielleicht auch dafür interessierten, warum ich aus Ostberlin abgehauen war, wie es im Osten war und die mich und Jane eventuell sogar einmal zu einer Party einladen würden usw., aber ich war für meine Kommilitonen eine Art Arbeiterverräter, ein dummer Ostler, ein Fremder eben, der noch nicht einmal wusste, wie man mit einer Ditto-Maschine eine Seminararbeit vervielfältigte, was übrigens stimmte, weil man das im Osten als Student nicht durfte.
Nach unserer Heirat in Berlin Steglitz beschlossen wir, in ihre Heimat überzusiedeln und landeten in Madison, wo ich ein Germanistikstudium aufnahm. An der am schönen Mendotasee gelegenen staatlichen Universität habe ich sowohl die Vorlesungen als auch die Seminare von hochqualifizierten Professoren wie z. B. Jost Hermand, Reinhold Grimm, David Bathrick und Klaus Berghahn sehr genossen. Im Allgemeinen gab es dort genau das Klima, das ich mir immer gewünscht hatte, eine erfrischende Offenheit neuen Ideen gegenüber und eine große Ernsthaftigkeit beim Studium. Trotzdem gab es damals auch eine Gruppe von Studenten, die denen in Berlin ähnlich war, was mich anfangs sehr irritierte, aber mehr als ausgeglichen wurde von vielen anderen Studenten, an die ich mich entweder noch gern erinnere oder mit denen Jane und ich noch heute befreundet sind.

Frederick Lubich: Du hast Dich in Deinen akademischen Studien vor allem mit der Literatur der DDR beschäftigt. Was waren dabei Deine wesentlichen persönlichen und professionellen Erkenntnisinteressen?

Wolfgang Müller: Die lagen in verschiedenen Dingen. Obwohl ich eigentlich mit der DDR „fertig“ war, gab es ein Jahr nach der Flucht doch auch noch emotionale Bindungen an diese „böse“ Heimat. Die Literatur aus der DDR war eine Art Nabelschnur, die noch nicht getrennt war. Zum einen wurde die Literatur aus der DDR gerade zur Zeit unserer Ankunft in den Staaten zu einem „hot item“. Es war sozusagen ein neuer Trend in der Germanistik. Und ich kannte mich auf diesem Gebiet aus. An vielen Universitäten hörte ja Anfang der siebziger Jahre die deutsche Literatur bei Thomas Mann auf, an anderen machte sie bei der westdeutschen Nachkriegsliteratur halt. Literatur aus der DDR war kaum bekannt und wurde bis dahin auch nicht unterrichtet. Der Durchbruch zur Literatur aus der DDR kam vor allem von Germanistinnen, die sich besonders für Autorinnen wie z. B. Christa Wolf, Irmtraud Morgner, Sarah Kirsch, Maxi Wander und Brigitte Reimann interessierten, was teilweise daran lag, dass sie sich von diesen Autorinnen Anregungen für ihren eigenen Kampf gegen die ungleiche Behandlung von Männern und Frauen auch in der Germanistik versprachen.
Mein eigenes Interesse an der Literatur aus der DDR lag jedoch vor allem auch an ihrer politischen Wirkung innerhalb der DDR, war also eher politischer Natur, denn obwohl die Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus für mich schon mit der Zerschlagung des Prager Frühlings gestorben war, lebte meine gefühlte Solidarität mit denen, die diesen Staat mit kleinen Schritten von innen her verändern wollten, weiter. Daher interessierte ich mich für Autoren wie Volker Braun, Sarah Kirsch, Günter Kunert, Christa Wolf, Ulrich Plenzdorf, Wolf Biermann, Heiner Müller, u. a., die man, so unterschiedlich sie auch waren, zu den „Reformern“ zählte. Meine Interesse für gerade diese Autoren enthielt aber auch eine große Ungerechtigkeit, weil es viele Autoren ausschloss, die nicht nur, wie die „Reformer“, Schwierigkeiten mit Verlagen und der Partei hatten, sondern erst gar nicht veröffentlichen durften, wie z. B. Jürgen Fuchs und Hans Joachim Schädlich, und so entweder mundtot gemacht, mehr oder weniger zur Ausreise gezwungen wurden oder in Gefängnissen landeten. Doch diese Ungerechtigkeit wurde mir erst einige Jahre nach meinem Studium so richtig klar.

Frederick Lubich: Wie kam es zur Gründung des Online-Magazins Glossen, das sich seit Ende der neunziger Jahre als eines der führenden deutsch-amerikanischen Journale etablierte?

Wolfgang Müller: Die Gründung von Glossen war zwei Dingen geschuldet. Erstens erschien mir die traditionelle Germanistik, die vor allem werkimmanent, biographisch, psychologisch oder in irgendeiner Form politisch grundiert war, als zu eng. Mir ging es bei der Literatur vor allem um den Nexus Kultur, die länderübergreifend auch andere Ausdrucksformen einschloss, also vor allem Musik, Malerei, Film und auch Wissenschaft, ein Nexus, in dem wir uns als Menschen und in dem sich Künstler und Autoren aus den deutschsprechenden Ländern bewegen. Dazu kam, dass das Internet Möglichkeiten eröffnete, die die traditionellen germanistischen Zeitschriften überhaupt nicht oder nur in einem begrenzten Rahmen hatten. Germanistische Beiträge, wenn sie im Internet publiziert wurden, konnten dagegen auf einmal ohne viel Aufwand relevante Bilder, Musik, Interviews, „film clips“, Illustrationen usw., sichtbar und hörbar machen. Wenn man z. B. den einen oder anderen Text Hans Joachim Schädlichs in einem germanistischen Artikel analysiert, ist es sehr hilfreich, ein Bild von Hieronymus Bosch „einzubauen“ oder die “Klaviersonate Opus 25, Nummer 5 in fis-Moll” von Muzio Clementis hörbar zu machen. Hinzu kommt, dass ein im Internetjournal publizierter Text für Leser in aller Welt sehr schnell und an jedem Computer, heute auch Smartphone, zugänglich ist, was den Besuch einer Bibliothek oder die Benutzung der Fernleihe erspart.
Mein großes Glück war, dass sich gleich am Anfang Mitarbeiter wie Christine Cosentino, Wolfgang Ertl und andere fanden, die ähnlich dachten, ohne die Glossen nicht möglich gewesen wäre. Schwierig war es am Anfang natürlich trotzdem. Allein das Erlernen von HTML, das Internet steckte ja 1996/97 im Vergleich zu heute noch in den Kinderschuhen und kostete einen großen zeitlichen Aufwand. Auch waren elektronische Publikationen weder bei Dekanen noch bei “Faculty Personnel Committees” besonders beliebt, weil ihnen nicht klar war, wie man diese Publikationen bei Beförderungen oder “Tenure”-Entscheidungen bewerten sollte. Doch Letzteres ist nun fast schon “History”.

Frederick Lubich: Wie siehst Du die Zukunft der deutsch-amerikanischen Germanistik und insbesondere ihrer einschlägigen, literarisch und literaturwissenschaftlich orientierten Journale?

Wolfgang Müller: Ich denke mir, dass die Entwicklung zu elektronischen Veröffentlichungen weitergehen wird und dass sie mit neuen Technologien immer besser werden. Wenn man zum Beispiel Glossen Nr. 1 mit Glossen 40 vergleicht, erkennt man einen enormen Unterschied in der Gestaltung, die vor allem an der verbesserten Technologie aber auch der Entwicklung einer eigenen, einer besseren Ästhetik liegt.
Außerdem wird es, so hoffe ich jedenfalls, auch durch elektronische Journale zu engeren Kontakten zwischen Autoren, Künstlern, Literaturkritik und Literaturwissenschaft kommen. Die Germanistik kann und darf sich nicht vor allem auf die Akademie als ihr Wirkungsfeld beschränken. Ein breiteres Publikum müsste mit einem breiten Angebot angesprochen werden, will man nicht fortfahren, im eigenen Saft zu schmoren. Mit wenigen Ausnahmen schreiben ja selbst heute noch Spezialisten weitgehend für andere Spezialisten. Oder, schlimmer noch, man schreibt vor allem für die Administratoren akademischer Institutionen, denen es vor allem um die Beurteilung zwecks Beförderungen, „Tenure“-Entscheidungen oder den Ruf der Institution geht.

Frederick Lubich: „Ach, die Heimat hinter den Gipfeln, wie ist von hier so weit“, um noch einmal das Gedicht „Heimweh“ von Eichendorff zu zitieren, des wohl unbestrittenen Altmeisters des deutschen Fernwehs und Heimwehs. Hast Du ab und zu Heimweh und wonach? Und woran denkst Du vor allem, wenn Du heute an Deutschland denkst?

Wolfgang Müller: Heimweh? Sicher! Übrigens halte ich mich auch an romantische Gedichte, zum Beispiel an eins von Wilhelm Müller, das u. a. von Franz Schubert vertont wurde, nämlich, Du weißt schon, „Das Wandern ist des Müllers Lust“ aus dem Liederzyklus Die schöne Müllerin. Und wenn wir dieses Interview in Glossen veröffentlichen würden, könnten wir dieses Lied, am besten gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau, gleich zu Gehör bringen. Ich gestehe aber auch, dass mir in diesem Lied ab und an ein anderes mitzuschwingen scheint, nämlich Schuberts „Lindenbaum“ aus der Winterreise.

Frederick Lubich: Wie lautet Deine „existentielle Bilanz“, wenn Du heute auf Deine deutsch-amerikanische Lebensgeschichte zurückblickst?

Wolfgang Müller: Ach Frederick, das sage ich Dir später, hoffentlich viel später. Noch ist die Zeit für ein Schlusswort nicht gekommen.

Frederick Lubich: Wenn Du auf der Insel Chincoteague an der Atlantischen Küste von Virginia Deine Sommermonate mit Segeln verbringst, welche Gedanken sprühen Dir dann so durch den Kopf?

Wolfgang Müller: Hoffentlich komme ich nicht in eine Flaute. Ich habe nämlich keinen Motor an Bord.

Frederick Lubich: Ich möchte diesen Gedankenaustausch nicht zuletzt zum Anlass nehmen, Dir als Mitbegründer von Glossen und als sein jahrzehntelanger „Managing Editor“ für Deine unermüdliche Herausgeberschaft herzlich zu danken und Dich zu Deinem bewundernswerten transatlantischen Brückenschlag zu beglückwünschen. Seit der Gründung von Glossen im Jahre 1997 hast Du zusammen mit deinen beiden Mitherausgebern Wolfgang Ertl und Christine Cosentino immer wieder hervorragende Texte und Features herausgebracht, zu deren Autoren und Autorinnen so prominente Namen zählen wie Alexander Kluge, Auma Obama und Herta Müller, um hier nur einige der bekanntesten zu nennen. Mit seinen insgesamt vierzig Ausgaben hat Glossen dem internationalen Gedankenaustausch über die Jahre und Jahrzehnte hinweg einen ganz großen Dienst erwiesen. Interessierte Leser können weitere Hintergrundinformationen zu Glossen auch einem Essay entnehmen, der unter dem Titel „Glossen – Online Journal: Das transatlantische Journal geht doch nicht unter. Ein Blick zurück und in die Zukunft“ im Herbst 2015 im PENinfo erschienen ist und im Frühjahr 2016 auf den Webseiten von Weltruf und AATG nachgedruckt wurde.

Wolfgang Müller: Ich freue mich sehr über die Anerkennung für Glossen und die „alte Garde“ ihrer Mitarbeiter, die aus Deinen Worten und Deinem sowie dem Willen vieler neuer Mitarbeiter spricht, die sich um Dich geschart haben! Und selbstverständlich freue ich mich sehr, dass es mit Glossen und neuen Themen und neuen Ideen weitergeht!

Frederick Lubich: Wir hoffen, Glossen, Heft 41 im Hochsommer dieses Jahres herausbringen zu können. Was Heft 42 für Winter 2016/2017 betrifft, so würde ich als „Interim Managing Editor“ von Glossen gerne den aktuellen Themenkomplex der Flüchtlingsströme durch Europa und den möglicherweise bevorstehenden Mauerbau gegen illegale Immigranten an der Südgrenze von Nordamerika unter dem Arbeitstitel „Von Mauerbau und Mauerschau: transatlantische Kassandrarufe“ zur Diskussion stellen und diesbezüglich verschiedene Stimmen aus der Alten und Neuen Welt einladen, dazu im weitesten Sinne Stellung zu nehmen. Die Beiträge können der bewährten Konzeption von Glossen entsprechend auf Deutsch oder Englisch geschrieben und auch gerne poetischer, polemisch-parodistischer sowie kreativ-visueller Natur sein.

Wolfgang Müller: Man muss kein Prophet sein, um zu sehen, dass die gegenwärtige Flucht und Abwanderung von Millionen von Menschen aus ihren ursprünglichen Heimatregionen und Wohnbereichen, sei es nun aus Südamerika, Afrika, Asien und Südeuropa in bisher friedlichere und reichere Länder eines der großen Themen unseres Jahrhunderts ist und auch weiterhin bleiben wird. Die soziologischen und kulturellen Verwerfungen, die dabei entstehen, werden sowohl einen enormen Gewinn für alle aber auch neue Konflikte mit sich bringen. Ich denke mir, dass eine Zeitschrift wie Glossen eine große Aufgabe darin finden könnte, diese post-nationalen und hoffentlich auch postnationalistischen Veränderungen, die sich in den Medien, der Literatur und Kunst niederschlagen werden, dokumentierend und kommentierend zu begleiten. In diesem Sinne wünsche ich Euch viel Erfolg; auf kurze Sicht natürlich für die nächsten Glossen aber selbstverständlich auch darüber hinaus. Wir werden auf lange Sicht eine Menschheit werden, ja werden müssen und, so hoffe ich, letztlich auch werden wollen. Auch wenn es im Augenblick aus einigen Hauptstädten manchmal sehr anders klingt, gibt es dazu keine Alternative.

*A previous version of this interview was published by the PEN Center of German Speaking Writers Abroad (www.exilpen.net) in summer 2016.

 

Comments Off on Über das „Gefühl des Glücks …einfach raus zu sein“: Von Ostberlin an die Ostküste Amerikas. Ein Gespräch mit Wolfgang Müller, dem langjährigen Herausgeber des transatlantischen Online-Journals Glossen

Aug 17 2016

Autoren | Glossen 41 | 2016

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Gabrielle Alioth ist eine in Basel geborene Journalistin, Übersetzerin und Autorin, die seit 2004 an der Hochschule Luzern für Design und Kunst tätig ist. Seit 2010 unterrichtet sie Schreibkurse am Literaturhaus und der Volkshochschule in Basel. Website

Reinhard Andress ist Professor für deutsche Sprache, Kultur und Literatur an der Loyola University-Chicago, USA. Er war u.a. Gastprofessor an der Pontificia Universidad Católica del Ecuador. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören: Protokolliteratur in der DDR (2000) und „Der Inselgarten“ – das Exil deutschsprachiger Schriftsteller auf Mallorca, 1931-1936 (2001). Eine Übersetzung aus dem Spanischen ins Deutsche von Benno Weiser Varons Exilroman Yo era europeo als Ich war Europäer (zusammen mit Egon Schwarz) ist 2009 erschienen. Herausgeber von Fred Hellers Das Leben beginnt noch einmal (2016). Zahlreiche weitere Veröffentlichungen zu Exilthemen und Alexander von Humboldt.

Gabriele Eckart, born in Falkenstein, GDR, in 1954, moved to the US in 1987.  She studied philosophy, Spanish, and Germanistik and teaches Spanish and German at Southeast Missouri State University.  She published books of poetry and prose, as well as scholarly books and articles on contemporary German culture and comparative literature.  Latest publication: Shifting Viewpoints: Cervantes in 20th and 21st Century Literature written in German.  Cambridge: Cambridge Scholars Publishing, 2013. Co-author: Meg Brown. New poetry is published regularly in TransLit II.

Klaus Rainer Goll ist ein Lübecker Schriftsteller, der seit 1965 vor allem durch seine Gedichte und Kurzprosa bekannt geworden ist. Er ist Gründer des Lübecker Autorenkreises und Empfänger verschiedener Literaturpreise. Im Jahre 2010 wurde er mit der Verdienstmedaille des Bundesverdienstkreuzes ausgezeichnet. Website

Rachel J. Halverson unterrichtete 26 Jahre im Department of Foreign Languages and Cultures an der Washington State University. Seit August 2016 ist sie “Professor of German” und Abteilungsleiterin des Departments of Modern Languages and Cultures an der University of Idaho in Moscow, Idaho.

Frederick Lubich, 1951 als Kind mährischer Eltern im schwäbischen Göppingen geboren und aufgewachsen. Autor von über 350 Veröffentlichungen einschlieβlich Fachbüchern zu Thomas Mann, Max Frisch, Paradigmenwechseln der Moderne, sowie literaturwissenschaftlichen Aufsätzen, journalistischen Essays (Argentinisches Tageblatt, New Yorker Aufbau, Frankfurter Allgemeine Zeitung etc), Übersetzer (u.a. von Yoko Onos Rockoper New York Story und deutsch-amerikanischen Drehbüchern), Herausgeber mehrerer Sammelbände und Autor von rund hundert lyrischen Publikationen auf Schallplatte, in Literaturzeitschriften und Lyrik-Anthologien. Lehraufträge an sieben amerikanischen Colleges und Universitäten und Gastvorträge in über 30 Ländern, sowie Features und Interviews in Rundfunk und Fernsehen in Deutschland, Amerika, Finnland, Marokko und Ägypten.

Kurt S. Maier was born 1930 in Kippenheim, Germany. He studied German history and literature at Hunter College and at Columbia University, before teaching German language and literature in New York. From 1975-1978, he worked at Leo Baeck Institute in New York. Since 1978, he has worked as a librarian in Washington, D.C.

Geboren in Göppingen lebt Hans Mayer heute in Berlin, ist Autor und verfasst wissenschaftliche Bücher und Artikel. Derzeit geht er der Geschichte einer deutsch-jüdischen Spirituosenfirma nach.

Beret Norman ist Associate Professor of German an der Boise State University in Boise, ID, wo sie Sprache, Kultur, Literatur, Film und Cultural Studies unterrichtet.   Neben einigen Artikel und Präsentationen über Antje Rávic Strubels literarische Werke, hat sie auch schon über den Hip-Hop Versuch des FPÖ Bundesparteiobmannes, HC Strache, und über Neo Rauchs bildende Kunst veröffentlicht.

Die 1960 in Passau geborene US-Staatsbürgerin Anna Elisabeth Rosmus widmete ihr Leben der Aufdeckung von Diskriminierung, Ausländerfeindlichkeit, Manipulation der Öffentlichkeit, sowie der Befreiung Europas von der Nazi-Diktatur. Jahrzehntelang arbeitete sie mit Flüchtlingen, Emigranten und KZ-Überlebenden in und aus Europa. Sie organisierte Wiedersehenstreffen mit US-Veteranen, publizierte zahlreiche Werke und erhielt in mehreren Ländern renommierte Auszeichnungen. Sie arbeitete im Holocaust Museum in Washington DC und wird zu Konferenzen wie auch an Universitäten eingeladen, um vor allem Jugendliche für Menschenrechte und ein „Niemals wieder“ zu sensibilisieren. Seit 1994 lebt sie in der Nähe der Chesapeake Bay in Maryland.

Susan Wansink ist “Professor of German” am Virginia Wesleyan College in Norfolk, VA und Architekturfotografin. Website

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Jun 08 2015

Michael Augustin

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Laudatio auf Günter Kunert
anläßlich der Verleihung des Kunstpreises des Landes Schleswig-Holstein am 30.Oktober 2014 in der Kieler Kunsthalle

Sie werden sich vielleicht etwas wundern, wenn ich meine kleine Laudatio auf Günter Kunert mit einer Frage beginne, die zwar in dieser heiligen Halle der Kunst durchaus angemessen sein mag, aber zunächst doch etwas abseitig erscheinen möchte: Kennen Sie Salvador Dalís Gemälde: “La girafe en feu” (Die brennende Giraffe)? Ein Bild, das er in jenem fatalen Jahr 1936/37 gemalt haben soll, als sich die reaktionären Truppen des Generals Franco auf die junge spanische Demokratie stürzten und sich anschickten, den Menschen in jenem europäischen Land für Jahrzehnte das Licht auszublasen. Auf dem Bild ist tatsächlich auch eine Giraffe zu sehen, die in Flammen steht, aber was bei den meisten Betrachtern in Erinnerung bleiben dürfte, ist eine Frau, die im Zentrum des Bildes zu sehen ist, im Vordergrund, und die zu einem großen Teil aus mehr oder weniger weit aufgezogenen Schubladen besteht. Ein bestechendes und schwer aus dem Gedächtnis zu tilgendes Bild: ein Schubladenmensch! Ein symbolreich sprechendes Bild, an dem mit Sicherheit ein gewisser Dr. Freud seine Freude gehabt hätte, der Seelenarzt aus der Wiener Berggasse Nr.19, der zum Zeitpunkt des Entstehens dieser Malerei vielleicht schon ahnte, das er in Kürze würde flüchten müssen vor der braunen Pest in Deutschland, die schließlich so fatal überschwappen sollte ins Nachbarland Österreich.

Günter Kunert war damals sieben oder acht Jahre alt und lebte als Indianer in Berlin. Als früh lesekundiger, gelegentlich Sessel durchschießender und immer auf Spurensuche befindlicher Stubenindianer; Sohn einer jüdischen Mutter und eines „arischen“ Vaters, eine Konstellation, die ihm und seiner Mutter das Leben rettete, im Gegensatz zu vielen seiner Verwandten, zu Freunden der Familie und Nachbarn. Wenn Sie, meine Damen und Herren, das Buch, in dem diese hier nur angetickten Verhältnisse en detail beschrieben sind, noch nicht kennen sollten, dann rate ich Ihnen, schon morgen früh zum Beispiel die Buchhandlung Cordes oder ähnliche Fachhändler des gedruckten Wortes aufzusuchen und alle Hebel in Bewegung zu setzen, um in den Besitz dieser bereits 1997 im Hanser Verlag publizierten Teillebensgeschichte zu geraten – antiquarisch oder druckfrisch eingelagert. Sie werden es nicht bereuen, denn auf den fast 500 Seiten der Erwachsenenspiele finden Sie das wohl vollständigste, farbenstärkste, tiefenschärfste, selbstironischste, herzerwärmendste (und zugleich herzzerreissendste) Selbstporträt des Dichters. Ein deutsches Geschichts- und Geschichtenbuch auf die Jahre 1929 bis 1979, das ich, wäre ich zufällig Ministerpräsident eines norddeutschen Bundeslandes, meiner Bildungsministerin in die Hand drücken würde mit den Worten: „Bitte lesen Sie das doch mal und prüfen Sie, ob man es nicht unbedingt aufnehmen sollte in den Literaturkanon unserer Abiturienten….aber bitte nicht vergessen, mir das Buch dann wiederzugeben!“

In Erwachsenenspiele ist auch das Schwarz auf Weiß nachzulesen, was Günter Kunert mir bei anderer Gelegenheit schon im Originalton in das Radio Bremen-Mikrophon erzählt hat: dass er nämlich nicht nur als schwerbewaffneter Indianer für Furcht und Schrecken sorgte, sondern sich auch als Archäologe und Geheimniserforscher einen Namen machte. Schon in früher Zeit nämlich verspürt der Junge eine geradezu unbändige Lust auf das Kramen in Fächern (wie übrigens auch eines seiner Bücher heißt, erschienen 1968 im Aufbau-Verlag) und auf das Stöbern, Wühlen, Forschen und Suchen in Schubladen aller Art, nicht nur zu Hause in der elterlichen Wohnung, sondern buchstäblich überall dort, wo der Junge gerade in Begleitung seiner Mutter zu Besuch weilt. Ein offenbar zielgerichtet quengelnder Bengel, der erst dann Ruhe zu geben bereit ist, wenn das quietschende Geräusch ertönt, welches das oben offene Behältnis von sich gibt, wenn es über die seitlich angebrachten Schienenführungen horizontal aus dem Schranke gezogen wird. Und Sie ahnen nun schon, worauf ich hinaus will: wir haben es hier offensichtlich abermals mit einem Schubladenmenschen zu tun. Diesmal ohne Dalís brennende Giraffe im Hintergrund, aber mit Günter Kunert im Vordergrund (und Sigmund Freud im Hinterkopf).

Ich habe nicht viel Zeit, besonders viele dieser Kunert-Schubladen herauszuziehen, doch wenigstens einige davon möchte ich doch gern coram publico inspizieren und Ihnen erzählen, was ich darin finde:

Da ist zum Beispiel die Schublade mit den Fotos der Freunde und Weggefährten, von denen ich einige erkenne: Nicolas Born zum Beispiel und viele auch persönlich kenne, wie den einige Jahre älteren Ralph Giordano, mit dem mein Kollege Walter Weber und ich Anno 2009 in Köln ein wunderbares Gespräch über den damals auf seinen 80. Geburtstag zusteuernden Kunert geführt haben. „Zunächst einmal möchte ich sagen“, so Giordano damals in seinem unverkennbar Hamburgischen Zungenschlag, „daß die Weltsicht von Günter Kunert eher pessimistisch, ja fatalistisch ist, aber wenn man genauer hinhorcht, dahinter, dann bleibt ein Funken Hoffnung. Irgendwo dahinter ist die Hoffnung, daß die Menschheit schließlich doch noch die Kurve kriegt, um es mal so auszudrücken.“ Originalton Giordano. Wolf Biermann, der alte Freund in Hamburg-Altona, hat es uns dann noch pointierter gesagt: „Kunert ist ein kreuzfideler Pessimystiker.“ Interessant, daß auch Ulla Hahn ein ganz ähnliches Sprachbild zeichnete damals: „Er ist wirklich der todtraurige Optimist oder der optimistische todtraurige Kunert. Ich denke aber, solange er schreiben kann, (…) ist er immer ein lebensbejahendes Individuum. (…) Das Ausdrückenkönnen, das hält ihn am Leben“.

In der nächsten Schublade könnte zum Beispiel neben vielem anderen Krimskrams aus der Nachkriegsfragmentenkollektion des Günter Kunert ein kleines bronzenes, merkwürdigerweise einbeiniges Pferd zu sehen sein, dem zur Erreichung einer gewissen Standfestigkeit drei Holzbeine angeflanscht worden sind, wohl auch zur Freude des auf dem Tiere reitenden Mannes mit Hut. Ein Bronzepferd, das es tatsächlich gibt und das man, wenn man rechtzeitig einen Besichtigungstermin in der Berliner Chausseestraße Nr. 125 ausmacht, als real existierend beäugen könnte, ein einbeiniges Reiterstandbildchen, das der junge Kunert Mitte der 50er Jahre verschenkt hat an einen gewissen B.B., den aus dem Exil zurückgekehrten Kriminalromanleser, Frauenverbraucher, Dramatiker und Poeten Bert Brecht. In Brechts alter Wohnung, direkt am Dorotheenstädtischen Friedhof, in Rufweite von seiner und Helene Weigels Grabstätte, in Nachbarschaft Hegels, Fichtes, Schinkels und Johannes R. Bechers, im Sterbezimmer Bert Brechts steht es noch heute, das einbeinige Kunert-Geschenk an seinen fabelhaften Förderer, der an dem jungen Kerl und Nachwuchspoeten einen gewissen Narren gefressen hatte und ihn dann auch gleich für die eine oder andere Arbeit einspannte, wie das in seiner Wortfabrik so üblich war. Niemals vergessen werde ich, wie Günter Kunert mir einmal von einer Autofahrt mit Brecht erzählte, in dessen offenem Steyr-Coupé, wie der Brecht da auf die Tube drückte auf der Tour von Weissensee nach Berlin-Mitte, dass die Schals nur so im Winde flatterten…und wie Brecht aus den Augenwinkeln auscheckte, ob sein Beifahrer etwa Anzeichen des Bammels zeigen würde, weil Brecht nämlich – oh Horror! – freihändig fuhr!

Na ja, die nächste Schublade schieben wir gleich wieder zu, denn die darin wohlig zusammengerollten und schnurrenden Katzen dürfen und wollen wir nicht stören, Generationen von Kunertkatzen, die Eingang gefunden haben in seine Bücher, denen komplette Druckwerke gewidmet sind, den Stadt- und Landkatzen, welche nicht etwa die Kunerts sich hielten über all die Jahrzehnte hinweg, sondern es waren die Katzen, die sich ihre Kunerts hielten in Berlin und in Kaisborstel.

Aha! Die Kaisborstel-Schublade ist jetzt also dran: merkwürdigerweise enthält sie ein Stück Kreide, einen staubig-trockenen Schwamm und die Handfeuerwaffe des deutschen Pädagogen: einen Rohrstock. Was für ein Treppenwitz der Geschichte, daß ausgerechnet Günter Kunert, dem seine Schuljahre zu unseliger Zeit vergällt und willkürlich abgeschnitten wurden von linientreu braunen Paukern, dass ausgerechnet dieser libertäre, auf seine Weise antiautoritäre Günter Kunert, die Großstadtpflanze, der Ausgebombte und Eingemauerte, der Asphaltcowboy und Stadtindianer auf dem flachen Lande „zu leben gekommen ist“, wie man es so schön umgangssprachlich doppeldeutig ausdrücken kann. Im Kreis Steinburg, Amt Schenefeld, zwischen Bundesstraße 5 und Autobahn 23, im ehemaligen Schulhause des Ortes Kaisborstel, wo einstmalen den plattdeutschen Kids die hochdeutsche Sprache, das kleine und das große Einmaleins und was sonst noch alles eingebimst worden sind. Über Kaisborstel ist offiziell zu verlautbaren: „Die Einwohnerzahl betrug im Jahr 1910 83, im Jahr 1939 82 und ist seither leicht rückläufig.“ Hier, 16m über dem Meeresspiegel, ist er trockenen Fußes zum Schleswig-Holsteiner geworden vor gut 35 Jahren und damit in die Literaturgeschichte unseres Landes und ganz besonders dieser westküstennahen Region eingegangen — neben dem Poeten Klaus Groth aus Heide, dem großen Erzähler Theodor Storm aus Husum weiter nördlich und dem aus Wesselburen in Dithmarschen gebürtigen Dramatiker Friedrich Hebbel, der übrigens ein famoser Aphoristiker gewesen ist (was wir uns bitte schon mal merken wollen, denn vielleicht komme ich noch darauf zu sprechen). – Natürlich ist Günter Kunert seit 1979 ungezählte Male gefragt worden, was ihn denn ausgerechnet hier an den Rand der bewohnten Welt, wo sich Lütt Matten de Has, Swienegel und Maulwurf Moin, Moin sagen, gezogen hätte. Das haben auch wir ihn treudoof gefragt für eine Radiosendung zu seinem 80zigsten und darauf eine Antwort erhalten, die ich hier und jetzt, auch zur Befriedigung Ihres eventuell angestachelten eigenen Fragebedürfnisses, meine Damen und Herren, sozusagen im Originalton zitieren möchte:

Es war eine Wiederentdeckung der Natur und auch meiner Natur, und ich wäre nie in eine Kleinstadt gezogen, wie Itzehoe zum Beispiel. Ich wollte eigentlich wirklich ohne Nachbar leben. Ich habe also auch ganz schlechte Erfahrungen mit Nachbarn gemacht, aber das ist nicht der einzige Grund. Ich wollte allein sein. In eben einer überschaubaren Lage leben. Und das habe ich dann per Zufall hier gefunden.

Natürlich gibt es noch eine ganze Reihe weiterer Schubladen, in denen Kaisborstelania vom Feinsten verwahrt werden. Die Spielzeugschublade zum Beispiel, prall gefüllt mit Flugzeugmodellen und Indianerfiguren, Micky Mäusen und Panzerhaubitzen, einer Heerschar mehr oder weniger zu unglaublichem Tun befähigter Roboter aus historischer östlicher wie westlicher Produktion, Blechautos und gußeiserne Straßenbahnen, Spieldosen, Fesselballons und Lokomotiven. ‚Aha‘, sagt Sherlock Holmes, und schiebt die Lade wieder dicht. ‚Kombiniere: Alter schützt vor ewiger Kindheit nicht. Haben es hier mit einem passionierten Spielzeugsammler zu tun!‘ Und recht hat er. Und recht ist es, wie sich diese überbordende Spielzeugkollektion zu Kaisborstel, liebevollst ausgebreitetet über mehrere Räume, als exorzistisches Handwerkszeug betrachten läßt, mit dem letzte Reste schulischen Miefs für immer hinausgefegt wurden. Und als begehbare Tröstung für einen, dem die Kindheit staatlich verpfuscht worden ist.

Ha! Da haben wir ihn ja in der Tat im nächsten Schubfach, den Kollegen Vorgänger aus dem 19.Jahrhundert, Friedrich Hebbel…in Gestalt seiner Tagebücher. Ihm zur Seite die aus dem Jahrhundert zuvor stammenden unerschöpflichen Sudeleien des Göttinger Professors Georg Christoph Lichtenberg, daneben Kafka mit seiner kleinen und klitzekleinen Prosa, etwas von Theobald Tiger und Peter Panther, vulgo Kurt Tucholsky…und ein kleiner Zettel, eine Kartei-, eine Stellvertreterkarte, auf der zwei englische Wörter zu lesen sind: ein Adjektiv und ein Substantiv: BIG BOOK. Das Geschriebene, das zu diesem Titel gehört, das würde nämlich nie und nimmer in diese Schublade hineinpassen, wie es eigentlich überhaupt in gar keine Schublade hineinpaßt. Nämlich das, was Günter Kunert sein Big Book nennt, seine fast täglichen Aufzeichnungen, sein “work in progress”, mit dem er vor über einem Dritteljahrhundert begonnen hat, als Chronist seiner eigenen Wahrnehmungen. Wozu alles gehören kann, das auf ihn einstürmt, über das er stolpert: Zeitungsschnipsel als Zeugnisse des obskuren Alltäglichen, Vermischtes aus aller Welt, Traumnotate, Tagesschauerlichkeiten, vom Notierenden ad absurdum weitergedacht, beklopft, befragt und dann doch chronistenpflichtigst abgehakt und abgeheftet. Sein opus magnum, sagt er, wobei es ihm nach eigener Auskunft völlig schnurz ist, ob das sich türmende Konvolut jemals en bloc publiziert werden wird. Ausschnitte daraus haben die Leser bereits mit voller Wucht erreicht, erst im vergangenen Jahr wieder, diesmal unter dem Titel Tröstliche Katastrophen – Aufzeichnungen 1999-2011. Fast 400 Seiten, aber doch nur ein Bruchteil des wirklichen Volumens. Wer weiß, wo das noch hinführt! Eine Arche aus Kleinholz. – Schublade zu.

Irgendwo, in einer dieser Schubladen, von denen ich jetzt wirklich nur noch eine, höchstens zwei herausziehen darf, müßte eigentlich auch ein Exemplar meines Lieblingsbuches aus der Feder der Kaisborstelers zu finden sein. Ein Lyrikband, der ausnahmsweise mal nicht bei Hanser erschienen ist, sondern bei Wallstein in Göttingen Anno 2006 und der mittlerweile mehrmals nachgedruckt werden mußte und außerdem inzwischen ins Spanische, Italienische, Englische und Irische übersetzt worden ist. „Das sind aber gar keine Gedichte!“ so hat er mich übrigens schon vor der Veröffentlichung in aller Deutlichkeit aufgeklärt, als meine Frau und ich einige der Texte ins Englische übertrugen, um sie in einer englischen und in einer amerikanischen Zeitschrift unterzubringen, „es sind Ungedichte.“ DER ALTE MANN spricht mit seiner Seele lautet der wunderschön mehrdeutige Titel, unter dem die Ungedichte dann tatsächlich herausgekommen sind. Ein erschreckend-beglückendes, melancholisch-ironisches Handbüchlein für alle Zeitgenossen, die damit beschäftigt sind, älter und ganz alt zu werden oder solches einmal vorhaben. Und ein Büchlein, das neben den Texten wundervollerweise auch eine Reihe von Zeichnungen Günter Kunerts enthält. Feine Strichzeichnungen, die fast alle unverkennbar die Gesichtszüge des bei Veröffentlichung 77jährigen Verfassers wiedergeben, einmal sogar mit dem Kopfschmuck einer nordamerikanischen Rothaut. Dass Günter Kunert nämlich nicht nur geschrieben hat und schreibt, Gedichte, Essays, Filmdrehbücher, Science-Fiction, Hörspiele, Features, Theaterstücke, Kinder- und Reisebücher – (die von Nicolai Riedel herausgegebene Internationale Kunert-Bibliographie der Jahre 1947-2011 umfasst 1475 Seiten!) – dass er also nicht nur schreibt – (von den paar Hundert Postkarten, die zwischen uns beiden hin- und hergegangenen sind mal ganz zu schweigen) – sondern dass er von Anfang an mit mindestens genau so viel Energie und Einfallsvielfalt auf dem Gebiete der bildenden Kunst unterwegs war und ist, das wissen beileibe nicht alle, die sein literarisches Werk kennen und schätzen. In den späten 40er Jahren, schon in der von Herbert Sandberg und Günther Weisenborn herausgegebenen Satirezeitschrift Ulenspiegel in Berlin, sind seine Zeichnungen erschienen, er hat gemalt auf Leinwand, hinter Glas und auf Pappe, er war Cartoonist, Skulptor, Radierer und Holzschneider und hat in jüngster Zeit als copy artist experimentiert, als Collageur und Amalgameur eigener Zeichungen und fremder Bildelemente. Ich weiß ja nicht, ob es hier in der Kunsthalle zu Kiel schon mal eine Kunert-Ausstellung gegeben hat… ich für meinen Teil habe zum Beispiel die große Ausstellung in Berlin gesehen und jene viele Jahre zuvor im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg. Also kurz gesagt: ich denke schon, das würde gut hier her passen an die Kieler Förde.

Bleibt mir also jetzt noch eine Schublade, die es aufzuziehen gilt: Ein kleiner Zeitungsausschnitt liegt darin, sonst nichts. Aber die Schlagzeile hat es in sich: Der Kunstpreis des Landes Schleswig Holstein 2014 geht an Günter Kunert, Kaisborstel.

Dazu gratuliere ich der Jury herzlich, sowie Erika und Dir auf das Schärfste, lieber Günter!

G.K & M.A.

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Jun 06 2015

Utz Rachowski

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DER SINNGEBER — Meine wunderbaren Jahre mit Reiner Kunze – als Leser, Mitwirkender und Kollege

I

In einem Nachbarland meiner frühen Jugend geschah eines Tages ein Wunder. Dort wurden plötzlich Reisefreiheit, Streikrecht und eine interessante Presse möglich, die Tschechen und Slowaken durften mit einmal nach München, Wien und Paris fahren. Ich war vierzehn, und die Erwachsenen unterhielten sich aufgeregt darüber. Da wusste auch ich es, und alle, die darüber redeten, fühlten sich betrogen und sprachen es aus.

In einer Nachbarstadt, nur über den kleinen Friesener Berg, keine zwanzig Minuten mit dem Linienbus von meiner Heimatstadt entfernt, damals kostete es 70 Pfennige, gibt es die schöne Stadt Greiz.

Was ich von Greiz weiß

Von Greiz weiß ich, was ich erinnere: Sonnentage. Gemeinsam mit der Großmutter im Bus über Friesen zu einer fernen Verwandten, die im Oberen Schloß wohnte. Der Blick von dort aus dem Fenster über den Park hinweg und die spiegelnde Teichfläche. Pflaumenkuchen auf dem sonnenüberfluteten Tisch; Kaffeetrinken, für mich Kakao, die beiden alten Damen vergnügt, stießen an mit einem Glas dunklen Likörs. Dann hinunter in den Park, die Blumenuhr, aber ich erinnere eine Sonnenuhr mit einem wandernden Schatten, der auf gelbe und blaue Veilchen fiel, hier, lasse ich mir sagen, trügt meine Erinnerung. Ein paar Schritte auf den Parkwegen, ich stecke den Kopf durch die Gitter eines Pavillons aus ergrautem Stein, menschenvergessen, unge­pflegt, und atme die modrige Luft des runden Raumes. Hier lebt ein Mann auf den Knien, einen Stahlhelm auf seinem Kopf. „Er fällt gerade“, sagt meine Großmutter und zieht mich weg vom Gitter. „Warum?“ frage ich. „Viele sind gefallen“, sagt sie. Mit einer Wendung stehe ich wieder inmitten der Sonnenwelt.

Weiter dem Teich zu, Grün um Grün, am Ufer die Wurzeln der Bäume, wie erdbewohnende Koboldsköpfe, lustig, gutartig, keine irrlichternden Gnome und böse, wie an den Mooren. Erdbewohner würden später immer diese verspielten Wurzeln sein, die Gegenwelt der Menschen, der Erdenbewohner.

Das Entenhaus auf dem Wasser, eine vollständig gelungene Illusion, mit gemalten Fenstern, sogar Gardinen angedeutet, gelungen so sehr, dass ich dort einziehen will, mein Traumhaus. Als ich, vielleicht dreißig Jahre später, davon zehn Jahre Einreiseverbot, wieder davor stehe, bleibt mein Eindruck erhalten, auch mein Wunsch und mein Traum. Inzwischen etwas kurzsichtig, sehe ich wohl das Entenhaus, schwebend auf dem Wasser, aber nicht die gemalten Fenster und Türen, möchte auch heute dort wohnen, die Illusion bleibt vollkommen. Nicht im Schloss, dessen Bild stetig durch die hohen Parkbäume zitterte, dort unten am Teich wollte ich leben. Und an diesem durchsonnten Kindernachmittag, erinnere ich mich ungetrübt, kaufte mir die ferne Verwandte der Groß­mutter in einem Blumenladen nahe am Park noch etwas, was ich unbedingt besitzen wollte: einen kleinen goldenen Drachen aus Metall, an dem wie eine Ampel ein chinesischer Lampion hing, um den eine Temperaturskala lief, ein Wandthermometer. Später habe ich das gläserne Thermometer­röhrchen zerstört, in dem ich ein brennendes Streichholz daran hielt, weil ich beobachten wollte, wie es ist, wenn die Temperaturanzeige über fünfzig Grad hinausgeht. Es machte nur einen winzigen Klick, und das Thermometer um den chinesischen Lampion war zerstört und gebrochen.

Dann, ich war noch immer vierzehn, kam ein unvergesslicher Sommer, viele meiner Freunde und Bekannten, sagen noch heute, dass er das Grunderlebnis für unsere Generation sei. Es begann damit, dass in den Zeitungen stand, auch in der Schule wurde darauf verwiesen, dass das Betreten der Wälder verboten sei, weil dort eine militärische Übung größeren Ausmaßes stattfinden würde. Also nichts mit Pilzesammeln, Großmutter schimpfte, schob ihren Bastkorb früh um fünf Uhr in ihre Ellbogenbeuge und zog auch mich verschlafen mit aus dem Haus. Wir wollten Pilze suchen und fanden Panzer. Schon am Waldrand wurden wir in einer fremden Sprache weggebrüllt, ich sagte Großmutter, dass das Russisch sei, und sie erwiderte, das kenne sie auch, in ihrer Kindheit in Sdunska Wola bei Posen hätte sie es in der Schule lernen müssen, so wie ich, sagte ich schnell. Wir gingen nicht mehr in den Wald.

Bis zu jenem Tag, als der Vulkan nachts ausbrach und lavafarbene Fuhrwerke aus Stahl ausspie auf denen graugrüne Soldaten ritten, zwei drei Tage lang, dann war es still. Die Asphaltstraßen zermalmt, die Pflastersteine an den Straßenrändern aufgehäuft wie wachsende Mauern. Die Bevölkerung, die Nachbarn aus den Gärten neben uns hatten schweigend zugesehen, gewinkt nur wenige, manche den Soldaten mit der Faust gedroht. Auch deutsche Soldaten waren am zweiten Tag lange vorübergezogen. Ihre Panzer, Kanonen und Lastwagen glänzten poliert, mit besserem Lack überzogen, als die russischen, sauberer. Was man heute in der geklitterten Geschichtsschreibung der Historiker wiederfindet, es handelt sich um die offizielle Geschichtsschreibung: bis auf 14 Verbindungs-Offiziere und -Unteroffiziere seien keine Deutschen beteiligt gewesen. Ich traf westdeutsche Augenzeugen, die mindestens 70 Schützenpanzer mit DDR-Kennung auf böhmischem Gebiet sahen und mit den Soldaten deutsch sprachen. Es ist so etwas wie mein Hobby geworden, so nebenbei also: Voriges Jahr fand ich einen ehemals beteiligten Soldaten der „Nationalen Volksarmee“, der an der Grenze in Altenberg 1968 die tschechischen Grenzsoldaten entwaffnete und danach die von Panzern niedergewalzten Grenzanlagen, auch die zerquetschte blau-weiß-rot bemalte lange Metallstange des Schlagbaums zur Seite räumte. Die Historiker haben die Bedenken einer deutschen Beteiligung auf tschechischem Gebiet bedenkenlos beiseite geräumt, mir scheint, dahinter steckt ein politischer Wille, es darf nicht sein, dass die Deutschen schon wieder mal nach Böhmen einfielen. Wer, wie ich, das Gegenteil mittels Augenzeugen beweisen will, wird scharf angegangen, das ist mir zum letzten Mal passiert vor sechs Jahren (2007) in Pennsylvania am Dickinson College, natürlich war es der deutsche Literatur-Professor im Publikum, Wolfgang Emmerich, der dort nach meiner Lesung an diesem Punkt herumnörgelte. Mein Freund, der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich, sagte zu mir: „Mach dir keine so großen Gedanken darüber, er musste seine Bücher umschreiben nach 1989, wir nicht“. Schließlich hatte der Verfasser von „Kleine Literaturgeschichte der DDR“ die meisten Namen kritischer Autorenkollegen meiner Generation erst nach dem Fall der Mauer nachträglich in die neuen Auflagen seines Lexikons einmontiert. Darüber kann man sich verstreiten und auch wieder versöhnen, denke ich, und ein wenig die Finger in diese Wunde legen während einer Festrede in den heiligen Hallen der Germanistik, kann vielleicht nichts schaden.

„LXXI

IN DEN SCHEUNEN TROCKNET AUF-

GEHÄNGTE STILLE

DIE BÄREN MEINER TRÄUME NAHMEN

ALLE BIENENSTÖCKE AUS

DIE ZEIT BLIEB STEHN IN FERNER ZUKUNFT

UND BLEIBT VERGANGEN AUF DER TENNE

HINTERM HAUS“

Das ist eine Strophe von Jan Skácel, tschechisch erschienen in der Edition „edice petlice“. Übersetzt von Reiner Kunze, wie das folgende Gedicht von Ludvík Kundera auch:

„Und wieder bin ich unhörbar, unhörbar wie das licht.

 

So bis ins einzelne befasse ich mich mit der stille,

dass ich, dem tastsinn folgend, die angst durchschneide.

 

Die fremde und die eigene.

 

Und deshalb scheint’s ich gehöre zu ihnen,

wenn blinde sich umdrehn.

 

Gemeinsam ziehen wir im finstern uns durchs nadelöhr.“

 

Die Historiker haben lange gebraucht, um sich zu einigen, dass an der Okkupation der Tschechoslowakei nicht, wie über Jahrzehnte behauptet, 500 Tausend ausländische Soldaten beteiligt waren, sondern eine knappe Million. Vielleicht finden sie noch die deutschen Invasoren darunter, die, so mag es gewesen sein, ohne Befehl im Chaos der Okkupation auf tschechischen Boden gerieten und dann zurückgezogen wurden. Zumindest war dies die Erfüllung der Träume eines Walter Ulbricht.

In meiner Kindheit gab es die schöne Stadt Greiz. Mit zwei Schlössern, einem märchenhaften Park und dem großen Ententeich. Dort wohnte Reiner Kunze, und ich wusste es nicht. Erst musste der Vulkan ausbrechen, der Panzer spie, elf Tage danach kam ich an die Goetheoberschule in Reichenbach, drei Wochen später, mit langem schwarzem Haar, der Staub der fünf Armeen des Warschauer Pakts schwebte noch in der Luft, begegnete ich Jürgen Fuchs. In der Turnhalle bei einem Volleyballspiel.

Die Klasse 12B3, in die Jürgen ging, hatte 9B3 gerade mit drei zu zwei Sätzen beim Volleyball-Turnier der Goethe­-Oberschule geschlagen, und ich war stinksauer, ich war der Mannschafts­kapitän der Verlierer. Ich setzte mich auf eine der längs am Spielfeld stehenden Holzbänke der Turnhalle und senkte den Kopf. „Na, Sexer (abgeleitet von Sextaner, von Sexta) willst du nicht eine rauchen gehen auf’s Klo?“ sagte eine Stimme neben mir. Ich sah auf und erkannte den 12er neben mir auf der Bank, der mich vorige Woche in der Großen Pause auf der Toilette aufgestöbert und beim Rauchen erwischt hatte. Ich kannte ihn schon vom Stadtbild her und wusste jetzt schon, wie er hieß.

„Der Fuchs verpfeift dich nicht, da brauchst du keine Angst zu haben“, sagte ein Klassenkamerad zu mir, der ihn von der gemeinsamen Grundschule her kannte. Er sollte recht behalten, „der Fuchs“ verpfiff mich nicht. „Im August habe ich dich gesehen“, sagte Jürgen jetzt grinsend auf der Bank, „du hast eine tschechische Fahne in den Speichen deines Vorderrades gehabt, das hätte schiefgehen können, mit deinem schönen neuen diamant­Rad.“ Wieder lachte er. Auch er hatte mich offenbar in der Stadt schon wahrgenommen. „Hab ich von meiner Oma gekriegt“, sagte ich, „als ich auf die Oberschule durfte.“ „Und die Fahne?“ fragte er. „Aus einer Girlande gerissen, beim Sommerfest.“ „Und wie kamst du drauf?“ „Mein Bruder“, sagte ich, „hat mir alles erzählt, warum dann die Panzer kamen, auch vorher schon, Rudi Dutschke, was im Mai in Frankreich los war.“ „Hat dein Bruder noch den alten Direktor gehabt?“ „Ja“, sagte ich, „noch Buchta.“ „Du musst aufpassen“, sagte er, „Übel, der neue, ist gefährlich, Kadettenschüler, Major der Reserve, hat gleich Ordnungsgruppen gebildet und rote Armbinden aus­gegeben. Lehrer wie Kießling, Rammler, Werlich, weißt du, von wem die freundschaftlichen Besuch kriegen, im ersten Stock, in dem verriegelten Zimmer, jede Woche?“ „Wirklich, von denen?“ „Du musst aufpassen, ich habe die Autonummern“, sagte er.

Jürgen Fuchs und ich wurden Freunde. Einige Monate später erhielt ich von ihm, auf einer vielleicht vierten Durchschrift mit Schreibmaschine geschrieben, zum ersten Mal Gedichte von Reiner Kunze. „Der wohnt in Greiz“, sagte Jürgen. Ich dachte an das Entenhaus meiner Kindheit.

Was auch geschehen war in Greiz in jenem August 1968 schrieb Reiner Kunze später auf:

HINTER DER FRONT

Am Morgen des 22. August 1968 wäre meine Frau beinahe gestürzt. Vor der Wohnungstür lag ein Strauß Gladiolen. In der Nachbarschaft wohnte ein Ehepaar, das einen Garten besaß und manchmal Blumen brachte. „Wahrscheinlich haben sie gestern Abend nicht mehr stören wollen“, sagte meine Frau.

Am Nachmittag kam sie mit drei Sträußen im Arm. „Das ist nur ein Teil“, sagte sie. Sie waren in der Klinik, in der meine Frau arbeitet, für sie abgegeben worden, und außer ihr selbst hatte sich niemand darüber gewundert. Es sei doch bekannt, dass sie aus der Tschechoslowakei sei.

„Ich habe Reiner Kunze besucht, in Greiz“, sagte Jürgen Fuchs, bevor er mir die Gedichte auf dünnem Durchschlagpapier gab. „Es war wunderbar und sehr nah“, sagte er, „ein langes Gespräch, vorher, an der Wohnungstür, musste ich meine Schuhe ausziehen. Da habe ich mir einen Scherz erlaubt und ihm danach, zurück in Reichenbach, eine Variante auf sein Gedicht ‚Einladung zu einer Tasse Jasmintee’ geschickt, in dem es ja die Zeilen gibt: ‚Treten Sie ein‚ legen Sie Ihre Traurigkeit ab, hier dürfen Sie schweigen’ – ich schrieb an Kunze: ‚Treten sie ein, ziehen sie ihre Schuhe aus, hier dürfen sie REDEN’. Reiner Kunze war sehr amüsiert darüber“, sagte Jürgen Fuchs, „bei meinem nächsten Besuch, die ich nun regelmäßig bei den Kunzes machte“.

Eines der ersten Gedichte, das ich von Reiner Kunze las, schwer zu entziffern auf dem grünlichen durchscheinenden Papier, kam mir entgegen wie ein lang erwarteter Brief, eine Hoffnung, die sich erfüllt, eine Bestätigung alles bisher Gedachten und Gefühlten:

 

 

WIE DIE DINGE AUS TON

1

Wir wollen sein, wie die Dinge aus Ton

Dasein für jene,

die morgens um fünf ihren kaffee trinken

in der küche

Zu den einfachen tischen gehören

Wir wollen sein wie die dinge aus ton, gemacht

aus erde vom acker

Auch, dass niemand mit uns töten kann

Wir wollen sein wie die dinge aus ton

inmitten

soviel

rollenden

stahls

 

2

Wir werden sein wie die Scherben

der dinge aus ton: nie mehr

ein ganzes vielleicht

ein aufleuchten

im wind

 

Da sprach einer. Für viele. Auch für mich.

 

II

1971 flog ich von der Oberschule, die den schönen Namen Goethes trug. Wegen Gründung eines Literaturclubs außerhalb der Schule. Offiziell wegen, Zitat: „Zersetzung des Klassenkollektivs und Beleidigung von Armeeoffizieren“. Ich hatte nur geäußert, dass ich keinesfalls Offizier werden würde. Das Klassenkollektiv „zersetzte“ ich zum Beispiel mit Nachfragen zum Militarismus an unserer Schule an Hand der Jugenderzählungen von Heinrich Böll. Durch meine Relegation verlor auch Jürgen Fuchs als „Anstifter“ zeitweilig seinen Studienplatz in Jena. Ich wurde Bahnhofsarbeiter, später Elektriker mit abgeschlossener Lehre. Reiner Kunze schrieb an seinem Buch „Die wunderbaren Jahre“, nachdem in der DDR 1973 sein Gedichtband „Brief mit blauem Siegel“ erschienen war, den ich, ohne jetzt übertreiben zu wollen, damals beinahe auswendig zitieren konnte. Das gelang mir später bei keinem anderen Dichter je wieder, da muß Liebe im Spiel gewesen sein, zu dieser Sprache von Anfang an.

Schließlich versuchten wir als junge Autoren alle wie Reiner Kunze zu schreiben, so stark war der Sog seiner Sprache: Jürgen Fuchs, Günter Ullmann und auch ich. Andere Namen nenne ich hier nicht.

Eben ist mein neuer Gedichtband Miss Suki oder Amerika ist nicht weit! erschienen, da hat’s mich wieder erwischt Richtung Kunze, wie ich nach Drucklegung feststellen konnte. Darin stehen Oden an einen Hund, einem Cavalier Prince Charles Spaniel, der in Gettysburg Pennsylvania lebt, und den ich voriges Jahr ein Semester lang neben meinen sieben klugen Studenten betreuen durfte.

 

Mein Hündchen

mein kluges

mit den langen Ohren

 

findet das Zusammenleben

mit einem Dichter

 

angenehm

 

soviel Schweigen

von beiden Seiten

 

zwei die zu oft

angebellt wurden

 

Danke, lieber Reiner Kunze, da ist etwas darin, das in mir von Ihnen als Meister, Vorbild und Lehrenden geblieben ist. Vielleicht kann man das Gedicht aber auch anders sehen.

 

Ich jedenfalls kam damals kurz vor Weihnachten 1974 nach Greiz zu Ihnen und Ihrer Frau, zum ersten Mal, und brachte unaufgefordert meine Gedichte mit.

Aber der eigentliche Grund meines Kommens war ein anderer, denn ich war angemeldet. Einer meiner besten Freunde, Wolfgang Schuster, auch Klassenkamerad von Jürgen Fuchs, studierte Medizin in Leipzig und hatte dort über einen Kommilitonen auch Zugang zur Evangelischen Studentengemeinde in Bitterfeld. Dort erfuhr er, dass Reiner Kunze an einem Manuskript arbeiten würde, das Geschichten und Schicksale von Jugendlichen des Landes zum Inhalt haben soll, die mit dem Staat in politische Reibung geraten sind, so etwa wurde es mir übermittelt, meinen Besuchstermin bei Reiner Kunze sprachen die Bitterfelder mit ihm ab.

Zusammen mit meinem Freund aus Leipzig fuhr ich mit dem Bus nach Greiz, in meiner Tasche die zahlreichen Dokumente zu meiner Relegierung von der Oberschule, den ganzen Schriftkram mit Kreisschulrat, Bezirksleitung der SED, das ziemlich gut dokumentierte Ausschlussverfahren aus dem Jugendverband FDJ, das meinem Schulverweis vorausgegangen war. Ich fuhr im Selbstverständnis eines jungen Dichters zu Reiner Kunze und war leicht verstimmt, als er mich angesichts des von mir herbeigeschleppten bürokratischen Materials fragte, ob ich nicht Buchhalter werden wolle.

Meine Stimmung hob sich beträchtlich, als seine Frau uns einen echten Jasmintee servierte. Eine für uns unvorstellbare Sache, dass es so etwas auf der Welt wirklich gibt, wir kannten nur sein Gedicht „Einladung zu einer Tasse Jasmintee“, jetzt stand sie vor uns, außerdem brannte im Wohnzimmer, wo wir saßen, eine dicke blaue Wachskerze, ein weiteres vorher nie gesehenes Wunder.

Ich erzählte und Reiner Kunze schrieb mit. Am Ende bat er mich, ihm doch das vielfältige schriftliche Material für einige Zeit zu überlassen, einer Bitte, der ich als angehender Buchhalter großzügig nachkam. Beim Abschied schenkte und handsignierte Reiner Kunze mir sein Reclambändchen „Brief mit blauem Siegel“, das ich bis zum heutigen Tag wie ein Heiligtum bewahre. In diese Richtung unerbittlicher Verehrung ging’s dann noch weiter: Damals war ich Soldat im Grundwehrdienst und hatte gerade zum dritten Mal die Einnahme der Stadt Kassel von Erfurt aus durch eine deutsche Armee geübt, als während der Postausgabe auch ein Brief an mich kam von Dr. Elisabeth Kunze. Der Spieß, Dienstgrad Fähnrich, rief: „Jetzt kriegt der Soldat Rachowski schon Post von Doktoren! Langsam reißt es hier ein, Sie werden heute mal wieder Kohle schippen nach dem Dienst, ehe Sie übermütig werden!“. Frau Kunze schrieb mir, dass sie und ihr Mann versucht hätten, das ihnen von mir überlassene Material bei meiner Mutter in Reichenbach persönlich vorbeizubringen, aber das Wohnhaus nicht fanden, sie bat mich nun um eine kleine Anfahrtsskizze. Dieser Besuch kam dann zustande. Reiner Kunze kam allein, meine Mutter berichtete mir später darüber, ich fragte genau, auf welchem Stuhl er denn bei uns gesessen habe, und von Stund an durfte niemand mehr, auf diesem, durch mich zum Thron erklärten, einfachen Holzstuhl sitzen. Manchmal machte ich als besondere Vergünstigung eine äußerst seltene Ausnahme für beste Freunde, immer mit dem Hinweis: Auf diesem Stuhl hat Reiner Kunze gesessen!

Im Gespräch mit meiner Mutter, wie sie erzählte, sorgte er sich um mich sehr, sagte, „ich befürchte, das Ihr Sohn ein Schicksal erleiden wird wie ich selbst, denn sehen Sie, ich habe meiner Familie nur Unglück gebracht“. Und blieb noch schweigend auf dem Stuhl sitzen, berichtete meine Mutter.

In den folgenden 1 ½ Jahren besuchte ich die Familie Kunze noch einige Male. Ich brachte meine neuen Gedichte, trotzdem blieben die Kunzes stets freundlich. Eines davon hieß „Beim Lesen Schweriner Gedichte“, gemeint waren die Hervorbringungen des FDJ-Poetenseminars, das jährlich in Schwerin stattfand.

Beim Lesen Schweriner Gedichte

Ihr schwärmt

von duftenden

Mandelblüten

aber

die bitteren Früchte

dan

wollt

ihr nicht

 

essen

 

 

 

Das gefiel Reiner Kunze.

Im Spätsommer 1976 erschienen „Die wunderbaren Jahre“ im S. Fischer Verlag Frankfurt/Main, er hatte die bitteren Geschichten gefunden und aufgeschrieben, darin auch der Text „Fahnenappell“, darin eingearbeitet die Materialien, die ich Reiner Kunze zur Verfügung gestellt hatte:

Montagmorgen stand der Direktor der Erweiterten Oberschule in X. in Uniform neben der Fahne – in der Uniform eines Offiziers der Nationalen Volksarmee, in der er den Appell nur zu bestimmten Anlässen abnahm. „Und es geht nicht“, sagte er, „dass ein Schüler die Offiziere der Nationalen Volksarmee als dumm und halbgebildet bezeichnet. Von diesen Schülern müssen wir uns trennen.“

(Der Leiter des Wehrkreiskommandos hatte N., Arbeitersohn und Schüler der elften Klasse, für die Offizierslaufbahn werben wollen. Ob er am Beispiel des Direktors nicht sähe, hatte der Leiter des Wehrkreiskommandos gesagt, wie allseitig gebildet Offiziere seien. N. hatte geantwortet, er habe eher den Eindruck, der Direktor sei „einseitig gebildet“: Seine Erziehungsmethoden bewirkten, dass in der Schule nur noch gelernt und kaum mehr gedacht werde.)

Die Fahne war noch nicht wieder eingeholt – das Einholen fand am Sonnabend statt –, als der Schüler N. gegen elf Stimmen und bei einer Enthaltung aus der Freien Deutschen Jugend ausgeschlossen wurde.

(Vorher hatte eine Elternbeiratssitzung stattgefunden, nach der Eltern ihre Tochter aus dem Bett geholt hatten. „Dass du ja nicht für den stimmst! … Dass du ja nichts zugunsten von dem sagst! …“ Der Elternbeiratssitzung waren Klassenversammlungen gefolgt: „Wer für N. stimmt, entfernt sich vom Standpunkt der Arbeiterklasse.“ Schließlich hatte jeder der Schüler, die als Diskussionsredner ausgewählt worden waren, eines der schwarzen Steinchen zugeteilt bekommen, aus denen das schwarze Bild zusammengesetzt werde sollte: Überheblichkeit… Thesen zur Verunsicherung der Mitschüler… Radikale Ansichten. Dabei hatte eine Schülerin enttäuscht, indem sie gefragt hatte, wieso dann N. würdig gewesen wäre, Berufsoffizier zu werden.)

Dreimal noch duldete es die Fahne, dass der Schüler N. unter ihr stand, während sie aufstieg, mit zunehmender Höhe immer gemessener, um die Mastspitze exakt beim letzten Fanfarenstoß des Fanfarenzuges zu erklimmen. Dann wurde N. vom Unterricht beurlaubt. Seines nächsten Freundes nahm sich der Klassenlehrer an. „Wenn Sie den von unserer Seite abgebrochenen Kontakt zu N. aufrechterhalten sollten, können wir ganz leicht den Kontakt zu Ihnen abbrechen.“

(Der Leiter des Wehrkreiskommandos sagte zur Mutter des N.: Ich habe die Äußerung Ihres Sohnes weder als Beleidigung meiner Person, noch als Beleidigung der Offiziere der Nationalen Volksarmee empfunden. Aber ich kann Ihnen in diesem Fall nicht helfen.“)

In Berlin wurde dem Antrag der Schule auf Relegierung des Schülers N. stattgegeben.

(„Ich teile Ihnen hierdurch mit, dass Ihr Sohn… von allen Erweiterten Oberschulen der Deutschen Demokratischen Republik ausgeschlossen wurde. Die Gründe und Ursachen sind Ihnen bekannt. Wir hoffen, dass diese Maßnahme dazu führt, dass Ihr Sohn… zur Einsicht kommt in Hinblick auf sein Verhalten gegenüber den Anforderungen, die an einen jungen Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik gestellt werden müssen.“)

Zu bestimmten Anlässen steht der Direktor der Erweiterten Oberschule in X. in Uniform neben der Fahne.

Dann ging alles irgendwie sehr schnell, auch in meiner Erinnerung, Ausschluss Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband im Herbst 1976, seine endlosen Kämpfe gegen die jetzt gegen ihn und seine Familie gerichtete geballte Macht des Staates, umsonst schon wartete ich in Freiberg vor einer Kirche auf ihn, die Veranstaltung der Evangelischen Studentengemeinde fiel aus. Reiner Kunze durfte keine Lesungen mehr halten. Ein Kesseltreiben gegen ihn hatte eingesetzt. Und noch immer hatte er die Kraft, trotz seiner Erkrankung, ein Einschreiben an Honecker zu schicken:

 

 

 

… Meine dringende Bitte, helfen Sie zu verhindern, dass dem jungen hochbegabten Schriftsteller Jürgen Fuchs und all den unbekannten Bürgern in der DDR, die sich im Zusammenhang mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns und meinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband eine eigene Meinung gebildet und diese geäußert haben, weiterhin Leid zugefügt wird…

Am 13. April 1977 verließ die Familie Kunze die DDR.

Ich schrieb das Gedicht „Thüringische Legende“, einen Abschiedsgruß:

 

THÜRINGISCHE LEGENDE

für Reiner Kunze

 

Einen hat man

vertrieben.

Dem zog der Jasmin nach.

 

Er ließ aber noch stehen

ein Glas Tee aus Schweigen

das keiner mehr Zeit fand

auszutrinken

bevor es bitter war.

 

Geschrieben wenige Tage nach der Ausbürgerung der Familie Kunze aus der DDR und aus Greiz…, im Herbst 1979 wurde ich dafür und wegen vier anderen Gedichten der Staatsfeindlichen Hetze angeklagt und im Frühjahr 1980 nach sechs Monaten Untersuchungshaft beim Staatsicherheitsdienst auf dem Kaßberg in Karl-Marx-Stadt zu 27 Monaten Gefängnis verurteilt. Im Verhör fragte mich der Stasi-Vernehmer, ein Major: „Wer ist denn dieser Jasmin, Rachowski!?“.

Keiner meiner Bekannten und Freunde, die über meine Zu-Arbeit zu Reiner Kunzes „Die wunderbaren Jahre“ bescheid wussten, verriet mich an das Ministerium für Staatssicherheit, auch nach tagelangen Verhören nicht. Es hätte mir einige Jahre Gefängnis zusätzlich eingebracht. Diese Freunde waren wirkliche Freunde.

 

III

Im späten Herbst 1979 begab sich eine Rentnerin aus Reichenbach im Vogtland auf Verwandtenbesuch nach Hessen, sie benutzte den sogenannten „Interzonen-Zug“ von Warschau nach Frankfurt am Main, der am Nachmittag jeden Tages wie selbstverständlich auch in Reichenbach im Vogtland hielt. „Im traurigen Monat November war’s / Die Tage wurden trüber, / Der Wind riß von den Bäumen das Laub, / Da reist sie nach Deutschland hinüber…“, bin ich versucht zu sagen. – Aber das wusste ich nicht, kannte nur Heines Eingang zum „Wintermärchen“ , und das Einfärben der Blätter an den Bäumen hatte ich in diesem Herbst 1979 nicht mehr sehen können und miterleben, denn ich saß seit meiner Verhaftung an einem frühen sonnigen Oktobertag in einer Einzelzelle mit Glasziegel-Fenstern des Stasi-Untersuchungsgefängnisses Karl-Marx-Stadt und wartete auf das täglich mehrstündige Verhör.

Die mit der Mutter meiner Schwägerin befreundete Rentnerin aber kam an diesem Tag im November gut über die innerdeutsche Grenze bei Eisenach, nur wenig kontrolliert von den mit Bauchläden und Fahndungsbuch durch den Zug patrouillierenden Uniformierten, die auch nicht versäumt hatten, wie immer, ihre Schäferhunde über die gesamte Länge des Zuges unter den Waggons entlangzuschicken. – Und doch war es geschehen, dass dem Gesicht der Rentnerin und besonders den Wangen während der Kontrolle ihres Ausweis-Dokuments eine leichte Röte angeflogen war, über deren Ursache sie sich in vollem Bewusstsein befand, nicht etwa Scham, zu schämen hatten sich in diesen Zeiten, die es nicht taten, sondern nacktes Erschrecken, keineswegs aber Angst, war in diesem Moment über ihren Mut gekommen. Vielleicht dämpfte, so hoffe ich noch immer, ihren jetzt leicht beschleunigten Herzschlag zumindest optisch ein wenig, und daher für die Uniformierten unsichtbar, gerade der in ihrem Mantel eingenähte Brief, den sie mutig aus den Händen meiner Verwandtschaft an sich und schließlich mit auf ihre Reise genommen hatte. Über diese Grenze. Auf dem Umschlag war ausgewiesen als Adressat: Herr Reiner Kunze – über S. Fischer Verlag – Frankfurt am Main. In Hessen bei ihrer Verwandtschaft angekommen, klebte die Rentnerin auf den, nun aus dem Futter ihres Mantels herausgetrennten Brief, eine Marke, ohne sich vielleicht um deren Motiv weiter zu kümmern, und schickte ihn auf seinen, den ihm bestimmten Weg. Der Brief erreichte seinen Adressaten, und der Dichter Reiner Kunze erfuhr, dass ich im Gefängnis saß unter dem Vorwurf der „staatsfeindlichen Hetze“, wegen meiner Gedichte.

Viele Male fuhr Reiner Kunze damals dann mit dem Nachtzug den langen Weg von Passau nach Bonn, um mit beginnendem Tag dort beizutragen innerhalb einer Kommission, deren Vorsitzender zu dieser Zeit gerade Helmuth Kohl war, die politische Häftlinge der DDR auf eine Liste für Verhandlungen setzte, um deren „Freikauf“ zu erreichen. – „Sie sind der Fünfzehnte, den wir raushaben!“, schrieb mir Reiner Kunze später auf einer ersten Postkarte, als ich nach einem Jahr und zwei Monaten in den Gefängnissen von Karl-Marx-Stadt und Cottbus endlich nach Westberlin gelangt war.

Diese erste Postkarte nach meiner Entlassung und Ausbürgerung bewahre ich natürlich: „Das schönste Weihnachtsgeschenk für uns“ schrieb Reiner Kunze darauf, und Elisabeth Kunze hängte eine Postanweisung über 300 D-Mark an. Dann ein erstes Wiedersehen in Westberlin, in der Fontanehalle in Reinickendorf, Reiner Kunze las vor 400 Menschen. Immer wieder sporadischer Briefwechsel. Ich schickte ihm meine ersten Erzählungen, die im Westen entstanden waren. Er riet mir, mich „von nichts und niemanden irgendwie zu einer Art Produktion bewegen zu lassen, schreiben Sie nur, was Sie schreiben müssen“, und: „Wovon wollen Sie leben?“ Eine Frage, die ich in den Wind schlug, und wie dieser Fehler mir 10 Jahre lang schwer auf die Füße fiel. Ich wusste es nicht. Später fragte das Kreuzberger Finanzamt bei mir an, nachdem ich meine Einkünfte gemeldet hatte, wovon ich überhaupt leben würde. Von Freundschaft, Liebe und Zigaretten. Das aber, teilte ich weder den Kunzes noch dem Finanzamt mit.

Immer wieder kamen die Ermutigungen der Familie Kunze, wenn ich ein neues Buch von mir schickte oder auch nur ein einziges Gedicht: „Von Ihnen lesen wir immer gern Neues!“, schrieben sie. Von diesen und den Ermunterungen anderer Kollegen, wie Hans Joachim Schädlich, Wolf Biermann und Bernd Jentzsch, lebte ich auch.

Jürgen Fuchs erzählte mir in seiner Tempelhofer Küche, wo ich beinahe täglich zu Gast weilte, Am Sonnenhang, im Garten der Familie Kunze hätte jemand alle frisch gepflanzten jungen Bäume dicht unter der Oberfläche in der Erde abgeschnitten. Sie seien daraufhin verdorrt, ohne dass die Ursache anfänglich zu erkennen gewesen sei. Den Fuchsens schickten diese gleichen Leute Rattenvertilgerfirmen und Pornohefte ins Haus. Die Aufbewahrungsorte meiner Manuskripte in dem Kreuzberger Hinterhaus, wo ich mit Christian Kunert von der Renft-Combo und dem Dichter und Liedermacher Salli Sallmann lebte, wo auch Manfred Krug, Veronika Fischer und Roland Jahn ein- und ausgingen, unsere Wege, unsere Besuche, alles fanden wir akribisch aufgezeichnet, als wir sehr viel später die über uns angelegten Akten einsehen konnten, es war eine Zeit, etwas wie Krieg. Etwas, was auch die Freiheit unseres neuen Lebens mit einem ständigen Schatten belegte und ein anfängliches Aufatmen, zumindest für mich, bald wieder erstickte.

So nahm ich den Fall der Berliner Mauer im November 1989 auch als persönliche Befreiung wahr, meine Leute, die aus dem Osten, befreiten mich aus dem Westberliner Getto, meinem deutschen Exil. So empfand ich das und sehe es noch immer so. Nach über 10 Jahren durfte ich meine Mutter und die Familie meines Bruders wiedersehen.

Mit Elisabeth und Reiner Kunze führten mich neben dem sporadisch geführten Briefwechsel immer auch wieder Veranstaltungen und Lesungen zusammen, zu denen wir eingeladen wurden. Unvergesslich ein Kolloquium in Chemnitz zum Thema „Böhmen am Meer“. Nach dem ersten langen Tag dort, am Abend beim gemeinsamen Ausklang mit einem Glas Wein, viele Kollegen, auch Wissenschaftler, saßen mit am Tisch, sagte Reiner Kunze plötzlich mitten in die große Runde hinein, beinahe wie aus heiterem Himmel und ohne eigentlichen Anlass: „Utz Rachowski ist mein Kollege, wir kennen uns lange Zeit, wer ihn angreift, der greift auch mich an“. Beinahe ist es mir peinlich, dies hier aufzuschreiben, in diesem Bezug auf mich selbst, aber so ist Reiner Kunze: fürsorglich schützend. Vorsichtshalber auch für Zukünftiges, wenn die alten Funktionäre und Seilschaften ihr Medusenantlitz wieder erheben würden. Gegen ihn und gegenüber seinem Kollegen.

Ich habe ein sehr persönliches Dichtergestirn an Vorbildern:

Jürgen Fuchs war für mich immer der nahe Freund noch aus der Schulzeit, mit dem ich durchs dicke und dünne Leben ging, und der mich auch mal zurechtweisen durfte, Wolf Biermann immer der warmherzige Kumpel, dem man einfach verzeiht, dass er wie ein Planet stets um sich selbst kreist, und wir Jüngeren sind nur seine Trabanten, Hans Joachim Schädlich ist der nahe und kluge und witzige Gesprächsfreund bei regelmäßigen Treffen in Berlin zum gemeinsamen Mittagessen, zum Nachtisch lästern wir natürlich ein wenig über Kollegen, die dies verdient haben.

Reiner Kunze aber und seine Gattin sind für mich von Anfang an gewesen – und geblieben – die warmen gebenden Menschen, sehr nahe und doch auf beinahe verklärte Weise in jener Distanz, diesem Abstand, der das umfassend wahrnehmende Aufschauen zu einem Menschen erst möglich macht, die mir Hoffnung, Schutz und Sinn gaben, vorlebten, dass es Sinn hat und ein einmalig gegebenes Glück ist, auf der Welt zu sein und deren vielfältigen Anfeindungen zu widerstehen.

Dafür danke ich Ihnen in Liebe, den Sinnstiftern auf sensiblen Wegen, Elisabeth Kunze und Reiner Kunze.

 

Nachsatz:

Jetzt wird Jörg Bernig als nächster vortragen, der Freund, Autor und Literaturwissenschaftler, und für morgen rufe ich Ihnen, lieber Reiner Kunze, schon mal ermutigend zu:

NACH UNS DIE GERMANISTIK!

 

 

Utz Rachowski (Reichenbach und Dresden im Mai 2013)

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Jun 06 2015

Utz Rachowski

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DER SINNGEBER

Meine wunderbaren Jahre mit Reiner Kunze – als Leser, Mitwirkender und Kollege. (Rede anlässlich des Festaktes der Universität Dresden zum 80. Geburtstag von Reiner Kunze.)

I

In einem Nachbarland meiner frühen Jugend geschah eines Tages ein Wunder. Dort wurden plötzlich Reisefreiheit, Streikrecht und eine interessante Presse möglich, die Tschechen und Slowaken durften mit einmal nach München, Wien und Paris fahren. Ich war vierzehn, und die Erwachsenen unterhielten sich aufgeregt darüber. Da wusste auch ich es, und alle, die darüber redeten, fühlten sich betrogen und sprachen es aus.

In einer Nachbarstadt, nur über den kleinen Friesener Berg, keine zwanzig Minuten mit dem Linienbus von meiner Heimatstadt entfernt, damals kostete es 70 Pfennige, gibt es die schöne Stadt Greiz.

Was ich von Greiz weiß

Von Greiz weiß ich, was ich erinnere: Sonnentage. Gemeinsam mit der Großmutter im Bus über Friesen zu einer fernen Verwandten, die im Oberen Schloss wohnte. Der Blick von dort aus dem Fenster über den Park hinweg und die spiegelnde Teichfläche. Pflaumenkuchen auf dem sonnenüberfluteten Tisch; Kaffeetrinken, für mich Kakao, die beiden alten Damen vergnügt, stießen an mit einem Glas dunklen Likörs. Dann hinunter in den Park, die Blumenuhr, aber ich erinnere eine Sonnenuhr mit einem wandernden Schatten, der auf gelbe und blaue Veilchen fiel, hier, lasse ich mir sagen, trügt meine Erinnerung. Ein paar Schritte auf den Parkwegen, ich stecke den Kopf durch die Gitter eines Pavillons aus ergrautem Stein, menschenvergessen, unge­pflegt, und atme die modrige Luft des runden Raumes. Hier lebt ein Mann auf den Knien, einen Stahlhelm auf seinem Kopf. „Er fällt gerade“, sagt meine Großmutter und zieht mich weg vom Gitter. „Warum?“ frage ich. „Viele sind gefallen“, sagt sie. Mit einer Wendung stehe ich wieder inmitten der Sonnenwelt.

Weiter dem Teich zu, Grün um Grün, am Ufer die Wurzeln der Bäume, wie erdbewohnende Koboldsköpfe, lustig, gutartig, keine irrlichternden Gnome und böse, wie an den Mooren. Erdbewohner würden später immer diese verspielten Wurzeln sein, die Gegenwelt der Menschen, der Erdenbewohner.

Das Entenhaus auf dem Wasser, eine vollständig gelungene Illusion, mit gemalten Fenstern, sogar Gardinen angedeutet, gelungen so sehr, dass ich dort einziehen will, mein Traumhaus. Als ich, vielleicht dreißig Jahre später, davon zehn Jahre Einreiseverbot, wieder davor stehe, bleibt mein Eindruck erhalten, auch mein Wunsch und mein Traum. Inzwischen etwas kurzsichtig, sehe ich wohl das Entenhaus, schwebend auf dem Wasser, aber nicht die gemalten Fenster und Türen, möchte auch heute dort wohnen, die Illusion bleibt vollkommen. Nicht im Schloss, dessen Bild stetig durch die hohen Parkbäume zitterte, dort unten am Teich wollte ich leben. Und an diesem durchsonnten Kindernachmittag, erinnere ich mich ungetrübt, kaufte mir die ferne Verwandte der Groß­mutter in einem Blumenladen nahe am Park noch etwas, was ich unbedingt besitzen wollte: einen kleinen goldenen Drachen aus Metall, an dem wie eine Ampel ein chinesischer Lampion hing, um den eine Temperaturskala lief, ein Wandthermometer. Später habe ich das gläserne Thermometer­röhrchen zerstört, in dem ich ein brennendes Streichholz daran hielt, weil ich beobachten wollte, wie es ist, wenn die Temperaturanzeige über fünfzig Grad hinausgeht. Es machte nur einen winzigen Klick, und das Thermometer um den chinesischen Lampion war zerstört und gebrochen.

Dann, ich war noch immer vierzehn, kam ein unvergesslicher Sommer, viele meiner Freunde und Bekannten, sagen noch heute, dass er das Grunderlebnis für unsere Generation sei. Es begann damit, dass in den Zeitungen stand, auch in der Schule wurde darauf verwiesen, dass das Betreten der Wälder verboten sei, weil dort eine militärische Übung größeren Ausmaßes stattfinden würde. Also nichts mit Pilzesammeln, Großmutter schimpfte, schob ihren Bastkorb früh um fünf Uhr in ihre Ellbogenbeuge und zog auch mich verschlafen mit aus dem Haus. Wir wollten Pilze suchen und fanden Panzer. Schon am Waldrand wurden wir in einer fremden Sprache weggebrüllt, ich sagte Großmutter, dass das Russisch sei, und sie erwiderte, das kenne sie auch, in ihrer Kindheit in Sdunska Wola bei Posen hätte sie es in der Schule lernen müssen, so wie ich, sagte ich schnell. Wir gingen nicht mehr in den Wald.

Bis zu jenem Tag, als der Vulkan nachts ausbrach und lavafarbene Fuhrwerke aus Stahl ausspie auf denen graugrüne Soldaten ritten, zwei drei Tage lang, dann war es still. Die Asphaltstraßen zermalmt, die Pflastersteine an den Straßenrändern aufgehäuft wie wachsende Mauern. Die Bevölkerung, die Nachbarn aus den Gärten neben uns hatten schweigend zugesehen, gewinkt nur wenige, manche den Soldaten mit der Faust gedroht. Auch deutsche Soldaten waren am zweiten Tag lange vorübergezogen. Ihre Panzer, Kanonen und Lastwagen glänzten poliert, mit besserem Lack überzogen, als die russischen, sauberer. Was man heute in der geklitterten Geschichtsschreibung der Historiker wiederfindet, es handelt sich um die offizielle Geschichtsschreibung: bis auf 14 Verbindungs-Offiziere und -Unteroffiziere seien keine Deutschen beteiligt gewesen. Ich traf westdeutsche Augenzeugen, die mindestens 70 Schützenpanzer mit DDR-Kennung auf böhmischem Gebiet sahen und mit den Soldaten deutsch sprachen. Es ist so etwas wie mein Hobby geworden, so nebenbei also: Voriges Jahr fand ich einen ehemals beteiligten Soldaten der „Nationalen Volksarmee“, der an der Grenze in Altenberg 1968 die tschechischen Grenzsoldaten entwaffnete und danach die von Panzern niedergewalzten Grenzanlagen, auch die zerquetschte blau-weiß-rot bemalte lange Metallstange des Schlagbaums zur Seite räumte. Die Historiker haben die Bedenken einer deutschen Beteiligung auf tschechischem Gebiet bedenkenlos beiseite geräumt; mir scheint, dahinter steckt ein politischer Wille, es darf nicht sein, dass die Deutschen schon wieder mal nach Böhmen einfielen. Wer, wie ich, das Gegenteil mittels Augenzeugen beweisen will, wird scharf angegangen. Das ist mir zum letzten Mal passiert vor sechs Jahren (2007) in Pennsylvania am Dickinson College, natürlich war es der deutsche Literatur-Professor im Publikum, Wolfgang Emmerich, der dort nach meiner Lesung an diesem Punkt herumnörgelte. Mein Freund, der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich, sagte zu mir: „Mach dir keine so großen Gedanken darüber, er musste seine Bücher umschreiben nach 1989, wir nicht“. Schließlich hatte der Verfasser von Kleine Literaturgeschichte der DDR die meisten Namen kritischer Autorenkollegen meiner Generation erst nach dem Fall der Mauer nachträglich in die neuen Auflagen seiner Literaturgeschichte einmontiert. Darüber kann man sich verstreiten und auch wieder versöhnen, denke ich, und ein wenig die Finger in diese Wunde legen während einer Festrede in den heiligen Hallen der Germanistik, kann vielleicht nichts schaden.

„LXXI

IN DEN SCHEUNEN TROCKNET AUF-

GEHÄNGTE STILLE

DIE BÄREN MEINER TRÄUME NAHMEN

ALLE BIENENSTÖCKE AUS

DIE ZEIT BLIEB STEHN IN FERNER ZUKUNFT

UND BLEIBT VERGANGEN AUF DER TENNE

HINTERM HAUS“

 

Das ist eine Strophe von Jan Skácel, tschechisch erschienen in der Edition „edice petlice“. Übersetzt von Reiner Kunze, wie das folgende Gedicht von Ludvík Kundera auch:

„Und wieder bin ich unhörbar, unhörbar wie das licht.

So bis ins einzelne befasse ich mich mit der stille,

dass ich, dem tastsinn folgend, die angst durchschneide.

 

Die fremde und die eigene.

 

Und deshalb scheint’s ich gehöre zu ihnen,

wenn blinde sich umdrehn.

Gemeinsam ziehen wir im finstern uns durchs nadelöhr.“

Die Historiker haben lange gebraucht, um sich zu einigen, dass an der Okkupation der Tschechoslowakei nicht, wie über Jahrzehnte behauptet, 500 Tausend ausländische Soldaten beteiligt waren, sondern eine knappe Million. Vielleicht finden sie noch die deutschen Invasoren darunter, die, so mag es gewesen sein, ohne Befehl im Chaos der Okkupation auf tschechischen Boden gerieten und dann zurückgezogen wurden. Zumindest war dies die Erfüllung der Träume eines Walter Ulbricht.

In meiner Kindheit gab es die schöne Stadt Greiz. Mit zwei Schlössern, einem märchenhaften Park und dem großen Ententeich. Dort wohnte Reiner Kunze, und ich wusste es nicht. Erst musste der Vulkan ausbrechen, der Panzer spie, elf Tage danach kam ich an die Goetheoberschule in Reichenbach, drei Wochen später, mit langem schwarzem Haar, der Staub der fünf Armeen des Warschauer Pakts schwebte noch in der Luft, begegnete ich Jürgen Fuchs. In der Turnhalle bei einem Volleyballspiel.

Die Klasse 12B3, in die Jürgen ging, hatte 9B3 gerade mit drei zu zwei Sätzen beim Volleyball-Turnier der Goethe­-Oberschule geschlagen, und ich war stinksauer. Ich war der Mannschafts­kapitän der Verlierer. Ich setzte mich auf eine der längs am Spielfeld stehenden Holzbänke der Turnhalle und senkte den Kopf. „Na, Sexer (abgeleitet von Sextaner, von Sexta) willst du nicht eine rauchen gehen auf’s Klo?“, sagte eine Stimme neben mir. Ich sah auf und erkannte den 12er neben mir auf der Bank, der mich vorige Woche in der Großen Pause auf der Toilette aufgestöbert und beim Rauchen erwischt hatte. Ich kannte ihn schon vom Stadtbild her und wusste jetzt schon, wie er hieß.

„Der Fuchs verpfeift dich nicht, da brauchst du keine Angst zu haben“, sagte ein Klassenkamerad zu mir, der ihn von der gemeinsamen Grundschule her kannte. Er sollte recht behalten, „der Fuchs“ verpfiff mich nicht. „Im August habe ich dich gesehen“, sagte Jürgen jetzt grinsend auf der Bank, „du hast eine tschechische Fahne in den Speichen deines Vorderrades gehabt, das hätte schiefgehen können, mit deinem schönen neuen diamant­Rad.“ Wieder lachte er. Auch er hatte mich offenbar in der Stadt schon wahrgenommen. „Hab ich von meiner Oma gekriegt“, sagte ich, „als ich auf die Oberschule durfte.“ „Und die Fahne?“ fragte er. „Aus einer Girlande gerissen, beim Sommerfest.“ „Und wie kamst du drauf?“ „Mein Bruder“, sagte ich, „hat mir alles erzählt, warum dann die Panzer kamen, auch vorher schon, Rudi Dutschke, was im Mai in Frankreich los war.“ „Hat dein Bruder noch den alten Direktor gehabt?“ „Ja“, sagte ich, „noch Buchta.“ „Du musst aufpassen“, sagte er, „Übel, der neue, ist gefährlich, Kadettenschüler, Major der Reserve, hat gleich Ordnungsgruppen gebildet und rote Armbinden aus­gegeben. Lehrer wie Kießling, Rammler, Werlich, weißt du, von wem die freundschaftlichen Besuch kriegen, im ersten Stock, in dem verriegelten Zimmer, jede Woche?“ „Wirklich, von denen?“ „Du musst aufpassen, ich habe die Autonummern“, sagte er.

Jürgen Fuchs und ich wurden Freunde. Einige Monate später erhielt ich von ihm, auf einer vielleicht vierten Durchschrift mit Schreibmaschine geschrieben, zum ersten Mal Gedichte von Reiner Kunze. „Der wohnt in Greiz“, sagte Jürgen. Ich dachte an das Entenhaus meiner Kindheit.

Was auch geschehen war in Greiz in jenem August 1968 schrieb Reiner Kunze später auf:

HINTER DER FRONT

Am Morgen des 22. August 1968 wäre meine Frau beinahe gestürzt. Vor der Wohnungstür lag ein Strauß Gladiolen. In der Nachbarschaft wohnte ein Ehepaar, das einen Garten besaß und manchmal Blumen brachte. „Wahrscheinlich haben sie gestern Abend nicht mehr stören wollen“, sagte meine Frau.

Am Nachmittag kam sie mit drei Sträußen im Arm. „Das ist nur ein Teil“, sagte sie. Sie waren in der Klinik, in der meine Frau arbeitet, für sie abgegeben worden, und außer ihr selbst hatte sich niemand darüber gewundert. Es sei doch bekannt, dass sie aus der Tschechoslowakei sei.

„Ich habe Reiner Kunze besucht, in Greiz“, sagte Jürgen Fuchs, bevor er mir die Gedichte auf dünnem Durchschlagpapier gab. „Es war wunderbar und sehr nah“, sagte er, „ein langes Gespräch, vorher, an der Wohnungstür, musste ich meine Schuhe ausziehen. Da habe ich mir einen Scherz erlaubt und ihm danach, zurück in Reichenbach, eine Variante auf sein Gedicht ‚Einladung zu einer Tasse Jasmintee’ geschickt, in dem es ja die Zeilen gibt: ‚Treten Sie ein‚ legen Sie Ihre Traurigkeit ab, hier dürfen Sie schweigen’ – ich schrieb an Kunze: ‚Treten sie ein, ziehen sie ihre Schuhe aus, hier dürfen sie REDEN’. Reiner Kunze war sehr amüsiert darüber“, sagte Jürgen Fuchs, „bei meinem nächsten und den folgenden Besuchen, die ich nun regelmäßig bei den Kunzes machte“.

Eines der ersten Gedichte, das ich von Reiner Kunze las, schwer zu entziffern auf dem grünlichen durchscheinenden Papier, kam mir entgegen wie ein lang erwarteter Brief, eine Hoffnung, die sich erfüllt, eine Bestätigung alles bisher Gedachten und Gefühlten:

 

WIE DIE DINGE AUS TON

1

Wir wollen sein, wie die Dinge aus Ton

Dasein für jene,

die morgens um fünf ihren kaffee trinken

in der küche

 

Zu den einfachen tischen gehören

Wir wollen sein wie die dinge aus ton, gemacht

aus erde vom acker

Auch, dass niemand mit uns töten kann

Wir wollen sein wie die dinge aus ton

inmitten

soviel

rollenden

stahls

2

Wir werden sein wie die Scherben

der dinge aus ton: nie mehr

ein ganzes vielleicht

ein aufleuchten

im wind

 

Da sprach einer. Für viele. Auch für mich.

 

II

1971 flog ich von der Oberschule, die den schönen Namen Goethes trug. Wegen Gründung eines Literaturclubs außerhalb der Schule. Offiziell wegen, Zitat: „Zersetzung des Klassenkollektivs und Beleidigung von Armeeoffizieren“. Ich hatte nur geäußert, dass ich keinesfalls Offizier werden würde. Das Klassenkollektiv „zersetzte“ ich zum Beispiel mit Nachfragen zum Militarismus an unserer Schule an Hand der Jugenderzählungen von Heinrich Böll. Durch meine Relegation verlor auch Jürgen Fuchs als „Anstifter“ zeitweilig seinen Studienplatz in Jena. Ich wurde Bahnhofsarbeiter, später Elektriker mit abgeschlossener Lehre. Reiner Kunze schrieb an seinem Buch Die wunderbaren Jahre, nachdem in der DDR 1973 sein Gedichtband Brief mit blauem Siegel erschienen war, den ich, ohne jetzt übertreiben zu wollen, damals beinahe auswendig zitieren konnte. Das gelang mir später bei keinem anderen Dichter je wieder, da muss Liebe im Spiel gewesen sein, zu dieser Sprache von Anfang an.

Schließlich versuchten wir als junge Autoren, alle wie Reiner Kunze zu schreiben, so stark war der Sog seiner Sprache: Jürgen Fuchs, Günter Ullmann und auch ich. Andere Namen nenne ich hier nicht.

Eben ist mein neuer Gedichtband Miss Suki oder Amerika ist nicht weit! erschienen, da hat’s mich wieder erwischt Richtung Kunze, wie ich nach Drucklegung feststellen konnte. Darin stehen Oden an einen Hund, einem Cavalier Prince Charles Spaniel, der in Gettysburg Pennsylvania lebt, und den ich voriges Jahr ein Semester lang neben meinen sieben klugen Studenten betreuen durfte.

 

Mein Hündchen

mein kluges

mit den langen Ohren

 

findet das Zusammenleben

mit einem Dichter

 

angenehm

 

soviel Schweigen

von beiden Seiten

 

zwei die zu oft

angebellt wurden

 

Danke, lieber Reiner Kunze, da ist etwas darin, das in mir von Ihnen als Meister, Vorbild und Lehrenden geblieben ist. Vielleicht kann man das Gedicht aber auch anders sehen.

Ich jedenfalls kam damals kurz vor Weihnachten 1974 nach Greiz zu Ihnen und Ihrer Frau, zum ersten Mal, und brachte unaufgefordert meine Gedichte mit.

Aber der eigentliche Grund meines Kommens war ein anderer, denn ich war angemeldet. Einer meiner besten Freunde, Wolfgang Schuster, auch Klassenkamerad von Jürgen Fuchs, studierte Medizin in Leipzig und hatte dort über einen Kommilitonen auch Zugang zur Evangelischen Studentengemeinde in Bitterfeld. Dort erfuhr er, dass Reiner Kunze an einem Manuskript arbeiten würde, das Geschichten und Schicksale von Jugendlichen des Landes zum Inhalt haben soll, die mit dem Staat in politische Reibung geraten sind, so etwa wurde es mir übermittelt, meinen Besuchstermin bei Reiner Kunze sprachen die Bitterfelder mit ihm ab.

Zusammen mit meinem Freund aus Leipzig fuhr ich mit dem Bus nach Greiz, in meiner Tasche die zahlreichen Dokumente zu meiner Relegierung von der Oberschule, den ganzen Schriftkram mit Kreisschulrat, Bezirksleitung der SED, das ziemlich gut dokumentierte Ausschlussverfahren aus dem Jugendverband FDJ, das meinem Schulverweis vorausgegangen war. Ich fuhr im Selbstverständnis eines jungen Dichters zu Reiner Kunze und war leicht verstimmt, als er mich angesichts des von mir herbeigeschleppten bürokratischen Materials fragte, ob ich nicht Buchhalter werden wolle.

Meine Stimmung hob sich beträchtlich, als seine Frau uns einen echten Jasmintee servierte. Eine für uns unvorstellbare Sache, dass es so etwas auf der Welt wirklich gibt, wir kannten nur sein Gedicht „Einladung zu einer Tasse Jasmintee“, jetzt stand sie vor uns. Außerdem brannte im Wohnzimmer, wo wir saßen, eine dicke blaue Wachskerze, ein weiteres vorher nie gesehenes Wunder.

Ich erzählte und Reiner Kunze schrieb mit. Am Ende bat er mich, ihm doch das vielfältige schriftliche Material für einige Zeit zu überlassen, einer Bitte, der ich als angehender Buchhalter großzügig nachkam. Beim Abschied schenkte und handsignierte Reiner Kunze mir sein Reclambändchen Brief mit blauem Siegel, das ich bis zum heutigen Tag wie ein Heiligtum bewahre. In diese Richtung unerbittlicher Verehrung ging’s dann noch weiter: Damals war ich Soldat im Grundwehrdienst und hatte gerade zum dritten Mal die Einnahme der Stadt Kassel von Erfurt aus durch eine deutsche Armee geübt, als während der Postausgabe auch ein Brief an mich kam von Dr. Elisabeth Kunze. Der Spieß, Dienstgrad Fähnrich, rief: „Jetzt kriegt der Soldat Rachowski schon Post von Doktoren! Langsam reißt es hier ein, Sie werden heute mal wieder Kohle schippen nach dem Dienst, ehe Sie übermütig werden!“. Frau Kunze schrieb mir, dass sie und ihr Mann versucht hätten, das ihnen von mir überlassene Material bei meiner Mutter in Reichenbach persönlich vorbeizubringen, aber das Wohnhaus nicht fanden. Sie bat mich nun um eine kleine Anfahrtsskizze. Dieser Besuch kam dann zustande. Reiner Kunze kam allein, meine Mutter berichtete mir später darüber, ich fragte genau, auf welchem Stuhl er denn bei uns gesessen habe, und von Stund an durfte niemand mehr, auf diesem, durch mich zum Thron erklärten, einfachen Holzstuhl sitzen. Manchmal machte ich als besondere Vergünstigung eine äußerst seltene Ausnahme für beste Freunde, immer mit dem Hinweis: Auf diesem Stuhl hat Reiner Kunze gesessen!

Im Gespräch mit meiner Mutter, wie sie erzählte, sorgte er sich um mich sehr, sagte, „ich befürchte, das Ihr Sohn ein Schicksal erleiden wird wie ich selbst, denn sehen Sie, ich habe meiner Familie nur Unglück gebracht“. Und blieb noch schweigend auf dem Stuhl sitzen, berichtete meine Mutter.

In den folgenden 1 ½ Jahren besuchte ich die Familie Kunze noch einige Male. Ich brachte meine neuen Gedichte, trotzdem blieben die Kunzes stets freundlich. Eines davon hieß „Beim Lesen Schweriner Gedichte“, gemeint waren die Hervorbringungen des FDJ-Poetenseminars, das jährlich in Schwerin stattfand.

 

Beim Lesen Schweriner Gedichte

Ihr schwärmt

von duftenden

Mandelblüten

 

aber

 

die bitteren Früchte

dann

 

wollt

ihr nicht

 

essen

 

Das gefiel Reiner Kunze.

Im Spätsommer 1976 erschienen Die wunderbaren Jahre im S. Fischer Verlag Frankfurt/Main, er hatte die bitteren Geschichten gefunden und aufgeschrieben, darin auch der Text „Fahnenappell“, darin eingearbeitet die Materialien, die ich Reiner Kunze zur Verfügung gestellt hatte:

Montagmorgen stand der Direktor der Erweiterten Oberschule in X. in Uniform neben der Fahne – in der Uniform eines Offiziers der Nationalen Volksarmee, in der er den Appell nur zu bestimmten Anlässen abnahm. „Und es geht nicht“, sagte er, „dass ein Schüler die Offiziere der Nationalen Volksarmee als dumm und halbgebildet bezeichnet. Von diesen Schülern müssen wir uns trennen.“

(Der Leiter des Wehrkreiskommandos hatte N., Arbeitersohn und Schüler der elften Klasse, für die Offizierslaufbahn werben wollen. Ob er am Beispiel des Direktors nicht sähe, hatte der Leiter des Wehrkreiskommandos gesagt, wie allseitig gebildet Offiziere seien. N. hatte geantwortet, er habe eher den Eindruck, der Direktor sei „einseitig gebildet“: Seine Erziehungsmethoden bewirkten, dass in der Schule nur noch gelernt und kaum mehr gedacht werde.)

Die Fahne war noch nicht wieder eingeholt – das Einholen fand am Sonnabend statt –, als der Schüler N. gegen elf Stimmen und bei einer Enthaltung aus der Freien Deutschen Jugend ausgeschlossen wurde.

 (Vorher hatte eine Elternbeiratssitzung stattgefunden, nach der Eltern ihre Tochter aus dem Bett geholt hatten. „Dass du ja nicht für den stimmst! … Dass du ja nichts zugunsten von dem sagst! …“ Der Elternbeiratssitzung waren Klassenversammlungen gefolgt: „Wer für N. stimmt, entfernt sich vom Standpunkt der Arbeiterklasse.“ Schließlich hatte jeder der Schüler, die als Diskussionsredner ausgewählt worden waren, eines der schwarzen Steinchen zugeteilt bekommen, aus denen das schwarze Bild zusammengesetzt werde sollte: Überheblichkeit… Thesen zur Verunsicherung der Mitschüler… Radikale Ansichten. Dabei hatte eine Schülerin enttäuscht, indem sie gefragt hatte, wieso dann N. würdig gewesen wäre, Berufsoffizier zu werden.)

Dreimal noch duldete es die Fahne, dass der Schüler N. unter ihr stand, während sie aufstieg, mit zunehmender Höhe immer gemessener, um die Mastspitze exakt beim letzten Fanfarenstoß des Fanfarenzuges zu erklimmen. Dann wurde N. vom Unterricht beurlaubt. Seines nächsten Freundes nahm sich der Klassenlehrer an. „Wenn Sie den von unserer Seite abgebrochenen Kontakt zu N. aufrechterhalten sollten, können wir ganz leicht den Kontakt zu Ihnen abbrechen.“

(Der Leiter des Wehrkreiskommandos sagte zur Mutter des N.: Ich habe die Äußerung Ihres Sohnes weder als Beleidigung meiner Person, noch als Beleidigung der Offiziere der Nationalen Volksarmee empfunden. Aber ich kann Ihnen in diesem Fall nicht helfen.“)

 In Berlin wurde dem Antrag der Schule auf Relegierung des Schülers N. stattgegeben.

(„Ich teile Ihnen hierdurch mit, dass Ihr Sohn… von allen Erweiterten Oberschulen der Deutschen Demokratischen Republik ausgeschlossen wurde. Die Gründe und Ursachen sind Ihnen bekannt. Wir hoffen, dass diese Maßnahme dazu führt, dass Ihr Sohn… zur Einsicht kommt in Hinblick auf sein Verhalten gegenüber den Anforderungen, die an einen jungen Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik gestellt werden müssen.“)

Zu bestimmten Anlässen steht der Direktor der Erweiterten Oberschule in X. in Uniform neben der Fahne.

Dann ging alles irgendwie sehr schnell, auch in meiner Erinnerung: Ausschluss Reiner Kunzes aus dem Schriftstellerverband im Herbst 1976, seine endlosen Kämpfe gegen die jetzt gegen ihn und seine Familie gerichtete geballte Macht des Staates. Umsonst schon wartete ich in Freiberg vor einer Kirche auf ihn; die Veranstaltung der Evangelischen Studentengemeinde fiel aus. Reiner Kunze durfte keine Lesungen mehr halten. Ein Kesseltreiben gegen ihn hatte eingesetzt. Und noch immer hatte er die Kraft, trotz seiner Erkrankung, ein Einschreiben an Honecker zu schicken:

… Meine dringende Bitte, helfen Sie zu verhindern, dass dem jungen hochbegabten Schriftsteller Jürgen Fuchs und all den unbekannten Bürgern in der DDR, die sich im Zusammenhang mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns und meinem Ausschluss aus dem Schriftstellerverband eine eigene Meinung gebildet und diese geäußert haben, weiterhin Leid zugefügt wird…

Am 13. April 1977 verließ die Familie Kunze die DDR. Ich schrieb das Gedicht „Thüringische Legende“, einen Abschiedsgruß:

 

THÜRINGISCHE LEGENDE

für Reiner Kunze

Einen hat man

vertrieben.

Dem zog der Jasmin nach.

 

Er ließ aber noch stehen

ein Glas Tee aus Schweigen

das keiner mehr Zeit fand

auszutrinken

bevor es bitter war.

 

Geschrieben wenige Tage nach der Ausbürgerung der Familie Kunze aus der DDR und aus Greiz…, im Herbst 1979 wurde ich dafür und wegen vier anderer Gedichte der Staatsfeindlichen Hetze angeklagt und im Frühjahr 1980 nach sechs Monaten Untersuchungshaft beim Staatsicherheitsdienst auf dem Kaßberg in Karl-Marx-Stadt zu 27 Monaten Gefängnis verurteilt. Im Verhör fragte mich der Stasi-Vernehmer, ein Major: „Wer ist denn dieser Jasmin, Rachowski!?“.

Keiner meiner Bekannten und Freunde, die über meine Zu-Arbeit zu Reiner Kunzes „Die wunderbaren Jahre“ bescheid wussten, verriet mich an das Ministerium für Staatssicherheit, auch nach tagelangen Verhören nicht. Es hätte mir einige Jahre Gefängnis zusätzlich eingebracht. Diese Freunde waren wirkliche Freunde.

 

III

Im späten Herbst 1979 begab sich eine Rentnerin aus Reichenbach im Vogtland auf Verwandtenbesuch nach Hessen, sie benutzte den sogenannten „Interzonen-Zug“ von Warschau nach Frankfurt am Main, der am Nachmittag jeden Tages wie selbstverständlich auch in Reichenbach im Vogtland hielt. „Im traurigen Monat November war’s / Die Tage wurden trüber, / Der Wind riß von den Bäumen das Laub, / Da reist sie nach Deutschland hinüber…“, bin ich versucht zu sagen. – Aber das wusste ich nicht, kannte nur Heines Eingang zum „Wintermärchen“ , und das Einfärben der Blätter an den Bäumen hatte ich in diesem Herbst 1979 nicht mehr sehen können und miterleben, denn ich saß seit meiner Verhaftung an einem frühen sonnigen Oktobertag in einer Einzelzelle mit Glasziegel-Fenstern des Stasi-Untersuchungsgefängnisses Karl-Marx-Stadt und wartete auf das täglich mehrstündige Verhör.

Die mit der Mutter meiner Schwägerin befreundete Rentnerin aber kam an diesem Tag im November gut über die innerdeutsche Grenze bei Eisenach, nur wenig kontrolliert von den mit Bauchläden und Fahndungsbuch durch den Zug patrouillierenden Uniformierten, die auch nicht versäumt hatten, wie immer, ihre Schäferhunde über die gesamte Länge des Zuges unter den Waggons entlangzuschicken. – Und doch war es geschehen, dass dem Gesicht der Rentnerin und besonders den Wangen während der Kontrolle ihres Ausweis-Dokuments eine leichte Röte angeflogen war, über deren Ursache sie sich in vollem Bewusstsein befand, nicht etwa Scham, zu schämen hatten sich in diesen Zeiten, die es nicht taten, sondern nacktes Erschrecken, keineswegs aber Angst, war in diesem Moment über ihren Mut gekommen. Vielleicht dämpfte, so hoffe ich noch immer, ihren jetzt leicht beschleunigten Herzschlag zumindest optisch ein wenig, und daher für die Uniformierten unsichtbar, gerade der in ihrem Mantel eingenähte Brief, den sie mutig aus den Händen meiner Verwandtschaft an sich und schließlich mit auf ihre Reise genommen hatte. Über diese Grenze. Auf dem Umschlag war ausgewiesen als Adressat: Herr Reiner Kunze – über S. Fischer Verlag – Frankfurt am Main. In Hessen bei ihrer Verwandtschaft angekommen, klebte die Rentnerin auf den, nun aus dem Futter ihres Mantels herausgetrennten Brief, eine Marke, ohne sich vielleicht um deren Motiv weiter zu kümmern, und schickte ihn auf seinen, den ihm bestimmten Weg. Der Brief erreichte seinen Adressaten, und der Dichter Reiner Kunze erfuhr, dass ich im Gefängnis saß unter dem Vorwurf der „staatsfeindlichen Hetze“, wegen meiner Gedichte.

Viele Male fuhr Reiner Kunze damals dann mit dem Nachtzug den langen Weg von Passau nach Bonn, um mit beginnendem Tag dort beizutragen innerhalb einer Kommission, deren Vorsitzender zu dieser Zeit gerade Helmuth Kohl war, die politische Häftlinge der DDR auf eine Liste für Verhandlungen setzte, um deren „Freikauf“ zu erreichen. – „Sie sind der Fünfzehnte, den wir raushaben!“, schrieb mir Reiner Kunze später auf einer ersten Postkarte, als ich nach einem Jahr und zwei Monaten in den Gefängnissen von Karl-Marx-Stadt und Cottbus endlich nach Westberlin gelangt war.

Diese erste Postkarte nach meiner Entlassung und Ausbürgerung bewahre ich natürlich: „Das schönste Weihnachtsgeschenk für uns“ ,schrieb Reiner Kunze darauf, und Elisabeth Kunze hängte eine Postanweisung über 300 D-Mark an. Dann ein erstes Wiedersehen in Westberlin, in der Fontanehalle in Reinickendorf. Reiner Kunze las vor 400 Menschen. Immer wieder sporadischer Briefwechsel. Ich schickte ihm meine ersten Erzählungen, die im Westen entstanden waren. Er riet mir, mich „von nichts und niemanden irgendwie zu einer Art Produktion bewegen zu lassen, schreiben Sie nur, was Sie schreiben müssen“, und: „Wovon wollen Sie leben?“ Eine Frage, die ich in den Wind schlug, und wie dieser Fehler mir 10 Jahre lang schwer auf die Füße fiel. Ich wusste es nicht. Später fragte das Kreuzberger Finanzamt bei mir an, nachdem ich meine Einkünfte gemeldet hatte, wovon ich überhaupt leben würde. Von Freundschaft, Liebe und Zigaretten. Das aber, teilte ich weder den Kunzes noch dem Finanzamt mit.

Immer wieder kamen die Ermutigungen der Familie Kunze, wenn ich ein neues Buch von mir schickte oder auch nur ein einziges Gedicht: „Von Ihnen lesen wir immer gern Neues!“, schrieben sie. Von diesen und den Ermunterungen anderer Kollegen, wie Hans Joachim Schädlich, Wolf Biermann und Bernd Jentzsch, lebte ich auch.

Jürgen Fuchs erzählte mir in seiner Tempelhofer Küche, wo ich beinahe täglich zu Gast weilte, Am Sonnenhang, im Garten der Familie Kunze, hätte jemand alle frisch gepflanzten jungen Bäume dicht unter der Oberfläche in der Erde durchgeschnitten. Sie seien daraufhin verdorrt, ohne dass die Ursache anfänglich zu erkennen gewesen sei. Den Fuchsens schickten diese gleichen Leute Rattenvertilgerfirmen und Pornohefte ins Haus. Die Aufbewahrungsorte meiner Manuskripte in dem Kreuzberger Hinterhaus, wo ich mit Christian Kunert von der Renft-Combo und dem Dichter und Liedermacher Salli Sallmann lebte, wo auch Manfred Krug, Veronika Fischer und Roland Jahn ein- und ausgingen, unsere Wege, unsere Besuche, alles fanden wir akribisch aufgezeichnet, als wir sehr viel später die über uns angelegten Akten einsehen konnten, es war eine Zeit, etwas wie Krieg. Etwas, was auch die Freiheit unseres neuen Lebens mit einem ständigen Schatten belegte und ein anfängliches Aufatmen, zumindest für mich, bald wieder erstickte.

So nahm ich den Fall der Berliner Mauer im November 1989 auch als persönliche Befreiung wahr, meine Leute, die aus dem Osten, befreiten mich aus dem Westberliner Getto, meinem deutschen Exil. So empfand ich das und sehe es noch immer so. Nach über 10 Jahren durfte ich meine Mutter und die Familie meines Bruders wiedersehen.

Mit Elisabeth und Reiner Kunze führten mich neben dem sporadisch geführten Briefwechsel immer auch wieder Veranstaltungen und Lesungen zusammen, zu denen wir eingeladen wurden. Unvergesslich ein Kolloquium in Chemnitz zum Thema „Böhmen am Meer“. Nach dem ersten langen Tag dort, am Abend beim gemeinsamen Ausklang mit einem Glas Wein, viele Kollegen, auch Wissenschaftler, saßen mit am Tisch, sagte Reiner Kunze plötzlich mitten in die große Runde hinein, beinahe wie aus heiterem Himmel und ohne eigentlichen Anlass: „Utz Rachowski ist mein Kollege, wir kennen uns lange Zeit, wer ihn angreift, der greift auch mich an“. Beinahe ist es mir peinlich, dies hier aufzuschreiben, in diesem Bezug auf mich selbst, aber so ist Reiner Kunze: fürsorglich schützend. Vorsichtshalber auch für Zukünftiges, wenn die alten Funktionäre und Seilschaften ihr Medusenantlitz wieder erheben würden. Gegen ihn und gegenüber seinem Kollegen.

Ich habe ein sehr persönliches Dichtergestirn an Vorbildern: Jürgen Fuchs war für mich immer der nahe Freund noch aus der Schulzeit, mit dem ich durchs dicke und dünne Leben ging, und der mich auch mal zurechtweisen durfte, Wolf Biermann immer der warmherzige Kumpel, dem man einfach verzeiht, dass er wie ein Planet stets um sich selbst kreist, und wir Jüngeren sind nur seine Trabanten, Hans Joachim Schädlich ist der nahe und kluge und witzige Gesprächsfreund bei regelmäßigen Treffen in Berlin zum gemeinsamen Mittagessen, zum Nachtisch lästern wir natürlich ein wenig über Kollegen, die dies verdient haben.

Reiner Kunze aber und seine Gattin sind für mich von Anfang an gewesen – und geblieben – die warmen gebenden Menschen, sehr nahe und doch auf beinahe verklärte Weise in jener Distanz, diesem Abstand, der das umfassend wahrnehmende Aufschauen zu einem Menschen erst möglich macht, die mir Hoffnung, Schutz und Sinn gaben, vorlebten, dass es Sinn hat und ein einmalig gegebenes Glück ist, auf der Welt zu sein und deren vielfältigen Anfeindungen zu widerstehen.

Dafür danke ich Ihnen in Liebe, den Sinnstiftern auf sensiblen Wegen, Elisabeth Kunze und Reiner Kunze.

Nachsatz:

Jetzt wird Jörg Bernig als nächster vortragen, der Freund, Autor und Literaturwissenschaftler, und für morgen rufe ich Ihnen, lieber Reiner Kunze, schon mal ermutigend zu:

NACH UNS DIE GERMANISTIK!

 

 Reichenbach und Dresden im Mai 2013

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Jun 05 2015

Margrit Zinggeler

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The “Eastern European Memory” in Contemporary German Swiss Literature

Abstract

The culmination of the “Eastern Turn” in German Literature is certainly the awarding of the Nobel Prize in Literature to Herta Müller in 2009. The concept of the “Eastern Turn” can be further contextualized and theorized in the works of a plethora of authors who have recently received prestigious literary prizes, among them several Swiss authors with Eastern European origins. In this article, novels by authors who immigrated with their parents at a young age to Switzerland are analyzed with a focus on memory narratives and sensorial perceptions of early childhood experiences and perceptions in Eastern European countries. The concept of the “Eastern European Memory” represents a syllogism of these narratives. The second generation, called Secondas and Secondos in Switzerland, searches for an identity in a transcultural space where the parental heritage and language collide within a system that is marked by a diglossic German language situation and a divided society on topics of migration and European integration. The gyration of these circumstances can release a narrative force that constitutes a literary “Eastern European Memory” coupled to a distinct Swiss socialization process.

There is no perception which is not full of memories.

Henri Bergson

 

The phenomenon of what I attempt to define as “Eastern European Memory” or curtailed to “Eastern Memory” in Swiss literature is embedded in the concept of the “Eastern Turn” in contemporary German literature (Haines 2008). Haines discusses a common “provisional unity” in texts written by authors with Eastern European roots by extracting “[…] five sweeping generalizations concerning content, point of view, authorial intent, marketability, and form.” Furthermore, she lists other similarities, “[…] a lived reality of communist rule, […] migration westwards, […] disillusionment with life during […] the liberation of the east, […] conflicts in Yugoslavia, […] and the disorientation of life in post-Cold War Europe today.” These topoi permeate novels and stories by authors writing in German reflecting on their life as a migrant and the sufferings of their families in Eastern European countries, as also described by Biendarra (2012). A critical framework for reading German transnational literature is developed on both sides of the Atlantic. (e.g. Khattab 2012 and Trousdale 2010) A focus on the specific concept of “The Eastern Turn in German-Language Literature” will be the published in a forthcoming special edition of German Life and Letter, edited by Brigid Haines and Anca Luca Holden.[1] Recently, several authors writing from an Eastern perspective have been awarded German literary prizes: Terésia Mora (Deutscher Buchpreis 2013), Saša Stanišić (Preis der Leipziger Buchmesse 2014), Katja Petrowskaja (Ingeborg Bachmann Preis 2013), Sybille Lewitscharoff (Georg Büchner Preis 2013). Although this corroborates the phenomenon of the “Eastern Turn,” in German literature, the term itself is only conceptualized by Haines and Holden.[2]

Because several Swiss authors with Eastern European origins have also been awarded prestigious literary awards, I would like to move beyond the textual and meta-textual content and ask what other aspects constitute literary excellence in the narratives by so many Eastern European migrants—and also by the second and third generation? Why are their stories so compelling and why do authors with an Eastern European background have such a command and mastery of language of the German language, which is the second language of the writer? I focus my investigation on recent contemporary, top-award winning writers with an Eastern European origin in German-speaking Switzerland where authors face an additional language barrier besides the dichotomy between an Eastern-European mother-tongue and German, namely the diglossic situation of regionally (not socially) defined dialects (Mundart). Schwyzertütsch (Swiss German) is used for all forms of oral communication in Switzerland, while the standard German language or High German is the common writing system (Schriftsprache). The diverse, oral Swiss dialects — written only to express Helvetic idiosyncrasies and in a small local “Mundart“ literature — are very distinct from the standard German language. The fact that migrants learning German cannot at first understand the Swiss and have to use the stylized-sounding High German for oral communication adds to a gulf between the native Swiss and the migrants. Overall, the Swiss do not like to speak High German, although it is the language of instruction at schools and universities, as well as formal communication on TV and Radio, where many broadcasts are also in dialect. This dilemma has been an everyday reality for centuries in the multilingual country that has four national languages (German, French, Italian, and Romansh), and Switzerland has always been — a fact, which is often forgotten — a country of immigration because it was spared by wars and because of its neutral status. Nevertheless, a referendum to curb immigration was accepted in February 2014 by a slight margin, which was highly criticized by the EU with whom Switzerland has an agreement of free movement of persons.

The emergence of an “Eastern European Memory” in German Swiss Literature after the Second World War began with Erica Pedretti who was born in 1930 in Šternberk (or Sternberg), the former Czechoslovakia. She came to Switzerland in 1945, but only received asylum in 1952 when she returned from the U.S. and married Swiss artist Gian Pedretti with whom she has five children, a fact that cannot be overlooked since telling the family story to the next generation often is an impetus to write. She began writing about her childhood memories of war-torn Warsaw, Poland, Auschwitz, and Prague in the 1970s. She has received many literary prizes, such as the Ingeborg Bachmann Prize in 1984 and the Maria Luise Kaschnitz Prize in 1996; most recently she was co-awarded the Swiss Book Prize in 2013. Pedretti is also an accomplished artist and sculptor (one of her large works is displayed in Zurich Airport). In all her works, memories of war, flight, and the loss of “Heimat” are expressed by what she defines as a method of palimpsest (in her essay “Schreiben & Überschreiben”), which she also applies in many of her art work (e.g. painting on newspaper). Her texts distinctly belong to the genre of Erinnerungstexte. They are spawned by the “Schwierigkeit, mit etwas fertig zu werden” (the difficulty to come to terms with something)[3] (Heiliger Sebastian 10), namely the haunting memories of what happened in Eastern Europe: the advancement of Russian troops, the deportations and internments, the psycho-terror of control, the murders, the suicides in the family, the rape of women, and life in exile. “Do you remember” (inserted in English into the text) is a sentence that the protagonist Anne deeply hates in Heiliger Sebastian, yet it is exactly this question that stirs up the detritus of history influencing her life and art, reflecting Pedretti’s own autobiographical experiences.

“Wie kommt man um Erinnerungen, um etwas, das war, herum? Nur ein Versuch, jetzt und hier zu sein, jetzt von hier zu sprechen, wenn das möglich wäre […]” (Heiliger Sebastian 78) (How do you get around memories, avoid something that was? Only an attempt to live in the present and speak, here and now, if that would be possible […]).

Practically all texts (and art works) by Pedretti represent attempts to come to terms with her haunting Eastern memories; they cause the reader to reflect on their own lives and memories which consequently fuse with the fictional figures through Pedretti’s style that seeks to trigger a wave of remembrance through fragmentary images — a form of collage — mixed with historical facts, but also with gaps, and distinct, repetitive questions that remain unanswered in the narrative that speaks to the senses of the reader who could feel trapped in the mesh of autobiographical fiction and historical remembrance. Cocalis evaluates the style in Pedretti’s text Engste Heimat as follows:

 There is no coherent narrative line, but rather a series of themes or images drawn from childhood memories […]. One message of the book is that no matter where one currently lives, one’s Heimat will always remain in the memories of childhood, which one must endeavor to preserve, regardless how painful such memories might be (Cocalis 782).

How do memories become words is a central topos in all ten books and a myriad of other texts by Pedretti which she most often connects to fragments of childhood experiences and correlates to open questions to the reader challenging him/her to come up with an answer. Memories are not imaginations; memories are based on sensorial experiences. “[…] the senses operate in relation to each other in a continuous interplay of impressions and values.” (Howes 47). I base my further investigation of literary texts by authors with Eastern-European roots on Howes’ theories of sensual relations since Pedretti’s texts and art epitomize the convergence of memory and text.

At the same time as Pedretti’s first publication of stories and novels based on her Eastern memories, Elias Canetti (1905-1994), another memoirist made his home in Switzerland. Like Pedretti he also became a Swiss citizen. He received the Nobel Prize for Literature in 1981. Although Canetti spent only six years in his native Bulgaria, he later wrote vividly about his Eastern impressions in his autobiography (published in 1977). He processes sensory images of his childhood environment, and he specifically elaborates on language acquisition and formation in Die gerettete Zunge since he meandered through many languages due to the constant emigrations forced upon him by the wars and political crises in twentieth-century Europe.[4] He attended the “Gymnasium” in Zurich from 1916-21 and then lived from the 80s until his death in 1994 in Zurich where he was always exposed to the Swiss diglossic language situation. The titles of the second and third volume of his autobiography also allude to the senses or sensory perceptions, Die Fackel im Ohr (The Torch in my Ear) and Das Augenspiel (The Play of the Eyes), as well as other texts such as Der Ohrenzeuge: Fünfzig Charaktere (Ear Witness: Fifty Characters) and Die Stimmen von Marrakesch (The Voices of Marrakesh). As we shall see below, sensory perceptions from early experience in the heritage culture and language(s) mixed with the culture(s) and language(s) of the adopted country are crucial for the development of narrative forces, even though topics such as the dislike of foreigners and an inner identity crises from living in between cultures — which occupy the public discourse around migration as well as migration literature today — are not explicitly expressed in Canetti’s writings. (Sievers 307)

Since then, a rich palette of contemporary Swiss authors with Eastern European origins have exerted a strong influence on the quadri-lingual Swiss literatures in the 21st century. In the German part of Switzerland, women writers such as Christina Viragh (from Budapest, Hungary), Dragica Rajčić (born in Croatia), Irena Brežná (from Bratislava, Slovakia), and Zsusanna Gahse (Hungary) are challenging the controversial, political discourse around migration, neutralization, integration, and citizenship in their novels written in a protean, poetic language.

Writers Ilma Rakusa (Slovakia), Melinda Nadj Abonji (Serbia), Catalin Dorian Florescu (Romania), and Erica Pedretti (former Czechoslovakia) have all been awarded the prestigious Swiss Book Prize since its inception in 2009. Melinda Nadj Abonji also won the acclaimed German Book Prize in 2010 for her debut novel Tauben fliegen auf for which she additionally received the Swiss Book Prize a few weeks after the success at the “Frankfurter Buchmesse.” These honors were unexpected, yet much celebrated sensations and a reassurances of literary excellence influenced by painful “Eastern Memories,” notably also in the light of the award of the Nobel Prize in Literature to Herta Müller in 2009.

Years before Herta Müller received this highest literary recognition in the world for her writing, she spoke at a poetic symposium in Zurich in 2003 about her early memories influenced by “die genaue Liebe, die Zugehörigkeit und der Diwan im Zimmer des Grossvaters” [precise love, belonging, and the sofa in grandfather’s room] in the

 fingerhutkleinen Dorf mit den dreihundert Hausnummern, sieben Gassen, symmetrisch wie die Rippen der Bewohner und derart flach, dass der Himmel jeden Pflasterstein sah und wie ein Glaskasten von der Stelle unten ganz zu sehen war, (da) kannte jeder jeden (everybody knew everybody in the thimble sized village with three hundred house numbers, seven streets, symmetrical like the ribs of the villagers, and it was so flat that the sky saw every cobble stone from underneath like through a glass box.)

She describes how her father brings each newborn calf into the house and puts it on the bed of her grandfather who was paralyzed for the last nine years of his life. She quietly watches her grandfather, and her mind races, her brain burns with pity and disgust, which she later experiences again and again when she was interrogated and psychologically tortured by the communist state police. Because Müller’s poetic lecture was reprinted in its entirety in the Neue Zürcher Zeitung (2003), her influential comments on memory and language are included in this article. Müller describes how she learned Romanian in the factory.

 “Ich lernte dieses sinnliche Alltagsrumänisch, es schmeckte mir beim Reden, als würde ich Wörter essen, nicht bloss sprechen. Ich habe nie auf Rumänisch geschrieben, aber das Rumänische aus dieser Fabrik wird in meinem Deutschen immer mitgeschrieben.” [I learned this sensuous, everyday Romanian (language) which tasted as if I would eat and not just utter the words when speaking. I have never written in Romanian, but the Romanian language from the factory will always be incorporated in my German writing.]

In another essay of the same year, she states that “In jeder Sprache sitzen andere Augen” (in every language, different eyes are seated) and “Wenn ich Gelebtes in Sätze stelle, fängt ein gespenstischer Umzug an. […] Die Innereien der Tatsachen werden in Wörter verpackt, sie lernen laufen und ziehen an einen beim Umzug noch nicht bekannten Ort.” (When I put experiences into sentences, a ghostly procession begins. […] The innards of facts are packed into words, they learn how to walk and they proceed to a territory, which was unknown when the move began). “Über diese Orte schreibe ich” (about these places I write) (Neue Zürcher Zeitung 2003), Müller says.

And she writes about what she saw, heard, and felt under Ceausescu’s dictatorship and the totalitarian state that wanted to drive her into self-destruction, a fate so many of her friends could not resist. She says that she loved the country but hated the state to which she belonged as a German-speaking minority.

 Es war das Ernstnehmen des Dazugehörens, welches das Dazugehören zerfetzte. Ich war wie mit dieser deutschen Minderheit auch in diesen rumänischen Gesprächen hinter oder vor einer verschlossenen Tür, hinein- und herausgesperrt in einem. (It was the seriousness of the belonging that slashed the belonging. I was with this German minority also in these Romanian interrogations, behind and in front of a closed door, locked in and locked out at same time.)

In this poetic lecture from 2003 in Switzerland, Herta Müller practically laid open her Eastern memory, its correlation to her, and what compelled her to write and not keep silent about where “her head” and “her feet go.” While wanting to let go of her small village in the big valley, she gets more and more sucked into love, disgust, and fear because of the perfidiousness expressed to her by the Banat-Schwabian villagers. “Das Kalb, der Diwan, der Gelähmte und ich — dieser Ort wurde zu meinem Schleudersitz.” (The calf, the sofa, the lame (her grandfather) and I — this location became my first ejection seat.) Again and again she experiences this ejection seat, it became a pattern, “eine einleuchtende Formel” (a plausible formula) as a reaction to the interrogations, psychological terror, surveillance, torture, and death threats.

Her Eastern memory extends into the consciousness of the West. Already in the nineties of the last century, critics waited for a text by Müller about her freedom in Berlin, about this free gift. “’Mir wird immer wieder die Frage gestellt, wann ich endlich über Deutschland schreibe. Ich habe jedes Mal Lust zu sagen: Schon die ganze Zeit, aber das merkt ihr nicht.” (Neue Zürcher Zeitung 2003, 66) (I am often asked the question when I’ll finally begin to write about Germany. I am always inclined to say: I do already, but you don’t realize it.)

Explicitly writing about her adopted country is Irena Brežná, who describes in Die undankbare Fremde (The Ungrateful Foreigner, 2012) — a much discussed, autobiographical book — about integration in Switzerland. The author/narrator expresses how “Swissness traumatizes” her Eastern Memory and how the Eastern Memory “traumatizes” her efforts to achieve an abiding Swiss identity respectively, although in the text she never mentions the word Switzerland or her native Slovakia where she was born in 1950, she addresses the latter as “mein Land” (my country) and the former as “das fremde Land” or “mein Mann” (18) to whom she is bound in a dependent relationship, never able to divorce. The narrator’s family arrived in a Swiss refugee camp just as Irena Brežná’s family did in 1968. The narrator describes the journey: “Wir ließen unser Land im vertrauten Dunkel zurück und näherten uns der leuchtenden Fremde.” (5) We left our country in the usual darkness and approached the glowing foreignness.) The officer in the refugee camp asks the family what their religion is. “Was für einen Glauben haben Sie?” (What’s your religion?) The parents were fearfully silent and then he asks the narrator, “Woran glaubst du, Mädchen?” “An eine bessere Welt.” “Dann bist du richtig bei uns. Herzlich willkommen!” (6) (And you, girl, what do you believe? In a better world. Then you are right here with us. Welcome!) These exact sentences are repeated on the last page (140) of the autobiographical narration. Within this structural frame a painful, personal integration story develops besides more tragic and disturbing stories of asylum seeking people from Eastern Europe displayed in italic letters. This form of meta-story (a narrative about the narrative) that the narrator tells are the stories that she has to translate on her job as a interpreter in court, hospitals, psychiatric institutions, schools, police stations, and prisons. They visibly cut by the means of the italic font into her own desperate personal attempts to come to terms with Swiss democracy and society.

Bei uns war alles durchlässig, die Türen der öffentlichen Toiletten ließen sich nicht schließen, wir waren nämlich ein einziger unteilbarer Körper. Und ich wurde von diesem Körper wegamputiert. Ein kleiner Finger hing lose im Weltraum. Äußerte ich meine Trauer, gab man mir zu verstehen, ich alleine sei schuld daran, dass ich nicht zurechtkam. Ich blieb störrisch und weigerte mich in der Zwangsehe mit dem Gastland glücklich zu werden. (35).

At home (in communist Czechoslovakia) everything was permeable, the doors in public restrooms could not be locked; we were indeed one single indivisible body. I was severed and amputated from the body. A pinky dangling in space. If I uttered my grief, I was told that it was my fault that I could not cope. I remained rebellious and I refused to be happy in the coerced marriage with my guest country.

Tenaciously, the author/narrator rebels against laws and flaws, customs and practices, and the malaise of everyday Swiss life and the real injustice and discrimination against foreigners. She generally reports factually to the authorities about her translation assistance in dealing with severe criminal and medical cases in hospitals and courts. Some of the migrants try to outsmart the system; they present themselves as suicidal in order to gain time or a plea for mercy against deportation. The narrator tries to justify her schizophrenic situation in wanting to help these people beyond the mere translation job; she even advises the authorities, yet repeatedly fails to distance herself from the psychological and physical pain of the refugees and asylum-seeking compatriots from Slovakia who came into conflict with the law because so many are traumatized by war, rape, abuse, human trafficking, and the lack of education; an inerasable “Eastern Memory” of many refugees. As the narrator’s own integration progresses, her translation job sets her back again and again, as if these cases of “Eastern Memories” re-infected her wounds by exposing them to a toxin so that they cannot heal. Throughout the book, however, the narrator does not relate and connect this infiltration of the other “Eastern Memories” with her own integration struggles, which constitutes a dramatic irony.

The narration is not without humor — “ich entdeckte erst hier, dass ich eine angeborene Sehschwäche für Schmutz hatte” (46) (here I discovered that I have a hereditary debility of sight since I do not see dirtiness) or “in diesem Land pflegte man fröhlich den Vorwurf, er war so geläufig wie bei uns das Kompliment” (57) (in this country, criticism and reproach is as celebrated as a compliment in my home country.) In the end, her wits and her “Lästermaul” (53) (scandalmonger) which stubbornly adheres to the High German language save the narrator. But the same cannot be said of her friend and fellow immigrant Mara with whom she rebelled against the pettiness of daily life in Switzerland while yearning to find love and recognition in the “husband”-land. Mara is killed in an automobile accident, perhaps metaphorically, because she “[…] hielt den Druck nicht aus, sie fing an Dialekt zu radebrechen[…]. Ihre Anbiederung schmerzte mich” (115) (she gave in and started speaking Swiss-German dialect […] her chatting-up made me sick.) Eventually, the “diktatorisch Geschädigte” (the dictator-damaged woman) —the narrator — becomes a citizen of Switzerland, a political activist, and a spokeswoman against discrimination — “sie wird heimisch im Fremdsein” (136) (she integrates with her foreignness) and she enjoys the ever more multicultural, multiethnic, multilingual realities in Switzerland. This book by Irena Brežná constitutes a valuable contribution to the integration discussions and transcultural tolerance supported by the Swiss Federal Office for Migration.[5]

In an analyses of “Transcultural Embodiment of the Senses and Sensorial Narratives” in Swiss Secondo[6]-Literature (literature by second generation migrants), the author shows that in order to come to terms with the immigrant background and the parents’ culture, many Secondas and Secondos feel compelled to write in order to give them a sense of control over the painful narrative of their family story. (Zinggeler 2011) These Swiss Seconda and Secondo narrators strikingly and deeply describe what their senses conceived from the culture of their parents. They feel the location they left behind (or re-visit), they see vivid images of ancestors, their homes and countries, they hear voices in the native tongue of their parents and relatives, they smell and taste the heritage culture through food and drink, their lives are touched by migration stories and coming to Switzerland where the same senses are overwhelmed with new perceptions and emotions. Secondas and Secondos write about their families’ struggle to integrate and their feelings and perceptions while finding an identity in a space where cultures collide and convolute. The dichotomy between the heritage culture and the multi-cultural, multi-lingual Swiss environment — both often experienced in a double schizophrenic manner — unleashes a desperate search for identity which can find itself in many cases only by writing. Writers such as Franco Supino, Francesco Micieli, Vincenzo Todisco, and Giuseppe Garcia who have Italian or Spanish roots, because their parents were hired as guest-workers during the economic boom in the sixties and seventies, tell their story again and again from a nexus space where the parental heritage culture and language collide with Swiss everyday realities and values, including the diglossic situation. Equally, writers who have one foreign and one Swiss parent (e.g. authors Martin R. Dean, Sabine Wen-Ching Wang, and Dante Andrea Franzetti) and many others who have migrated from countries around the globe to multicultural and multilingual Switzerland, find here a fertile ground to articulate their identity in stories and novels.

I now examine the concept of an “Eastern Memory” in the works of three award winning Swiss authors, Ilma Rakusa, Melinda Nadj Abonji and Catalin Dorian Florescu, in the context of the current socio-political Swiss culture that is deeply divided between conservative forces of the political right, the Swiss Peoples Party (Schweizerische Volkspartei) that opposes a possible European Union membership — the Swiss people have twice voted against joining the EU — and a global, open, hybrid Switzerland that embraces migration and the European spirit as an economic and cultural enrichment.

It is statistically extraordinary that four writers with Eastern European origins have consecutively received the Swiss Book Prize. Why have their narratives captured the evaluation criteria of the selection committee? Is the concept of an “Eastern Memory” somehow correlated to literary excellence?

Ilma Rakusa was the first author to be awarded the prestigious Swiss Book Prize in 2009 for her book Mehr Meer: Erinnerungspassagen (More Sea: Memories of Passages). She also received the Adelbert-von-Chamisso-Prize[7] in 2003. Rakusa was born in 1946, and she came with her family from Czechoslovakia to Switzerland in 1951. She studied Romance and Slavic languages and published several volumes of poetry and essays from her academic lectures at the University of Zurich. In all texts, her language is very poetic and lyrical. Short sentences and elliptical phrases alternate with slightly longer main phrases and sub-clauses where perceptions, feelings, and meaning erupt into literary aestheticism despite their stylistic brevity.

The volume Mehr Meer: Erinnerungspassagen consists of 69 “prose memories” as she calls the short stories. Her texts are predominantly autobiographically influenced and many describe Eastern European scenes and sensorial memories. Some chapters are clearly highlighted as relating Eastern European memories: “Budapest, remixed; Praha; Russische Tage.” Some titles of her short stories are based on Eastern European names: “Dostojewskij; Uliza Schwetschenka…, Konzerte mit Alexej”. The chapters include memories of visiting the hometown of the author/narrator’s mother, Rimavská and Maribor, where she visited her grandparents as a teenager. Rakusa’s memories are keenly connected to her olfactory sense, which researchers classify as “the strongest catalyst of memory” (Howes 2003, 53). Ilma Rakusa writes, “Das Vergessen, sage ich, macht um den Geruch einen Bogen” (315) (Forgetting, I say, forgoes smells), and for her, smelling is the most astute sense of remembering. “Wenn es nach Heu duftet, sehe ich hunderterlei Bilder aufsteigen” (When I smell hey, I see a hundreds of images emerging). Rakusa’s texts are imbued with smells invoking her culture of origin and visits to the cities in former communist Yugoslavia after the fall of the Iron Curtain, the places where her father grew up, and the Hungarian home town of her mother. In the first chapter of Mehr Meer, she tries to remember her father after he had passed away. She goes in the closet to smell his clothes and remembers fragments of the story of his life he told her only at one point, when walking in the woods; she concludes:

Der Osten war unsere Bagage. Mit Herkunft und Kindheit und Gerüchen und dicken Pflaumen. Mit Braunkohle und Ängsten und Dampfloks und sukzessiven Fluchten. Wir kamen von DORT und kappten die Verbindungen nie. Nicht zu den Weinbergen zwischen Podgorci und Jeruzalem, nicht zu den Freunden an Drau und Mur, auch nicht zu den Hügeln von Rimaszombat, das nun offiziell Rimavaská hieß. Die Regime waren eines, die Topographien ein anderes. Die Sprachen, die Speisen, die Gesten. Gefühlsalphabete. Vater rechnete sein Leben lang auf slowenisch.

The East was our baggage, filled with provenience, childhood, smells, and thick plums, filled with brown coal and fears and steam engines, and with successive flights. We came from over THERE and never severed the connections. Not with the vineyards between Podgorci und Jeruzalem, not with our friends on the Drau and Mur, nor the hills of Rimaszombat, which is now officially called Rimavaská. The regimes were one side, the topographies the other. The languages, the food, the gestures. Alphabets of emotions. Father calculated in Slovenian all his life.

Rakusa also remembers visits by Hungarians and fellow Yugoslavians at her parent’s home in Switzerland where ethnic Eastern European food was served, a healing feast for the senses that deeply affected the narrator who grew up with three languages that spawned her poetic talents and turned her into an award winning author of the “Eastern Memory.”

Melinda Nadj Abonji was born in 1968 in Bečej, Serbia, into an ethnic Hungarian minority group. She migrated with her parents to Switzerland in 1974 (when she was five years old; the same age as Ilma Rakusa which seems to be relevant concerning first and second language development). Abonji was awarded the German Book Prize for her first novel Tauben fliegen auf in 2010, followed by the Swiss Book Prize in November of the same year. The novel is highly influenced by the autobiography of her family, her immigrant parents, who eventually became Swiss citizens and proprietors of a cafeteria on Lake Zurich. Her sister and extended family in Serbia are all figures in the narrative.

The writing style in Tauben fliegen auf is unique and challenging: long sentences with trails of sub-clauses, inserted sentences (sometimes in parentheses), direct speech without quotation marks, questions and exclamations, ellipses, associations, flashbacks, and sudden pronominal changes, garner her a distinct structural style. The selection of words, metaphors, similes, symbolism, and allegories, in the 315-page narrative are astonishingly rich and astute, but Abonji also combines simple phrases into a long train of thoughts.

[…] erst als der Zug wegfuhr, habe ich begriffen, dass das der wirkliche Abschied war und nicht der in der Vojvodina, als all unsere Verwandten uns besucht haben oder wir sie […]; jetzt, wo Sie im Zug wegfuhren, war es so, wie wenn meine ganze bisherige Welt von mir wegfahren würde, Ihr Haus, Ihr Garten, die geliebten Tiere, der Staub und Dreck, der bleiche Herr Pfarrer in seiner dunklen Kirche, das Stimmengewirr auf dem Markt, der schwere, süsse Duft nach frischen Pfannkuchen, Palatschinken, Onkel Piris Augen, die schönsten Augen der Welt, so fanden Nomi und ich, Tante Icu, die uns mit Süssigkeiten verwöhnte, an den Wochenenden, die wir bei ihr und Onkel Piri verbrachten, damit sie die frühe und späte Messe besuchen konnten; ich habe mit einem Mal alles vermisst, die lauten Stimmen der Menschen, die ihre Zähne zeigten, die staubigen Strassen und die Pappeln, die Pappelblätter, die so zärtlich waren mit der Luft — ich habe alles, was ich geliebt habe mit ihrer Abreise verloren […]. (276-277)

[…] only when the train had left, I understood that this was the real good-bye and not the parting in Vojvodina when all our relatives had visited us or we them […]; now that she left by train it was as if my entire, hitherto world exited from me, her house, her garden, the beloved animals, the dust and dirt, the pale priest in his dark church, the cacophony of voices in the market, the heavy, sweet aroma of fresh pan cakes and omelets, uncle Piris’ eyes, the most beautiful eyes in de world Nomi and I think, aunt Icu who spoiled us with sweet treats on weekends when we visited her and uncle Piri, so that she (Mamika) could attend the early and late mess; I have immediately missed everything, the loud voices of people who showed their teeth, the dust filled streets and the poplar trees and their leaves gently swaying in the air—with her departure I have lost everything that I loved.

The narrative depicts the struggles of a migrant family who moved from Hungarian-speaking Serbia to Switzerland in 1974, as told by the older daughter in a concatenation of episodes that resemble an intermittent stream of consciousness. In addition, Abonji inserts historical events, travel stories, war stories, a love story, and snapshot images of Swiss society and of the migrant milieu into the main narrative.

The novel is structured into fourteen loosely connected chapters that were written by the author over six years. Although the single chapters could stand alone as short stories, they constitute a coherent narrative. They have similar characteristics, including a consistent writing style and the unchanging narrative voice. The novel tells of a search for identity, triggered by a string of clashes with the parental culture, experiences with racism and xenophobia in Switzerland, and a feeling of bifurcated displacement in a space (defined as the Secondo Space; Zinggeler 2011) where the sensory experiences are permeated with conflicting social and generational values.

Abonij’s topoi derive from perceptions of society around her, infused with her Eastern memories since she and her sister were left with their grandmother in Serbia for two years until they could join their parents in Switzerland. The affinity with the Serbian homeland is associated with her maternal grandmother, her life story and family connections, and eventually her death, a loss that deeply affected the protagonist. The narrator keenly transforms the intensity of her feelings into melodious sentences. “I cannot write about Africa or England, but about lives caught up in the evident antagonism between the migrant milieu and the Switzerland of the political right,” Melinda Nadj Abonji told me in an interview on June 25, 2010, when her second book, the award-winning novel, was in print and its reception unknown. As a musician as well as a writer, she also stressed that the rhythm and melody of a sentence is as important for her as the inherent meaning of words.

In the novel Tauben fliegen auf, Abonji — the author/narrator — describes how as a child, she loved to read, feel, and hear the High-German (standard) language. She read aloud to contrast words and structures with the spoken Swiss-German dialect. She continues that the German she writes is influenced by the paternal Hungarian language, and a faulty “Yugo-Deutsch,” which adds humor and wit to the idiosyncratic word and syntax creations. She also mentions that one of her relatives thinks that she writes “Hungarian in German,” probably in terms of sentence structure and word choices. Hearing the sounds of the Serbian low land where the family returns to visit the native Vojvodina and the voices of the Hungarian minority of her ancestors as well as of fellow migrants in Switzerland, and of her beloved grandmother Mamika, “die mit ihrer Stimme den verborgensten Winkel jeder Seele erreicht” (whose voice reaches to most secret corner of every soul), all play a key role in the “Eastern Memory” of this author.

Anthropologist Marshall McLuhan’s concept of the “acoustic space“[8] might shed a light on why many Swiss Seconda/Secondo writers hear the voices of ancestors. This phenomenon is a powerful sensorial imagery in many of the narratives by Secondas/Secondos. McLuhan states that the act of hearing itself creates an ‘auditory space,’ because we hear from every direction at once. “Yet even intelligent and, especially, literate people flee from the very idea of ‘auditory space,’ because, naturally, it cannot be visualized. […] auditory space contains nothing and is contained in nothing. It is quite unvisualizable, and, therefore, to the merely print-oriented man, it is ‘unintelligible.’”[9]

When Secondas and Secondos first hear the story of their family background, they often feel coerced or guided to fill this void by imagining the foreign places and absent people that are sounding and resounding in their minds. Hearing another language within the family increases auditory sensibilities as sounds are central to making sense and to knowing or exploring the truth about the family background. Constantly hearing two languages interlocks the soundscapes in what Zinggeler defines as the Secondo-Space.

Sounds that are often perceived as voices or a calling also emanate from nature and places. Steven Feld (in Howes 2005) theorizes about these interrelationships of sound, space, and time in his definition of acoustemology.

Acoustemology means an exploration of sonic sensibilities, specifically of ways in which sound is central to making sense, to knowing, to experiential truth. This seems particularly relevant to understanding the interplay of sound and felt balance in the sense and sensuality of emplacement, of making place. For places are as potentially reverberant as they are reflective, and one’s embodied experiences and memories of them may draw significantly on the interplay of that resounding-ness and reflectiveness (Feld in Howe 185).

Therefore the ”experience of place potentially can always be grounded in an acoustic dimension as acoustic time is always spatialized, sounds are sensed as connecting points up and down, in and out, echo and reverb, pointsource and diffuse; […] sounds are heard moving, locating, placing points in time” (Feld 185). In the absence of a first-hand memory of the place of family origin, this constellation often causes confusion in Secondas and Secondos who hear the ancestral language and sounds of the heritage culture. Therefore, many turn to writing to record these sound perceptions in words of their own (German) language. The narrator in Tauben fliegen auf, for example, uses the voice of her grandmother Mamika to tell of their father’s first marriage (74f.), the relationship between her two sons, as well as their political entanglements with socialism (74-79) and how their father and mother met (82f.). The narrator often depicts her father’s voice and describes how he swears in his native tongue. It always has a profound effect on the narrator.

[…] er muss seinen Flüchen freien Lauf lassen, die Wörter, die wüsten, derben, fliegen wie flinke Fische aus seinem Mund, und ich habe ihm nie gesagt, dass ich nichts lieber höre als seine Verwünschungen und Flüche; in diesen Momenten nämlich, wenn Vaters Zunge vor Aufregung federnde Geräusche produziert,[…] dann weiß ich, dass es etwas an ihm gibt, das ich verstehe, und ich wünschte mir, ich könnte Vaters Flüche hörbar machen, so in die andere Sprache übersetzen, dass sie wirklich glänzen […] (164-65).

[…] he allows free play to his swearing, the terrible, harsh words fly like slippery fish out of his mouth, and I have never told him how much I love hearing him swear and shout imprecations […] then I know that there is something in his malediction that I understand and I wish I could translate father’s cursing into the other language (German), to make it sound glorious […].

When the narrator and her sister huddle on the veranda in the house of relatives when visiting the home town and hearing their parents’ voices using words they have never heard before, it sounds like a secret language (115). The narrator’s mother tells a story from her family to the plants outside the window, but it is intended for her daughters since it is actually her own story. The narrator listens to the calm, soft voice of her mother, narrating the story of a girl who wanted to become a teacher but fell in love with a soldier, became pregnant, was eventually betrayed and beaten by her father, and lost her child (125f.).

Hearing the distinct voices of family left behind in the dangerous war-torn country torments a Serbian employee who works in the parental cafeteria of the narrator. Her small son lives with relatives in her native town just as the narrator and her sister stayed back because the parents at first did not receive a visa for the children. “Hörst du wie sie rufen, fragt mich Dragana, wenn du genau hörsch, hörsch du ihre Stimme. […] Unsere Familien rufen uns und was tun wir? (150) (Do you hear how they are calling, Dragana asks me, if you carefully listen, you hear their voices. […] Our families call us and what do we do?) Dragana wants to know whether the narrator also hears the voices and what do they tell her, does she hear them also at night? Dragana hears the voices of her sister, her son and her aunts, and they haunt her. Later, the narrator hears the two voices of Dragana and Glorija quarrelling, and she realizes how disturbing it is to hear two people arguing with each other (219). The two women employees got into a fight in the kitchen of the cafeteria. Dragana is Serbian and Glorija is from Croatia.

The narrator remembers how she heard her grandmother Mamika mumbling when she lay in bed and could not sleep; she heard the soft rattling of rosary beads when Mamika moved them, again and again, and after her prayer she sang with her clear and bright voice (152). The narrator remembers when the family called their Romanian relatives on the phone, and she envisioned her relatives sitting on a sofa taking turns talking with them (156). The narrator has not seen Janka, her half-sister, for nine years, “[…] natürlich höre ich Jankas Stimme, obwohl ich sie nur ein Mal gehört habe, das Ohr hat ein erstaunlich gutes Gedächtnis” (158). ([…] of course I hear Janka’s voice although I have heard her only once, the ear has an incredibly good memory…” (158). The narrator also hears Julia, a mentally handicapped girl, shouting at Mamika’s funeral. One night Mamika told the girls the story of their grandfather, a prosperous farmer who owned his own land. He was interned in a labor camp for opposing fascism and the communist regime in Romania. She makes the two granddaughters sit down and she also shows them a picture of him.

Hört mal zu, so fing Mamika an, euer Großvater wurde getötet und mit ihm viele andere. Ich erzähle euch, was ich darüber weiß, damit ihr in eurem Leben nicht vergesst, dass immer alles passieren kann, das Grausamste, und es gibt Anzeichen dafür, wenn die Menschen sich wieder auslöschen wollen — und die Zeichen stehen im Moment sehr schlecht […] dass es wahrscheinlich Krieg geben werde (250).

Listen, Mamika began, your grandfather was killed and with him many others. I tell you what I know so that you’ll never forget during your lifetime that anything could happen, the most horrible things, and there are signs that mankind will extinguish itself […] there will probably be another war.

Much later it dawned to the narrator that Mamika was the only one who had foreseen another war in Serbia. When finally a visa was obtained for the little girls, Mamika brings them to their parents in Switzerland. Before she herself returns to Romania, she sings a song and the narrator remembers, “[…] ich habe Ihre[10] Stimme in meinem Körper gespürt, und alles in meinem Körper hat sich geweigert, Sie gehen zu lassen […] (276). ([…] I have felt her voice in my body, and everything within me refused to let her go […])

Dalibor, a newly arrived Serbian refugee in Switzerland and eventually the narrator’s boyfriend, told her that his ears are more precious than diamonds (196). Dalibor sings to her and she takes her shoes off when she is with Dalibor and she pushes her toes up his trousers. “Sie wollen ganz nah bei dir sein, meine Füße, und dir zuhören. Vielleicht sollte man wirklich mit den Füßen hören und nicht mit den Ohren […]” (267-8). (They want to be close to you, my feet, and listen to you. Perhaps we should listen with our feet and not with our ears […].) Dalibor responds that people would probably make different decisions if they listened with their feet.

The sense of hearing the voices of ancestors, the voices of relatives living through another war and hearing of atrocities in the safety of Switzerland is thus an integral part of the “Eastern Memory” in Abonji’s award-winning novel.

At the end of the book, the sister of the narrator invites her to go the Sihlfeld cemetery in Zurich on All Saints Day where there is a common grave for the unknown. Here they put flowers in memory of their own dead loved ones, instead of always avoiding this day. Even though it sounds weird to the narrator, the two young women remember their dead ancestors at the side of the grave of others in Switzerland. Her mother once said, “[…]ich weiß schon, dass man mit den Toten nicht sprechen kann, aber sie hören zu, sie hören gern zu, und sie hören schöne Stimmen, überhaupt lieben die Toten das Schöne (291). ([…I know that we cannot speak with the dead, but they listen to us, they love to listen, and they like to hear beautiful voices, actually, the dead love everything beautiful.) The sisters sing a song together at the common grave, they collect colorful fall leaves and lay them with the flowers on the soil to remember their ancestors in Serbia.

Remembering perceptions of childhood in Eastern Europe is central in the novels by Catalin Dorian Florescu. He was born in Romania in 1967 and moved to Switzerland with his parents in 1982. Therefore, his “Eastern Memory” extends over his entire childhood and youth. Florescu is the author of: Wunderzeit (2001) (Time of Miracle), which he describes as “eine Herzensgeschichte” (a story from the heart) describing the author’s own migration story, followed by Der kurze Weg nach Hause (2002) (The Short Way Home), Der blinde Masseur (2006) (The Blind Masseur), Zaira (2008), and Jacob beschließt zu lieben (2011) (Jacob decides to love) for which he was awarded the Swiss Book Prize in 2011. He was also the recipient of the 2002 Adelbert-von-Chamisso Support Prize.

I shall focus on Der blinde Masseur because — in my view and reading — this story most prominently displays an “Eastern Memory” of Romania by expressing a distinct sensory remembrance and a revival of the senses. The narrative follows the Romanian-born protagonist, who fled with his parents to Switzerland when he was nineteen years old, as he returns to the country of his origin after living in Switzerland for twenty years. The point of departure is also closely related to Florescu’s autobiography and stories of his childhood, including the perilous act of fleeing communist Romania at night. Fantasies about his first girlfriend accompany recurring motifs of love and guilt because the family left secretly. Each of the six chapters evolves from memories into a fictional story, in which Romanian and Swiss characters, scenes, and cultures are intertwined.

The language of Florescu’s narratives is rich, with long, well structured, and expansively descriptive sentences, whether they pertain to characters, the plot, or the surroundings. Analogies (often in the subjunctive case), similes, and metaphors triggered by Romanian customs, scenes, and characters are also prevalent. Long, lyrical descriptions (e.g. of a chestnut tree, p. 90) give the text a quality reminiscent of the great classical narratives i.e. by Goethe, Rilke, and Kafka. Romanian peasant stories, their beliefs and superstitions are interwoven into the narrative fabric along with the miseries caused by poverty, alcoholism, prostitution, assault, and war.

Florescu became a writer because he takes personal pleasure in expressing images in the form of language, in telling stories about mankind and the world, and most importantly to him: creating an intelligent art form for self-fulfillment.[11] When he was eighteen years old, he saw a television show on Lord Byron that inspired him to write texts, short stories, poems, and a play about the 1989 revolution. He also wanted to preserve his reflections of the time during the dictatorship in Romania.

Der blinde Masseur includes authentic and fantastic images of the author’s/narrator’s return to Romania, where he meets a blind masseur, who possesses an extensive library of world literature. The first words of the novel describe the smell of garlic as the protagonist named Teodor enters the country. “Dieses Land lag unter einer dichten Geruchsglocke” (6). (This country laid under a jar of dense odors.) Teodor picks up hitchhikers who bring their Romanian odor and stenches of perspiration into his car, and the smells and odors linger throughout the narrative, repeatedly described as coming from various people and places. The smells of Romanian food and feasts, especially within the circle of followers of the blind masseur and among peasants, are meticulously elaborated. It is always a smell of cabbage and potatoes, of bacon and lots of onion and garlic, mixed with the tang of cigarette smoke and a putrid stench of perspiration related to massive alcohol consumption. The blind masseur has the olfactory ability of a dog; he recognizes people by their smells first and then by their voices, which he collects from his clientele whom he coerces into reading passages from world literature recorded on tapes. Beauty — for the blind masseur — is when a book sounds well (121). Just as this character collects the sounds of books, the protagonist used to collect stories from Romanian peasants whom he recorded in his youth. He maintains that finding again the storyteller whom he recorded, and the love of his youth is the main reason to return to Romania.

The good life in Switzerland is described with the smell of bread. “Der erste Morgengeruch war der nach Brot. Ich wurde in der Schweiz Bäckereifahrer […] (128). (The first smell in the morning was the smell of bread. I became a driver for a bakery in Switzerland.) Swiss bread becomes a symbol of freedom and wealth, but also of suffocating affluence and opulence. “Wissen Sie, wie Brot riecht? Ja, das weiß jeder von uns. Aber wie hundert, zweihundert, tausend Brote riechen? Es riecht gut, wenn man es nur hin und wieder riechen muss. Ich aber muss es täglich tun. Ich sitze mitten im Brot, es wird mir übel davon (134).” (Do you know the smell of bread? Yes, everybody does. However, how to hundred, two hundred, thousands of bred smell? It smells good if you smell it occasionally. But I have the smell daily around me. I sit in the middle of bread, I get nauseated by it.) Throughout the novel, perceptions of the revisited and formerly experienced Romania and of Switzerland, where Romanian refugees become citizens, are in stark opposition or they merge into a new amalgamation in the Secondo Space, triggering the urge to write about the convoluting perceptions of mixed and intertwined cultural expressions. “Wer erzählt, hat Macht” (104) (He who tells stories, has power), says the blind masseur. Telling the migration story, the story of remembrance gives power to the migrant author.

When the protagonist Teodor revisits the school of his childhood, his first sensorial experience and recollection is the smell in the building. “Der Flur roch nach dem Chlor der Putzfrauen und die Klos nach Urin, das war schon immer so gewesen” (56). (The hall smelled of chlorine the cleaning women used and the toilets of urine, as it always did.) He visits his old school teacher and when he hesitantly is let in, the first perception is a putrid stench. “Er roch durch alle Poren nach Verwesung, aber am meisten durch den Mund, der Tod höhlte ihn bereits von innen aus” (58). (From every pore, he smelled of decay, mostly from his mouth, death hollowed him already from within.) The dying teacher is like a symbol of the former Romania, as most of the figures in this novel are; the blind masseur and his disciples, or Valeria, the beautiful first love of Teodor who lived through the dictatorship, withered now and with a broken spirit. Eventually, the blind masseur and his followers betray Teodor and travel with his passport and car to Switzerland. Elena, the peasant woman with the most beautiful voice, who does not understand what she was reading for the blind masseur, epitomizes the post iron-curtain Romania. Because of her, beauty and story-telling will prevail, as promised in the last sentence of the book as the narrator tells Elena, “So, nun bin ich bereit. Setz dich ruhig hin und hör gut zu, denn ich werde dir jetzt eine neue Geschichte erzählen” (271). (Now, I am ready. Have a seat and listen carefully, I’ll tell you now a new story.) Memories of people in the former homeland who left an impression on Florescu are often the beginning of a new novel.

The novel Zaira is also based on a real life figure who leads the reader back to Communist Romania. The book is a historically well-researched biography of a marionette artist Zaira that Florescu processed into a fictional novel with a very dark side. His book Jacob’s decides to love, for which he received the Swiss Book Prize in 2011, is a family saga of Swabian immigrants to Triebwetter, Romania, beginning during the Thirty Years’ War and spanning into the 20th century.

We cannot discuss the Eastern Memory in contemporary German Swiss Literature without including poet, writer, and activist Dragica Rajčić. She was born in 1959 in Croatia and came to Switzerland in 1978, but returned ten years later. In 1991 she fled the war with her three children and arrived again in Switzerland. Today, she is a member of the Federal Commission on Migration. She received the “Adelbert-von-Chamisso Förderpreis” in 1995. The other Swiss writers of Eastern European origin to have been awarded this prize are Aglaja Veteranyi in 2000, Catalin Dorian Florescu in 2002, Ilma Rakusa in 2003, and Zsuzanna Gahse in 2006. Rajčić is known for her idiosyncratic, grammatically incorrect, but very poetic language.

Her poem “die linke Zunge” (the left tongue) embodies the Eastern Memory of her native language, transferred into deliberately faulty and caustic German, to convey what happened to the people in former Yugoslavia. The Eastern European wars following the dissolving of Communist Yugoslavia in the 1990s are combined with the smaller, but not less painful, “wars” of integration. Every memory of pain, hatred, and flight is relived in a body that has to come to terms with identity-loss and foreignness in Swiss society through a sensorial outburst of language. The reader of her poems and stories and the audience of her theater plays are doubly challenged because of the foreignness of her ungrammatical language and the pain uttered by the characters. Thus she/he can precisely feel and sense foreignness within the social and political Swiss realities that the migrants experience.

In conclusion, why do Swiss authors with Eastern European migration background write such compelling, award-winning stories, like no other group in German-speaking Switzerland? First, their writing is spawned by the manifold sensory perceptions within the Secondo-Space where the parental heritage, language, and culture collides with the social forces of Swiss education, the workplace, and friends. Through synesthetic writing, Secondas and Secondos try to find their own identity, and by telling the stories of their ancestors, they control the narrative, and it becomes a healing power. Would these authors — had they or their families immigrated to another country, such as the U.S., Canada or another German-speaking country — write in a similar fashion? Is it not also the Swiss environment and society as well as the diglossic situation in Switzerland that shaped the perception and the memories of these writers? Coming back to the epigram by Henri Bergson: “There is no perception which is not full of memories?” we can see how the stark realities of Rumanian, Hungarian, Serbian, Czech, and Slovakian wars and life in communist dictatorships clash with experiences in multicultural, democratic, and capitalistic Switzerland. But how is “the alphabet of emotions” (see the above quote by Ilma Rakusa) transformed into award winning stories and novels? I contend that the tradition of story-telling by the peoples from Eastern Europe has a — perhaps even genetic — influence on processing emotions and memories into words as the above-discussed authors demonstrate. Furthermore, a close reading also reveals a certain, engaging “Eastern European Melancholy” that prevails in the works by Herta Müller, Elfriede Jelinek, Elie Wiesel, etc. where literary aesthetics and painful memories are conjured. But this trajectory requires an entirely different theoretical, critical and socio-historical approach.

 

Works Cited

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Biendarra, Anke S.: Germans Going Global. Contemporary Literature and Cultural Globalization. Berlin: De Gruyter, 2012.

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Brežná, Irena: Die undankbare Fremde. Köln 2012.

Canetti, Elias: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend, 1977 (Autobiografie, Teil 1), Frankfurt am Main 1979.

—. Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921—1931, Frankfurt am Main 1980. (Autobiografie, Teil 2), Frankfurt am Main 1982.

—. Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931—1937, 1985 (= Autobiografie, Teil 3). Frankfurt am Main 1988.

Cocalis, Susan L.: „Erica Pedretti’s Engste Heimat.“ In: World Literature Today. University of Oklahoma, Vol. 69, No. 4, 1995, S. 782.

Florescu, Catalin Florian: Jacob beschließt zu lieben. München 2011.

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—. Der kurze Weg nach Hause. Zürich, München 2002.

—. Der blinde Masseur. Zürich, München 2006.

—. Zaira. München 2008.

Haines, Brigid: “The Eastern Turn in Contemporary German, Swiss and Austrian Literature”. Debatte: Journal of Contemporary Central and Eastern Europe, 16: 2 (2008): 135-149. Web: http://dx.doi.org/10.1080/09651560802316899.

Howes, David: Sensual Relations: Engaging the Senses in Culture and Social Theory. Ann Arbor, MI: University of Michigan Press 2003.

—. Howes, David, Ed.: Empire of the Senses: The Sensual Culural Reader. New York: Berg Publisher 2005.

Khattab, Aleya (Ed.): Nationale und transnationale Identitäten in der Literatur. Frankfurt a.M., Berlin, New York, Oxford: Peter Lang 2012.

Müller, Herta: “Wie kommt man durchs Schlüsselloch. Die genaue Liebe, die Zugehörigkeit und der Diwan im Zimmer des Grossvaters.” Neue Zürcher Zeitung 27./28. Sept. 2003: 65.

—. Der König verneigt sich und tötet. Essays. München 2003.

Pedretti, Erica: Heiliger Sebastian. Frankfurt am Main 1973.

—. Engste Heimat. Frankfurt am Main 1995.

—. Fremd genug. Frankfurt am Main 2010.

—. “Schreiben & Überschreiben.” In: Gisi, Lucas Marco and Hubert Thüring und Irmgard M. Wirtz (Hg.) Schreiben und Streichen. Zu einem Moment produktiver Negativität. Göttingen 2011, S. 347-351.

Rakusa, Ilma: Meer Mehr. Graz, Wien 2009.

Sievers, Wiebke. “Von Elias Canetti bis Dimitré Dinev oder: Was ist Migrationsliteratur.” Österreich in Geschichte und Literatur 53.3 (2009), S.303-312.

Trousdale, Rachel: Nabokov, Rushdie, and the Transnational Imagination: Novels of Exile and Alternate Worlds. New York: Palgrave MacMillan, 2010.

Zinggeler, Margrit. How Second Generation Immigrants Writers have transformed Swiss and German Language Literature. A Study of Sensorial Narratives by Authors Writing from the Swiss ‚Secondo-Space’. Leviston, NY 2011.

Notes

[1] Anke Biendarra and Anca Luca Holden have presented on “the Eastern Turn” in German Literature at recent professional conferences in the U.S.

[2] The keyword “Eastern Turn” in literature produces no results neither in the Library of Congress, nor JSTOR nor the German National Library.

[3] All translations in this article are by the author.

[4] Wiebke Sievers (2009, 305). “Canetti wechselte also innerhalb der ersten 35 Jahre seines Lebens fünf Mal sein Heimatland. Der Prozess der Migration an sich scheint jedoch so wenig interessant, dass dieser in seiner Autobiographie kaum Erwähnung findet. (Canetti moved during his first 35 years to five different countries. However, migration seems not to be an interesting topic since it was hardly mentioned in his autobiography.)

[5] Federal Office for Migration https://www.bfm.admin.ch/content/bfm/en/home.html

[6] The second generation immigrants are called “Secondas” and “Secondos” in Switzerland. The term originates from the 1960s’ and 1970s’ when a large number of Italian and Spanish guest-workers came to Switzerland during the economic boom. First, the term had negative connotations, but since Iraqi-Swiss filmmaker Samir portrayed Secondos positively in his film Babylon II (1993), the second generation identify itself with this term.

[7] The Adelbert-von-Chamisso-Preis by the Robert Bosch Foundation is awarded annually to German-writing authors of another mother tongue since 1985. It was initiated by Harald Weinrich, who lifted “Gastarbeiter- und Migrantenliteratur” into scholarly criticism and merit in the 80s. The first recipient was Aras Ören.

[8] Edmond Carpenter and Marshall McLuhan first introduced the notion of ‘acoustic space’ in the journal Exploration (1953-9).

[9] Marshall McLuhan, “Inside the Five Senses Sensorium.” Howes 2005:49.

[10] The narrator always uses the German polite form with capitalization when addressing or writing about her grandmother which signifies respect and reverence.

[11] Unpublished interview with Florescu by the author, July, 2010.

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Jun 05 2015

Klaus Rainer Goll

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“Fremd bin ich eingezogen/Fremd zieh ich wieder aus”

 

die schmetterlinge fliegen
in memoriam sarah kirsch

wie sich die balken biegen
die schrift sich krümmt
zum lachen ist das nicht
wie aus den flammen
die schwarzen schmetterlinge
fliegen
und worte sterben
leise
auf dem papier
handbreit
zwischen himmel und erdreich
so gut wie zuhause
jeder ort bedeutet ein anderes leben
hinterm deich / dem schutzwall
wo das meer beginnt
die weiße weite
unruhe
im schritt der strandläufer
uferauf uferab
das haus geduckt / daß
keiner kömmt
den schafen eingebleut
kein laut nur kein verrat
die blumen und gräser
ins wort genommen
aufs flache land
bei klarer sicht
die flucht
der mauerseglerin
befreit vom ballast
wie hans im glück
wollte sie der droste
gern das wasser
reichen

aus der hand
die schwarzen schmetterlinge
fliegen

 

groß sarau, 13. Juli 2014

sandwege
für sarah kirsch

die ausgetretenen / zer
rütteten pfade entlang
in die spuren miss
achteter wortbilder
gedrückt
in einem land / in dem man
die freiheit zu tode geschützt hat
schwer ist es / einen
anderen weg zu gehen
atemlos geworden
ohne alternative
das dornengestrüpp / hat
seine wirkung verloren / der
dorn im fleisch
brennt nicht mehr
angesichts
der neuen grenzen
von mauer
und stacheldraht
tiefer
wunden seine dornen
den entmachteten geist / das
aufbäumen
im schmerz
aus dem schweigen
der eulenwohnungen
und
im dunkel der vielen
seelenkerker
brich das schweigen auf / das
schwarze eis
unter den lippen
öffne dich / auch in unseren reihen
schauen
und alles wissen / und
nichts sagen
und
nicht helfen können
wie falsch sich alles entwickelt hat
unerträglich
dem menschenfeind
die sandwege gehen / die man
immer schon ging / anfangs
mit lodernder wortfackel voran
am dornenbusch vorbei
in immerwährende sackgassen
sich im kreis bewegen
im signal der sanduhr
bis das fleisch seine geduld verliert
oder ermatten
in der tiefe
versinken im sand / oder
verstummen
mit zornigem blick
und sich aus liebe auf
schwingen
und vogel werden
als sei es der einzige ausweg
die sandwege verlassen / den
vorgeschriebenen weg / für
eine reise in die honigländer / die
deine bücher vor dir bereits
angetreten haben
den festen / sicheren
untergrund
zu suchen
solange es noch möglich ist
die stimme erheben im flug
spähend / den auf einmal
gewährten fluchtweg
finden / den büchern nachfolgen
hoffen
auf die kraft
der anderen / zurückgebliebenen
dass sie durchhalten werden / dass
sie freunde bleiben
weggefährten
über alle räume hinaus
der kälte
die ihnen entgegenschlägt
widerstehen / selbst
wiederkehren / wiederkehren
wenn die zeiten entgifteter
und besser sind
wenn man
der freiheit und
der wahrheit
paläste baut / im eigenen land
statt sie mit füßen zu treten
und in die gefängnisse zu verbannen
auch
wenn dein wort / nie die ganze
wahrheit sein kann / und nichts
als die wahrheit
du hast sie gewollt
wohl wissend / dass
sie ist
was sein müsste / was
morgen sein wird

 

1977

TAUSEND GRAMM UND MEHR
angesichts des todes von
wolfgang weyrauch am 11.11.1980
für hans werner richter

lese heute in der zeitung / dass
in darmstadt gestern
wolfgang weyrauch im alter von
dreiundsiebzig jahren
an einem herzinfarkt
verstorben sei
gestern abend nichts ahnend
las ich in einem bericht
von hans werner richter
der übrigens heute in münchen
seinen zweiundsiebzigsten geburtstag feiert
über die gruppe 47
und über weyrauchs
literarischen kahlschlag
vor circa dreißig jahren
vorbei / vorbei
diese zeiten sind vorbei
so hatte es mir
vor einigen tagen / auch HWR
gesagt
diese zeiten sind auch nicht
wiederholbar
im augenblick nicht
vielleicht nie mehr
es gibt keine stunde null
so wie damals
obwohl manches zu überdenken wäre
draußen und drinnen
in uns im leben der literatur
neukonzeptionen einen wiederaufbau
der sprache nach dem kahlschlag
der bis heute
seine spuren hinterlässt
vielleicht
eine radikale neuformung der literatur
der sprache / einen neuen kahlschlag
sozusagen
mit sätzen die auch bloß wie damals
steine ins moorige wassser werfen wollen
damit sie kreise und wellen ziehen / die
wie WW es sagte ans ufer schlagen
und die füße der ohnmächtigen
netzen
es wäre die zeit dafür / aber
mag sein: unserer generation hat es
die sprache verschlagen
und wir sind noch nicht so weit
mag sein: wir / wir kinder des nachkriegs
haben keine sprache und
drücken uns in unseren versuchen
noch immer ein bisschen zu fremd aus
beladen geschwollen / immer
eine handbreit an den dingen vorbei
so tappen wir herum
in unserer sprachlosigkeit
in überlieferungen / mit denen
wir uns wir jungen unwissenden
unbedarften geboren in
der stunde null
verdächtig machen
vor gott und der welt
und mit ihr weder gott noch
die welt treffen
konventionell wohlig haben wir uns
eingerichtet / auch zugegeben
in unserer sprache / die schon wieder
merkmale eurer sprache zeigt / der
sprache unserer väter
von überall strömt es auf uns ein
wessen sprache sprechen wir
eigentlich
da tritt einer aus dem satz heraus
und sagt verdammt noch mal: die axt
muss her und
hinein damit ins wortgestrüpp
in den wuchernden wortballast / der
alles erdrückt und durchsichtig
macht
bis eines tages die
abgeschlagenen wortenden wieder
keime zeigen und knospen aus
denen die sprache blühen kann
nach der aufforstung der worte
was wäre dagegen zu sagen
blühen
aus neuer poesie meinetwegen
aber immer noch aus den alten
wortstämmen womöglich
aus den tränen der worte
nach der periode des kahlschlags / die
verhältnismäßig schnell zuende ging
aber wie gesagt: vorbei / vorbei
es war einmal
die aufforstung der worte
hat längst stattgefunden
die zeiten von damals sind vorbei
abschiede sind gefeiert worden
kein land in sicht
für eine neue gruppe
kein richter
für die texte und lesungen
der jungen
für den nachwuchs / der irgendwo
nachwächst
irgendwo
die / die damals waren
verbunden in der not der stunde
die ihre große stunde hatten
in der stunde null (wenn es denn wirklich
eine gab) werden älter
sterben dahin
einer nach dem andern
was bleibt sind beschnittene texte
und die erinnerung an die männer
des kahlschlags / an die
vielen begräbnisse in den anthologien
an einen aufgeräumten sprachwald / an
axthiebe und messerstiche
immer wieder kleine abschiede
die immer stiller gefeiert werden
auch von einem stück bedeutender
deutscher literatur
geschichte / auch das
mag sein
mag alles sein: da wiegen die worte
tausend gramm
und mehr

 

groß sarau, 12.11.2007

jussuf / prinz von theben
für else lasker-schüler
(1869 – 1945)

deine asche
verstreut / auf dem ölberg
zur ruhe gekommen
am ziel
unter der schrift des steins
und nicht wie der rauch
aus den schornsteinen
windverweht
in nichts
lautloser schrei
aus blauer wolke
die träne getrocknet
ins erdreich
gedrückt
für immer verbunden
dieser welt
steinernes schweigen
klagend
himmelschreiendes wort
in den dunklen tiefen
deiner augen / schwarzer schwan
schlafen ewigkeiten
auf buntem tibetteppich
träumt
das sanfte tier

groß sarau, 29. august 1998

 

vor dem begräbnis
für dylan thomas (1914-1953)

was soll man davon halten / wenn
beim begräbnis
die hähne krähn
verkünden sie wirklich
einen neuanfang
wie mancher glauben wollte
am offenen grab
am steilen hang von laugharne
wo kalt die sterne
am frühen tag herabblickten
aus kargen herbstwiesen
am himmel
die flitzenden blitze
der sternschnuppen
das fliehende weiße licht / weil
das land gesättigt
von der verschmutzten wolle
der schafe
nicht länger die dunkelheit
der nachbarwälder
erträgt
wo das gras
noch halbwegs grün
nicht mehr das glück
der jungen jahre
bezeugte
oder lag nur verrat
in der luft
verhängnis und gerücht
dass man das licht
auch dir umgebracht
das herz
aus selbstverschuldetem
schwelbrand
im bunten gefieder der hähne
hätte er sehen können
wie die blüten frühester schülerzeit
wieder aufbrachen
vulkanausbrüche
aus jedem seiner poeme
diese sprühenden leuchtenden
wortkaskaden
im wirbelnden tanz
eine sphärenmusik
die sonnenverwöhnten
sentenzen
silbe für silbe
der ihn nie verlassenen dunkelheit
beigemengt
noch am tag seines begräbnisses
trieb eine wolke von schafen
über die sanften hänge der downs
blökenden urgesang
vertraut mit dem gesang der vögel
die seinen namen über die bauernhöfe
und in die wälder tief unter ihm
flogen
im regenherbst
an einem novembertag
und immer die hoffnung im auge
dass seines herzens wahrheit
weiter und weiter gesungen werde
auf diesem hohen hügel

groß sarau, 3. januar 2013

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Jun 05 2015

Frederick A. Lubich

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Frederick A. Lubich, Interview with Michael Eskin, Scholar, Author and Co-Founder of the German-American Publishing House Upper West Side Philosophers

Michael Eskin

Michael Eskin

F.A.L.: Michael, you were born in Riga, Latvia, how did you end up in America?

 

Michael Eskin: Yes, I was born in Riga in 1966 and wound up in the US by somewhat of a circuitous route. In the summer of 1972, my parents and I left the Soviet Union for Israel as part of the very first wave of several hundred Jews permitted to emigrate by the Soviet government. I have since deduced that our family must have been on the same train that also carried Joseph Brodsky to the West. The journey first took us to Vienna, where all emigrants had to undergo what I think was some sort of clearance that lasted several weeks. We were all housed in an old castle not far from the Austrian capital. We were subsequently flown to Israel and taken to Dimona in the Negev desert, where we spent a couple of months, before moving to Lod and then on to Tel Aviv, where both my parents found work: my father, a violinist, with the Israeli Philharmonic Orchestra, and my mother, a former chemistry teacher, as a dental assistant. We spent a total of about three years in Israel, before emigrating again – this time to Germany – for the simple reason, as my mother would often tell me, that she was not willing to live and bring up her child in a country beset by war. I think that the experience of the Yom Kippur War in 1973 as well as frequent reports of school busses blowing up tipped her internal balance in favor of starting afresh in more pacific climes.

Why my mother chose Germany, as opposed to Canada or the US (as others did), I will never know for sure. But I think it was a squarely pragmatic decision: apparently less was involved in going to Germany than to the other destinations, which would have meant spending a significant period in transition-cum-clearance camp in Ostia, Italy. And so, in the summer of 1975, we found ourselves in what was then West Berlin – in a DP camp in the borough of Marienfelde, where we lived for almost a year, and where I began learning and speaking German. When my father was hired by the Bavarian State Opera, we relocated to Munich. Soon after our move, my parents got divorced, and my father eventually settled in Salzburg, which is why I spent the tail end of my childhood and almost my entire adolescence and young adulthood shunting back and forth between Germany and Austria.

After finishing high school and completing my two-year stint as a conscientious objector, I moved to Paris to study French and philosophy. Upon my return to Munich I successfully applied for a fellowship to the US, which is how I came by a BA in English and philosophy from Concordia College in Minnesota. I once again returned to Munich to complete an MA in comparative and American literature and philosophy, before being awarded a graduate fellowship to do a Ph.D. at Rutgers – at which point I officially ‘immigrated’ to the US. With the exception of a two-year stint as a fellow at Cambridge University, I have lived here since.

 

F.A.L: Your trajectory cannot fail to raise the question of language: what language or languages did you grow up speaking?

 

Michael Eskin: I can’t help thinking of Mandel’shtam’s phrase “Judaic chaos” when I think of the languages I have been exposed to growing up. It began with Russian – and, marginally, Yiddish (through my maternal grandmother). Then, in Israel, Ivrit – modern Hebrew – moved to the forefront, flanked by English, as Israeli culture (television in particular) was and is saturated with it. Everything was broadcast in the original. In Germany, then, German was added to the mix and – after my parents’ divorce and my mother’s remarriage to a Polish pianist – Polish. Thus, at my mother’s house Russian, Polish, and German were spoken, and at my father’s house it was mostly Russian and German, and sometimes English – as my father’s long-time partner was American. Interestingly, the languages were person-dependent. Thus, I spoke Russian with my mother and father, Russian and Polish with my step-father (he happened to have studied music in Moscow and had fluent Russian), German and occasionally English with my father’s partner, and Russian and German with my siblings. As you can imagine, as time goes by one or the other language gets rusty – thus, my Ivrit is virtually nil at this point, and my Polish as well – although I have to say that it has stood me in good stead when it comes to eavesdropping on contractors in New York City, many of whom hail from Poland.

 

F.A.L: Since our years together at Rutgers University in the mid 1990’s we have become very good friends and throughout the years we also collaborated on various cultural projects. During that time you have taught for several years at the University of Cambridge in Great Britain and at Columbia University in New York and have established yourself not only as a very prolific author and editor of close to a dozen books with such prominent publishers as De Gruyter, Oxford University Press, Stanford University Press, and Farrar, Straus and Giroux but also as the co-founder of the publishing house Upper West Side Philosophers, Inc. which has by all accounts become a great success. Tell us more about it.

 

Michael Eskin: That, too, is somewhat of a longish and circuitous story. After receiving my Ph. D. from Rutgers – four years that I deeply cherish, not least because I had the fortune of meeting and befriending some wonderful people there, such as yourself – I landed a Junior Research Fellowship at Sidney Sussex College in Cambridge, England, which turned out to be a marvelous and truly interesting sojourn for me. I was then hired by the Columbia German department – a non-tenure track professorship in German and comparative literature. While I was still at Columbia teaching courses mostly in poetry as well as philosophy and intellectual history, a life-changing event happened that enjoined me to explore intellectual paths beyond the academy: I became a father. For reasons that I will probably never be able to plumb, and that, I assume, had to do with my personal and family history as well as with my particular brain chemistry, I felt that I needed to do something meaningful and worthwhile in addition to and beyond my academic work. Which is why I cofounded what was initially envisioned as an independent center for philosophical thinking.

However, the center gradually morphed into a full-blown publishing house with the specific goal of providing a venue for original philosophical thinking in line with our motto ‘lived philosophy and philosophical living’. And since this kind of thinking can take a variety of forms, we publish a range of genres, including poetry, essays and novels.

UWSP Publishing was born, I imagine, from my love of books as objects (and not merely as repositories of content) – a love that goes back for as long as I can remember. I had always been very aware of and attentive to how the books I was reading were made, how they felt in my hands. To this day, the sight of spines arranged on a shelf affords me a sense of joy, a certain serenity and peace, and what might be described as the reassuring sensation of existential, aesthetic and intellectual limpidness or order in an otherwise murky and more or less chaotic world.

One day my wife, Kathrin Stengel, cofounder of UWSP, and a professional philosopher in her own right, handed me the manuscript of her second book, November Rose: A Speech on Death. I read it, was overwhelmed by it, and had a vision as to what it should look and feel like as a published book, from stock and binding to design and layout. She trusted me enough to publish her book, and so I embarked on the journey of becoming a publisher, which involved learning the ins and outs of the business (from obtaining ISBN numbers to registering with the Library of Congress and books-in-print, to typesetting, selecting stock, determining weight, binding, headbands, and foil stamping, die-cutting, rights-purchasing and much, much more). To cut a long story short, the book came out and won an Independent Publisher Book Award. This convinced us that we couldn’t have been too bad at our new job, and so we decided to continue. Here we are today, seven years, eighteen books and seven awards later, and still going strong.

As to our success – that is very kind of you. Success, though, is relative. And while we are very proud of what we have thus far achieved, there is lots of room for growth, and the work that lies before us is massively increasing with every new book we put out. But it has been quite exhilarating to not only read and write about books – as academics tend to do – but to actually make and sell them. All the while, I have continued writing and editing both academic and non-academic books – something I immensely enjoy and wouldn’t want to miss.

 

F.A.L: With your publishing company in New York you are continuing a remarkable German-Jewish tradition which has been building bridges between German authors and American readers for almost a century. This cultural transfer between the Old World and the New World probably started with Alfred Knopf’s English publications of works by Sigmund Freud, Thomas Mann and Franz Kafka, to mention only the most prominent German speaking authors, and it reached its culmination point in the wake of the exodus of German-Jewish publishers during the Third Reich, represented most notably by Frederick Ungar, Salman Schocken and Kurt & Helen Wolff. As far as I can see, you are the only one who continues this venerable German-Jewish tradition. How do you see yourself in this context?

 

Michael Eskin: It’s really interesting how all this came about. You know I never saw myself as the bearer of any kind of tradition, although I have always felt strongly about my being Jewish. The thing is that when we started publishing books, we simply had a vision – or shall I say that we were possessed by some sort of ‘hubris’ – of putting valuable content into the world geared toward lived life; we simply felt we were particularly well equipped to do so. And, as we all know, without the requisite ‘hubris’ – which has more to do with hearing a call than with arrogance or vainglory – no creative endeavor would ever get off the ground. Apparently, we were so convincing that some of the authors and publishers I knew in connection with my academic work suggested that we publish their work. These authors happened to be German, and so we suddenly found ourselves fully immersed in the business of cultural transfer, which in turn reinforced our belief in the value of our endeavors. We have been very fortunate in our partnerships with Suhrkamp, Insel and Random House Germany, and we are very proud of our German list, which includes Durs Grünbein and Hans Magnus Enzensberger, NZZ correspondent Andrea Köhler, and bestselling philosopher Wilhelm Schmid.

But our publishing decisions have never depended on whether any given book was originally written in a language other than English per se. At the same time, I cannot deny that I am eternally curious about what is going on outside the US in the republic of letters. Thus, I tend to forage in those territories in particular whose languages I speak and read in the original: Russian, German, French. At the end of the day, though, we simply look for original, well-written books that give pause, entertain, and inject our lives with novelty (of perspective, sensibility, mind) and that we feel humanity would be remiss in doing without (even though it may not know it yet). At this point, we have books by English, Hungarian, German and French authors.

 

F.A.L: The books your company publishes are very much in the high-brow category. On the other hand, Benedikt Taschen, your German counterpart in Los Angeles, produces books in the middle brow category and above all in the art-historical section. Do you see both of you as an east-coast, west-coast complementation which brings German and European literature and the visual arts to the United States?

 

Michael Eskin: I have never thought of UWSP in relation to Taschen – an imprint I know well and have admired for a long time – if only because our lists are so different. But, who knows, maybe, if we survive long enough, that is how we might be viewed from some future vantage point.

 

F.A.L: “All the news that’s fit to print”, that was Adolph Ochs’ slogan for the New York Times of his times. As you know, Gabriele Eckart’s interview with the author Irina Liebmann as well as my introduction to it, published in Glossen 39 (December 2014), had to be withdrawn in April 2015, because Ms. Liebmann considered the references to her Jewish heritage not fit to print. Both Gabriele’s questions and my introduction were inspired by the American tradition of ethnic pride and cultural identity. But our German efforts to celebrate her Jewish heritage obviously backfired. How do you feel about your Jewish identity?

 

Michael Eskin: Being Jewish is an inherent part of how I view and experience myself. At the same time, I still don’t really know what being Jewish essentially means, what it is at its core. Coming from a cultural tradition that views Jewishness – I am advisedly eschewing the term ‘Judaism’ here – as an ethnicity rather than a religion, I am as befuddled as ever whenever I have to define or explain it. This being said – only because I cannot explain Jewishness doesn’t mean that it is not real – very real, in fact – and that it has no real effects in and a real impact on the world we live in. So, to get back to the real-life occasion that prompted your question: although I will abstain from commenting on this specific case, as I am simply not familiar enough with the details, I feel that the overall topic ‘Germans-and-Jews’ no longer inspires insights that add anything creative, inventive, novel to our thinking about it. But my sense is that as long as we view this painfully complex and convoluted relationship virtually exclusively under the sign of the Holocaust, it is going to stay that way. The problem is that we might no longer be able not to view this relationship under the sign of the Shoah at this point. Looking ahead, I would imagine that it will be key to unburden future generations of Germans and Jews of the weight of this inherited, circular dynamic and all the repressions, transferences and displacements that go along with it, while keeping the history and memory of the Holocaust fully alive. I am not sure that it will be possible on a large social scale, but I know that it can work starting with the singular person. My own family is a good example. Thus, my wife’s paternal grandfather was heavily involved with the Nazis as the head of a chemical plant. Does this mean that my relationship with my wife is but an instantiation of the ‘Germans-and-Jews’ topic – by default, as it were? I don’t think so. In certain ways, contemporary Germans have it harder than other nations (especially those who collaborated with the Nazis) when it comes to the curses of the past. After all, nobody has ever regarded (and judged) me in light of my paternal grandmother’s Stalinist affiliations (she was an avid communist and district judge during some of the darker moments in the Soviet period …).

 

F.A.L: Speaking of censorship and political correctness: In fall 2014 you wrote a short piece in Glossen 39 titled “How Writing a Novel Can Get You Fired … in London. A Publisher’s Field Notes”, in which you describe the fate of the British author Stephen Grant, whose contract was terminated by his college, because its representatives felt they could recognize themselves and their institution in Grant’s novel A Moment More Sublime.

 

Michael Eskin: Yes, that was a very interesting concatenation of events: in the fall of 2014, we published Stephen Grant’s debut novel A Moment More Sublime, upon which he began being investigated and persecuted by the college he was then teaching at for allegedly bringing it into disrepute by publishing his novel – allegations that were utterly frivolous. The story was subsequently picked up by several British newspapers, including the local paper of the London borough where the college is located. What goes around comes around, indeed … In a way, the college was hoist with its own petard.

It was the first time in my life that I had been confronted with censorship first-hand, as UWSP also found itself in the college’s cross hairs: the head of Human Resources wanted us to quash the novel and withdraw it from circulation, which we didn’t do, of course. It was very different from reading and writing about repression and censorship in the lives of others. We are truly fortunate to have been in the position to do what we felt was right and stand by our author without having to fear for our livelihood or physical safety.

 

F.A.L: Which brings me to Charlie Hebdo. After the assassination of several members of this satirical journal at the beginning of this year in Paris some argued that maybe western societies should be less satirical in caricaturing other cultures, especially Muslim cultures. What are your thoughts on the current state of satirical criticism and political correctness especially with regards to ethnic and religious identity?

 

Michael Eskin: In principle, I am with Epictetus, who says (and I am quoting from memory here) that it is not another’s words that are insulting but our interpretation of those words. In other words, nobody can insult us unless we give them the power to do so … This is to say that in principle, I am for complete freedom of speech even hate speech and unkind speech – at least, to state the obvious, then you will know what others really think. I also believe that even the most insignificant act can be turned into the occasion of an act of violence. But being made an occasion doesn’t imply causation. It follows that those who hate and truly intend to do harm will find ways and means and occasions to do harm to those whom they hate one way or another. I also believe that satire is absolutely crucial and indispensable in a free society. In my opinion, political correctness, while born from a deeply admirable impulse, is often invoked to the detriment of human expression, creativity, and humor. At its best, it makes for social kindness and peace. At its worst, it polices our speech and, consequently, our thoughts as well. So, all in all I am torn on the issue. In a world without sexists, racists, and so forth we wouldn’t need it. But that is not our world. As to Charlie Hebdo, it seems to me so much has already been said that all I can ad to it is that I am appalled and saddened by this kind of extremism and hatred. To the extent that our hermeneutic tools vis-à-vis such gross acts of inhuman violence rely on reason and aim at explaining them they are bound to fail, such acts are not reasonable – in this case, disproportionately unreasonable, in fact. And just as you cannot reason someone out of something they were not reasoned into in the first place (to quote Jonathan Swift), so attempts at reasonable explanations of unreasonable acts, while potentially exorcising their sublime exorbitance, will not really supply a meet response to them.

 

FAL: Both you and I have moved in recent years from writing exclusively academic articles and books more and more to writing creative texts. In the olden days, traditional scholars of literature tended to consider literary texts by academics a somewhat dubious or frivolous enterprise. Glossen is currently the only American journal in German Studies which publishes texts in both genres. What are your impressions and conclusions?

 

Michael Eskin: In a way, like the lover, the author has no choice in the sense that if you do have the inveterate urge to express yourself creatively – rather than academically (which can also be creative, but in very different ways having to do with the logic of apophantic speech) – you will simply have to go with it. Personally, I have found it very important and liberating to write books and essays that do not allow me to ensconce myself within the bulwarks of academic dialogue and authority, that expose me personally to my readers’ responses and criticisms. But this may sound as though I had planned it that way: finding it important first and then getting on with it. In reality, it was certain ideas grabbing hold of me and literally wanting out and to be articulated and shared. But I think that academic and creative writing are not at all mutually exclusive – as many a cross-over act attests to.

 

F.A.L: How would you assess recent trends and developments in both German Studies and publishing German literature in the United States?

 

Michael Eskin: It seems to me that there is a general return to philology and historical analysis in English and modern language departments – also a fascination with world literature and what Franco Moretti has called ‘distant reading’, but I might be oversimplifying here. In any case, theory writ large appears to have receded into the background.

As far as publishing German literature in the US is concerned, one has to contend with two major hurdles: the first applies to all translated literature – there is so much incredible native talent that any translated work has to compete with that. Thus, if you look at contemporary German writers who have ‘made it’ – I mean truly made it – in the US market, I can think of two in the recent past: Bernhard Schlink and W. G. Sebald – and, more recently, the rediscovery of Hans Fallada’s Every Man Dies Alone. The reasons are obvious (aside from the sine qua non of certain literary standards that will have to have been met): all three deal with National Socialism in very gripping and interesting ways.

But, it seems to me that there is another hurdle as well (this applies to literature translated from German in particular) – and that is my very personal, purely intuitive, hypothesis (so please take it with a grain of salt): all three authors have last names that don’t really sound German. What I mean is, if your name is Ulf Stolterfoht or Ingo Schulze, your chances of truly catching on in the US will most likely be slimmer than if your last name is Bernhard Schlink, W. G. Sebald, Daniel Kehlmann, or Patrick Süskind. For a publisher this means that an author’s overly Germanic name might represent a hurdle when it comes to public appeal. Unfortunately – and here the Holocaust yet again rears its ugly head – our US culture doesn’t really associate anything ‘romantic’ or ‘adventurous’ with Germany (pace the blue flower, the romantic road, and love parades), but rather jackboots, beer steins, bratwurst, uptightness and order-obsession, Mercedes, Audi, Beamers, and masses chanting and saluting … So, all things being equal, if one Klaus Uwe Ochsenknecht had written something in the vein of My War, I somehow doubt that it would have become the global mega success that Karl Ove Knausgaard’s My Struggle has turned out to be – to the point of the world’s virtual forgetting that the title conjures another book, also a bestseller in its time … Just think of the difference in appeal emanating from the names Jean-Joaquin Mont-Limaçon and Hans Joachim Schneckenberger, respectively … Which one would you gravitate toward? Is this the reason that Rilke has become such a fixture in the American and British imaginaries, whereas Goethe and Eichendorff have not?

Again, all this is highly speculative – but at the same time, talking to other publishers on these issues, there seems to be some truth to the matter. When it comes to marketing, often nomen est omen.

 

F.A.L.: Is there an American future for readers and publishers of German literature?

 

Michael Eskin: Yes! Despite the above-mentioned hurdles. We, Americans, as a nation must continue translating works from other countries and cultures, lest we fall into parochialism. Thus, I could imagine that had works in translation from countries such as Iraq, Iran, Egypt, Syria, Pakistan, Afghanistan, and others been part of our school curricula, we, as a society, would not be groping in semi-darkness today when it comes to Islam.

But, to get back to Germany: to the extent that strong and historically and globally pertinent writing continues to come out of Germany and the German-speaking lands, the world will appreciate knowing about and reading it. But you cannot build a life and a career on publishing specifically German writing. It seems to me that one could make the following hypothesis: German literature isn’t interesting to readers abroad on account of being German per se, but on account of being literature that happens to be written in German. It might be a bit different with other literatures that originate in cultures that are part of our erotic, culinary, spiritual, and ethnic-exotic imaginaries – I am thinking of France, Spain/South America, Russia, Africa. All this is very complicated, and I am sure haven’t done justice to the issue here, but maybe I have given some food for thought?

 

F.A.L.: You also jam in a jazz and rock band in Manhattan. Maybe that can give us a clue how we can further mash up poetry slams into mosh pits of modern literary master pieces from Franz Kafka to Hermann Hesse and from Rainer Maria Rilke to Durs Grünbein – not to mention Rammstein – in order to reach today’s Millenials?

 

Michael Eskin: Maybe, indeed! Who knows. But how to make contemporary German literature and culture more widely exciting and worth engaging with in depth is definitely the task here. I don’t have a recipe for it, but I think that uncoupling German culture and history from some of the stereotypes it has been saddled with – and which don’t tend to be positive – would go a long way. How to accomplish that might be the million-dollar question. But that’s probably something for another conversation …

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