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Jun 05 2015

Christine Cosentino

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“Deformierte Verhältnisse” vs. “ unmittelbare Gemeinschaft” : Freiheitsutopien in Lutz Seilers Roman  Kruso.

Lutz Seiler, der Autor preisgekrönter Lyrik und Kurzprosa, wartete im Jahre 2014 mit seinem ersten Roman, Kruso [1], auf, der mit dem deutschen Buchpreis prämiert wurde. Ort der Handlung ist die Insel Hiddensee im äußersten Norden der DDR. Das suggeriert einerseits Abgeschiedenheit, apolitische Nischenexistenz, und — mit dem Blick auf die dänische Insel Møn — Sehnsucht nach westlicher Freiheit: “Wer hier war, hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten” (K 164-165); andererseits und parallel dazu evoziert der Insel-Hiddensee-locus real existierende Manifestationen radikalster politischer Überwachung. Da Seiler selbst im Jahre 1989 als Saisonarbeiter in der Touristengaststätte “ Klausner” auf Hiddensee tätig war[2], gelingt es ihm, eigene Erfahrungen kunstvoll mit surrealer Symbolik des Insularen zu verzahnen. Zu erwähnen ist, daß bereits der Protagonist Dallow aus Christoph Heins Roman Der Tangospieler (1989) auf der Insel Hiddensee Refugium fand. Der in einem bizarren Gerichtsverfahren und nach Abbüßung einer Haftzeit aus der Bahn geworfene Historiker arbeitete ebenfalls temporär als Saisonarbeiter in der Betriebsgaststätte “Klausner”.

Der Titel Kruso weist auf das Inseldasein des Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Robinsonaden, so kann man in Daemmrichs Motivgeschichte nachlesen,   sind “Schilderungen der Existenzbewältigung Schiffbrüchiger[ …], der Überlebenskunst, des selbstgenügsamen Daseins, der Gründung einer naturnahen, vorbildlichen Gesellschaft und der Rettung.”[3] Das verquickt sich mit dem Topos der “Insel”, in dem sich Abgeschiedenheit spiegelt, einer Insel, die zum Hort utopischen Denkens und alternativer Daseinsformen werden kann: ein solcher Ort

kann zum Ausgangspunkt von Bewährungsproben werden und die Entwicklung einer Gemeinschaft begründen. Die Insel bietet Zuflucht, ermöglicht die Verwirklichung einer vorbildlichen Gesellschaftsordnung […] und bietet dem von der Welt Abgeschlossenen die Möglichkeit, über sich und sein Verhältnis zum Dasein nachzudenken.[4]

Diese theoretischen Gedankengänge fand Seiler während seines Aufenthaltes auf Hiddensee in der Praxis bestätigt. Er äußert sich in einem Interview folgendermaßen:

Die Insel war der Sehnsuchtsort überhaupt im Osten. Für die allermeisten. Es war die einzige Insel, der Gipfel an Exotik, unbeschädigte Landschaft, am äußersten Rand der Republik. Und dann diese Freiheitserfahrung, die man nur auf einer Insel haben kann. Allein die Dampferfahrt dahin. Als würde man übersetzen in eine andere Welt. Diese Insel hat für alle und natürlich auch für Kruso eine besondere Freiheitsmagie, eine Freiheitsstrahlung.[5]

Damit ist der aus konkreten Erfahrungen schöpfende fiktive Handlungsrahmen einer DDR-Robinsonade gesetzt:

Es gab dieses Mikromilieu der Saisonkräfte, abgebrochenen Akademiker, Künstler in spe, Aussteiger, Angespülte, die im ‘Klausner’ als Kellner arbeiteten oder als Abwäscher. Verschiedene kleine Szenen hatten sich außerdem gebildet. Die haben sich dann zusammengeschlossen. Abends am Strand Fisch gebraten und regelmäßig die Freie Republik Hiddensee ausgerufen. Es gab diese Freude am Dasein, an dieser Nische. Und dieses surreale Nebeneinander von Überwachung und Freiheit, das vielleicht typisch ist für die DDR.[6]

Wer ist der Held Edgar Bendler, genannt Ed, der in diese Nische flüchtet? Eine “Kunstfigur”, wie Seiler meint, also kein Alter Ego, trotzdem dem Autor nahe, denn “bei ihm konnte ich mehr vom Eigenen nehmen.”[7] In der Tat gibt es biografische Gemeinsamkeiten. Beide gehörten einmal zur Arbeiterklasse, beide studierten Germanistik, schrieben Gedichte und stehen auf Trakl, den sie auswendig “aus den Beständen im Kopf” rezitieren können. Beide verbringen den Sommer 1989 im “Klausner” auf Hiddensee. Der tödliche Unfall seiner Freundin in Halle, Depression und Frust über die reglementierten Verhältnisse in der DDR erwecken den Wunsch nach Flucht in Ed: “Ich möchte einen Platz auf der Welt, der mich aus allem heraushält” (K 109 ). Er folgt der Empfehlung eines kellnernden Historikers in Halle, der schwärmt, daß

Hiddensee im Grunde schon außerhalb läge, exterritorial, eine Insel der Seligen, der Träumer und Traumtänzer, der Gescheiterten und Ausgestoßenen. Andere nannten sie das Capri des Nordens, auf Jahrzehnte ausgebucht. Die Freiheit, ihr Lieben, besteht im Kern darin, im Rahmen der existierenden Gesetze eigene Gesetze zu erfinden, Objekt und Subjekt der Gesetzgebung zugleich zu sein, das ist ein Hauptzug des Lebens dort oben, im Norden (K 32).

Eds Aufbruch, sein Weg dorthin, seine Erfahrungen in der erdrückenden Atmosphäre in der Mitropa des Berliner Ostbahnhofs, die polizeiliche Überwachung der Bahnhöfe und Züge, die Verhöre und die rigide Drangsalierung im realsozialistischen Alltag erhärten den Wunsch nach Flucht auf die Insel der Träumer, “das Utopia in Seepferdchenform.”[8] In diesem Utopia der Nische findet Edgar/Freitag seinen Kruso/Crusoe, in einer Begegnung, die einen breiten Assoziationsbereich möglicher Interpretationen eröffnet. Der Roman läßt sich — laut Seiler — als “eine Abenteuergeschichte, ein Buch über eine Männerfreundschaft”[9] lesen, auch als ”Bildungsroman”[10] und ebenfalls als “Bild für den Untergang des Landes”[11], denn das Nebeneinander von individueller Freiheit und extremer, ins Surreale gesteigerter Unfreiheit läutet — so erfährt man aus den Berichten eines alten Radioapparates im “Klausner” — fast unbemerkt die Wende ein.

Drei diametral entgegengesetzte Personen beherrschen Leben und Atmosphäre auf der Insel Hiddensee: Vollmar, der Kommandeur einer Überwachungskompanie, dessen mit Maschinenpistolen und Patrouilleschiffen ausgerüstete Soldaten die Küste nach “grenzverletzenden” Flüchlingen absuchen; dann Rebhuhn, der notorische Stasioffizier der Insel und letztlich Kruso, ein nachts im Untergrund agierender Freiheitsguru, der eine andere Form von Macht verkörpert. Dieser Gründer einer antistaatlichen Gegengesellschaft ist — wie Elke Schmitter es treffend faßt — “ein Charismatiker, ein Dichter und Sonderling, aber auch ein gewiefter Verschwörer, der die Aussteiger, die Illegalen und die Suchenden auf dieser Insel um sich zu sammeln und zu schützen weiß.”[12] In diesem leidenschaftlichen Organisator der Subversiven entdeckt Edgar Bendler biografische, literarische und charakterliche Wahlverwandtschaften, die zu einem produktiven Verhältnis von Lehrer und Schüler führen. In der Gemeinschaft mit Kruso und den um Kruso Versammelten findet Ed Anregungen, über sich und sein Verhältnis zum Dasein nachzudenken.

In der Gaststätte “Klausner” trifft Bendler inmitten einer Gruppe von im DDR-Staat Gestrandeter auf diesen Wortführer der Freiheitssuchenden, Alexander Krusowitsch. In einer von Rimbaud, Artaud und Trakl literarisch aufgeladenen Atmosphäre wird hier unter den “Erleuchteten” einem neuen, inneren Freiheitsbegriff gehuldigt. Die Freiheit liege nicht — so Kruso — auf der westlichen Insel Møn, sondern in der Dichtung: Poesie ist Widerstand. Freiheit wurzelt im Menschen selbst. Dieser Freiheitsprophet wird für Bendler im besten Sinne eines Bildungsromans Lehrer, Freund, Leitbild, Vorbild, Meister: “Er fühlte sich geborgen in Krusos Nähe” (K 125). Krusos Selbstbewußtsein, seine Hingabe an die Mission, seine Leidenschaft helfen Ed, seine Depression und Verlorenheit zu neutralisieren und letztlich zu überwinden:

Kruso berührte etwas in ihm, das er entbehrte, vermisste, ein alter Mangel, nagend, eine Sehnsucht nach — er wusste es nicht, er hatte keinen Namen […] Kruso hatte ihm Aufgaben gegeben, er hatte Klarheit in Eds Tage gebracht und das unabweisbare Gefühl, dass es auch für ihn eine Möglichkeit gab, sich über sein diffuses, verfahrenes Dasein zu erheben (K 119).

In ihrer von Gedichten gestiftetn Vertrautheit – “Woraus ihr Unglück bestand (und was ihr Handeln bestimmte), war besser aufgehoben in einem Gedicht” (K 214) – hatten die beiden sich gefunden. Zumeist schöpfte die Gemeinschaft aus Gedichten Georg Trakls, in denen dieser seine seelischen Verwundungen, den Verlust eines geliebten Menschen gestaltete, Erfahrungen, mit denen beide Männer sich identifizieren konnten. Die Freundschaft der beiden Männer ist so eng, daß sie sich entscheiden, durch die rituelle Vermischung von Blut zu Blutsbrüdern zu werden, die geloben, sich in jeder erdenklichen Situation mit unerschütterlicher Treue beizustehen. Letztendlich sind es diese Freundschaft und die rituelle Atmosphäre des “Klausners”, die eine Verwandlung in Ed bewirken, eine biografische und existentielle Wiedergeburt am politischen Wendepunkt des Jahres 1989: “Ed begriff, dass man das eigene Leben immerzu verteidigen musste, einerseits gegen das, was dauernd geschah, andererseits gegen sich selbst und die Lust, aufzugeben” (K 90).

Wer ist dieser Freiheitsverkünder Kruso? Geboren wurde er 1961 im Jahr des Mauerbaus als Sohn eines sowjetischen Generals und einer deutschsprachigen kasachischen Zirkuskünstlerin, die tödlich verunglückte. Als sein Vater in die Sowjetunion zurückgeschickt wurde, zogen der sechs Jahre alte Kruso und die ältere Schwester Sonja auf die Insel Hiddensee zu ihrem Stiefvater, dem Strahlenforscher Professor Rommstedt. Die Insel wird für Kruso zum Ort jahrelanger Traumatisierung, denn an der Küste Hiddensees verliert er die geliebte Schwester, die bei einem Fluchtversuch ums Leben kommt. Dieser Verlust führt zu Obsession und einer fast biblischen Mission, denn die Wurzel der neuen Freiheit liege nicht — so folgert Kruso — in der westlichen Verbrauchergesellschaft, sondern im Inneren des Menschen, jenseits

von Ehrgeiz, Macht, Habgier, Besitz, rostiger, giftiger, aschener Schlacken […] Das ist die Freiheit, die ich meine. Sie ist das Denken des innersten Ichs, das Denken unseres Selbst in der Geschichte. Wir müssen nichts anderes tun, als dieses Denken zu wecken (K 258).

Der Stiefvater Rommstedt versucht, ein sachliches Urteil über diese verschwommene weltfremde Freiheitsphilosophie zu fällen. Auf das Trauma des Kindes eingehend, folgert er:

So besessen, aber im Grunde verwirrt er damals Tagebuch geführt hat, so gewissenhaft und verblendet nahm er später in Angriff, was er inzwischen, wie ich hörte, den Bund der Eingeweihten nennt. Eine Art Untergrund zur Anhäufung innerer Freiheit, eine geistige Gemeinschaft, irgendetwas in diesem Sinn; ohne Verletzung der Grenzen. Ohne Flucht, ohne Ertrinken. Keine kleine Illusion, eher eine ausgewachsene Wahnvorstellung” (K 306).

Diese Wahnvorstellung findet Anklang unter jenen, die aus dem engen Rahmen der DDR herausgefallen waren, “Schiffsbrüchige”, die rezeptiv sind für Phantasmagorien über eine Freiheit jenseits alltäglicher Zwänge. Thomas Andre bilanziert: “Dass Kruso die Klaustrophobie der ‘Schiffsbrüchigen’ übergangsweise durch seine Freies-Hiddensee-Spinnerei bannen kann, entspringt natürlich einer kollektiven Selbsttäuschung.”[13] Diese Selbsttäuschung wird von Ritualen gestützt.

Ed wird Schüler Krusos in einer Gruppe Gleichgesinnter, die oberflächlich Saisonarbeiter im “Klausner” sind, deren wahre Berufung jedoch in der Mitgliedschaft im “Kreis der Eingeweihten” liegt, einer Mischung von biblisch-esoterischer Gemeinschaft, Hippi-Kommune und literarischer Diskussionsgruppe. Zwölf Erleuchtete scharen sich beim Essen um den Meister und Lehrer. Gesang gehört zu ihrem Ritual, so das Lied vom Mond, vom Mann und vom Meer[14], “eine Art Hymne des Klausners, ‘unser Heiliges’, wie Kruso es später noch öfter erklärte” (K 97) : “Warum ziehen der Mond und der Mann zu zweit so bereit nach dem Meer, so bereit nach dem Meer!” Wie von einer Zauberformel berauscht, gerät der Chor der Zwölf während der Abwaschorgien in einen somnambulem Zustand der Verzückung: “Mit ihren ausgestreckten, von schmutzigem Geschirr bedeckten Armen wirkten sie wie Komparsen in einem absurden Stück” (K 96). Doch auch Musik ganz anderer Art — von den Erleuchteten kaum mehr wahrgenommen — ertönt im “Klausner”: die allabendliche Sendung der DDR-Nationalhymne nach Abschluss der Programme. Emotionale Bindung/Bonding, Zusammenhalt und Nähe ist verbunden mit einem ungemein hohen Arbeitsethos. Alle — nach einer Bewährungsprobe von Schweigen und Zwiebelschälen — arbeiten bis zur Erschöpfung in einem Milieu von Schmutz und ekligen Pflichten. Von Essensresten, Haaren und Schleim verstopfte Abwässer werden ins abstoßend Animalische mythisiert. In der “Klausner”-Arche” taucht ein ungeheuerliches, fauliges Abfall-Fabelwesen auf, ein Monster aus alten Seefahrergeschichten, denn die als “Lurch” bezeichnete glitschige Masse des Schmutzes ist — so Lothar Müller — “das Gestalt gewordene Ungeheuer der Kessel mit den faulenden Wassern.”[15]

Die Gemeinschaft der Zwölf fängt in der DDR gestrandete Neuankömmlinge auf, die jetzt “Pilger” genannt werden. Sie müssen sich strengen, fast liturgischen Ritualen unterziehen, bevor sie von der Gruppe mit Essen versorgt, betreut und verborgen werden. Rituelle Waschungen, Begrüßungen — “Wange an Wange” — und darauf folgende “Vergaben” stehen auf der Tagesordnung. Die Schutzbedürftigen werden bei den Erleuchteten oder sympathisierenden Inselbewohnern untergebracht, und auch Ed findet in seinem Bett des öfteren einen unerwarteten Gast. Doch der Pilger-Strom ebbt letztendlich ab. Mehr und mehr berichtet der alte Radioapparat Viola im Jahre 1989 von sich öffnenden Grenzen in Ungarn und den Ansturm von Flüchtlingen auf die Prager und Budapester Botschaft. Ironie ergibt sich aus Seilers Aussparung der dramatischen Ereignisse im Umfeld des Untergangs der DDR, aus dem Fehlen jeglicher Interpretation des politischen Zeitgeschehens. Im Umkreis des “Klausners” geht es allein um den engen, ganz aufs Private gerichteten Blickwinkel der Erleuchteten. Deren allmähliches Verschwinden von der Insel wird kommentarlos und wie beiläufig registriert. Zurück bleiben letztlich nur die Blutsbrüder Kruso und Ed. Zuzustimmen ist dem Kritiker Roman Bucheli, der über die enge Perspektive das Fazit zieht: “Lutz Seiler schreibt mit ‘Kruso’ einen Roman über die Wende von 1989 und erzählt aber eine ganz andere Geschichte.”[16]

Kurz vor der Wende verschwindet Kruso temporär aus dem Blickfeld Eds und der Inselbewohner. Er, der wegen staatsfeindlicher Gruppenbildung konstant von den Überwachunsorganen observiert wird, gerät in den letzten Tagen der sich auflösenden DDR erneut in die Fänge des Stasi-Offiziers Rebhuhn und landet im Gefängnis. Bereits als Jugendlicher wurde er wegen sogenannter Grenzverletzung zur Haft in einem Jugendwerkhof verurteilt. Als er jetzt wieder auf der Insel erscheint, befindet sich nur noch der auf Treue eingeschworene Freund Edward im “Klausner”. Kruso wird krank, physisch und psychisch krank, denn die Enttäuschung über den Verrat der Erleuchteten traumatisiert ihn. Seine gebrochene Biografie, die seelischen Verletzungen, der Verlust der Schwester im Wasser (“Hier wartest du so lange und rührst dich nicht weg […] Er hat gewartet, aber sie kam nicht zurück”) (K 301) machen ihn von Anfang an zum wahrscheinlich traumatisiertesten Mitglied der “erleuchteten” Parallelgesellschaft. Jetzt spielt Ed die Rolle des Vater in diesem Freundschaftsbund, die Rolle des Gebenden, des Pflegers und des Verantwortlichen: “Langsam redete sich Ed in seine neue Rolle hinein. Jetzt war er es, der Verantwortung übernehmen musste. Für einen Moment hatte er das Bedürfnis, Krusos großen nassen Schädel an sich zu pressen und zu wiegen wie ein Kind, das sich wehgetan hat, solange zu wiegen, bis es getröstet war” (K 177). Ed verspricht dem Kranken, dem Schicksal der Schwester und den vielen, auf der Flucht ertrunkenen Namenlosen nachzuspüren. Medizinische Hilfe für den schwerkranken Kruso kommt unerwartet. Deus-ex-machina-haft tritt ein surreales, expressionistisch überhöhtes Ereignis ein, das die Lösung des Problems, die Rettung Krusos bewirkt. Ein sowjetischer Panzerkreuzer erscheint im Nebel, und ein General und Matrosen kommen an Land und tragen den Kranken an Bord. Dann folgen einundzwanzig Salutschüsse, und das Schiff entfernt sich. Handelt es sich hier um ironisierende Symbolik? Der Kritiker Alexander Camman berichtet von einem Spaziergang mit Lutz Seiler auf der Insel Hiddense:

21 Schuss Salut, das bekommen nach dem Marinereglement nur Könige, erklärt Seiler, während wir zum Leuchtturm wandern. Uns fällt ein, dass die in diesem Schüssen gleichsam untergehende Epoche ebenfalls mit Schüssen eines russischen Panzerkreuzers began: mit den Schüssen der Aurora 1917 in Petrograd.[17]

Es scheint, daß auf dem Hintergrund der Wende wiederum eine historische Botschaft aus dem Osten kommt: “Die Aufgabe des Ostens, Ed, […]   wird es sein, dem Westen einen Weg zu zeigen. Einen Weg zur Freiheit” (K 409). Eine enigmatische Botschaft. An Perestroika ist kaum zu denken, denn der realitätsferne Schwärmer Kruso entschwindet ins Nebulöse, und in der Küche des “Klausners” bleibt Ed zurück: “Eine einsame komische Figur, aber auch treu und tapfer vielleicht” (K 433).

Dem Roman ist ein Epilog zugefügt. Jahre nach der Wende löst Edgar Bendler sein Versprechen ein, dem Schicksal der unbekannten Toten eines verschwundenen Landes nachzuspüren. Tief hat sich Krusos Bitte, ja Forderung in sein Gedächtnis eingegraben: “Und sollte ich einmal nicht hier sein, für eine Zeit, dann kümmerst du dich, versprich mir das” (K   438). Bendler reist nach Kopenhagen, um den Spuren der vielen auf der Flucht in der Ostsee Ertrunkenen nachzugehen. Im bürokratischen Labyrinth von Berichten der Polizei auf der Insel Møn, in dänischen Polizeiarchiven in Kopehagen und im Gerichtsmedizinischen Institut gelingt es ihm, über einige Ertrunkene Informationen einzuholen – u.a. über einen ehemaligen Saisonarbeiter im “Klausner” – Ertrunkene, die an der Küste der Insel Møn gefunden wurden. Einige wenige erreichten die Insel lebend. Die meisten jedoch wurden von den die Küste bewachenden Patrouillebooten entdeckt und den Sicherheitsorganen übergeben. Krusos Versuch, das Konzept einer inneren Freiheit zu verwirklichen, war gescheitert, ebenso, wie der Gedanke totaler gesellschaftlicher Freiheit. So bleibt es beim Experiment, bei der Sehnsucht, beim Traum. Sebastian Hammelehle zieht das realistische Fazit: “Dem Traum von einem Leben jenseits alltäglicher Zwänge. Den kann kein Staat erfüllen — aber eine Inselgemeinschaft um einen Robinson namens Kruso.”[18]

 


 

Endnoten

[1] Lutz Seiler, Kruso (Berlin: Suhrkamp, 2014). Zitate daraus im Text der Arbeit, markiert mit der Sigle K.

[2] Christiane Petersen, “Die Prosa verlangt viel Anwesenheit”, börsenblatt 42 2014.

[3] Horst S. und Ingrid Daemmrich, Themen und Motive in der Literatur (Tübingen: Francke, 1987), Stichwort “Robinson”.

[4] Daemmrich, Stichwort “Insel”.

[5] Elmar Krekeler, “Hiddensee war der Gipfel an Exotik”, Die Welt 8. Oktober 2014.

[6] Krekeler

[7] Sabine Vogel, “Interview. Die Dinge wirklich bis zum Letzten treiben”, Frankfurter Rundschau 8.Oktober 2014.

[8] Christoph Schröder, “Utopia in Seepferdchenform”, www.taz.de 16. September 2014.

[9] Krekeler, “Hiddensee war der Gipfel an Exotik”.

[10] Siehe u.a. Steffen Richter, “Im Bunde der Erleuchteten”, Der Tagesspiegel 7. September 2014; Helmut Böttiger, “Robinsonade auf Hiddensee” http://deutschlandradiokultur.de/roman-robinsonade-auf-hiddensee.950.de.html?dram.artikel-id=296013

[11] Krekeler.

[12] Elke Schmitter, “Der proletarische Zauberberg”, Der Spiegel 36 (2014).

[13] Thomas Andre, “ Die Schiffsbrüchigen des Sozialismus”, Der Spiegel 10. September 2014.

[14] Es handelt sich um das Gedicht “Melopee” des flämischen Dichters Paul von Ostaijen. Seiler zitiert die deutsche Übersetzung von Klaus Reichert.

[15] Lothar Müller, “Auf der Insel des zweiten Gesichts”, Süddeutsche Zeitung 6./7. September 2014.

[16] Roman Bucheli, “Und nachts dann die Nationalhymne”, Neue Zürcher Zeitung 4. 10. 2014.

[17] Alexander Camman, “Die letzte Instanz ist das Ohr”, Die Zeit 21. 8. 2014.

[18] Sebastian Hammelehle, “Deutscher Buchpreis für ‘Kruso’,” Spiegel Online” 6. Oktober 2014.

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Jun 05 2015

Axel Reitel

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Sommerofferte

Amour Anarchiste

Weil wir mit Blut genährt und Lichtangst aus dem Weibe müssen
Und dann nur glücklich sind bei Lichtgewinn in Finsternissen
Weil schon im Wegsehen Urteil ist und Trauerdinge nicht besaitet
Und wer anderen Verlust zufügt nur selbst Verlust erleidet

 

Weil wir das Babeln seit dem Turmbau nie verlernt
Und uns des Rufers Wüstenweisheit nur verhärmt
Weil nur die Rose uns ein offenes Geheimnis ist
Und unser Wissen in der Zeit liegt wie ein Ungewicht

 

Weil Nichtstun nicht die Hoffnung in den Schatten stellt
Und Macht in unerfüllten Händen Turm und Zaun um unsre Türen stellt
Weil es grau und krank macht: Haste ’mal ’paar Cent zu ville?
Und man vor Neuralgien kaum nüchtert zwischen Joint und Pille

 

Möglich sind allein die Liebenden für das Mordengehen blind
Im Herzen Chaos weniger als Staaten Träume sind

 1996 (Durchgesehen 12. Mai 2015)

 

Einer Namenlosen, die mich ein Stück Weg begleitete und vier Sätze sprach

Böhmischer Altweibersommer
entlang die Strasse von Brezan nach Osek
Vögel über den Feldern
Gesänge gefiederter Engel sagtest du
an den Weggrenzen Vogelbeerbäume
Gehängte Gekreuzigte
Zeichen sagtest du:
Die Früchte der knochigen Erde
Nahrung jenen sagtest du die nicht säen
nicht ernten

 

Heute ich sehe dich,
da jeder in seine Richtung weiter zog,
die Blätter der Bäume beträufelt sehe ich,
begleitet von den heiter- klagenden Liedern der Vögel –
bogenschlagend im Sprung
in die Unschuld des Himmels

1996 / 2015

 

Eine Ruderpartie auf der Moldau in Prag

für Kerstin Häberlein

Schwierig ist das Schöne.
Platon

Was trieb uns an der Wegwarte
zur Ruderpartie auf die Moldau?
Aurawogen ziehen am Kahn
mit dem Kieferlaut deiner Klarinette
und ein Geheimnis wird gesprochen,
das lautlos bleibt auf dem Fluß:
Neunzehn sind wir, undienstbar und zwanglos
und kennen doch außer unsrem kein anderes Land.
Stadt und Land hängen an goldenen Seilen,
so eifersüchtig wacht kein Gott,
wie unser gegenseitiger Staatenverband.
Und es teilen-teilen sich, unter den Windweiden,
unsere Wege auch, die wir noch gehen.
Herzschwingungen in der Luft,
Schiffssirene aus großer Entfernung.
Die Zeit ist ein fliehendes Pferd.
in der Hälfte des Lebens kommen wir zueinander,
dazwischen lautlose Jahre,
eine Liebe im vergessenen Jahrhundert,
immerhin nach überall jetzt,
Reisende auf eigene Bestellung.

August – 01. September 2014 / 12. Mai 2015

 

Ungestrafte Vorgänge[1]

La barbarie nous vaut mieux que la platitude.
Theophile Gautier[2]

Sommerofferte, nach uns schnappende
Unheilige in St. Hope [3], wir brachten alle um: mit wedelnder Rute
und triefender Schnauze, verschlangen
sie den Sachsenspeck (Blut-und Leberwürste, drin
die Überdosis Schlaftabletten)[4], womit
die Dämonendämmerung begann.
Es blieben ungestrafte Vorgänge. Zum Schutz
ihrer Handelsware, da waren wir ihre heiligen Kühe,
schwieg die Immmanenz. Unser Wert an D-Mark,
pro Mann hunderttausend, vergoldete
ihren Glauben an das Gesetz,
demnach ihre Welt noch in Form kommt.
Dazu fehlte es nicht an Brot.
Und eines Tages wurden die Rüden,
die überlebten, aus dem Zwinger, innen,
längsseits der Mauer, von den Wärtern
Würger (in SS – Design gebrachte Dienstmütze),
Rehrücken (dünne wie boshafte Erscheinung),
Onane (sichtbare Freude am Leid)
und Texaner (teuflisch schiefes Grinsen),
in namenloser Wut vor die Mauer
des größten Menschenhandelsknastes
auf Erden geführt. Und da huckten [5]sie.

3.- 17. Juli 2014 / 14. Mai 2015

 

George Tabori [6]

Ich sehe mich noch da [7], wohl als Epiphanie

Ich bin ihm ein einziges Mal begegnet.
Zuerst dachte ich an die Schaubühne.
Aber da probte Andrzej Waida in der Wrangelstraße [8] die Mordgeschichte um Rodion Raskolnikow.

 

Mit Heideggerjargon die Helmholtzstraße
zur TU und abends im Overall unter Bühnentechnikern
als Treidler am Lehniner Platz [9]: hier
war es Stein statt Tabori gewesen.

 

Death Destruction Detroit machte Wilson.
Der Schauspieler als Seiltänzer ruft und ruft
diesen einen Satz im beeindruckenden Bild:
Heute früh kam ein Brie-ief mit der zweiten Poo-oost!

 

Verliebte und Verrückte, vor Glück verrückt,
zum Verrücktwerden schön der Tag, die Nacht an der Mauer
und das halbe Jahr noch danach, die große Anarchie
der Herzen, diese Zeit habe ich geliebt.

 

Die Massenmörder und ihre Freunde
dominierten bald die Szene: Solingen [10] nicht vergessen und in Russland Wladimir Listjew [11] Ich sah, hörte George Tabori oft im Fernsehen (Radio),

 

aber das war noch nicht die Begegnung: die war
vor dem Berliner Ensemble. Das Leben, das
beweist, dass man von Berlin nach Kadmos weist,
inszenierte selbst: Tabori, umgeben von einem Chor,

 

tritt auf, im Mantel, ganz klar das goldene Vlies,
grad vom Purgatorium, blickt auf, erstaunt über diesen
Radfahrer am Weg, geht vorbei und hält den Blick,
als sähe er eine Erinnerung, vielleicht einen Engel.
Troß ab, ich da, weiß nicht, ob ich ein andrer war –

2009/6. Juli 2014

 

Verse VIII

Wer eine Frau umarmt, ist Adam.
Die Frau ist Eva.

Jorge Luis Borges

 

Umarme mich noch einmal im Bildersturm von Amsterdam
Die Häuser sind Schiffe dort die Flüsse Wolken
Die Namen der Grachten sind Prinsengracht Keizersgracht Herengracht
Der schwarze Kaspar geht hier so frei einher wie der weiße Balthasar
Umarme mich noch einmal unter den Augen Rembrandts, Van Goghs
Und vergiss nicht den Namen Anne Franks Prinsengracht Nr. 263
Und was unsere Väter hier oder zur gleichen Zeit in Paris
Warschau
oder Riga zu tun hatten
Nimm mich an deine Haut in diesem Hotelzimmer Harlemstraat
Und berühre mich wie sie einander in Babylon berührten
Dich blendet das Rotlicht meiner blonden Haare in der Vielfalt der Menge
Und ich höre den Ruf der Taube ihre Stimme klingt wie aus weinendem Rohr
Lilith, Lilith
nimm mich unter deine Augen bevor die Häuser nur noch Häuser sind –
Ich vermisse den Geruch deiner Hände

1996 (Durchgesehen 12. Mai 2015)

 

Verse XXII

Ich bin so müd und hab genug
Der rabenschwarzen tauben Liebe
In der das Herz pocht wie Rattennest
Und hält sich an Verlusten fest

 

Ich bin so müd und hoffnungswach
Und gehe langsam meiner Sehnsucht nach –
Ich seh in allen Augen Schlachthausfreuden
Und hör im Dunkel Hochzeitsläuten

1996 (Durchgesehen 12. Mai 2015)

 

Die Magnolien

meiner Christa

Magnolienblüten im Blau, April
treibt die Wochen jahrwärts landauf
die frisch Verliebten gehen vom Schlaf ein letztes Stück
und dein Atem lächelt immerfort
aus der Welt das Un-Stimmbare,
vom Schlaf die Beweinfiguren der Schierlingspflanze
und die große Liebe, herb-harsch ihr Counter-Part.

 

Was kann ich sagen: wir waren am Meer
der Rabe rauschte über unsere Köpfe. Am Abend
am Strand lagen zwei Steine nie-nie-gesehen,
du warfst sie zurück in den Abgrund.
Am Morgen zurück kehrte der Rabe
und drehte über uns flatternd ab
sanft im Blau. Du darfst das Leben nicht verpassen.

Berlin-Amsterdam-Egmont-Berlin
April – 12. Mai 2015

 

Axel Reitel mit seiner Freundin Christa Speidel am Strand von Egmont, Mai 2015.

Axel Reitel mit seiner Freundin Christa Speidel am Strand von Egmont, Mai 2015.

 

Der Tod von Nicole, Berlin 2012

I pity the poor immigrant
who wishes he would’ve stayed home
who uses all his power to do evil
but in the end is always left so alone

Bob Dylan, “I pity the poor immigrant”

 

Sie suchte. Sie war noch jung.
Um die zwanzig. Über der Tür
der Lavendelstrauch. Auf ihren
Kleidern waren immer Ornamente.
Sie trug Amulette und glaubte
an den Onyxstein [12]. Oft mit in unsrer
Runde von Freunden, war sie
der orientierungslose Irrstern.
An einem schönen Wochentag,
riss sie ihren Mitbewohnern –
vierzig weißen stubenreinen Ratten -,
die Köpfe ab. Und so Hals-über Kopf
im Rattenblut, kam sie in die Psychiatrie,
worauf von uns Jeanette ihr
die anwesende Mutter wurde. Sie nahm sie
bei sich auf und half ihr weiter suchen.
Das sah erst einmal gut aus, dann gab
Nicole auf, sie wurde gefunden.
Ihr Ehemann war jünger noch,
mit einer wenig vorteilhaften Vergangenheit,
lebte er auf Duldung, leistete
Arbeitsstunden für sein Bleiberecht
und schickte Ihr die schönsten Liebes-SMS
aus jenem Heim bei Rottweil.
Das Hochzeitsfoto stammt
aus einem Restaurant mit Blümchentapete
und klebte noch nicht im Album,
als Nicole beerdigt wurde. Er sagte aus –
und ließ sich dabei theatralisch von Verwandten stützen-,
sie sei vom Fenster einfach runter auf die Straße.
Doch von uns Jeanette zählte dagegen die
Schläge und Drohungen von ihm
auch gegen sie, ewig
diese ganze dauernde kurze-kurze Zeit.

Juli 2014 – 14. Mai 2015

 

In Memoriam W.K.

für Christa Speidel

Wir kauften
Zauberschnee und Gauklerblume
für das Grab des Schauspielers K.
Stimme des Königs der Löwen.
Hoch gewachsen,
naturwissenschaftliches Abitur,
Schauspielschule Rostock,
fiel in Ungnade in der Armee,
ging schließlich von Ost nach West.
Schwedt aber
schwedtete [13] schwer im Gemüt.
Der Erfolg ist ein Meister im Vergessen.
Das Vergangene trieb ihn
ins bi-polare Land [14].

Mai 2015

 


 

Endnoten

 

[1]  Authentischer Vorgang aus dem Jahr 1982 in der Strafvollzugsanstalt Cottbus. Erzählt im September 2014 in der heutigen Gedenkstätte „Zuchthaus Cottbus“. Der Autor befand sich zur Zeit des Vorgangs bereits in der Bundesrepublik.

[2]  Unsere Barbarei muss die/ihre Gemeinplätze übersteigen. Zitiert von Ernst Jünger in seinem Roman Afrikanische Spiele, Einmalige Ausgabe Deutsche Hausbücherei Hamburg, Band 7 der 21. Jahresreihe, S. 224.

[3] St. Hope ist eine vom Autor gewählte romanhafte Bezeichnung für den Freikauf-Knast Cottbus, da dieser irrationale Ort (ein Gefängnis!) den Begriff auf tief-ambivalente Weise den Begriff der Freiheit sowohl für die politischen Gefangenen (die Hoffnung auf Freiheit) als auch für den SED-Staat (die Hoffnung auf Devisen) verkörpert hat.

[4]  Diese mit Schlaftabletten versehenen Würste wurden von den Häftlingen Preußenspeck genannt, obschon sich das Zuchthaus Cottbus in der Lausitz befindet. Von diesen Aktionen wurde dem Autor erzählt, er selbst war zu dieser Zeit bereits freigekauft.

[5]  hucken – umgangssprachlich für kauern, zusammengekrümmt hocken.

[6]  Taboris Blick im Gedicht erklärte die Witwe mir, demnach läge eine Ähnlichkeit vor mit einem Oheim, der in einem Konzentrationslager umgebracht wurde. Das Gespräch fand auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof statt. Ich besuchte das Grab meines Bruders Ralf, wenige Schritte von Taboris Grab entfernt.

[7]  Vor dem Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm.

[8]  Nebenbühne der Berliner Schaubühne im Stadtbezirk Kreuzberg.

[9]  Als Treidler am Lehniner Platz: Beim Umbau des von Peter Stein inszenierten Stückes „Ein haariger Affe“ (Eugene O’Neill) musste der große Schiffsbau des ersten Aktes von der Bühne weggezogen werden. Der Autor arbeitete von 1986-1990 als studentische Hilfskraft (Kulissenschieber) an der Berliner Schaubühne.

[10]  In Solingen wurde im Jahr 1994 ein von türkischen Familien bewohntes Mehrfamilienhaus von vermutlich einer rechtsextremistischen Gruppierung in Brand gesteckt. Bei diesem Brand kamen mehrere türkische Familienangehörige ums Leben.

[11]  Wladimir Listjew war ein russischer zeitkritischer Journalist und wurde wegen seiner Berichterstattung 1994 in Moskau ermordet. Er gilt als der erste der seit der Gründung Russlands (1991) ermordeten russischen Journalisten.

[12]  Onyx ist undurchsichtiger, schwarz-weiß geschichteter Quarz.

[13]  Das DDR-Militärgefängnis der Nationalen Volksarmee in Schwedt war als besonders schweres Straflager um so mehr berüchtigt, da die Mehrzahl der Verurteilten bis heute über die traumatischen Erfahrungen vor Ort schweigt.

[14]   „Mit Bipolaren Störungen bezeichnet man eine Gruppe krankhafter Stimmungsschwankungen bzw. -veränderungen, die sich zwischen himmelhoch jauchzend (manisch) und zu Tode betrübt (depressiv) bewegen und durchaus sehr verschiedene und individuelle Ausprägungen sowie Verläufe haben können. Es handelt sich um keine klar umschriebene Erkrankung wie man es etwa vom Bluthochdruck oder Diabetes mellitus kennt, sondern um eine in Episoden oder Phasen verlaufende psychische Erkrankung, die das ganze Spektrum der menschlichen Stimmungszustände widerspiegeln kann.“ Quelle: http://dgbs.de/bipolare-stoerung/ (Stand 14. Mai 2015)

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Jun 05 2015

Autoren Glossen 40/2015

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Michael Augustin ist ein in Lübeck geborener Bremer Lyriker, Essayist, Autor kurzer Prosa und Dramen. Außerdem ist er Redakteur bei Radio Bremen.

Christine Cosentino ist “Professor of German” an der Rutgers University in Camden und Mitherausgeberin der 1997 gegründeten Literatur und Kulturzeitschrift Glossen.

Susanne Eules ist eine deutsche Autorin, Lyrikerin und Übersetzerin. Sie lebt in DeLand, Florida. (Homepage)

Gabriele Eckart ist eine deutsche Autorin und “Professor of German and Spanish” an der Southeast Missouri State University.

Klaus Rainer Goll  ist ein Lübecker Schriftsteller, der seit 1965 vor allem durch seine Gedichte und Kurzprosa bekannt geworden ist. Er ist Gründer des Lübecker Autorenkreises und Empfänger verschiedener Literaturpreise. Im Jahre 2010 wurde er mit der Verdienstmedaille des Bundesverdienstkreuzes ausgezeichnet. Homepage

Richard Leising (* 24. März 1934 in Chemnitz; † 20. Mai 1997 in Berlin) ist ein deutscher Lyriker, der oft Sächsischen Dichterschule zugeordnet wird. 1992 wurde ihm der Christian-Wagner-Preis verliehen.

Frederick Lubich ist “Professor of German” an der Old Dominion University in Norfolk, VA.

Utz Rachowski ist ein deutscher Autor und Lyriker. Obwohl er ein überzeugter Vogtlandes ist, wohnt er ab und an auch in Berlin, wenn er nicht gerade auf Reisen ist, z. B. in den USA.

Axel Reitel wurde in PLauen/Vogtland geboren, lebte aber seit seinem Freikauf aus der DDR-Haft im Jahre 1982 in der Bundesrepublik und in Westberlin. Er ist ein deutscher Journalist, Sozialwissenschaftler und Autor.

Susanne Schädlich ist eine deutsche Autorin, die in Berlin lebt. Homepage

Gerd Uhlig-Romero wurde in Heidelberg geboren. Er studierte Musik und darstellende Kunst in Wien und ist Regisseur, Schauspieler, Gründer des Cafe und der Galerie Einstein in Berlin, wo er Fotoausstellungen mit internationalen Fotokünstlern wie Dennis Hopper, Wim Wenders, Helmut Newton realisiert.

Margrit Zinggeler ist “Professor of German”. Sie unterrichtet deutsche Sprache sowie deutsche und schweizer Kultur an der Eastern Michigan University in Ypsilanti, MI.

 

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Jun 05 2015

Susanne Eules

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poems from: herding the queen’s hares

 

hare paw notes
Italics: from Friederike Mayröcker’s dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif (that little jacket (namely) of the bird Griffin), Suhrkamp 2009 and études, Suhrkamp 2013, Frankfurt am Main, Germany.
Mayröcker’s first mentioned title refers to the Brothers Grimm fairytale of the Bird Griffin, KHM 165 in which another type of fairy tales AT 570 Herding the King’s hares is included.

 

coinevale

lights turned off : there is this drumfare : the game fair @ 4 : am : the fanfare

of whistles as in procession for warfare : the cortège : the inner ring with tickell’s

& naumann’s ouzeling : the outer clockwise counter with true thrushes in dark

bushes : a wayward ring : o : how they on trailers : throwing sweets or treats :

waggis & räppli : copious amounts of coinfetti : unicoloured : redwinged : rufous

bellied cliques of nullarbored quails : mutediuos : crimson winged : white crested

bluethroats : marching with tottering pipes : schyssdräggziigli : in the end all

masqueraded nightingales : eyebrowed fieldfares : hâ[r]z coinstumed forever

 

Notes

https://en.wikipedia.org/wiki/Carnival_of_Basel

http://www.youtube.com/watch?v=iT8Capo9o9M

http://www.youtube.com/watch?v=9ZTn3TQE3UM

 

hâ[r]z: combination of hare and hâz (old high German) for clothing

 


 

coinnale

germania’s title taken down from the neoclassicist facade stairwell pathetic

gesture & placed interiorly on the half round wall : imperial eagle & preyed

hare as swastika : recoined : an oversized Deutsche Mark framed by oaks’

leaves : reunified & coinversioned in 1990 : a monetary monastery : trans

cendent : superior : unavailable in monst[e]rance transsubstanti[n]ation :

demonstration of thaler by coin : a temporary measure : a provisional

arrangement of wooden slats supporting the magnificently red staged photo

graph of italy’s & germany’s leaders’ 1934 biennale visit : a marbled floor

approved in 1937 by aspiring artist a.h. : abandoned after ww2 : adopted

in 1950 by the ecoinomic miracle : smashed in 1993 & expaendsed in rubble

: ding dong : hark now i hear them : ding dong bones not coral made :

full fathom five our fathers & enemies lie : the sound of mortal buszziness

: icy & shattered ship wrecks :   demindted   capitaliznation

 

Notes

In reference to Hans Haacke’s contribution to the 1993 Venice Biennale ‘Germania’ & William Shakespeare’s Ariel’s Song.

In Nazi Germany, the emblematic hare was replaced by a swastika, see: Simon Carnell: Hare, London 2010, p. 55.

 


 

 

microgram

evening settles

into a conversed

canvas glowing

at the first flake

then without

sound & word

i am beside myself

robert walser said

succumbing : stum

bling at the slope :

his hat rolled on

for a while from

a low angle a last

full stop on the

overly exposed

photographic plate

 

Notes

Robert Walser, born April 15, 1878 was a German-speaking Swiss writer who loved long, lonely walks. From 1929 on, after a mental breakdown, he lived in the sanatorium Herisau. More and more, he used the way of writing he called the pencil method: He wrote poems and prose in a diminutive Sütterlin hand, letters measuring about a millimeter of height. On the 25th of December 1956 he was found, dead of a heart attack, in a field of snow near the sanatorium. The photographs of the dead walker in the snow resemble a similar image of the dead poet Sebastian in the snow in Walser’s first novel, Geschwister Tanner.

 

Werner Morlang and Bernhard Echte were the first ones who deciphered Robert Walser’s microscripts. In the 1990s, they published a six-volume edition, Aus dem Bleistiftgebiet (From the pencil area).

 


 

sea haress at the pool

you have to get used

you have to get used

to the fact that every

pool is filled with diff

erent water & people

though the old women

seem to have come all

the way from my origi

nal home place across

the atlantic they talk

about the same old

things only in a foreign

language & meanwhile

to the 85 year old the

grown toenail had bro

ken into a deadly wea

pon requiring shears

handled by her swim

mate but this is after the

workout with my tinted

goggles usually protect

ing me against eternal

sunshine which turn the

water up state into a de

ep see from which i e

merge with an undulating

chest & vermount fuji in

my chirping twitching eye

 

johnsdaughter, vt

[dropping the real

state of my belong

ing/eternal sunshine]

 

almost the whole day

i have concealed with

in myself : this lostness

– verlorenheit – of my

tongue : how far have

i come departing in north

baden or as we call it

badisch siberia with stop

overs in dull workplaces

w/o intimate relations

other than far voices

oh i was wandering a

round like today in half

leaved woods & fields

every thing only bricolage

a tinkering with words

by minding pencils

 

hybrids : sustain your energy

Lepus Cornutus

Lepus Cornutus

the lepus cornutus is not what you think of a haress’ cuckolded husband but has been leaping through historiae animalium : theatra universalis since medieval times making it on the 1662 frontispiece of physica curiosa with even farther illustration : in 1743 it has been sighted in jacob theodor klein’s summa dubiorum : furthermore was listed as having crossed the borders in 1817 to appear in the nouveau dictionnaire d’histoire naturelle but that’s just an assumption because of its extreme shyness : although there are reports of rare cases where some female had – as sleeping belly up – been milked for the purpose of various medicinal treatments in cases of lascivious & hypersexual behavior : homesickness : bouts of melancholy or virgin births & one case of resurrection : faithfully miraculous & mysterious they only breed during winter electrical storms & are extremely dangerous if approached : defending their territory luring intruders away by convincingly imitating the human voice sometimes even pointing the path towards saxony : there it goes : that way :

 


 

children’s song

not yet cast the coat

the handmade paper

lantern lit by stars &

ourselves : still in fog

liolage i wait for ink

ing time : not the short

breathed lines of sheet

cut patterns : but the

cuplets of snow rabim

mel rabammel rabum

 

Notes

 

St. Martin’s Day, also known as the Feast of St. Martin, Martinstag or Martinmas, the Feast of St. Martin of Tours or Martin le Miséricordieux, is a time for feasting celebrations. St. Martin was known as friend of the children and patron of the poor. In Germany, on the night of Nov. 11, children walk in processions carrying lanterns, which they made in school, and sing Martin songs. Usually, the walk starts at a church and goes to a public square. A man on horseback dressed like St. Martin accompanies the children. When they reach the square, Martin’s bonfire is lit and Martin’s pretzels are distributed

 


 

portrait of the stargazer field

 

is there anguish that swirls

& whirls & will never end les

bons mots carried their furo

sophical exclamation mark

tonicity idiomaticity inaudible

furibility that mix & portée the

german tongue the taste of self

: hares : ein vermögen : possessed

costing a fortune & nearly impo

ssible to bound outside the circle

of assassins kafka would say :

now after the night the day you

would say where are we where

do we awaken where do we keep

watch on awakening this new us

 

 

thamnocoloi

at spychernplatz,

berlin germany

 

meene beene

tun so wehe

down to core

& pith i wish

hoppel di po

ppel myself

to beat the ho

oks to mingle

for a blissful

supper in their

island’s shrubs

 

Notes

 

thamnocolous: shrub inhabiting species (Dictionary of Ecology and Environment).

meene beene tun so wehe: Berlinian for my legs hurt so much.


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Jun 05 2015

Frederick A. Lubich

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Mauerschauen und Kassandrarufe: Von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes zu Samuel Huntingtons Clash of Civilizations und darüber hinaus

Jahrhundert- und mehr noch Jahrtausendwenden inspirierten seit jeher Kulturhistoriker zu umfassenden und weitschweifenden Rückblicken und Vorschauen. Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1918) is so eine epochal-enzyklopädische Retrospektive, die Aufstieg und Fall der großen Weltreiche darstellt und am Ende des ersten Weltkriegs dem christlich-europäischen Abendland den fortschreitenden Verfall seiner Weltordnung und Wertanschauung voraussagte.

Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts veröffentlichte der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington sein Werk The Clash of Civilizations (1996), in dem er unter anderem den kommenden Kampf zwischen der abendländischen und morgenländischen Kultur prophezeit. Zuerst als munkelnde Unkenrufe eines pensionierten Professors belächelt, gewann Huntingtons Zukunftsvision nach dem Anschlag von Allahs Gotteskrieger auf das World Trade Center in New York kurz nach der Jahrtausendwende ominöse Aktualität.[1]

Der Kontakt zwischen der christlich-okzidentalen und islamisch-orientalischen Zivilisation war jedoch nicht immer kriegerisch. Er geht bis ins achte Jahrhundert zurück, als maurische Eroberer in Andalusien ein multikulturelles, christlich-jüdisch-islamisches Reich errichteten, dessen fruchtbar-friedfertiges Zusammenleben als sagenhafte „Convivenzia“ beispielhafte Bedeutung gewann und deren kulturelle Mannigfaltigkeit noch heute vor allem im Prachtbau der Alhambra, dem Kronjuwel des arabischen Spaniens, zu bewundern ist.

 

 

image001

Alhambra, Granada

 

Als ich vor zehn Jahren beim Hinaufstieg zur Alhambra diese Aufnahme machte, wusste ich noch nicht, wie sehr mich diese Burg in ihren Bann schlagen würde. Der Prunk ihrer vielschichtigen Architektur, die malerischen Arabesken der Deckengewölbe, die Pracht ihrer blühenden Gärten und ihrer zahlreichen Wasserspiele, allen voran, das Generalife, dessen kunstvoll angelegte Parklandschaft eine Nachbildung des Paradieses darstellt, das alles zeugt von einer für die damalige Zeit ausgesprochen fortschrittlichen Hochkultur. [2]

Die Alhambra und ihre maurisch-andalusische Kultur ist nicht das einzige Beispiel für die geschichtlichen Begegnungen und den Austausch zwischen islamischer und christlicher Kultur. Der Fall von Konstantinopel im Jahre 1492 löste nicht nur eine Wiedergeburt des heidnischen Altertums aus, deren römisch-griechisches Kulturerbe sich bis in die Nordische Renaissance der Nürnberger Reichsstadt ausbreitete, er führte auch zu einer fortschreitenden Expansion des osmanischen Herrschaftsbereiches bis vor die Tore von Wien. In der Bilderwelt Albrecht Dürers, des Großmeisters der Nürnberger Renaissance, treffen die Muselmanen, wie damals Muslime genannt wurden, zum ersten Mal in der abendländischen Umwelt augenfällig in Erscheinung.

 

 

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Albrecht Dürer, „Die Türkenfamilie“ (um 1496)

 

Dürers ikonisches Bild „Das Meerwunder“ bringt die damalige Begegnung der beiden Kulturkreise wohl am anschaulichsten zum Ausdruck. Während sich im Vordergrund ein entblößtes Meerweib räkelt, fuchtelt ihr vom anderen Ufer am Fuß der aufragenden Nürnberger Burg ein Muselmann offensichtlich aufgebracht entgegen. [3]

Seit der Renaissance hat die christliche Zivilisation in den folgenden fünfhundert Jahren einen systematischen Säkularisierungsprozess durchlaufen, der in der fortschreitenden Emanzipation der Frau sowie in der sukzessiven sexuellen Revolution des zwanzigsten Jahrhunderts seinen kulturgeschichtlichen Höhepunkt erreichte.

 

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Albert von Keller, „Im Mondschein“ (1894)

Diese Kreuzigungsszene stellt eines der evokativsten Sinnbilder dieses Wandlungsprozesses dar. Die Vertauschung des männlichen Körpers mit einem weiblichen Körper verwandelt auf der religiös-symbolischen Ebene den Sohn Gottes in eine Tochter Gottes. Gesellschaftskritisch gesehen vergegenwärtigt diese Geschlechtsverwandlung die zweitausendjährige Geschichte eines gewalttätig-frauenfeindlichen Patriarchats, das im wütenden Hexenwahn des späten Mittelalters und ihren überall brennenden Scheiterhaufen seine grauenhafte Zuspitzung gefunden hatte. Gleichzeitig beschwört die Nacktheit dieser Gekreuzigten die verlockende Sinnlichkeit der heidnischen Liebesgöttin herauf, deren Erotik zum aphrodisischen Elixier des modernen Zeitgeistes werden sollte und dies auch ganz in der ikonographischen Repräsentation dessen, was Friedrich Nietzsche die „Umwertung aller Werte“ genannt hatte: Gott ist tot – es lebe die Göttin.[4]

Diese christliche Abenddämmerung ist die sinnbildliche Gegenvision zur muslimischen Morgendämmerung, zur Renaissance einer islamischen Kulturexpansion, wie sie sich weltweit abzuzeichnen beginnt. Die gewonnene Freiheit und Freizügigkeit der abendländischen Frau steht dabei im wachsenden Widerspruch zur zunehmenden Verschleierung und Bevormundung der morgenländischen Frau, wie sie vor allem von extremen Exponenten des Islam propagiert und praktiziert werden. Freiheit und Geschlechtergleichheit, Hedonismus und Globalkapitalismus, das sind die westlichen Wertvorstellungen, die islamistische Gotteskrieger bei ihren grauenhaften Attentaten ins Visier nehmen – vom World Trade Center in New York bis zu den Koscherläden, Synagogen und Supermärkten von Paris, Kopenhagen und Nairobi.

Europa zwischen okzidentaler Trutzburg und orientalischem Troja: Ist die Migration des Orients in den Okzident nur eine panische, pan-europäische Fata Morgana, deren Befürchtungen sich bei genauerem Betrachten in Nichts auflösen, oder kommt diese zeitgenössische Völkerwanderung tatsächlich jenem von der homerischen Kassandra so viel berufenen Trojanischen Pferd gleich, das die Festung Europa früher oder später erobern wird? Wo sind die wahren Wahrsager?

Pegida, Charlie Hebdo, Boko Haram und allen anderen islamistischen Terroraktionen in diversen Kontinenten zum Trotz, die islamische Kultur gehört längst – und dies einmal mehr – zur westlichen Zivilisation. Nationen wie Deutschland, England und Frankreich haben nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen von Muslimen als Gastarbeiter ins Land gerufen oder als Bürger ihrer ehemaligen Kolonien in ihrem Land aufgenommen. Einwanderer gehören, wie die Weltgeschichte immer wieder gezeigt hat, zu den jungen und aufstiegswilligen Mitgliedern einer weltoffenen, zukunftsorientierten Gesellschaft. Daran werden auch Allahs radikal-desperate Amokläufer nichts ändern. Genau besehen verbleichen vielmehr ihre heutigen glaubenswirren Attacken im Vergleich zu den jahrhundertealten Horrorgeschichten des christlichen Abendlandes, angefangen von den mehrfachen Kreuzzügen über den Dreißigjährigen Religionskrieg bis zum bodenlosen Abgrund des Holocausts in unserer jüngsten Geschichte.

Das von Jürgen Habermas so oft beschworene unvollendete Projekt der Moderne wird sich in der Zukunft vor allem an der produktiven Integration politischer Asylanten und ökonomischer Immigranten verwirklichen müssen. Dies gebietet nicht nur die moralische Integrität sondern auch die demografische Kalkulation. Während Europas Bevölkerung an mangelndem Nachwuchs und wachsender Überalterung zu leiden beginnt, zeichnen sich islamische Gesellschaften durch das Gegenteil aus, wie dies vom renommierten Pew Research Center Anfang April dieses Jahres erneut bestätigt und umfassend veranschaulicht wurde. Wäre da nicht eine Verflechtung abendländischer Volkswirtschaften mit morgenländischem Bevölkerungswachstum ein grundlegender Beitrag zur gegenseitigen Bereicherung? Vor allem Deutschland, das eine der niedrigsten Geburtenraten und eine der besten ökonomischen Infrastrukturen in der Welt besitzt, könnte von diesem Ressourcen-Transfer auf lange Sicht profitieren.[5]

Denk ich an Europa in der Nacht … Anstatt sich von den düsteren Mauerschauen und fremdenfeindlichen Kassandrarufen abendländischer Nachtwächter ins Bockshorn jagen zu lassen, wäre ein etwas weiter ausschweifender Rundblick ratsam ganz nach dem Motto der amerikanischen Postmoderne: „Back to the Future“. Blicke ich so von der Neuen Welt zurück in die Alte Welt, so scheint mir, die kulturelle Blütezeit des maurischen Andalusiens rund um die mittelalterliche Alhambra wäre in der Tat – wie schon gewisse deutsche Zeitungen vor über zehn Jahren zu berichten wussten – nicht das schlechteste Vorbild für die Utopie eines multikulturellen, und vor allem religiös toleranten Europa.

 
 

Endnoten

[1] Unter den kulturpessimistischen Kassandrarufern der Jahrtausendwende ist Huntington wohl der hellsichtigste, hat er doch auch die ethnisch-nationalistischen Spannungen zwischen der West- und Ostukraine und das mögliche Auseinanderbrechen des Landes um rund zwanzig Jahre vorausgesehen.

[2] Nach meiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten stürzte ich mich regelrecht in die weitere Erforschung der maurisch-andalusischen Geschichte. Sowohl die Augsburger Allgemeine als auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichten damals Teile meiner kulturhistorischen Ausschweifungen rund um die Alhambra. Was mich dabei anfangs überraschte war die Tatsache, dass sie meine ohnehin schon euphorischen Essays mit noch weitaus enthusiastischeren Titeln versahen. Erstere titelte „Symbiose der Kulturen. Das maurische Andalusien – ein Zukunftsmodell?“ (3. August, 2004). Letztere machte gar auf mit der Überschrift: „Ein Siebter Himmel: Es war einmal eine Kultursymbiose: Granadas Alhambra.“ (12. August 2004). Ich kam damals zu dem Schluss, dass es nach dem 11. September 2001 der deutschen Presse besonders wichtig war, auch ein radikal anderes Bild vom sogenannten Kampf der Kulturen zu präsentieren, gewissermaßen eine utopische Gegenvision zu den Horrorbildern von Manhattan, das so manchen zu jener Zeit geradezu als Menetekel kommenden und noch weitaus schlimmeren Unheils erschienen war.

[3] Dürers Holzschnitt “die Türkenfamilie” entstammt dem Buch Albrecht Dürer. Das grafische Werk. Druckgrafik. Köln: Parkland, 2000, Seite 806. In diesem Band finden sich auch noch weitere Beispiele zu diesem christlich-islamischen Kulturkomplex zur Zeit der Nordischen Renaissance.

[4] Das Gemälde von Albert von Keller entstammt dem Band Albert von Keller. Salons, Seancen, Secession. München: Hirmer, 2009, Seite 117. Mehrere Künstler der europäischen Décadence zur Zeit des Fin de Siècle

haben immer wieder gekreuzigte Frauen ins Bild gebannt, allen voran der Belgier Félicien Rops, in dessen blasphemischen Universum mehrfach schöne, verführerische Frauen ans christliche Kreuz fixiert oder mit ihm assoziiert erscheinen.

[5] Ergänzt wird Deutschlands überaus niedrige Geburtenrate durch die statistische Tatsache, dass es schon seit längerer Zeit die höchste Einwandererquote in Europa hat. Für das gegenwärtige Jahr 2015 werden bereits 300 000 Asylanträge erwartet, wie das Online-Magazin Deutschland-Nachrichten am 2. März, 2015 zu berichten wusste. Im Gegensatz zu Europa, wo ein Teil der muslimischen Immigranten und ihrer Nachkommen zur Bildung von Subkulturen und ethnischen Parallelwelten tendieren, sind in Amerika Einwanderer aus islamischen Ländern insgesamt weitaus besser integriert. So könnte sich die oft so amerikakritische Alte Welt an der Neuen Welt und ihrer weiterhin ungebrochenen Integrationskraft durchaus einmal ein gutes Beispiel nehmen.

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Jun 05 2015

Most Recent Issue – Glossen 40/2015

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Lyrik

Susanne Eules, poems from: herding the queen’s hares

Klaus Rainer Goll, “Fremd bin ich eingezogen/ fremd zieh ich wieder aus” — fünf Gedichte

Richard Leising, Bodden

Axel Reitel, Sommerofferte

Interview

Frederick A. Lubich, Interview with Michael Eskin, Scholar, Author and Co-Founder of the German-American Publishing House Upper West Side Philosophers

Anekdote

Gerald Uhlig-Romero, Popstar, Genie und Wahnsinn: Der Nobelpreisträger für Mathematik John Nash besuchte schon 1996 das “Cafe Einstein Unter den Linden” in Berlin

Essay

Frederick A. Lubich, Mauerschauen und Kassandrarufe: Von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes zu Samuel Huntingtons Clash of Civilizations und darüberhinaus

Frederick A. Lubich, „Schlag noch einmal die Bogen“. Reisebilder und Wandergeschichten im Wandel der Zeiten. Zweiter und dritter Teil der Serie “L’Après Midi Éternel: Vom langen Atem der Liebe”

Artikel

Christine Cosentino, “Deformierte Verhältnisse” vs. “unmittelbare Gemeinschaft”: Freiheitsutopien in Lutz Seilers Roman Kruso.

Gabriele Eckart, The Functions of Multilingual Language Use in Katja Petrowskaja’s Vielleicht Esther

Margrit Zinggeler, The “Eastern European Memory” in Contemporary German Swiss Literature

Laudatio

Michael Augustin, Laudatio auf Günter Kunert anläßlich der Verleihung des Kunstpreises des Landes Schleswig-Holstein am 30.Oktober 2014 in der Kieler Kunsthalle

Utz Rachowski, Der Sinngeber — Meine wunderbaren Jahre mit Reiner Kunze als Leser, Mitwirkender und Kollege.

Autoren

Autoren Glossen 40, 2015

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Apr 10 2015

Frederick A. Lubich

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Le Quattro Stagioni – Da Capo Al Fine

Zweiter Teil der Serie “L’Après Midi Éternel: Vom langen Atem der Liebe“

„Tief im Herzen muss ich‘s spüren:
Liebe, wunderschönes Leben,
wieder wirst du mich verführen.“

Joseph von Eichendorff, „Anklänge“

Für Lynne

 

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„Schläft ein Lied in allen Dingen“
 
Lang lieb ich dich schon, dich und Heidelberg …
Wie herrlich war uns dort der Frühling erwacht,
wir schwärmten hinaus in die Felder und Wälder
und schwelgten in ihrer blühenden Pracht.
 
Und überall war ein Summen und Singen,
mir klingen noch heute berauscht die Ohren,
und ich wusste schon damals, ich hatte auf immer
mein Herz in Heidelberg verloren.[1]

 


[1] Zum ersten Teil der Serie „L‘Après Midi Éternel: Vom langen Atem der Liebe“ siehe auch Glossen, Nr. 34, April 2012, zum Bildnachweis siehe den folgenden dritten Teil der Serie „Schlag noch einmal die Bogen“. Das Titelzitat „Schläft eine Lied …“ stammt aus Joseph von Eichendorffs bekanntem Vierzeiler “Schläft ein Lied in allen Dingen / die da träumen fort und fort / und die Welt hebt an zu singen / triffst du nur das Zauberwort.“ Diese Strophe chiffriert nicht nur die Quintessenz der romantischen Naturmagie, sondern auch die musikalische Nostalgie unserer 68er Generation, deren Jugenderinnerungen sich vor allem in der Rockmusik jener Zeit kristallisieren. Eichendorffs Gedichte gehören wiederum zu den liedhaftesten der deutschen Romantik und fanden deshalb auch die meisten Vertonungen. Er hatte Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Heidelberg studiert, ich Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Und auch er hatte sich in Heidelberg verliebt. Während seine Liebste aus Rohrbach stammte, einem Vorort von Heidelberg, war meine in San Diego, Kalifornien geboren und aufgewachsen und ist dann nach Genf und Heidelberg gekommen, um dort Romanistik und Germanistik zu studieren.

 

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„Schöne Fremde“
 
Vom weißen Strand am blauen Pazifik
aus dem goldenen Land der Orangenblüten
brachte sie mir den zeitlosen Augenblick
und seine Traumwelt der Märchen und Mythen.
 
So wurde sie bald mein Sirenengesang,
Rapunzel, Burgfräulein und Blumenmädchen
und ich ihr romantischer Sturm und Drang
rund um die Berge und drunten im Städtchen.[2]

 


[2] Eichendorffs Gedicht “Schöne Fremde” beginnt mit den Versen “Es rauschen die Wälder und schauern /als machten zu dieser Stund /um die halbversunkenen Mauern /die alten Götter die Rund“. Und die letzten Verse dieser nächtlichen Sternstunde lautet: „ Es redet trunken die Ferne / wie von künftigem, großen Glück.“ Ich nahm mir dieses Gedicht sehr zu Herzen und bin seiner Glücksverheißung bald in die schöne Fremde gefolgt, grad so wie es Eichendorff in den folgenden Zeilen noch einmal nachdrücklich vorgeschlagen hatte.

 

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„Wer in die Fremde will wandern, der muss mit der Liebsten gehen“
 
So zogen wir zwei übers weite Meer und mit den Jahren
wurde der Sommer zum kunterbunten Altweibersommer,
aus den prunkenden Blüten wurden prangende Früchte
und wir beide, wir wurden immer weltmutterfrommer.
 
Oh schöne Frau Welt mit der rinnenden Jahresuhr,
oh uralte Demeter, Mutter der ewigjungen Persephone,
Tochter aus Elysium … verweile … doch sie lächelt nur
und schon tanzen die Blätter mit dem fallenden Schnee.[3]

 


[3]“Heimweh” lautet Eichendorffs Gedicht, dem der Titel dieser zwei Strophen entnommen ist. Das Wechselspiel von Fernweh und Heimweh spiegelt in Eichendorffs Weltbild auf geschichtlicher Ebene auch den Widerspruch zwischen heidnischer und christlicher Weltanschauung wider. Während die Wiederauferstehung Christi eine Rückkehr ins Jenseits verspricht, versinnbildlicht Persephones herbstlicher Abstieg in die Unterwelt des Hades und ihre Rückkehr im Frühjahr eine Wiedergeburt im Diesseits. Entsprechend erscheint vor allem in der Kunstgeschichte der Renaissance Persephone immer wieder mit Blumen geschmückt und dergestalt mit dem Erwachen des Frühlings assoziiert. Knospe, Blüte, reifende Frucht, das sind die natürlichen Sinnbilder der muttermythischen Jahreszeiten, ehe sich die Welt in eine erstarrende Winterlandschaft verwandelt.

 

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„Verschneit liegt rings die ganze Welt“
 
Schneewittchen schlafwandelt im Winterwald,
im lockigen Haar die flockigen Sterne,
vereist ist der Bach und der Strom zieht kalt
immer weiter hinaus in die unendliche Ferne.
 
Woher kommst du, traumhafte Winterfee,
aus dem Weltall oder dem Schoß der Erde?
Und wohin gehst du, holde Persephone
in deinem ewigen Stirb und Werde?[4]

 


[4] Das Titelzitat stammt aus Eichendorffs Gedicht “Winternacht”, in dem es von einem im Feld vereinsamten Baum heißt: „Er träumt von künft’ger Frühlingszeit / von Grün und Quellenrauschen / wo er im neuen Blütenkleid …“ Oh könnten wir nur mit ihm tauschen! Doch noch ist die schöne Frau Welt in ihrem langen Winterschlaf versunken. Girlanden aus Schnee umranken ihre dunkle Gestalt, Eisblumen funkeln im Dämmerlicht, still und starr steht der hohe Wald und jedes Kristall ein vergängliches Vergissmeinnicht.

 
 
 
 

 

„Schlag noch einmal die Bogen“

Reisebilder und Wandergeschichten im Wandel der Zeiten

Dritter und letzter Teil der Serie “L’Après Midi Éternel: Vom langen Atem der Liebe”

 

„O Täler weit, oh Höhen / o schöner, grüner Wald …

schlag noch einmal die Bogen / um mich, du grünes Zelt.

Joseph von Eichendorff, „Abschied“

 

For my Gypsy Queen
To all our sunny summer days and all our starry winter nights

 

Der Verfasser Anfang der siebziger Jahre

 

„Lehn ich sanft an dich die Wange / und du singst mir fein ins Ohr …
Katze miaut, Hund heult und bellt / Nachbar schimpft mit wilder Miene,
doch was kümmert uns die Welt / süße, traute Violine.“

                                                                          Joseph von Eichendorff, „Der wandernde Musikant“[1]
 
Als das obige Bild geschossen wurde, war ich noch ein recht grünes Wunderhorn, das vom richtigen Tuten und Blasen herzlich wenig Ahnung hatte. Doch Eichendorffs Gedicht „Abschied“, seine verlockende Aufforderung, von meiner vertrauten, heimatlichen Welt Abschied zu nehmen, wurde immer deutlicher und unmissverständlicher:

 

„ …bald werd‘ ich dich verlassen / fremd in der Fremde gehen,
auf buntbewegten Gassen / des Lebens Schauspiel sehen.“

 

Und so machte ich mich denn auch schon bald nach der Entstehung dieses Bildes voller Wanderlust auf und zog hinaus in die verheißungsvolle Ferne. Zuerst ging es für ein Jahr nach England, danach vier weitere Jahre nach Heidelberg, und von dort schließlich übers große Meer hinüber in die Neue Welt. Blicke ich heute zurück, so muss ich feststellen, dass ich mehr oder weniger aus Versehen ausgewandert bin, ja geradezu traumwandlerisch, ohne Fahrplan und vollkommen ziellos. Vielmehr hatte die schöne Fremde meinen Lebensweg entschieden …

 

The American Dream,
that was it,
the pursuit of happiness
in a world where only the sky is the limit.

 

Sämtliche Fotos des zweiten und dritten Teiles dieser Serie „L’Après Midi Éternel: Vom langen Atem der Liebe“ stammen aus dem Privatbesitz des Autors. Die ersten drei Aufnahmen entstanden in Heidelberg und seiner nahen Umgebung, die zwei letzten Bilder in den Feldern und Wäldern rund um den Hohenstaufen – „aller schwäbischen Berge schönster“, wie Ludwig Uhland ihn einst so begeistert besungen hatte. Dieser berühmteste der drei Kaiserberge nördlich der Schwäbischen Alb war im Mittelalter der Stammsitz Kaiser Friedrich Barbarossas gewesen und ist auch heute noch das Wahrzeichen der an seinem Fuße gelegenen Stadt Göppingen, meiner schwäbisch-staufischen Heimatstadt.

Sämtliche Illustrationen der ersten vier Bildgedichte sind Werke von Alphonse Mucha, einem der emblematischsten Künstler des europäischen fin de siècle, der auch längere Zeit in Amerika gelebt und gewirkt hat. Und mehrmals hat er die vier Jahreszeiten in der Gestalt harfenspielender und früchtetragender Schönheiten allegorisiert. Er stammte aus den Böhmischen Ländern, die jahrhundertelang auch die Heimat all meiner Vorfahren gewesen waren. Und das Gleiche gilt für Joseph von Eichendorff. Er hatte ein Schlösschen im mährischen Sedlnitz, dem heutigen Sedlnice, einem Nachbarort von Partschendorf, dem heutigen Bartošovice, das einst das Heimatdorf meiner Mutter gewesen war. Der Dichter verbrachte seine Sommer gerne auf seinem Sedlnitzer Sommersitz, wo er so manches romantische Wander- und Liebeslied schrieb. Und so sind denn auch meine vier Bildgedichte frei nach dem Freiherrn von Eichendorff – und nicht zuletzt auch Freddie Mercury eine Art von „Bohemian Rhapsody“.

Sowohl Lichtbilder wie Kunstwerke können dem vergänglichen Augenblick etwas vom Wesen der Unvergänglichkeit verleihen. Auf gleiche Weise verdichten sich auch die Erinnerungen an die Jugendzeit, das Glück der jungen Liebe und der großen Freiheit immer wieder zur Sehnsucht nach jener längst versunkenen Vergangenheit – all ihren jugendlichen Wirren und so manchen Widersprüchlichkeiten zum Trotz. Denn ohne Dialektik geht’s nun mal nicht, das ist schon eine alte Hegel-Geschicht, die sich auch in meinen Erfahrungen immer wieder bewahrheiten sollte. Alsdann, es lebe die

 

Lebensreise als Liebesgeschichte durch Jammertal und Venusberg
voll bunter Bilder und Gedichte und die Liebste als wandelndes Gesamtkunstwerk!

 

Denn die Welt ist eine große Bühne für all unsere Lust- und Trauerspiele. Und jeder Text, ob episch prosaisch, ob poetisch melodramatisch, ist ein Gedankenfest und ein immer weiter wachsender Palimpsest. Und stellt man sich das so vergängliche Sein auf dieser Welt aus dem Blickwinkel des unendlichen Nichtseins vor, dann muss einem das mannigfaltige Leben in dieser Wirklichkeit gar wohl als ein einzigartiges Traumspiel erscheinen.

In seinem Gedicht „Stufen“ hat Hermann Hesse den menschlichen Lebensweg und seine verschiedenen Reisestationen sehr zutreffend zum Ausdruck gebracht. Eine Zeile daraus lautet: „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Das trifft auch auf meine frühe, glückliche Kindheit zu. Doch schon bald sollte sich auch folgender Vers bewahrheiten: “Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang.“ Diese Zeile aus Rainer Maria Rilkes Erster Duineser Elegie beschreibt auch ganz genau Traum und Alptraum jener Zeit. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich schon als Kind von der Schönheit junger Mädchen und Frauen bezaubert war. Der katholische Religionsunterricht in der Volksschule sollte allerdings meinem schönen Frühlingserwachen bald ein schreckliches Ende setzen.

Wie heute steht er im Geiste noch vor mir, der Herr Monsignore von der Marienkirche, und verkündet, dass unsere Seele einer hohen Burg gleiche, die der Teufel Nacht für Nacht so lange umschleiche, bis er einen lockeren Stein in der Mauer gefunden hätte. Diese Stelle würde er dann weiter aushöhlen, bis er in unsere Seele eindringe und sie erobere, um sie schließlich für immer in den Rachen der Hölle zu reißen. Mein Gott, was sollte mir diese schwarze Schaudergeschichte von der ewigen Verdammnis damals Furcht und Schrecken einjagen und mir den Rest meiner Kindheit und ihrer vergnügten Unbekümmertheit rauben.

Zudem erfuhr ich auch zum ersten Mal die große Macht der Vorstellungen und Einbildungen, die wirklicher werden können als alle Wirklichkeiten. Erst im heraufziehenden Morgengrauen meiner Jugendzeit entpuppte sich schließlich der vermeintliche Fürst der Finsternis als ein offenkundiges Nachtgespenst aus dem dunkelsten Mittelalter und so machte ich mich bald aus seinem modrigen Staube – und hinter mir Glaube und Aberglaube! Und das war die Dialektik meiner Aufklärung frei nach Adorno und Horkheimer …

 

Nie wieder Graus!
Stoßgebet, Schoßgebet
auf Gott und Teufel komm raus,
so lang bis einem wieder Hören und Sehen vergeht.

 

Sapere aude! Cogito, ergo sum! Et vivat amor et imaginatio et semper ad infinitum!! Sed nota bene: vita somnium breve est.

 

Tempus fugit,
Et figura mundi praeterit!
Ad horrorem vacui? Ad aureum silentium?
Ignoramus! Ergo carpe diem! Per annum et saecula saeculorum!

 

***

 

“The Four Seasons”, so hieß eine italo-amerikanische Gesangsgruppe, die sich Anfang der sechziger Jahre bildete und sich von Vivaldis „Quattro Stagioni“ zu ihrem Namen inspirieren ließ. Mit dem Song „Silence is Golden“ hatte die Gruppe ihren ersten internationalen Hit und ich kann mich noch gut erinnern, wie der amerikanische Radiosender AFN (American Forces Network) in meiner Jugendzeit dieses Lied in Baden-Württemberg ausstrahlte.

Dieses goldene Schweigen erklingt denn auch immer wieder, trifft man nur im modernen Liederkasten weiterhin die richtigen Tasten. Eichendorff hätte nicht schlecht gestaunt, was da alles an Melodien im Äther herumschwirrt, und auch ich hätte mir damals für mein Leben nicht träumen lassen, welche Bedeutung das Land dieser Sänger für meine weiteren Lebzeiten noch bekommen sollte … „Schläft ein Lied in allen Dingen …“ Das Schweigen der Lieder zu erhören, es ist genauso schwer, wie die geheimen Wege der verborgenen Liebe zu erkennen …

“In Tausend Formen magst du dich verstecken, doch Allerliebste, gleich erkenn ich dich …“, so beginnt ein Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe aus seinem „West-östlichen Divan“. Ich freilich hätte die „schöne Fremde“ und „Allerliebste“, wie sie Eichendorff in seinen Gedichten genannt hatte, damals in Heidelberg tatsächlich fast nicht erkannt, obwohl wir uns immer wieder begegnet sind und auch Eichendorff sie in seinen Gedichten schon genau beschrieben hatte. (Mehr dazu in „Quattro Stagioni – Da Capo al Fine“, dem zweiten Teil dieser Serie.)

Jedoch im Frühjahr 1975 ist es dann doch geschehen. Also genau vor vier Jahrzehnten. Und da meine „schöne Fremde“ väterlicherseits tatsächlich aus der schönen, römischen Campagna stammt, von ihrem Vater auch noch so manche süditalienische Redewendung übernommen hat und nicht zuletzt auch nach unserer kalifornischen Hochzeit seinen so klangvollen Familiennamen Dell’Acqua beibehalten hat, habe ich ihr meine „Vier Jahreszeiten“ im zweiten Teil dieser Serie im Originalton Antonio Vivaldis gewidmet. Zudem sind meiner italo-amerikanischen Paisana Vivaldis Ritornelle wie auf den Leib geschrieben, vom frisch-fröhlichen Murmeln der Quellen im Frühling bis zum herbstlich ungestümen Sturm auf dem Meer, oder in den Worten des Komponisten, vom „Allegro“ bis zur „Tempesta di Mare.“ Ecco, ecco, viva la pastorale! Viva la ragazza di mezzogiorno! E viva la musica, la musica di Quattro Stagioni Dell’Acqua!

Et nota bene! Nomen est omen: Dell’Acqua bedeutet „vom Wasser“. Und so wie meine „Dell’Acqua“ von San Diego kommt, der größten und südlichsten Hafenstadt am amerikanischen Pazifik, so stammt Vivaldi aus Venedig, der bedeutendsten Lagunenstadt der italienischen Renaissance. Auch der venezianischen Metropole wohnte von Anfang an ein Zauber inne, denn sie wurde im Namen der schaumgeborenen Venus gegründet, die dem griechischen Mythos zufolge höchst wunderbar als Aphrodite einst dem brandenden Meer entstiegen war. Venus-Aphrodite, sie ist die Ultima Donna Dell’Acqua und entsprechend haben die Venezianer ihrer geliebten Heimatstadt den schönklingenden Beinamen „Serenissima“ gegeben. Und auch Goethe hatte der „Allheiteren“ in Erinnerung an seine italienischen Reisen ein dichterisches Denkmal gesetzt, wenn es „In Tausend Formen“ so einfühlsam heißt: „In des Kanales reinem Wellenleben, Allschmeichelhafte, wohl erkenn ich dich.“

La Nascita di Venere, die Geburt der Venus: Es waren vor allem die bildenden Künstler der italienischen Renaissance, welche die schöne Schaumgeborene und so wundersam auf einer Muschel Emporgehobene immer wieder darstellten. Ihre Schönheit illuminiert denn auch noch die Primavera-Allegorien und die zeitgenössischen Portrait-Galerien der Patrizierinnen aus jenem Cinquecento, allen voran Leonardo da Vincis La Gioconda, seine lächelnde Mona Lisa. Und ich meine, ihr lockendes Lächeln spielt auch noch um die Gesichtszüge meiner „Serenissima Dell’Acqua“ – freilich könnt ich’s nicht beschwören, da ja die Liebe bekanntlich blind macht. Nicht umsonst wurden im späten Mittelalter die Verliebten „Venusnarren“ genannt, vor allem, wenn sie meinten, sich unsterblich verguckt zu haben. Für sie alle wurde die Liebesgöttin, wie so manche Schimpf- und Schandschwänke jener Zeit zu berichten wissen, zur sündhaft-ergötzlichen Venusfalle. „Amantes, Amentes“! Entzückte Verrückte, das waren so die lautmalerischen Schüttelreime, die sich die damaligen Scholaren auf die irren Liebesnarren jener Umbruchszeit und ihrer reformatorisch-gegenreformatorischen Verworrenheit zu machen pflegten.[2]

„Back to the Future“, so lautet die wohl bekannteste Parole der Postmoderne. Sie ist genau besehen eine folgerichtige Weiterführung des alten Sprichwortes: „What goes around comes around“. Zusammengenommen sind diese beiden Sprichwörter wohl die besten Wegweiser für die Reise rund um die Welt in Raum und Zeit und – ultima ratio – für die Erfahrung der ewigen Wiederkehr von der Zukunft in der Vergangenheit.

Am Beispiel der Renaissance und am Vorbild der Wiedergeburt der Venus wird dieses Phänomen der Wiederkehr besonders offenkundig. Seit jener großen Wende zwischen Mittelalter und Neuzeit kehrt die verlockende Venus/Aphrodite auch immer öfter als fruchtbare, malerisch-sinnbildliche Alma Mater, als archaische Cornucopia wieder, deren schöpferisches Füllhorn stets von üppig ausladenden Früchten überquillt. Dieser maternale Archetyp feiert seine modernen Urständ zweifelsohne in Carmen Miranda, einer portugiesisch-brasilianischen Sängerin und Schauspielerin, die in der Mitte des letzten Jahrhunderts mit ihren Auftritten weltweit Aufsehen erregte. Bereits ihr sprechender Geburtsname war poetisches Programm, umschrieb er doch die Künstlerin als singendes Wunder. Zudem war ihr das einstige Füllhorn der Magna Mater sehr zu Kopf gestiegen, sodass sie es nun als kunterbunten Kopfputz trug, der ihr schließlich unter dem Markenzeichen „Tutti Frutti“ zu internationalem Ruhm verhalf. Dergestalt wurde sie buchstäblich zum Augenschmaus für eine jederzeit liebeshungrige Zuschauerwelt. Genau betrachtet fungiert ihr kulinarischer Kopfputz auch als eine Art Narrenkrone der mittelalterlichen Liebeskönigin und nicht zuletzt repräsentiert er, wenn man entsprechend so will, auch Luxus und Opulenz der mittelmeerischen Schönheitsgöttin, so wie sie einst dem überquellenden Schoß der allnährenden Weltmutter entstiegen war: Orcus uterus … hocus pocus … mutatis mutandis … Mamma Mia, viva l’amore! E con tutti frutti, per favore!!

Dem singenden Wunderweib Carmen Miranda folgten bald weitere südliche Schönheiten, angefangen von Sofia Loren bis zu Sofia Vergara. Auch sie kluge Selbstdarstellerinnen voller Mutterwitz, wie bereits ihre gemeinsamen Vornamen in Anspielung an die griechische Weisheitsgöttin erkennen lassen. Vor allem die formidable Sophia Vergara hat zur Zeit den Bogen am besten raus, baut sie doch ihren Status als große Latina-Ikone durch ihre komischen Talente immer weiter aus. Die Liebesgöttin des Altertums hätte an ihrem erotischen Possenspiel und ihrem überkandidelten Komödiantentum ihre helle Freude gehabt, denn bekanntlich lässt sich das Sinnenglück durch ein lustiges Schauspiel noch weiter steigern. Und mit fröhlichem Gelächter kann man schließlich auch noch den letzten Hagestolz aus der Deckung holen und mehr oder weniger ausführlich zum Narren halten!

Obgleich auch meine sonnige Südländerin mit übermütigen Scherzen schon immer einiges am Hut hatte, üppige Südfrüchte gehörten nicht zu ihren amüsanten Requisiten. „Von der Hand in den Mund“ war da schon eher das kulinarische Motto aus der italienischen Küche, eine Lebensweisheit aus der Alten Welt, die sich in ihrer Familie noch in der folgenden Mundart-Variante erhalten hatte: „Si non mange, non cresce“. An diesen Ratschlag scheint sich meine lebenskluge Italo-Amerikanerin von Kindesbeinen an gehalten zu haben und so ist sie denn auch ganz dem Sprichwort entsprechend recht hochgewachsen.

Die Sehnsucht nach dem sonnigen Süden: Lässt man die Zeiten Revue passieren, so kann man feststellen: Die Gottheiten der süd-östlichen Frühgeschichte waren vorwiegend weiblicher Natur gewesen, angefangen von Babylons Ishtar und Astarte bis zu den altägyptischen Göttinnen Nut, Isis und Hathor, um nur einige der bekanntesten zu nennen. Und manche von ihnen sollen den alten Überlieferungen zufolge recht ausschweifend gewesen sein. So ritt zum Beispiel die sternenschimmernde Astarte auf ihrem stürmischen Schimmel Nacht für Nacht über den funkelnden Himmel. Fürwahr, eine recht exaltierte Burleske, wissen doch morgenländische Geschichten hinter vorgehaltener Hand zu berichten, dass sie anfangs ganz ohne Schleier im hohen Bogen höchst wunderbar durchs Weltall gestoben. Welch extravagante Eskapaden, welch exorbitantes Spectaculum dort draußen im finsteren Universum. Fiat Lux! Mehr Licht, so lautete denn auch verständlicherweise das erste Gebot unserer Schöpfungsgeschichte. Doch vielleicht war es ja auch nur wieder einer dieser verrückten Sprüche aus jener uralten Gerüchteküche unserer beginnenden Menschen- und Götterdämmerung. Man erinnere sich, Babel war schon immer die skandalumwitterte Metropole der Konfusionen und kosmogonischen Temptationen.

Doch des Menschen Willen war seit jeher sein Himmelreich. Und so ist es letztendlich müßig zu spekulieren, ob das Ganze eine himmlisch herrliche Blamage oder vielmehr eine irdisch sensationslüsterne Kolportage gewesen war. Ob mit ob ohne wehende Blusen, den Sternenguckern von Babylon war Astarte zweifelsohne die beste aller metaphysischen Musen. Die sumerischen Balladen und chaldäischen Scheherazaden erbauten sich jedenfalls an ihrer himmlischen Schönheit und göttlichen Ausgelassenheit und dergestalt beflügelte sie möglicherweise auch noch den englischen Dichter John Keats zu seinem berühmten Sinnspruch: „Beauty is truth, truth beauty.“ Indeed, it is well known, romantic poets love the deeper truth and they adore its higher beauty and for those who know their biblical gnosis, Astarte will always be the ultimate apotheosis, the …

 

Beauty over Babylon
 
Riding through her galaxies
like a Parisian “Crazy Horse”!
Or are these just male phantasies?
And the Goddess smiles: “of course”!

 

O nuda veritas! With all its bare necessities, horsing around with all those timeless verities! Oh tempora, o mores! And all the glitter and the glamour of all that galactic galores. Oh dreamy stargazers and heavenly trailblazers! We all know, Gods and Goddesses come and go, but that was quite a midnight show! It was a comic cabaret truly out of cosmic love and it was the great realization that “reality is something you rise above.” Liza Minnelli had that insight and she probably got it from Botticelli, that good old Renaissance visionary who resurrected that ancient imaginary!

Ob Wahrheit, ob Dichtung, Hauptsache ist, es stimmt die Richtung. Und Tatsache bleibt, dass sich die prächtige Astarte mit allen ihren Gestirnen sehr gerne in den nächtlichen Meeren spiegelte und dergestalt bis heute in unserer abendländischen Vorstellungswelt ihre Spuren hinterlassen hat. So hat sich zum Beispiel im christlichen Sternbild der Stella Maris, der Meersternkönigin, noch ein archaischer Abglanz dieses mesopotamischen Mirage erhalten, in dem vor allem die katholische Muttergottes erstrahlt, deren Namen „Maria“ denn auch eine Wortschöpfung ist, der nicht zufällig das Meer als sprachliches Vorbild zu Grunde liegt. Die frommen Madonnenmaler von der italienischen Renaissance bis zu den deutsch-romantischen Nazarenern haben denn auch immer wieder die Jungfrau Maria in einen sternenbestickten Himmelsmantel gehüllt.

„Meerstern ich dich grüße“, so stimmte auch ich noch in meiner Kindheit in den freudigen Chor der katholischen Marienandachten im alljährlichen Wonnemonat Mai mit ein. Und wenige Monate später folgte das hochsommerliche Kirchenfest „Mariä Himmelfahrt“. Wie wundervoll da die wallenden Gewänder der Jungfrau Maria im Aufwind gen Himmel wogten. Tizians großartiges Altargemälde von der „Assunta“ hat diesen heilsgeschichtlichen Augenblick für immer ins Bild gebannt. Als ich das letzte Mal in Venedig war, in einem nebligen Monat November, als nur noch wenige Touristen diese zauberhafte, mittelmeerische Märchenstadt heimsuchten, da habe ich Tizians Meisterwerk in der dortigen Kirche Santa Maria Gloriosa de Frari mit eigenen Augen gesehen. Noch einmal mit staunenden Kinderaugen und einem letzten heimlichen Glaubenssprung hinauf in die göttliche Madonnendämmerung … Oh sancta ecclesia, gratia plena …[3]

 

***

 

Doch kehren wir noch einmal zurück zu den Venus-Visionen und ihren mittelmeerischen Reinkarnationen: Die Schönen der Renaissance waren allesamt ferne Ebenbilder der römisch-griechischen Liebesgöttin. Und diese wiederum war nach uraltem Mutterrecht – so die opinio communis der matriarchalen Mythografie – die allmächtige Herrin des Ewigen Werde, die schöne Schöpferin der Menschheit von Geschlecht zu Geschlecht. Und das Meer, dem sie muttermythischen Überlieferungen zufolge einst so wunderbar entstiegen war, figurierte in den Worten ihrer wissenschaftlichen Gefolgschaft schon immer als „gremium matris terrae“, als Schoß der Mutter Erde.[4]

Kampf der Kulturen.  Bereits Eichendorff hatte in seinem poetischen Universum immer wieder Venus und Madonna in ihrer fromm-frivolen Gegensätzlichkeit dargestellt. Kehren wir also noch einmal aus dem Wolkenreich der himmlischen Visionen zurück in die irdischen Regionen seiner Heidelberger Studentenzeit. Auch für ihn gewannen diese Jahre im Laufe seines Lebens immer größere Bedeutung. Die englische Sprache hat solche Herzenserfahrungen auf den Ausspruch gebracht: „Distance makes the heart grow fonder.“

What is in a name? Auch Rohrbach, das Geburtsstädtchen der Liebsten Eichendorffs, hat einen sprechenden Namen, der unüberhörbar der Welt des Wassers entstammt, nur erscheint dieses Wasser hier bereits in Rohren unterirdisch eingedämmt. Vom Rohrbach zum Mühlrad ist es dann nur noch ein kleiner Sprung:

 

„In einem kühlen Grunde,
da geht ein Mühlenrad,
mein Liebchen ist verschwunden,
das dort gewohnet hat.“

 

So beginnt Eichendorffs bekanntes Erinnerungslied an sein geliebtes Käthchen, das ihm die Treue gebrochen hatte. Das von Friedrich Silcher vertonte Gedicht wurde unter dem Titel „Das zerbrochene Ringlein“ zu einem der bekanntesten Lieder der deutschen Romantik. Der Dichter fährt wehmütig in seinem Liebesleid fort:

 

„Ich möcht als Spielmann reisen
wohl in die Welt hinaus
und singen meine Weisen
und gehen von Haus zu Haus.“

 

Und entsprechend hatte auch Eichendorff einst von der Reise übers weite Meer, von der Auswanderung nach Amerika geträumt. Der romantische Plan hatte sich jedoch schließlich an der rauen Wirklichkeit zerschlagen. Was blieb, war des Dichters versonnene Erinnerung an seine verlorene Heidelberger Jugendliebe:

 

„Hör ich das Mühlrad gehen,
ich weiß nicht, was ich will.
Ich möcht am liebsten sterben,
da wär’s auf einmal still.“

 

Das Mühlrad ist eines der wesentlichsten und bedeutungsreichsten Sinnbilder der romantischen Dichtung. Zum einen verbindet es auf offenkundige Weise die Vereinigung von Natur und Kultur, indem es das natürliche Element des Wassers zu einer industriellen Energiequelle umfunktioniert. Darüber hinaus verweist das Rund des Mühlrads auch auf den steten Kreislauf dieses so wesentlichen Naturelements, seinen Wandel und seine Verwandlung rund um die Erde, so wie Goethe es in seinem großartigen Gedicht „Gesang der Geister über den Wassern“ so anschaulich und gleichnishaft beschrieben hat. Ob Rohrbach, ob Mühlrad, Tatsache ist, in der Regel wollen sich weder frisch-fromme Liebchen noch wildromantische Undinen gleich von Rohren erfassen oder von Rädern ständig durchwalzen lassen.[5]

Vielleicht war ja Eichendorffs Verflossene auch so ein fröhlich-freies, wellenwonniges Wasserwesen gewesen. Vielleicht „kanalisierte“ ja seine muntere Rohrbacherin im Laufe der Zeit gar meine lebenslustige Kalifornierin und tummelte sich noch wer weiß wie lange in den Wellen und Wogen des fernen Pazifik. Denn dort in San Diego und vor allem rund um die Bucht von La Jolla und seinen wildfelsigen Becken ist die muscheltuschelnde Meeresbrandung besonders aufschäumend und berauschend. „La Jolla“ bedeutet im Spanischen „Perle“ oder „Juwel“ und für Bewunderer der „Schaumgeborenen“ gewinnen solch schmucke Bezeichnungen gern tiefere, sinnlich-sinnbildliche Bedeutungen.

Entsprechend gab sich denn auch meine Liebste in der Tat immer wieder als offenkundige Tochter der pazifischen Wellen zu erkennen. Man konnte es bereits an ihrem sprudelnden Wesen erkennen. Und wenn ihre Lächeln dann auch noch in ein perlendes Lachen ausbrach, dann war der Grund dafür kristallklar …

 

She was my Pearly Gate, she was my past and future fate!
Or as ancient mariners used to say: She takes your breath away.

 

Man darf freilich auch nie vergessen, mit solch berauschenden Wasserwesen ist entweder ganz wunderbar – oder gar nicht gut Kirschen essen. Süße Kirschen, saure Kirschen, am besten sind die tollen Kirschen! Oh Ma Belladonna Dell’Acqua … gremium matris … hic est corpus velut orcus …velut genus de profundis … oh schaukelndes Narrenschiff der gaukelnden Venus!! Wie leicht hätten wir auf unseren langen und oft stürmischen Kreuz- und Querfahrten zwischen Traum und Wirklichkeit Schiffbruch erleiden können, denn wir waren von Anfang an beides gewesen:

 

Dream Team and Double Trouble
 
Soaring and falling like Icarus,
but we kept rising time and again
out of all the strive and struggle,
just like Phoenix way back then.

 

Oh fantasies, oh ancient mysteries! But what will we do when we run out of melodies? “Cancel my subscription to the resurrection!” That’s what the Doors had to say in their famous farewell song “When the Music is Over”. But for a change I don’t agree with Jim Morrison, my American Idol and Dark Angel from Los Angeles. I’d rather subscribe to the Mamas and the Papas from San Francisco, and their most beautiful winter song

 

 

“California Dreamin’”
 
“All the leaves are brown / and the sun is grey
I’ve been for a walk / on a winter’s day.
I’d be save and warm / if I was in L.A.
California Dreamin’ / on such a winter’s day.”

 

Oh what pacific memories. After the two of us had come to the United States, she continued her studies in San Francisco, Northern California, and I did the same in Santa Barbara, Southern California. While Santa Barbara was already then a major surfer paradise, San Francisco was still hanging on to its status as the most western outpost of America’s last hippies, who still wore flowers in their hair, as Scott McKenzie had asked them to do a decade earlier in his famous signature song: “If you are going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair.”

The two of us were separated again and during wintertime we too were dreaming of spring, when even the deserts bloom again and all the mermaids sing, frolicking in an April shower and everywhere Persephone, dancing in all her flower power. And then mighty Venus-Aphrodite was turning again for all her fools those medieval vale of tears into modern swimming pools …

 

Infinity Pools
 
those ports for all those ship of fools
and I can hear and see them sink and rise
and forever setting sail towards that promise of paradise.

 

So look out for that sparkling trajectory and don’t forget its magical mystery: “For those who love, time is eternity!” That was one of those far-out-lines by “It’s a Beautiful Day”, another rock band from San Francisco, that west coast capital of cosmic vertigo.

 

“In the summertime when the weather is hot,
you can stretch right up and touch the sky.”

Mungo Jerry, “In the Summertime”

 

“Far out”, that was the key word of those years, when the sky was truly the limit. William Blake, the mystical poet-painter of English Romanticism, must have anticipated it, when he famously wrote: “If the doors of perception were cleansed, everything would appear to man as it is, infinite.” And every grain of sand a tiny precious pearl of that famous Promised Land.

And as we were traveling up and down the coast, there were everywhere those beautiful blooming groves! Don’t forget them forever, make sure to remember! And forget that month of dark September, forget Persephone’s decent into that heathen hell and remember those halcyon days, remember that good old magic spell: “Turn on, tune in, drop out”, and the world begins to sparkle again just like way back then, morphing into a luminous globe, a psychedelic kaleidoscope, revolving through inner and outer space … and everywhere your smiling face …oh how you loved to sing and dance, like a fairy queen in a rock ‘n’ roll trance! Oh my beautiful flower girl, you turn the world into a floral swirl and lo and behold …

 

„Ich wandle unter Blumen
und blühe selber mit,
ich wandle wie im Traume
und schwanke bei jedem Schritt.

 

Oh halte mich fest, Geliebte!
Vor Liebestrunkenheit
fall ich dir sonst zu Füßen
und der Garten ist voller Leut.“

 

Kein Wunder! Das ist eindeutig das poetisch-erotische Delirium von Heinrich Heine! Zugegeben, spätromantisch, doch das ist die Liebe, die ich meine! „Du bist wie eine Blume“ … so flüsterte er einst immer wieder mehr oder weniger risqué auf so manch französischer Soirée:

 

Oh mon tableau vivant!
Oh ma belle fleur si bleue mourante!!

 

Und wieder ward einem ganz blümerant, drum nimm dich stets in Acht vor dem Zauber der blauen Blütenpracht … denn im Handumdrehen wird aus dem Mühlrad ein Moulin Rouge, et voilà, mon dieu, regardez, mon amour …

 

Ma Belle du Jour,
prenez de l’eau, beaucoup, bon chance,
parce que elle a chaud … tres chaud au cul … et honi soit qui mal y pense!

 

***

 

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so lustig bin …: Vielleicht gibt es ja für meinen Gesinnungswandel auch eine geistesgeschichtliche Erklärung. Es ist jedenfalls in landläufigen und landeskundlichen Kreisen schon seit langem bekannt, dass Heine ein großer Verehrer der holden Weiblichkeit gewesen war. Das Berückend-Entzückende der Damenwelt, das hatte er überaus gern und so war auch er ein rechter Liebesnarr vor seinem christlich-jüdischen Herrn. Doch der Dichter war auch ein engagierter Verfechter der politischen Poesie, ein libertärer Rabauke, und so haute ich meiner Zeit als Revoluzzer immer wieder sehr gern mit ihm auf die Pauke. Und nicht zuletzt war Heine auch ein begeisterter Meister der romantischen Ironie. Von ihm konnte man von der Pike auf lernen, zu übertreiben und entsprechend auszuschweifen und dennoch auf dem Teppich zu bleiben, zumindest auf dem Blütenteppich.

Es sei denn, der schwärmerische Eichendorff kam einem mal wieder in die Quere, denn der schwang sich schon immer sehr gerne recht weit hinauf ins Reich der Sterne. Und zugegeben, besonders gut gelang ihm das in

 

„Mondnacht“
 
„Es war, als hätt der Himmel
die Erde still geküsst,
dass sie im Blütenschimmer
von ihm nur träumen müsst.“

 

Welch böhmische Rhapsodie, das ist fürwahr das Hohe Lied auf die Hochzeit zwischen Himmel und Erde. Von wegen Bodenhaftung! Es ist die Dichtung als letzte Wahrheit von der ewigen Hoffnung auf die immerwährende, irdisch-himmlischen Glückseligkeit!

„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“! Erinnerst du dich? So stand‘s doch damals im Vorlesungsverzeichnis! Oder war’s auf irgend so einem feucht-fröhlichen Fest? God knows! All that wine and my memory is no longer the best! So come on and let’s turn back the page! Let’s be young again! Let’s rebel against that growing Old Age!! … Komm, wir sind gegen das Vergehen der Zeit und kehren zurück in die Vergangenheit … immer weiter zurück … das ist noch immer der beste Zeitvertreib! Lass uns fliehen ins mittelmeerische Altertum und immer weiter zurück bis ins ferne Elysium! … Do you remember those Elysian Fields? They sure were the best … way down south and far out west …

 

“… das Land, wo die Zitronen blühn,
im dunklen Laub die Gold-Orangen glühn …“

 

So schwärmte schon Goethes Mignon in ihrem Fernweh nach dem sonnigen Süden, jenen sommerlichen Landschaften, die schon die Dichter der römischen Antike in ihren Hirten- und Schäfergedichten besungen und deren glückliche Zeiten auch noch einmal Goethes Römischen Elegien heraufgerufen hatten … Und dann wieder das Heimweh nach dem verschneiten Norden, nach dem

 

„ …Brunnen vor dem Tore / da steht ein Lindenbaum,
ich träumt in seinem Schatten / so manchen süßen Traum.“

 

Grad so wie im Wanderlied von Wilhelm Müllers Liederzyklus „Die Winterreise“, das auch noch dem Romanhelden in Thomas Manns verschneiten Zauberberg so wehmütig nachging. Oh Meister Müller, wie lang ist’s her!

Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann denke ich oft an seine dunkle Vergangenheit. Es ist jene grauenhafte Vergangenheit, die Heine einst in seinem Wintermärchen so hellsichtig heraufbeschworen hatte. Doch in den letzten Jahren erinnere ich mich hinter der schrecklichen Geschichte auch wieder mehr und mehr an die wunderschönen Gedichte meines Vaterlandes und nicht zuletzt an die Verse der Schwäbische Dichterschule, welche die Berge und Täler meiner alten Heimat besingen, grad so, als folgten sie Eichendorffs alter Zauberformel „Schläft ein Lied in allen Dingen“ . Eines meiner Lieblingsgedichte ist Eduard Mörikes

 

„Um Mitternacht“
 
„Gelassen stieg die Nacht an Land,
lehnt träumend an der Berge Wand …
und kecker rauschen die Quellen hervor,
sie singen der Mutter, der Nacht ins Ohr
vom Tage / vom heute gewesenen Tag.“

 

Es gibt eine zeitgenössische Vertonung dieses Gedichts von Claudia Pohel, einer überaus begabten Liedermacherin von Wiesensteig am Fuß der Schwäbischen Alb, die heute drunten am Bodensee lebt. Ich hatte sie vor Jahren mehrmals auch live gehört, einmal sogar im Wäscherschloss, dem ursprünglichen Familiensitz der Staufer. Wenn sie mit ihrer geradezu seraphischen Stimme dieses Lied von der Mitternacht sang und sich dabei auf der Harfe begleitete, dann durchrieselten einem ihre wunderbaren Klänge geradezu wie Elfen- und Engelsgesänge.

Und träum ich von Deutschland in der Nacht, dann träum ich auch hin und wieder von meinem heimischen Hohenstaufen. Er sucht mich gerne immer wieder heim und lädt mich anheimelnd ein, ein Weilchen in seiner Welt zu verweilen und dann erinnert er mich auch wieder an Friedrich Rückerts längst vergessene Zeilen …

 

„Der alte Barbarossa / der Kaiser Friederich
im unterird’schen Schlosse / hält er verzaubert sich.“

 

Oh Barbarossa, mein staufischer Tausendsassa! Der Sage nach ist er des Heiligen Römischen Reiches legendärster Langzeitschläfer. Aber wer weiß, was ihn dort durch all die Jahreszeiten so lange hält? Vielleicht ist ja sein im Winter oft so zauberhaft verschneiter Hohenstaufen der geheimnisumwitterte Hörselberg, von dem es einst im Mittelalter hieß, er sei die Höhle der schneewolkenschüttelnden Frau Holle. Und deuteten ihn spätere Überlieferungen nicht gar als Tannhäusers frühlingserwachenden Venusberg? Wer wollte da nicht länger in der Welt seiner Zauberklänge verweilen! Wie dem auch sei, Tatsache ist, dass im neunzehnten Jahrhundert in Deutschland überall die Mär umging, dass der schlafende Kaiser der Staufer zur rechten Zeit wieder auferstehen würde, um sein zerfallenes Reich erneut zu einen. Oh Glaube, Liebe, Hoffnung – in Christus, Venus und Persephone hätte der alte Rotbart fürwahr altehrwürdige Vorbilder für derartige Wiedergeburten und Wiederauferstehungen gefunden! Aber vielleicht hält er es ja insgeheim tatsächlich mit dem wandernden Wasser, in dem er damals so sang- und klanglos ertrunken war, und kehrt eines Tages wieder an seinen Ursprung zurück. Wenn auch in anderer Gestalt und im Geist einer anderen Zeit.

 

„Kein Wesen kann zu nichts zerfallen,
das Ew’ge regt sich fort in allem,
am Sein erhalte dich beglückt.“

Johann Wolfgang von Goethe

 

Hatte nicht auch Albert Einstein, unser Ulmer Landsmann, Goethes poetische Epiphanie in die physikalische Theorie von der Verwandlung aller Energie in immer wieder andere Formen weiterentwickelt?! Das Rätsel der Materie, das Enigma der Magna Mater! Bis heute weiß niemand wirklich Bescheid über die letzten Geheimnisse unsrer Frau Welt in ihrem ewigen Wandel durch Raum und Zeit.

 

The Lady is a sphinx, a riddle and a vamp,
well-versed in all four seasons, the lady is a tramp.

 

she is a global lunatic, longing for the universe, she is a truly cosmic trip and a magical mystery tour, she is a rocking rollercoaster … und wir folgten nur allzu gern ihrer Spur, ihrer kreisenden Wunderwelt und ihren verschlungenen Bahnen so voller rollender Küsten von Virginias Blauen Bergen bis zu Kaliforniens buntblühenden Wüsten, Atlantik, Pazifik, rüber und nüber und immer wieder ging‘s auch drunter und drüber … und zwischen blauem Meer und grauer Wolkendecke blieben wir auch immer mal wieder auf weiter Strecke …

„Frei vom Mammon will ich schreiten / auf dem Feld der Wissenschaft …“, so geht eine Zeile aus Eichendorffs Gedicht „Der wandernde Student“. Nach dieser Weise bin auch ich lange durch die Welt gezogen. „Gypsy Scholar“, also Wandergelehrte, nennt man in Amerika jene Akademiker, die jahrelang von Universität zu Universität ziehen auf der Suche nach einem festen Lehrstuhl. Ich habe diese Wanderschaft dem Ruf der „schönen Fremde“ folgend mit Absicht noch um weitere Jahre verlängert. Als ich schließlich zurückblickte, stellte sich heraus, dass ich im Laufe der Jahrzehnte insgesamt an einem runden Duzend Universitäten gelernt, gelehrt und geforscht hatte[6].

Vivat academia! Non scholae, sed vitae discimus! In anderen Worten und auf gut Deutsch, ich habe die akademische Freiheit meiner Lehr- und Wanderjahre sehr genossen. Folgt man einem lateinischen Sprichwort der mittelalterlichen Scholaren, so könnte man diese Lebenserfahrung vielleicht auch noch didaktisch ausweiten und zum folgenden Merkspruch zusammenfassen: Von der Wiege bis zur Bahre – semper prodesse et delectare!

Et in dubio pro duo! Jedenfalls hatte der wanderlustige „Gypsy Scholar“ in seiner unternehmungsfreudigen Lebensgefährtin eine seelenverwandte „Gypsy Queen“ gefunden – grad so wie Carlos Santana sie damals in seinem gleichnamigen Lied besungen hatte. Und so haben wir denn auch im Laufe der Jahre so manche Städte erlebt und erfahren. Am lehrreichsten und unterhaltsamsten war es sicherlich in New York City, wo wir insgesamt acht Jahren lebten. George Gershwin hatte schon in den zwanziger Jahren die unbändige Kreativität und sprühende Energie dieser großartigen Kulturmetropole der Neuen Welt mit seiner himmelstürmenden Hymne „Rhapsody in Blue“ auf kongeniale Weise eingefangen.

Blicke ich heute zurück, so verdichten sich unsere verschiedenen Wegstationen durch die Alte und Neue Welt zusammen mit ihren zahlreichen Reiseimpressionen immer wieder zu magisch-musikalischen Momenten, zu einer Art transatlantischer

 

Rhapsody in Blue
 
and my beautiful stranger
she is my Bohemian Rhapsody
and my American Dream come true.[7]

 

“Like a rolling stone … with no direction home“. So hatte Bob Dylan schon vor Jahrzehnten geächzt und gekrächzt. Auch uns beide beginnt von neuem die Frage umzutreiben, wo wohl unsere letzte Heimat auf dieser Erde sein wird. Europa oder Amerika? Zurück nach Osten oder weiter nach Westen … oder vielleicht wär’s letztendlich gar im Himmel am besten?!

„Transzendentale Obdachlosigkeit“, das war Georg Lukacs’ geradezu sprichwörtlich gewordene Charakterisierung der spirituellen Heimatlosigkeit des modernen Menschen in einer Welt ohne Gott. Beim Barte der Propheten von Moses bis Marx …, da kehr ich doch gerne noch einmal zu meinem alten Rotbart zurück, denn ich meine – trotz des Wintermärchens von Heinrich Heine –, er blinkt und zwinkert mir im Schlaf recht traulich zu: Komm heim in meinen Stauferberg, komm heim in unseren Venusberg, hier fändest du deine selige Ruh … hier rund um die heimischen Hänge und ihre geheimen Zauberklänge! Erinnerst du dich noch, dort …

 

„Under der linden an der heide
… dâ mugt ir vinden schône beide gebrochen bluomen unde gras …“

 

So sang es schon Walther von der Vogelweide. Und so höflich durch die Blume! Oh Walther, chume, chume! Komm, sing mir wieder von Frühlingsträumen, von den Sommermärchen junger, in ewiger Liebe verschworener Pärchen …, komm sing mir wieder die alten Wanderlieder vom Reich in dieser schönen Welt! Denn sie sind mein vagantisches Credo, so komm, und sei mein alter ego, sei meine pantheistische Partitur! Gaude, gaudeamus igitur …

Und schau nur, Meistersänger der höfischen Minne, schau wieder hinauf zur hohen Zinne, dort zu deiner hohen Fraue, so erhaben über der trutzigen Brüstung und – umgekehrt – drunten in blauender Aue in ihrer so heiter gespielten Entrüstung …

 

„Dû bist mîn, ich bin dîn“
Oh holde-holder Buhle mîn!

 

Und ich erinnere mich wieder jener Wildnis der Wälder, der hohen Tannen, der wogenden Felder, dem Licht- und Schattenspiel der Mutter Natur, der überall blühenden Fingerhüte und dann wieder sie in ihrer herrlichen Frühlingsblüte … gleich einer wandelnden Maya in den wehenden Schleiern einer jungen Madonna … im sonnig wonnigen Monat Mai und wieder ihr weißes Sommerkleid, ich …

 

seh ihr lockendes Lächeln,
ich hör ihr so frohlockendes Lachen,
oh alte Burschen- oh junge Mädchenherrlichkeit,
oh Heiderose, oh Knabe Wunderhorn … doch jetzt schweigt des Sängers Höflichkeit!

 

***

 

Und sei die Liebste noch hold, die Sänger der Liebe, sie wissen es längst, Reden ist Silber und Schweigen ist Gold. Doch der Tanz der Liebe ist auch ein tödlicher Reigen, der seit uralter Zeit gellend stumm zum Himmel schreit:

 

Madonna Dolorosa, oh misericordia
per saecula saeculorum, ad majorem dei gloriam!

 

Mulier non est porta paradisi sed – nota bene – forma femina est janua diaboli! Vulgo: Das Weib ist Teufelswerk und Sündenpfuhl, eine Sumpfblüte der Mutter Erde und seine wunderbare Pracht ist nichts als der schwarze Zauber der heidnischen Walpurgisnacht. Drum sei das gottesferne Weib vermaledeit in alle Sternenewigkeit!

So rumorten einst die theologischen Dunkelmänner und ihre chiliastischen Seelenwürger, die biederen Pfaffen und spießigen Pfahlbürger, und jeder war ein großer Beteuerer jener schwelend kommenden Fegefeuer … und wieder das Heulen und Zähneklappern, das Jammern der armen Seelen … das Klagen der toten Hosen … mit all ihren ekklesiogenen Neurosen … Ach, welch verkehrte Welt mit der Höll als verkrachtes Himmelszelt. Und oh, ihr sinistren Philister, ihr schwefligen Scheister mit eurem katechistischen Scheibenkleister! Hört, die ihr noch immer so höchst empört. Zum Teufel mit all dem Plageplunder, ich glaube viel lieber ans Weltenwunder, an junge Frühlingsmädchen und alte Sommerweiber, so voller Lebenslust und Mutterwitz, denn ich hab es aus sicherer Quelle, sie sind der magisch-mystische Trip und dies ist ihr allergeheimste Tip:

 

die Triebe der irdischen Liebe,
sie sind des Teufels Elixiere und Gottes himmlisches Lustprinzip.

Und wer’s nicht glaubt, der wird nicht selig! Ich jedenfalls lausche weiter höchst unerhört und bleibe entsprechend zu tiefst betört …

 

von all den schlummernden Liedern, die da erwachen fort und fort
unter bunten Röcken und schmucken Miedern,
triffst du nur das Zauberwort …

 

Und immer wieder ist es die eine, die ich überall suche und meine im ewigen Wandel von Raum und Zeit zwischen Zukunft und Vergangenheit. „Niedere Minne“, „hohe Minne“, Ritterglück und Hexenflug und immer wieder die alte Kippe und der Schnitter schwingt schon wieder Hippe, dieser uralte, unsterbliche Popanz und aus dem Liebestanz wird wieder der Totentanz und wieder dreht sich alles im Kreise auf dieser großen Weltenreise …

What goes around comes around, just listen to that rising sound, welling up deep from that musical underground, can you hear the „Black Magic Woman“ by Carlos Santana returning again out of that silent nirvana … Mir klingt noch heute sein mexikanischer Hexengesang in den Ohren. Fürwahr, ein wahrer Ohrenschmaus für alle Venustoren! Damals in den Siebziger Jahren hatten mehrere Rockbands die Welt der mittelalterlichen Walpurgisweiber neu entdeckt und ihr sagenhaft sinnlich-übersinnliches Zauberreich immer wieder in rockende Rhythmen und berauschende Melodien verwandelt. Allen voran die Doors mit ihrem Song „Light my Fire“:

 

„Girl, we couldn’t get much higher …
try to set the night on fire … and our love becomes a funeral pyre.”

 

And every now and then … remember way back when … again those medieval fires, the horror of their holy terror and one could hear again their prayers “Ashes to Ashes” Forget those ashes! Remember Phoenix! No, not Phoenix, Arizona in those wind swept deserts way out west, where life and love and lust turns into nothing but dust. Think Phoenix, the reborn bird, the magic bird, rising beyond the fire and we are his wings again, his wings of desire …

 

the yearning for spring awakening
the longing for a summer of love,
the pursuit of lasting happiness,
down here on earth and high above.

 

So come on and soar with me all the way from here to eternity … yes, let’s forget that fear of flying, it is only that age-old fear of dying! Let’s fly away and all along we will be again that passion play between death and birth and that trial by fire between heaven and earth!

 

Sic transmutat
figura hujus mundi!
Ergo, vivat amor et repetitio delectat!

 

Und so bin ich noch einmal in dieser Welt jener fidele Springinsfeld und streiche – semper fidelis – meine süße, traute Violine und du machst erneut zu meinem Spiel wieder wie einst deine gute Miene … Oh Mädchen, mein Mädchen …Wie herrlich leuchtet mir deine Figur …”wie glänzt die Sonne? Wie lacht die Flur … so golden schön” … in jenen Tälern auf jenen Höhen …“wie ich dich liebe mit warmem Blut, die du mir Jugend und Freud und Mut zu neuen Liedern …“ I know, I know, it’s Goethe, Young Goethe in Love, you bet! But, we too have been there, we too have done that. So let me add, just to make sure that we will never ever forget that …

 

you will always be my guiding star, my shining light,
sparkling in the deepest ocean, illuminating the darkest night,

 

and I will always be your devil’s advocate,

 

because I know through all the fires and waters
that you will always be one of God’s wonderful daughters!

 

Ecce Femina! Ecco Madonna, La Passionata! Die irdische Liebe als Divina Commedia und die archaische Astarte – ecco, ecco – als italienische Commedia Dell’Arte! Doch sag es niemand …

 

„Sag es niemand, nur den Weisen,
weil die Menge gleich verhöhnet,
das Lebend’ge will ich preisen,
das nach Flammentod sich sehnet.“

Goethe, „Selige Sehnsucht“

 

Schon die Barden Barbarossas, seine wandernden Spielleute rund um den Hohenstaufen, wussten so manches Lied von der Liebe und ihren Geheimnissen zu singen. Die Minneburg der Frau Minne, sie war ein mächtiges Pädagogikum zur höfischen Verfeinerung aller menschlichen Sinne. Friedrich Rotbarts fahrende Sänger und wandernde Seher – und nicht zuletzt seine höfischen Narren, denn sie waren oft die besten Frauenversteher! -, sie alle standen mit ihrem Minnesang ganz in der Nachfolge der Trouvères aus der französischen Provence, diese wiederum waren den Troubadours des maurischen Spanien gefolgt und jene hatten ihre andalusischen Melodien einst der mythischen Welt des sonnigen Mittelmeeres abgelauscht, ihrem arkadischen Klängen und bukolischen Bocks- und Sirenengesängen. Ah, quelle joie de vivre … la dolce vita … sempre diritto … oh acqua di gioia …

Träume sind Schäume, sie taugen nichts, so meinen die Nüchternen und die stets so vernünftig Tüchtigen. Und auch noch so manche dort droben in den Burgen ihrer höheren Bildung haben ein hochmodern schlechtes Gewissen und wollen vom Zauber der Höhenflüge im Grunde herzlich wenig wissen. Meine verehrten Gelehrten, insbesondere ihr theoretischen Munkelmänner und letzten Verfechter der nihilistischen Illusion und avantgardistischen Dekonstruktion … da bleib ich doch viel lieber ein Epigon, ein freier Vagant und böhmisch freigeistiger Spekulant rund um die Letzten Dinge, und wenn ich nicht mehr weiter weiß, dann spiele ich wieder auf und singe, grad so wie Eichendorffs Taugenichts …

… bin noch einmal sein wandernder Wiedergänger, sein schwärmerischer Stürmer und Dränger, schwenk heiter meinen Doktorhut, mach mich erneut auf seine Beine und folge frohgemut immer weiter den Spuren meines alten Freund Heine, immer weiter in Richtung Paris und Provence, schweif immer weiter aus durch fremde Städte und Länder, immer weiter hinaus ins unendliche Blaue und spiele mir wieder und immer wieder das uralte Lied aller Liebeslieder, das trunkene Lied von der Traumerkorenen, das versunkene Lied von der Schaumgeborenen, aufsteigend vom tiefen Grund einer längst vergessenen Erinnerung … oh blaue Blume, oh blaues Meer … und niemand weiß …

 

Wohin und Woher
 
durch all die Engen, durch all die Weiten,
durch all die Höhen und Tiefen im ewigen Wandel der Jahreszeiten.

 

Doch so viel hab ich gelernt auf meinen Reisen von all den Narren und all den Weisen: Die Liebe, sie ist kein leerer Wahn, sie ist ein inniges Weltgefühl, ein lehr- und unterhaltsames Lebensspiel, und darum streich ich als Spielmann so gut ich’s nur kann im Geiste weiter auf meiner Fiedel, zieh noch einmal vom hohen Stauferberg hinunter ins blühende Heidelberg, wo der Strom hinaus in die Ebene fließt, grad so wie in Hölderlins Jubellied auf die „Ländlichschönste“ aller Vaterlandsstädte … und immer weiter hinaus nach Westen und wieder vorbei am hohen Fels der wundersamen Lorelei und weiter hinunter, vorbei an den Töchtern des Vater Rheins und weit hinaus ins Offene, Ferne und Südliche … und dereinst auf meiner letzten Reise, auf meiner letzten Reisestation, da lausche ich mehr denn je, lausche jener uralten Weise, jenem Meeresgesang von Ebbe und Flut und in so manch stiller, sonniger Mittagsglut erkenn ich dich wieder und immer wieder, meine

 

Schöne Fremde
 
Ma Bella Donna,
vive, mon Immortelle,
ma Primavera Dell’Acqua,
mon beau déjà-vu du Midi Éternel.[8]

 

***

 

„Alles wandelt sich, nichts vergeht.“
Ovid, Metamorphosen

 

„Nur Narr, nur Dichter“, so kommentierte schon Friedrich Nietzsche, der dichtende Denker, seine Betrachtungen. Man höre ihn nur, den raunenden Nachtwart unter seinem buschigen Schnauzbart, suchend nach einem tieferen Sinn hoch droben im Graubündner Engadin.

 

„Oh Mensch! Gib Acht!“
 
„Was spricht die tiefe Mitternacht?
Ich schlief, ich schlief –
aus tiefem Traum bin ich erwacht: …
Die Welt ist tief,
und tiefer als der Tag gedacht …
Tief ist ihr Weh –
Lust – tiefer noch als Herzeleid,
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –
will tiefe, tiefe Ewigkeit!“

 

Oh Herzelust, oh Herzeleid und dann ruft er noch trunken von weiter drunten, die Musik sei ein Weib und dann versinkt auch er trotz aller Acht in immer tiefere Mitternacht.

Und dennoch, hatte er nicht Recht mit seiner Weltanschauung aus Wunsch und Wahn, mit dem narrischen Traum der Dichter und Denker vom Großen Hinab und Großen Hinan? Ist dies nicht das uralte Weltengesetz: Die jungen Mädchen auf bunter Flur, sie werden zur schönen Frau Welt und schließlich wieder zur Mutter Natur, zum fruchtbaren Grund und furchtbaren Abgrund … und immer wieder sind Leben und Tod ein heimlich-unheimlich Gleiches, sind Diesseits und Jenseits rund um die Wasser des Großen Teiches …

 

und immer wieder hört man sie singen,
und immer wieder sieht man sie reiten
auf den wogend schwellenden Wellen
im wiegenden Wechsel der Gezeiten.

 

Es sind die Sirenen mit ihrem Gesang vom ewigen Auf- und Untergang. Schon Homer, der blinde Seher, wusste von ihnen zu berichten in seiner großen Rhapsodie von der Lebensreise als Fernweh und Heimweh, als nostalgische Odyssee, als Irrfahrt und Heimkehr zu Penelope an die Gestade von Ithaka, um endlich mit seiner Liebsten wieder vereint zu sein. Endstation Sehnsucht: Destination Home.

Destination, destiny, „over the ocean … over the sea.” Meine “Liebste”, meine “Schöne Fremde”, sie ist in der Tat geradeso, wie es in Gedichten von Eichendorff beschrieben steht, über die Jahre mein Schicksal geworden. Denn mein Leben hätte auch ganz anders verlaufen können. Sie hat es auf entscheidende Weise grundlegend verändert und vielfach bereichert und mir durch die Auswanderung nicht zuletzt auch noch in ihrem Land der vielberufenen „unbegrenzten Möglichkeiten“ die berufliche Laufbahn eines langjährigen Wandergelehrten ermöglicht, dem sich schließlich die Welt weit über die Grenzen Europas und Amerikas öffnen sollte. Für all das, aber vor allem für ihre bezaubernde Liebe, bin ich ihr unendlich dankbar.[9]

 

***

 

„Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen
das Land in den See … Weh mir, wo nehm ich, wenn es Winter ist,
die Blumen / und wo den Sonnenschein und Schatten der Erde.“
Friedrich Hölderlin, „Hälfte des Lebens“

 

So besingt der bald von der geistigen Umnachtung heimgesuchte Dichter die Pracht des Herbstes und beklagt noch mehr das Hinscheiden von Frühling und Sommer, die erste Hälfte des Jahres und sinnbildlich gesprochen die erste Hälfte des Lebens. Aber bedeutet „Hälfte des Lebens“ nicht auch, dass die andere Lebenshälfte fehlt, in anderen Worten, dass man ohne die Liebste – ohne den Liebsten – durchs Leben geht? Ist dies der Fall, dann verwandelt sich der euphorische Sirenengesang wohl mehr und mehr in einen elegischen Schwanengesang, und entsprechend fährt denn auch der wehmütige Dichter fort:

 

„Ihr holden Schwäne …trunken von Küssen
tunkt ihr das Haupt / ins heilignüchterne Wasser.“

 

Welch bedeutungsschwangere Wortschöpfung. Während das „nüchterne“ Wasser bereits auf seine winterliche Erstarrung, den Tod der Natur verweist, ruft das „heilige“ Wasser die Erinnerung an den vergangenen Sommer und vielleicht auch die Hoffnung auf den kommenden Frühling herauf, das Wunder der Wiedergeburt aller Natur.

„Ver Sacrum“, heiliger Frühling, das war die große Beschwörungsformel des Jugendstils um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. Noch nie zuvor hatte eine Kunstepoche so die glückselige Jugend gefeiert und den blütensprühenden Frühling verherrlicht wie jenes Zeitalter rund um die Jahrhundertwende. Seine Kunst entfaltete sich unter dem Namen „Art Nouveau“ weit über die Grenzen Europas hinaus und wurde in einer zunehmend säkularisierten Zivilisation geradezu zur Ersatzreligion. Im Wandel der Zeit sollte schließlich aus dem „Ver Sacrum“ der „Summer of Love“ werden – die Woodstock-Generation, celebrating good vibrations, and everywhere their children had flowers in their long and flowing hair … we were young and life was so much fun … and now we wonder: Where have all the flowers gone?! Not to mention all that hair, all long gone as it were.

 

“When summer’s gone, where will we be …”
The Doors, “Summer’s Almost Gone”

 

Flower Power, Sonnenschein und Regenschauer, auf dieser Welt ist nichts von Dauer. Was übrig bleibt von der rinnenden Zeit ist die kommende Vergangenheit. Drum ein letztes Mal zurück ins Reich der Geschichte, in die Welt der Bilder und Gedichte, der Märchen und Mythen, noch einmal zurück in den magischen Kreis, von dem die Welt der Bücher und Lieder so viel zu künden und singen weiß.

So war zum Beispiel in diesem Jahrtausende alten Gesang der Weltgeschichte die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert eine wesentliche Schwellenzeit zwischen Altem und Neuem. Die fortschreitende Verweltlichung der christlich-abendländischen Kultur, ihre progressive Repaganisierung, fand damals ihre ikonische Repräsentation in der Figur des arkadischen Pan, der bocksbeinigen Verkörperung der faunischen Liebe und all ihrer männlichen Träume und Triebe. Im Altertum hoffte der Faun in der Stille des Mittags stets eine schöne, schlafende Nymphe zu überraschen. Zusammen waren sie, wenn sich ihre erotischen Träume von einander erfüllten, das ideale Traumpaar des legendären Elysiums. Kein moderner Komponist hat ihre arkadisch traumselige Atmosphäre kongenialer eingefangen als Claude Debussy in seinen impressionistischen Kompositionen „La Mer“ und „L‘Après Midi d’un Faune“![10]

„Der Große Pan ist tot“, dieses mythische Raunen ging durch die antike Welt, als Christus auf Golgotha starb. Rund zwei Tausend Jahre später begann erneut eine weltbewegende Botschaft die moderne Welt zu durchschaudern: „Gott ist tot“ … „“Es lebe die Göttin“! Das letztere könnte Jehovahs verzweifelte Antwort auf Nietzsche sein und dies auch durchaus im Sinne seiner dionysischen Dialektik von der „Umwertung aller Werte“. Die ewig junge Göttin der Liebe, sie wüsste den uralten Wüstengott sicherlich neu zu beleben und zu begeistern! Schenkt man der kabbalistischen Exegese des Alten Testaments Glauben, dann kommt der Gott des Zornes und der Rache erst wieder zu sich, wenn er mit Shekinah, seiner verlorenen besseren Hälfte erneut vereint ist. Alsdann, ihr chaldäischen Späher vor Babels Toren und auf seinen hohen Türmen, haltet Ausschau nach der Verlorenen in all ihren Wüsten- und Sternestürmen. Und höre Yawhe, Schma Israel! L’chayyim arukim, chayym shel osher vershalom![11]

 

„Wohin gehen wir? Immer nach Hause.“
Novalis

 

Geisterfahrt und Seelenwanderung: Fährt man auf unseren heutigen Schnellstraßen in die entgegengesetzte Richtung, so ist man ein verwirrter Geisterfahrer, der schnell ans Ende seiner Lebensreise gelangen kann. Ganz anders sind die geistigen Zeitreisen in die Vergangenheit, in die entgegengesetzte Richtung der verrinnenden Zeit. Vom Zeitgeist zum Weltgeist, vielleicht könnte man ja so diese Geisterfahrt umschreibend zusammenfassen. Jedenfalls hat Hegel mit seiner Vorstellung vom Weltgeist das Märchen der Moderne schlechthin geschaffen, das ultimative Meta-Narrativ unserer säkularisierten Zivilisation. Und wenn wir geistig nicht völlig umnachtet sind, dann können wir uns ja vielleicht einbilden, im weitesten Sinne ein Teil dieses Weltgeistes und seiner Geistesgeschichte zu sein. Zudem lässt sich der Weltgeist Hegels im weiteren Sinne mit der Vorstellung von der Weltseele ergänzen, die muttermythischer Provenienz ist und unter anderem auch der Archentypenlehre der Jung’schen Tiefenpsychologie zugrunde liegt. In diesem psychomythischen Sinn sind Zeitreisen denn auch Seelenwanderungen jenseits von Raum und Zeit auf der Suche nach seelischen Wahlverwandten in einer tieferen oder höheren, in jedem Fall einer anderen, alternativen Wirklichkeit.

„Anima Mundi“, das ist die Weltseele der Großen Mutter grad so wie sie im Buche, in allen mutterrechtlichen Büchern steht. Die Wurzel des Wortes „anima“ hat sich auch noch in dem Ausdruck „animal“ in zahlreichen indo-europäischen Sprachen erhalten. Sie erinnert bis heute an die uralten Vorstellungen von der seelischen Verbundenheit aller Lebewesen. Und so wurde denn auch die Große Mutter in matriarchalen Kulten und Kulturen nicht nur als Göttin der Menschen, sondern auch als Herrin der Tiere dargestellt.[12]

Die Urmutter aller Erdmütter ist zweifellos die schleierhafte Gestalt der göttlichen Maya aus dem fernöstlichen Nirwana. Sie ist der orientalische Avatar aller weiblichen Gottheiten. Besonders die Maler des europäischen Orientalismus und ihre zeitgenössischen Komponisten haben im neunzehnten Jahrhundert immer wieder versucht, Zauber und Geheimnis ihres Schleiertanzes am Beispiel ihrer schönsten Töchter des Orients durch ihre bildenden und klingenden Kunst zum Ausdruck zu bringen.

Jedoch noch viel älter als die schimärischen Göttinnen des Mittleren und Fernen Ostens sind die formgewordenen Venus-Figuren aus Zentraleuropa. Die berühmteste von ihnen war bislang die sogenannte „Venus von Willendorf“, die man vor rund hundert Jahren an den Ufern der Donau in der Wachau gefunden hatte. Im Jahr 2008 fand man jedoch im Tal der Ach, einem Nebenfluss der im Blautopf entspringenden Blau – also ausgerechnet im sagenumrankten Herzen der Schwäbischen Alb – im dortigen „Hohlen Felsen“ eine weibliche Figur, von der die Zeitschrift National Geographic in einer ihrer jüngsten Ausgaben schrieb: „At least 35,000 years old, the Venus of Hohle Fels ist the most ancient figure yet discovered that is indisputably human“.[13]

Möglicherweise waren derartige Figuren ursprünglich nur Ausdruck einer persönlichen Idealisierung und künstlerischen Idolisierung, womit ein Höhlenbewohner der Steinzeit seiner Liebsten ein bleibendes Denkmal setzen wollte. Wie dem auch sei, heute symbolisieren diese Skulpturen steinzeitgeschichtliche Venusfiguren und diese wiederum präfigurieren die evolutionär-imaginäre Geburt des Weiblich-Göttlichen aus dem Schoß der Mutter Erde. Und so finden denn auch die romantischen Märchen von Quellennymphen und unteririschen Venusbergen einen tieferen, archaisch-indoeuropäischen Wurzelgrund. Auch in Mörikes Mitternachtsgedicht klingen diese uralten Erinnerungen an ein mütterliches, irdisch-himmlisches Weltall noch einmal traumhaft nach

 

„…Und kecker rauschen die Quellen hervor
und singen der Mutter, der Nacht ins Ohr …“

 

Vom Tag zur Nacht, vom Irdischen ins Himmlische, das sind seit Anbeginn die tellurisch-utopischen Projektionen all unserer religiös-transzendentalen Aspirationen. „Per aspera ad astra – von den rauen, niederen Pfaden hinauf zu den hohen Sternenbahnen.

 

***

 

Von den Inspirationen des kosmogonischen Eros zum langen Atem der irdischen Liebe: die Sehnsucht des vergänglich Leiblichen nach dem Ewig Weiblichen, sie ist in der Tat die älteste Sehnsucht der Menschheitsgeschichte – allen Gottesverehrern und Teufelsbeschwörern zum Trotz. Goethe hat die natürlich-übernatürliche Steigerung dieser Sehnsucht in seinem Gedicht „In Tausend Formen“ in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen auf beispielhafte Weise zum Ausdruck gebracht. Sein „West-östlicher Divan“ ist genau betrachtet ein abendländisches Weltgedicht, das die morgenländische Märchenwelt aus „Tausend und einer Nacht“ so anschaulich wie sinnbildlich ergänzt.

 

„An des geblümten Schleiers Wiesenteppich
Allbuntbesternte, schön erkenn ich dich … „

 

Goethe ist sicherlich der begabteste Narr unter den deutschsprachigen Dichtern, wenn es gilt, die Zauber der Liebe zu beschwören und den hohen, weltumspannenden Bogen des Ewig Weiblichen so wortgewaltig wie einbildungsreich zu schlagen. Und da mich die Verse seines „West-östlichen Divan“ auch immer wieder an mein fröhliches Frühlingsmädchen und unser gemeinsames, immer wieder so wanderlustiges Sommermärchen erinnern, soll er mit seinem Gedicht „In Tausend Formen“ das letzte Dichterwort haben:

 

„Wenn steigend sich der Wasserstrahl entfaltet,
Allspielende, wie froh erkenn ich dich;
Wenn Wolke sich gestaltend umgestaltet,
Allmannigfaltige, dort erkenn ich dich.“

 

Und noch einmal im hohen Welten- und Himmelsbogen:

 

„Wenn am Gebirg der Morgen sich entzündet,
gleich, Allerheiternde, begrüß ich dich,
dann über mir der Himmel rein sich ründet,
Allherzerweiternde, dann atm‘ ich dich.“

 

Narrheit hin und Weisheit her, ich meine, das ist der lange Atem der Liebe, die Geheime Offenbarung der Allherzerweiternden, das ist die dunkle Ewigkeit im leuchtenden Augenblick …

 

Himmel und Erde der Liebestoren,
drum sag ich‘s noch einmal, welch ein Glück,
dass ich mein Herz – auf immer – in Heidelberg verloren.

 


 

Endnoten

[1] Zum zweiten Teil dieser Serie siehe „Quattro Stagioni – Da Capo Al Fine“ in dieser Glossen-Ausgabe. Violine, Mandoline und Klavier, das waren die Instrumente meiner Kindheit und Jugendzeit, wobei ich mich mit meiner Geige in mehrere Schulorchester hineinfiedelte. So spielte ich auch hin und wieder vor so manch höheren Herren und feineren Damen, doch hielten sich meine konzertante Talente insgesamt stets im bescheidenen Rahmen.

 

[2] Zu einschlägigen Bildgedichten dieser Zeit siehe unter anderem auch den großen Bilderbogen Das Narrenschiff des Straßburger Künstlers Sebastian Brant aus dem Jahre 1494 sowie die Druckgrafik der Nürnberger Renaissance, allen voran Albrecht Dürer. Zu heutigen Rückblicken in jene Welt siehe unter anderen auch die Bildgedichte in der Reihe „Nürnberger Narrenspiegel“ vom Verfasser dieser Zeilen, die der Berliner Frieling-Verlag in seiner Serie Ly-La-Lyrik von 2011 -2015 gleichsam als ein fernes Spiegelbild unserer Gegenwart herausgebracht hat.

 

[3] Auch mein Großvater war noch ein großer Verehrer der Gottesmutter gewesen. Wenn die Tage kürzer wurden, stand er oft in der Abenddämmerung vor dem großen Marienbild im Wohnzimmer und betete zu seiner sternengekrönten Muttergottes. Es ist ein Andachtsbild, das ich in rührender Erinnerung habe. Mein Großvater war mir überhaupt in vielem ein großes Vorbild gewesen. Da er mit meiner Großmutter in unserem Hause wohnte, habe ich viel von ihm gelernt und erfahren. Besonders beeindruckt hat mich schon früh sein begeistertes Rühmen von Gottes herrlicher Wunderwelt und nicht zuletzt seiner „holden Weiblichkeit“, wie er das schöne Geschlecht gern zu nennen pflegte. Besonders, wenn er ein wenig angeheitert war. Und wenn es meiner Großmutter schließlich zu bunt wurde, dann nannte sie ihn schmunzelnd in ihrer alten mährischen Mundart einen „olden Norren.“

 

[4] Sic transit gloria mundi: Im Laufe der Jahrtausende verloren freilich die heidnisch-weiblichen Gottheiten den kosmischen Kampf der Geschlechter um die universale Allmacht. Es siegte bekanntlich das männliche Geschlecht und errichtete seine vaterrechtliche Vorherrschaft im Himmel wie auf Erden. Doch die Geschichte des christlichen Abendlandes hätte sich auch ganz anders entwickeln können. Was wäre zum Beispiel geworden, wenn die Mutter Gottes an Stelle eines Sohnes eine Tochter geboren hätte. Das wäre ihr eh viel lieber gewesen. So zumindest weiß es schon seit längerer Zeit ein jiddischer Flüsterwitz. Möglicherweise wäre aus der Sternstunde dort über dem weihnachtlichen Bethlehem eine ganz andere geworden. Hätte Gottvater ebenfalls seine Tochter ans Kreuz schlagen lassen, um durch ihren Opfertod der Menschheit die Erlösung zu versprechen? Wenn er ihr dieses Martyrium erspart hätte, wären dann auch dem christlichen Abendland die Kreuzzüge und Religionskriege, die Hexen- und Judenverfolgungen erspart geblieben? Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, der Kunstepoche der sogenannten Décadence, haben denn auch Maler wie Felicien Rops und Albert von Keller dieses weibliche Gegenbild zum gekreuzigten Gottessohn mehrfach ausgemalt. Zum letzteren siehe auch die Abbildung des in dieser Glossen-Nummer erschienenen Essays „Mauerschauen und Kassandrarufe: Von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes zu Samuel Huntingtons Clash of Civilizations und darüber hinaus.

 

[5] Das bekannteste weibliche Wasserwesen in den Quellgebieten Süddeutschlands ist sicherlich die Schöne Lau vom Blautopf in Blaubeuren auf der Schwäbischen Alb. Der Dichter Eduard Mörike, zwischen Romantik und Realismus hin- und hergerissen, wusste von diesem fabelhaften Wesen eine gar wundersame Geschichte zu erzählen.

 

[6] Dass ich in dieser Zeit zusätzlich ein rund halbes Hundert Länder in verschiedenen Erdteilen sehen sollte, über dreißig davon im Zusammenhang mit Vortragsreisen, auch das hätte ich mir damals als zielloser Spielmann nie träumen lassen! Alsdann, es lebe die wandernde Wissenschaft!

 

[7] Ausgerechnet das Land, wo die Kanonen blühen, wie es damals in unseren romantisch-rebellischen Heidelberger Kreisen hieß. Das große Stich- und Schlagwort war „Vietnam“. Dass Amerika auch wesentlich mitgeholfen hatte, unser verkommenes Vaterland von der Gewaltherrschaft des Dritten Reiches zu befreien und mit der Luftbrücke nach Berlin auch noch einmal nachhaltig seinen Willen zu unserer Verteidigung bekundet hatte, all das ging damals in unseren anti-faschistischen, anti-kapitalistischen und anti-imperialistischen Schimpfkanonaden mehr oder weniger lautlos unter. Und dass später ausgerechnet die konservative Reagan-Regierung mit ihrem aggressiven Aufrüstungsprogramm das Sowjet-Imperium schließlich wirtschaftlich vollkommen in die Knie zwang und damit einen wesentlichen Beitrag zum Fall der Berliner Mauer und somit zur Vereinigung Deutschlands und Europas leistete – auch das sind Realitäten, die so manche Alt-68er mit ihren abgetakelten Scheuklappen lieber weiterhin ideologiekritisch verschleiert sähen. Dichtung und Wahrheit der geschichtlichen Wirklichkeit! Doch zurück in die Zukunft.

 

[8] „Mon beau déjà-vu“: Mir fällt mit den Jahren immer mehr auf, dass ich mir bereits in meiner Kindheit und Jugendzeit Dinge vorgestellt oder eingebildet hatte, die sich in meinem späteren Leben tatsächlich bewahrheiten sollten. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Kaum war ich in der Oberschule, gab ich mit meinen noch sehr schlichten Englisch-Kenntnissen einem Mädchen aus der Nachbarschaft ein Seemannslied zum Besten, das mit den folgenden Versen beginnt: „My bonnie is over the ocean, my bonnie is over the sea …“ Dieses Lied ist, soweit ich mich erinnern kann, das einzige, das ich in meiner Kindheit aus freien Stücken jemandem vorgesungen hatte. Warum gerade dieses Lied? Jedenfalls hätte ich mir damals nie träumen lassen, dass es jemals wirklich werden würde. Das zweite Beispiel stammt aus den frühen siebziger Jahren, als mich an einem felsigen Meererstrand in Südfrankreich angesichts der Brandung und einer ihr entsteigenden mittelmeerischen Schönheit der lebhafte Wunsch überkam, die Wunder der Welt und den Zauber der Liebe in Wort zu fassen und zu einer Serie von poetischen Texten zu verdichten. Ich war jedoch sehr bald überzeugt davon, dass mir zu diesem uralten Thema nichts Neues einfallen würde und so gab ich das Unterfangen sehr schnell wieder auf. Wieviel weitere Erlebnisse und Erfahrungen, Zufälle und Notwendigkeiten mussten in meinem Leben noch hinzukommen, bis ich schließlich vierzig Jahre später dieses Unternehmen mit der Serie „L‘Après du Midi Éternel: Vom langen Atem der Liebe“ erneut in Angriff nehmen sollte. Und ob all die Verse taugen, das wird mir immer unwichtiger angesichts der Notwendigkeit, ihre innere Wahrheit in Worte zu fassen. Diese Suche nach Wahrheit, nach der Erinnerung an die vergangene Wirklichkeit, selbst noch in Sagen, romantischen Märchen und archaischen Mythen, sie ist letztendlich unser aller Déjà Vu, unsere kollektive „Recherche du Temps Perdu.“

 

[9] Zum weiteren Textzusammenhang dieser Eichendorff-Zitate siehe die Bildgedichte zu Sommer und Herbst im zweiten Teil der Serie „L’Après Midi Éternel: Vom langen Atem der Liebe“ in dieser Glossennummer. Schöne Fremde: Ob Schaumgeborene, ob Himmelserkorene, ob Rose mit ob ohne Dorn, Grünhorn hin und Füllhorn her, selige Sehnsucht und reifende Früchte, Hexenkraut und Zaubertrank, Walpurgisnächte lassen grüßen … und bestimmt werden auch noch die letzten Kirschen, jene schrecklich Sauren zu köstlich Süßen. Wie dem auch sei, ich jedenfalls liege meiner Madonna Dell’Acqua nach altem Brauch schon lange zu Füßen und müsst ich’s auch später dort droben im Himmel für immer und ewig büßen. Lieber Heinrich, ja du, mein Heine, du weißt am besten, was ich meine. Apropos Gartenfeste und Sommergäste. Erinnerst du dich noch an deine Pariser Zeit und all die vergnügten, schaulustigen Leut. All ihre Mittsommernachtsträume sind längst ausgeträumt, der Glanz ihrer Sterne schon lange verblichen, die Sommerreigen der Schäferspiele sind längst ganz anderen Tänzen gewichen … und zerstoben sind auch unsere Sommermärchen, verklungen sind die letzten Eklogen, bunt färbt sich schon an den Hängen das Laub und längst ist der Herbst ins Land gezogen.

 

[10] Genau besehen ist Pan mit seiner Panflöte die Urfigur aller Minnesänger und Wunderhörner. Und als Satyr versteht er sich auf das Lustspiel fürwahr im doppelten Sinne des Wortes, nämlich als erotisch-satirische Lustbarkeit, und das wie kein anderes Fabelwesen seiner so sagenreichen Zeit.

 

[11] Auf ein langes Leben voller Glück und Frieden! Von den Wassern von Babylon bis zur Traumfabrik von Hollywood führte eure Jahrtausende lange Wanderschaft auf der Suche nach Freiheit, Frieden und Glück. Im verlockenden Schauspiel der Leinwandgöttinnen von „Hollywood-Babylon“, wie man die legendären Gründerjahre der kalifornischen Lichtspielindustrie genannt hatte, spiegeln sich einmal mehr die uralten Glücksverheißungen der himmlischen Göttinnen aus den frühgeschichtlichen Hochkulturen des Mittleren Ostens wider.

 

[12] And oh my Goddess, Mistress of the Animals! How my “Gypsy Queen”, my wandering “American Dream”, gets animated when she is around animals, all kinds of animals. We usually have several – birds and others – around the house. And since she especially loves cats – and so do I – we always have at least two of them. Over the years, she has developed a veritable animal language of her own with scores of words with distinctly different pronunciation patterns. And that is the final reason that I know for sure that my “Lady from the Waters” is also one of Mother Earth’s most natural-supernatural daughters!

 

[13] National Geographic, Januar 2015, S. 56.

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Dec 15 2014

Alexander Kluge

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“Glossen” veröffentlicht hier die schriftliche Fassung der Rede Alexander Kluges bei der Verleihung des Heine-Preises in Düsseldorf am 13. Dez. 2014. Die tatsächlich gehaltene Rede, von der eine schriftliche Fassung nicht existiert, stimmt damit weitgehend überein.

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
lieber Anselm Kiefer,
liebe Anwesende!

Vor zwei Jahren habe ich für Jürgen Habermas hier die Laudatio gehalten. Jetzt bin ich selber der Preisträger. Die Entscheidung der Jury und auch Deine Rede, lieber Anselm, berühren mich tief. Meine Dankrede gilt Heinrich Heine und der Frage: Was heißt Moderne im 21. Jahrhundert? Wie können wir unsere Erfahrung an Heinrich Heine eichen?

Zunächst ein Wort zu unserem musikalischen Begleitprogramm. Für das Gespräch, das Anselm Kiefer und ich mit unseren beiden Reden hier vor Ihnen führen, ist es keine Nebensache. Ein großer Philosoph hat gesagt: „Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum“. In Anselm Kiefers Bild „Wege der Weltweisheit. Die Hermannsschlacht“ ist in der obersten Reihe Heinrich Heine zu sehen. Drei Plätze daneben Richard Wagner. Deshalb spielt Tobias Koch eines der seltenen Klavierstücke von Richard Wagner, „Ankunft bei den Schwarzen Schwänen“. Der Generalmusikdirektor im Theater meiner Heimatstadt Halberstadt, Johannes Rieger, hat mich auf das Stück aufmerksam gemacht. Dann Rudi Stephan! Bis zu dem Tag, an dem er im 1. Weltkrieg 1915 bei Tarnopol zusammengeschossen wurde, galt Rudi Stephan als eine der herausragenden Begabungen der deutschen Musik. Sein Tod mahnt uns an den Schlund, das Laboratorium bitterer Erfahrung, welches wir den Großen Krieg von 14-18 nennen. Wir können diese Erfahrung nicht genug memorieren, wenn wir an die neuen Konflikte in der Ukraine denken. Darauf bezieht sich das Lied der Maria aus Tschaikowskis “MAZEPPA”. Der Stoff zu dieser Oper stammt von Lord Byron und Alexander Puschkin. Heine und diese beiden Poeten bilden ein Dreigestirn. In “MAZEPPA” geht es um eine Tragödie der Unverträglichkeit in der Ukraine. Ein ukrainischer Herrschersohn, zu Gast am polnischen Hof, verführt dort Frauen. Von deren Ehemännern wird er auf ein Pferd genagelt, das mit dem nackten Prinzen, zum Wahnsinn gebracht durch Schmerz der Nägel, zum Dnjpr galoppiert und dort tot niedersinkt. Der Prinz aber wird Hetmann der Ukraine. Kaum an der Macht überwirft er sich mit allen Anderen und bringt einige um. Er verbündet sich mit dem Westen, mit der Armee des Schwedenkönigs Karl XII. In der Schlacht von Poltawa schlägt Zar Peter der Große beide aufs Haupt. Die einzige Frau, die Mazeppa wirklich liebte, verfällt dem Wahnsinn. Ihr Lied am Ende der Oper bleibt als einziger Trost.

„Jede Zeit ist eine Sphinx,
die sich in den Abgrund stürzt
sobald man ihr Rätsel gelöst hat.“
(Heinrich Heine)

Heinrich Heine ist luzide. Er ist Öffentlichkeitsmacher. Er ist publizistischer Architekt seiner Epoche. Er ist aber auch Dichter von Dunklen, verschlossenen Farben, verdichteter Erfahrung, die keine Marktgängigkeit besitzt und die notwendig zur Orientierung unserer Seelen gehört. Das entspricht dem Begriff des Kritischen und der Romantik, einer KRITISCHEN ROMANTIK. Heine ist angetan vom Fortschritt, von Revolution und Freiheit, von Industrie, Telegrafie und den Eisenbahnen. Das, was Walter Benjamin in seinem Passagenwerk an Phänomenen aufführt, von Paris als der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, über den Bürgerkönig Louis Philippe bis zur frühen Fotografie, zum Eisen, Salon, Mode, Weltausstellung und der Utopie der „Quatre Mouvements“ des Charles Fourier spiegelt auch die Lebenswelt Heinrich Heines. Stellen wir uns diesen Poeten vor. Er ist eine Art Messgerät, eine Sonde, er misst seine Zeit. Er ist auf unserem Planeten gelandet, wie jene filigrane Raumsonde, die kürzlich auf einem Planeten auf der Suche nach der Urzeit unseres Sonnensystems landete, in Schräglage, und Daten funkte bis die Batterie leer war. So etwas nenne ich Empfindsamkeit. Alfred Döblin beschreibt Heine so: „Er war kein Krokodil oder eine Schildkröte mit Panzer, sondern ein Mensch mit weicher, reizbarer, empfindender Haut. Die Epidermis trennt nicht nur, sondern verbindet.“

Heine hat in jeder Moderne seinen Sitz. Die Verbindung von Romantik und energiereicher Kritik schlägt die Brücke zwischen Caspar David Friedrich und der Frankfurter Kritischen Theorie, zu der ich mich bekenne. Zwischen den Zeiten: der Abgrund. Ich kenne keinen tieferen als den der 30er und 40er Jahre des 20. JH in unserem Lande. Wenn wir unsere Erfahrungen mit denen Heines eichen wollen, müssen wir in den Zeiten springen. Zu zweit, lieber Anselm, springt es sich deutlich entspannter und besser.

„Abgrund glänzt zu meinen Füßen —
nimm mich auf, uralte Nacht“

Als Karl Marx geboren wird, ist Heinrich Heine gerade volljährig. Als Richard Wagner geboren wird, ist er 16 Jahre alt. Als Heinrich von Kleist seine BERLINER ABENDBLÄTTER 1810 bis 1811 herausgibt — jeden Abend wird dieses journalistisch-poetische Produkt auf den Straßen in Berlin-Mitte verkauft — ist Heinrich Heine gerade einmal 13 Jahre alt (so alt wie ich 1945). Die BERLINER ABENDBLÄTTER sind mein Idol. Kleist verknüpft hier Nachrichten und Poetik auf dichteste Weise. Der Leitsatz dieses ungewöhnlichen Literaturformats heißt: „Erlöst die Nachrichten von der menschlichen Gleichgültigkeit“.

Als Napoleon nach St. Helena verschleppt wird, das jährt sich 2015 zum 100. Mal, beobachtet Heinrich Heine das als 18-jähriger Zeitgeist. Von 1821 bis 1829 dann der Aufstand der Griechen gegen die Osmanische Herrschaft. Von der europäischen Presse angeheizt, von Dichtern wie Lord Byron poetisch und hoch zu Ross auf dem Pelepones beflügelt (er stirbt daran), ähnlich wirr in den Zielen und Ergebnissen wie die Einsätze 2013 in Libyen für die Freiheit gegen Gaddafi. Man muss das mit Heines Augen betrachten.

Die Nachricht von der Revolution in Frankreich erreicht Heine auf Helgoland. Spätestens von diesem Zeitpunkt fühlt er sich als Patriot zweier Länder (immer kritisch ihnen gegenüber), nämlich Deutschland und Frankreich. Vor wenigen Wochen hielt der Heine-Preisträger Jürgen Habermas im Heinrich-Heine-Institut Paris eine aufsehenerregende Rede: Über die Zukunft Europas und die Notwendigkeit, sich an einer doppelten Souveränität, einer europäischen und einer nationalen, gleichzeitig zu orientieren. Wir sind als Europäer nicht weniger national, und das bloß Nationale war immer schon ein peinigendes und enges Korsett. Das ist der Blick Heines, wenn er sagt: „Ich bin der inkarnierte Kosmopolitanismus“. Er ist eingefleischter Weltbürger und Liebhaber zweier Länder, über den Rhein hinweg.

„Wo wird einst des Wandermüden
letzte Ruhestätte sein?
Unter Linden an dem Rhein.
Und als Totenlampen schweben
nachts die Sterne über mir.“

Diese Verse stellt sich Heine als seine Grabinschrift vor. In den drei Jahren vor seinem Tod, mit schwerer Krankheit, die ihn unbeweglich auf die Matratze bannt, tobt 1853-1856 der Krim-Krieg. Die Namen Sewastopol und Krim haben für uns eine zeitgenössische Konnotation. Es lohnt sich, mit Heines witzerfülltem Auge den Koalitionskrieg des damaligen Westens zu betrachten: England, das theatralische Weltausstellungs-Frankreich Napoleon III., Piemont-Sardinien, also das Embryo Italiens und das Osmanische Reich gegen das Russland des Zaren. Das ist der erste moderne Krieg. Anders noch als in den napoleonischen Kriegen ist eine Massenpresse Garant der Kriegsverlängerung. Neue Erfindungen wie die frühe Fotografie, es ist Kriegsfotografie, die Telegrafie (noch in der Schlacht von Waterloo befindet sich die Brieftaube Rothschilds an deren Stelle!). Karl Marx hat in einer New Yorker Zeitung Tag für Tag über diesen Krieg berichtet. Er beschreibt, wie zaristische Staatsanleihen über die Bankhäuser in Hamburg, Wien und London die Börse anfachen. Diese Anleihen gewährleisten die russische Rüstung. Der Boom, befeuert durch die hohen Zinsen der russischen Papiere, finanziert die Rüstungen der Alliierten gegen Russland. Diese ersten Schritte zur Globalisierung der Kriegskosten wird Heine in seiner Gruft genauso beurteilt haben wie Marx. Der ältere Heine und der junge Spund Marx stehen im Dialog. Heines Lied von den Schlesischen Webern, „Deutschland, wir weben Dein Leichentuch“, wird 1844 in Marxens VORWÄRTS publiziert. Die Präzision des politischen Blicks der beiden, mikroskopisch, teleskopisch, ist auf die Elementarteilchen der gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet. Sie sind erste Teilchenbeschleuniger. Das macht sie zu Verwandten. Ich wünschte mir zweierlei: als „tools of orientation“, Werkzeuge adäquater Übersicht, dass auch Marx Dichtungen geschrieben hätte (neben der Analyse der Ware und des Kapitals auch eine Analyse der Arbeitskraft) und dass umgekehrt Heine, seine publizistischen und poetischen Beobachtungen der Zeit zu einer Gesellschaftstheorie ausgebaut hätte, so wie er es in „Die Romantische Schule“ für Deutschland begonnen hat. Dazu wären Formate nötig, die nicht bloß Bücher, aber auch nicht bloß Zeitungsartikel sind. Heine hätte DIE FACKEL von Karl Kraus ebenso vorausnehmen wie er Heinrich von Kleists BERLINER ABENDBLÄTTER hätte fortsetzen können.

„Die Utopie wird immer besser, während wir auf sie warten“

Sie beruht darauf, dass die Poeten, die geistigen Macher aller Zeiten, wechselseitig ihre Arbeit fortsetzen, Kontinuitäten schaffen. Als die Reformation vor im nächsten Jahr 500 Jahren die Kirchen von Bildern und zunächst auch von Musik leerfegte, suchte die Gegenreformation auf dem Konzil von Trient anschließend ihrerseits protestantisch zu werden. Es stand zur Entscheidung, ob die mächtige figurative Musik des Mittelalters verboten gehört. Ein einzelner Kardinal, Borromeo, machte diese Entscheidung abhängig davon, dass das Musterstück einer Messe neu komponiert würde, ein letzter Versuch, die Kunst zu erhalten. Palästrina wurde mit der Komposition beauftragt. Dies war das Nadelöhr, dem wir später die “Hohe Messe in H-Moll”, Mozarts “Requiem”, das ist Polyphonie, verdanken. In der Oper PALÄSTRINA, die Hans Pfitzner über dieses Ereignis schrieb, treten die alten Meister in der Nacht zu dem sich verzweifelt bemühenden Komponisten heran, geben ihm die Töne ein. Auch himmlische Geister, und ich meine auch Alchemisten und Sterndeuter gesehen zu haben, bewerkstelligen diese Bahnung, die den Reichtum der Musik gegen ihre Zerstörer verteidigt. Am Ende sagt Palästrina: „Gott, mach mich zum letzten Stein in Deiner langen Kette“. Auf dem Gebiet der Kunst bilden wir alle, ob wir nun eine geringere oder eine höhere Anmutung des Geistes haben, solche Ketten. Und diese Ketten zeigen — anders als der Pessimist Hans Pfitzner meint — kein Ende, sondern sie sind Anfänge.

Eigentlich wollten Anselm Kiefer und ich Ihnen das alles nicht in Form von Reden, sondern als ein Gespräch vorführen. Dann warst Du, Anselm, zu Deiner eigenen Verblüffung über Nacht mit einem langen Text fertig. Aber auch das, was wir in Form von Reden hier betreiben, bleibt Gespräch, Glied in einer langen Kette.

Solche Ketten sind nicht linear. Sie haben eine vertikale Struktur, wie Echolote. Nicht die Erdoberfläche, sondern das Grundwasser fließt. Man muss sich auch das Labyrinth nicht, behauptet Arno Schmidt, in Aufsicht, wie auf dem Fussboden mancher Kathedralen vorstellen (dann würde man sich im Labyrinth kaum verirren und es wäre kein Abgrund). Vielmehr besteht das Labyrinth aus Katakomben. In ihnen ist es tatsächlich Dunkel, es lebt dort ein Monstrum. Vielleicht ist es aber keines. Vielleicht sind wir, die Eindringlinge, das Monster, und der Minotaurus ist ein Lebewesen, auf dessen Rücken wir siedeln und mit dem wir uns verbünden sollten. Was ist in diesem Kontext der Faden der Ariadne? Ein aus Liebe geknüpftes Geflecht? Liebe macht blind, sagt man. Liebe macht hellsichtig, wäre Heinrich Heines Antwort.

Man kann auf jedes spirituelle Konzentrat, jeden poetischen Moment, auf ein Bild, eine starke Musik, einen Text, der Sogwirkung besitzt, die Moderne gründen. Gleich aus welcher Zeit der „kairos“, der geglückte Augenblick, stammt. Das ist der Begriff der Moderne. Sie ist keine Avantgarde, nur vorn, sie ist keine Nachhut, die gegenüber der Barbarei verteidigt, sondern in allen Zeiten präsent. Auf Caspar David Friedrich baut sie genauso wie auf einen einzelnen Satz von Elfriede Jelinek oder Friederike Mairöcker. Auf ein Bild von Anselm Kiefer oder Gerhard Richter, auf einen Einfall von John Cage genauso wie auf einen Vers von Heinrich Heine. Die Poetik hat eine Kugelgestalt. Die darauf gegründete Kunst ist kein Stil, sondern folgt einer elementaren Voraussetzung der Poetik. Montage, Zerreißung und zugleich Zusammenhang! Das zum Begriff der Realität, Anselm, von dem Du gesprochen hast. Das, was abgebildet wird, ist nie das Gleiche wie das Abgebildete. Deshalb nicht, weil die Realität selbst Kugelgestalt hat. Das, was wir Aktualität, Gegenwart oder umgangssprachlich als „wirklich“ bezeichnen, ist davon nicht einmal ein Abglanz, sondern eine Verkürzung. Der besten “Tagesschau”, der besten “Heute-Sendung” fehlt eben die Musik, die für den blinden Sänger Homer bei der Überbringung von Nachrichten eine Selbstverständlichkeit war.

„Viel tausend Sterne schauen
sehnsüchtig, glänzend, klug.“

Du hast vorhin einen Wissenschaftler im CERN zitiert, lieber Anselm, dass „wir Menschen älter sind als die Erde“. Das ist wahr, das gilt für unsere Augen, Glieder und Seelen. Dass wir so alt sind, das ist die Sichtweise der Poetik. Zugleich sind wir jung. Ich habe das empfunden, als Hermann Parzinger vor einigen Wochen sein Mammut-Werk DIE GESCHICHTE DES MENSCHEN VOR ERFINDUNG DER SCHRIFT öffentlich vorstellte. Diese Zeitmaße unserer Vorfahren sind kürzer als die Zeiten, in denen die Teilchenbeschleuniger des CERN im Kleinen forschen und die das Hubble-Teleskop im Großen beobachtet. Das wären etwas mehr als 14 Milliarden Jahre. Wir Menschen blicken auf die kurze Strecke von nur 5 Millionen Jahren zurück, wenn wir die Direkten Vorfahren suchen. Und die liebenswürdige, nur wenig über ein Meter große Lucy in Äthiopien, ist 2,5 Millionen Jahre alt. Und dann gibt es ein plötzliches Ereignis etwa 800.000 Jahre vor heute. „Plötzlich“ das heißt binnen 1000 Jahren, in der Alchemistenwerkstatt der Evolution ein kurzer Zeitraum, wird das Feuer gezähmt. Die Menschen haben das gleiche Gehirn wie wir. Die Welt ist nachts Dunkel. Wenn es nicht irgendwo brennt im Wald und man fliehen muss, gibt es nirgends Licht. Jetzt aber, in den Höhlen und überdachten Felsvorsprüngen, lässt sich abends das Feuer anfachen. Es ist nicht allein dafür da, Fleisch zu kochen oder Menschen zu wärmen. Es ist der Versammlungsort. Der Mensch wird nackt geboren. Er hat keine Beißwerkzeuge, die ihn auf natürliche Weise zum Raubtier machen, aber er hat die Fähigkeit zu kommunizieren und zu kooperieren. Diese Vorfahren von uns, um die Feuerstelle gruppiert, beginnen zu erzählen. Das ist der Beginn der Poetik, der Politik und der Gemeinwesen. Weil unser Selbstbewusstsein in diesem Zirkel ums Feuer entstand (und vielleicht außerdem am Tage, wie Rousseau sagt, um manchen Brunnen), gibt es den elementaren Unterschied zwischen nackter Information und Erzählen.

„Von allen Welten, die der Mensch erschaffen hat
ist die der Bücher die Gewaltigste.“

Du hast mir, lieber Anselm, einen Satz in der Tradition der Vorsokratiker zugeschrieben: „Je wahrscheinlicher einem etwas vorkommt, desto misstrauischer sollte man werden“. Das habe ich nie gesagt, aber es trifft den Kern dessen, was ich denke. Ich höre lautstark aus Lemberg und aus der Nähe von Charkow: Kriegsgeräusch, Reibung, Knirschen. Darüber wird berichtet. Von anderen Minenfeldern des Planeten höre ich nichts. Mir ist die Stille dort noch unheimlicher als der Lärm der offenkundigen Krisen. Das Unbeachtete marschiert getrennt und schlägt vereint zu. Wie es Heine sagt:
„Nichts ist stiller als eine geladene Kanone.“

Du stellst in Deiner Laudation die alte Frage aus dem UNIVERSALIENSTREIT der Scholastik. Was war zuerst, die Begriffe oder die Dinge? Das Selbstbewusstsein der Menschen oder ihre Ohnmacht? In dieser Frage, sagst Du, sei ich kein NOMINALIST, aber auch kein REALIST. Ich möchte Dir das bestätigen an dem Beispiel, dass Du anführst, von den BOMBENENTSCHÄRFERN IM LUFTSCHUTZKELLER. Das sind erfahrene Klempner, selbstbewusste Fachleute. Sie schrauben jede Bombe auseinander, wenn sie als Blindgänger am Boden liegt. Im Moment aber, sind sie dem Bombengeschwader oben ausgeliefert, dass seine Bombenschächte über der Stadt entleert. Hier weht kein Weltgeist, sondern die Dinge schlagen zu. Die Macht der Dinge (das Geschwader, die Bombe) und die Ohnmacht der Menschen (die Lage der Kellerinsassen) bilden eine ANTAGONISTISCHE REALITÄT. Alle diese Elemente sind keine Nomina und sie sind keine Realia. Sie sind ein Widerspruchszusammenhang. Wir Menschen sind deshalb nicht ohnmächtig. Der von Dir genannte SPINOZA warnt uns vor den melancholischen Gefühlen. Die „Affekte“ (wir würden heute sagen Motivationen) sind dann vertrauenswürdig, sagt Spinoza, wenn mein „Conatus“, nämlich die Intensität aller Wünsche und meine Sensibilität für den glücklichen Moment, die Hauptsache bilden. Bei Heine, der zu Spinoza eine starke Affinität empfand, heißt das so:

„Größer als die Pyramiden,
als alle Wälder und Meere,
ist das menschliche Herz.“

Ein Bombenkrieg von 1945 ist für Menschen kein unabänderliches Verhängnis. Du nennst in Deiner Laudation als Beispiel die 70.000 Lehrer, die sich im Jahre 1918 gegen den kommenden Hitler hätten zusammenschließen können, um ihn zu verhindern. Begriffe und Dinge sind gleichzeitig. Aber das, was wir Menschen im rechten Augenblick hinzufügen, macht sie änderbar und dynamisch, oder wie Du es in Deinen Bildern nennst, lieber Anselm: alchemistisch.

In einem Film der 70er Jahre steht der Großaffe KingKong auf den Twin Towers und verteidigt das, was er liebt, die weiße Frau, die in seiner Pranke Platz findet. Mit der anderen Hand greift er Regierungsflugzeuge und zerschmettert sie. Er will das Unheil vom Liebsten, was er hat, dieser Frau, abwehren. Ist das ein realistisches Bild? Ist es phantastisch? Ich glaube, und ich nehme an, dass Du, Anselm, mir zustimmst, es ist ein wahres Bild.
Ich sehe in unserem Dialog heute Vormittag Heinrich Heine hier anwesend als einen Mann der Gegenwart. Ich bin interessiert, wie er — und vom Elysium aus kann er das ja jederzeit tun — unsere Weltverhältnisse im Jahre 2014/2015 beurteilt. Ich glaube, er würde nicht diskursiv antworten. Er würde anfangen zu arbeiten, zu dichten. Inzwischen können wir selbst, indem wir uns in das Jahr 1856, sein Todesjahr, und in das Jahr 1797, sein Geburtsjahr hineinversetzen (wenn er nicht in der Silvesternacht von 1799 auf 1800 geboren wurde, wie er behauptet). Wir können mit seiner Schubkraft und stellvertretend für ihn, unsere Sinne schärfen und unsererseits poetisch, malerisch oder bildhauerisch seine Texte fortsetzen. Jedes Gramm, was die Poetik in die Waagschale legt, kann, so unser vermessener Glaube, Zentner von irre werdender Realität oder die Erde umkreisender Zufallswolken aufwiegen. In diesem Aberglauben, von dem wir aber leben, arbeitet die moderne Poetik. Dies entspricht der rebellischen Kraft in uns Menschen, dem Antirealismus des Gefühls. Die Wahrscheinlichkeiten des Herzens haben mehr Gravitation als die der Statistik. Hätten nicht unsere Vorfahren an den frühen Feuerplätzen diese Art des Denkens und Meinens erfunden, stünden Anselm Kiefer und ich nicht vor Ihnen, wären wir alle an diesem Vormittag hier nicht versammelt. Alles Denken und Fühlen ist alt und sehr jung. Es gehört zu den Engeln, die uns begleiten.
Ich danke für Ihre Geduld.

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Dec 09 2014

Frederick A. Lubich

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Zum 25. Jahrestag des Berliner Mauerfalls – Interview mit Michael Blumenthal, amerikanischer Dichter und Schriftsteller deutscher Abstammung [1]

Michael Blumenthal wurde als Sohn deutsch-jüdischer Auswanderer 1949 in Vineland, New Jersey geboren und ist dort zweisprachig aufgewachsen. Zu den vielen Aspekten seines facettenreichen Lebens als Poet und Professor, Erzieher und Rechtsanwalt gehören unter anderem berufliche Stationen als Lehrer schwer erziehbarer Kinder, Herausgeber von Time-Life Books, Produzent fürs westdeutsche Fernsehen, journalistischer Mitarbeiter verschiedener Zeitungen, Direktor des “Creative Writing“- Programms an der Harvard University, sowie Gastprofessuren an über einem Dutzend Universitäten in Haifa, Budapest, Paris und Berlin sowie mehreren anderen französischen und amerikanischen Universitäten.

Michael Blumenthal ist Autor von rund fünfzehn Titeln, die nahezu alle literarischen Gattungen umfassen und von Roman, Non-Fiction und Autobiografie bis zu Gedichten und Erzählungen reichen. Allein seine lyrischen Texte sind in neun Sammelbänden erschienen. Er ist für sein schriftstellerisches Schaffen mit zahlreichen Preisen geehrt worden. So wurde beispielsweise sein Roman Weinstock among the Dying (1993), der ein böses Auge auf das akademische Reich der höheren Bildung wirft, mit dem Ribalow-Preis für „Best Work of Jewish Fiction“ ausgezeichnet.

Kritiker hatten unter anderem Folgendes über sein Werk zu sagen. David Yezzi lobte Blumenthals Lyrik als „wonderful satire“, Helen Vendler, sicherlich Amerikas renommierteste Lyrik-Kritikerin, charakterisierte seine Textsammlung Days We Would Rather Know (1982) als „poems exhilarating to read, full of lifts and turbulance“, und last but not least, Seamus Heaney, der vor wenigen Jahren verstorbene Nobelpreisträger für Literatur, bescheinigte Michael Blumenthal, eine der repräsentativen Stimmen seiner Generation zu sein. Entsprechend wurden bereits 1985 Blumenthals Gedichte in The Harvard Book of Contemporary Poetry aufgenommen.

F.A.L.:  Lieber Michael, wir sind schon seit einigen Jahren befreundet und dies wohl auch auf Grund mehrerer Berufs- und Lebenserfahrungen, die wir mehr oder weniger gemeinsam haben. In deiner Autobiografie All My Mothers and Fathers: A Memoir hast du vor allem die formativen Jahre deiner Lebensgeschichte geschildert. Dein jüngster Erzählband lautet: The Greatest Jewish American Lover in Hungarian History. Stories by Michael Blumenthal. (2014). Welche Rolle spielt deine deutsch-jüdische Abstammung für deine Identität und literarische Inspiration?

Michael Blumenthal:  Ich kann darauf hier antworten, dass es mir geht wie, ich glaube, es jedem Schriftsteller geht, dass heisst, dass mein Bewusstsein damit durchdrungen ist, von dieser “Identität” einer deutsch-jüdischen Familie. Damit meine ich einfach, dass die deutsche Sprache, die Erfahrungen meiner Familie in Deutschland zwischen 1933 und 1938, die Spannung zwischen “deutsch” oder “jüdisch” oder “amerikanisch” zu sein und die verschiedenen Ambivalenzen, die daraus entstanden sind, mir sehr viel “gegeben” haben, worauf meine Literatur aufbaut. Ganz genauso wie das Irische James Joyce seine literarische Identität gegeben hat, oder das Deutsche Thomas Mann, oder das Tschechische und Jüdische Kafka.

 

F.A.L.: Der amerikanische Schriftsteller Peter Wortsman, Sohn jüdisch-österreichischer Auswanderer, der ebenfalls hier in Amerika zweisprachig aufgewachsen ist, sagt von sich, in ihm lebe ein „stillgeborener Dichter deutscher Sprache“.[2] Wie Peter Wortsman hast auch du literarische Texte auf Deutsch geschrieben und veröffentlicht. Welche Bedeutung hat für dich die deutsche Sprache?

Michael Blumenthal: Ich würde eigentlich genauso darauf antworten wie Peter Wortsman. Die ersten deutschen Texte, die ich in meinem Leben kannte, waren verschiedene Sätze von Nietzsche und Gedichte von Goethe und Rilke, die mein Vater auswendig kannte– z.B. “Nur wer die Sehnsucht kennt, weiss was ich leide” oder “Wie soll ich meine Seele binden, dass sie nicht an Deine rührt.”

Mein biologischer Vater Berthold schrieb öfters Gedichte auf Deutsch die er in der Synagogue vorlas, und unsere gute Familienfreundin Helen Feith schrieb mir jedes Jahr ein Geburtstagsgedicht auf Deutsch. Der Rhythmus der deutschen Sprache war immer, und ist immernoch, sehr lebendig in mir. Viele Leute haben mir schon öfters gesagt, sogar, dass meine Prosa Sätze sie mehr an die deutsche Sprache errinnern als an die amerikanische.

 

F.A.L.: Du hast bei einem deiner vielen Auslandsaufenthalte auch längere Zeit in Berlin gelebt und gearbeitet. Was waren deine damaligen Eindrücke von Berlin und Deutschland?

Michael Blumenthal: Wir lebten in Berlin vom August 1999 bis Juni 2000. Als wir ankamen, kam mir Berlin wie eine große Baustelle vor —Überall diese vielen Baukräne, ein großes Durcheinander in der ganzen Stadt, Alles als ob es nochmals im Übergang wäre. Es hat mich irgendwie unruhig gemacht zuerst. Ein schöner Eindruck für mich war, wie sehr grün Berlin war, so schöne Stellen, wo man Spazierengehen konnte, am Schlachtensee und auch schwimmen bei der Krummen Lanke. Auch so schön und leicht, mit dem Fahrrad durch die Stadt zu kommen, auch an die Uni. Und, natürlich, auch überall diese Erinnerungen an die Vergangenheit, insbesondere die jüdische Vergangenheit… Das jüdische Museum, das Denkmal an die verbrannten Bücher unter den Nazis, der alte Reichstag. Und dazu auch, natürlich, diese unglaubliche deutsche Kutlur – die drei verschiedenen Opern, die vielen wunderbaren Museen, eine unglaubliche Auswahl von literarischen Vorlesungen, usw. Zu der Zeit war mein guter Freund Gyorgy Konrad der Präsident der Akademie der Künste, so sind wir öfters dorthin gegangen für verschiedene Vorlesungen oder Austellungen, auch für Musik. Die Stadt kam mir als furchtbar lebhaft vor, mit unglaublich viel Verschiedenheit und Ethnizität. Und auch, zu meiner Überraschung, eine ziemlich große jüdische Bevölkerung. Ich fühlte, eigentlich, die selbe Ambivalenz gegen meine “Jüdischkeit” und meine “Deutschkeit” wie meine Eltern sie erlebten. Ich muss sagen, dass ich mich nie ganz wohl gefühlt habe… aber auch nie ganz unwohl.

 

F.A.L.: Was waren deine Gefühle, als die Berliner Mauer fiel?

Michael Blumenthal: Ein bisschen Angst, über die neue vereinte deutsche Macht; natürlich auch eine große Freude über die Niederlage des Kommunismus. Vor allem, etwas Neugierigkeit darüber, was die Zukunft Deutschlands bringen würde.

 

F.A.L.: Heinrich Heine sinnierte in seinem Pariser Exil über die deutsch-jüdische Wahlverwandtschaft. Gibt es sie?

Michael Blumenthal: Ja, ich glaube doch. Vor allem, die Wahlverwandtschaft zwei kultivierter und im großen Teil intellektueller Völker, der Stolz auf die Geschichten des Volkes, zur selben Zeit ein gewisser Überlegenheitskomplex und, dazu, auch ein Unterlegenheitskomplex. Und sogar eine gewisse Ambivalenz gegenüber seinem eigenen Volk. Und, natürlich, dazu gehört auch die Wahrheit, dass die jiddische Sprache selbst eine wahre Mischung zwischen Deutsch und Hebräisch ist.

 

F.A.L.: Deine Gedichte sind oft sehr erotisch und das bis in die Cover ihrer Textsammlungen. Siehe etwa Egon Schieles verlockende Schöne als Titelbild deines letzten Erzählbandes. Von Sigmund Freud in Wien über Wilhelm Reich in Berlin zu Ernst Lubitsch mit seinen Liebeskomödien von Berlin-Babelsberg bis nach Hollywood-Babylon, wie man damals die verheißungsvolle Stadt der kalifornischen Traumfabriken nannte! Ist das Lustprinzip, die Suche und Sehnsucht nach der erotischen Euphorie ein besonderes Wesensmerkmal der deutsch-jüdischen Phantasie?

Michael Blumenthal: Ja, absolut, oder so denke ich. Isaac Bashevis Singer hat einmal geschrieben, das “Liebesspiel wird am besten an Sterbebetten durchgeführt”, und ich glaube, dass diese zwei Obsessionen – mit dem Tod und mit dem erotischen Leben – einen sehr starken Anschluss mit einer etwas zu intensiven Intellektualität zu tun haben.

 

F.A.L.: Zurück zu Berlin: Die sexualpolitische Emanzipation, die für die Moderne so bezeichnend ist, hat sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands vor allem in Berlin zu einem Eldorado der internationalen Schwulenbewegung entwickelt.[3] Von den Tuntenbällen der Weimarer Republik zu den Berliner Love Parades der neunziger Jahre … wie siehst du diese metrosexuelle Evolution als ein Amerikaner deutsch-jüdischer Abstammung, der auch immer wieder in den Großstädten von Paris, Budapest und Haifa gelebt hat?

Michael Blumenthal: Ich glaube einfach dass diese “metrosexuelle Evolution,” wie Du sie nennst, mit einer Großstadt Milieu, worin viele verschiedene Leute, d.h. verschieden in Ethnizität, Religion, Kulturerbe, sogar Alter, sich zusammenfinden in einem Milieu, worin “Verschiedenheit” zwischen Menschen irgendwie überbrückt werden muss, und dass es genau diese Verschiedenheit, eine Energie und einen Sinn von “fremd sein” zwischen Menschen erzeugt, was Sex und das erotische Leben sehr gut überbrücken kann… oder, wenigstens, kann man versuchen, es zu tun. Eine Art “Shorthand” zwischen Menschen, die sich nicht sehr leicht sonst erkennen können.

 

F.A.L.: Die Zukunft Berlins: Klaus Wowereit, der noch Regierende Bürgermeister von Berlin hatte vor Jahren die deutsche Hauptstadt als „arm aber sexy“ bezeichnet. Und wenn die schöne Arme reich und sattsam wird? Wie sieht es dann mit Berlin aus, dessen sagenhafte Dekadenz bibelfeste Kritiker der Weimarer Republik schon damals mit der verruchten Hure von Babylon in Verbindung gebracht hatten?

Michael Blumenthal: Ja, ich muss halt zugeben, dass, wenigstens für mich, der Reichtum und das “hoch bourgeois” Leben nicht sehr sexy sind. Ich finde immer etwas Antiseptisches, wo es zu viel Reichtum und Konformität gibt. Deswegen, zum Beispiel, finde ich Budapest viel “sexier” als Paris, New York viel sexier als London, Südamerika viel sexier als Nordamerika. Für mich wenigstens ist zu viel “Sauberkeit” eine gewisse Todheit, zu viel Reichtum ein Schlafmittel.

 

F.A.L.: Vom Mauerfall zu Jericho bis zum Fall der Berliner Mauer. Du kennst sowohl Berlin als auch Jerusalem. Wann fällt die Mauer zwischen Israelis und Palästinensern? Sei ein trojanischer Mauerschauer, sei eine amerikanische Kassandra!

Michael Blumenthal: Über den Fall dieser Mauer, muss ich leider zugeben, kann ich leider nicht sehr optimistisch sein. Die Deutschen waren ja in einem gewissen Sinn immer “deutsch”, aber zwischen den Israelis und den Palästinenser gibt es keine solche Gemeinsamkeit. Im Gegenteil: beide, die Geschichte und die Völker sind so verschieden, haben so wenig Gemeinsamkeit über hunderte von Jahre, sind gegen einander so misstraurig, und haben einander so viel Schmerzen und Verlust bereitet, dass es schwer ist, sich vorzustellen dass diese Mauer entweder leicht, oder bald, zur Geschichte gehören wird.

 

F.A.L.: Das preußische Berlin ist nicht nur die deutsche Hauptstadt, es war und ist auch heute wieder das Zentrum des Judentums in Deutschland. Was hälst du von dieser unerwarteten Wiedergeburt der jüdischen Kultur im wiedervereinten Deutschland?

Michael Blumenthal: Es gab ja damals in Berlin einen Witz, als ich dort lebte: “Was ist der Unterschied zwischen dem Kurfürstendamm und der Klagemauer?” Antwort: An der Klagemauer gibt es nur Juden auf einer Seite. Ja, diese Wiedergeburt hat mich wirklich überrascht. Ich hatte es wirklich nicht erwartet. Ich war während diesem Jahr mit dem deutsch-jüdischen Schriftsteller Raphael Seligmann befreundet, und wir haben oft darüber gesprochen. Ich glaube, es handelt sich davon, von der Wahlverwandtschaft, worüber Du mich vorher gefragt hast. Irgendwie haben viele Juden – und dazu gehörten meine eigenen Eltern – nie ihre “Deutschkeit” verloren. Irgendetwas in sie hat sich immernoch danach gesehnt, nach dieser deutschen Vergangenheit, trotz dieser tiefen Wunden und Verluste, die die Deutschen den Juden beigebracht haben. Die Antwort zu dieser Frage liegt einfach tief in dem jüdischen Unbewusstsein… zu tief, einfach, für mich es zu erklären.

 

 

Susan Wansink

Susan Wansink: die Kuppel des neuen Reichstags

 


Endnoten

[1] Das Interview wurde beiderseitig auf Deutsch geführt, und Blumenthals Antworten wurden nur minimal redigiert.

[2] Siehe ausführlicher dazu das Interview mit ihm „In mir lebt ein stillgeborener Dichter deutscher Sprache“ in Frederick A. Lubich (Hrsg.), Transatlantische Auswanderergeschichten. Reflexionen und Reminiszenzen aus drei Generationen. Festschrift zu Ehren von Robert Schopflocher. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014, S. 479 – 485. Zu Peter Wortsmans neuestem Ezählband Ghost Dance in Berlin. A Rhapsody in Gray (2013) siehe auch den Review Essay in dieser Ausgabe „Vom Berliner Salon der Weimarer Klassik zum heutigen Berlin als internationale Hipster-Hauptstadt der Clubbing-Szene …“

[3] Mehr dazu im Review Essay dieser Ausgabe.

 

 

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Dec 07 2014

Autoren Glossen Heft 39, 2014

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Gabrielle Alioth ist eine in Basel geborene Journalistin, Übersetzerin und Autorin, die seit 2004 an der Hochschule Luzern für Design und Kunst tätig ist. Seit 2010 unterrichtet sie Schreibkurse am Literaturhaus und der Volkshochschule in Basel.

Billy Badger is a Lecturer and co-ordinator of German in the School of English, Journalism and European Languages at the University of Tasmania.

Michael Blumenthal is an American poet and translator from German, French and Hungarian. He is currently a Visiting Professor of Law at the West Virginia University College of Law, where he has taught since 2009.

Christine Cosentino ist “Professor of German” an der Rutgers University in Camden und Mitherausgeberin der 1997 gegründeten Literatur und Kulturzeitschrift Glossen.

Neil Donahue is Professor of German and Comparative Literature and Senior Associate Dean at Hofstra University in Hempstead, NY

Frederick Lubich ist “Professor of German” an der Old Dominion University in Norfolk, VA.

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Anna Rosmus ist eine in Passsau geborene Autorin, Forscherin und Publizistin zur deutschen und besonders zur Passauer Geschichte während der Zeit des Nationalsozialismus. Auf ihrem Leben basiert der von Michael Verhoeven inszenierte Film Das schreckliche Mädchen. Seit 1994 lebt sie in den Vereinigten Staaten.

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Axel Reitel wurde in PLauen/Vogtland geboren, lebte aber seit seinem Freikauf aus der DDR-Haft im Jahre 1982 in der Bundesrepublik und in Westberlin. Er ist ein deutscher Journalist, Sozialwissenschaftler und Autor.

Rainer Stollmann ist Professor Emeritus für Kulturgeschichte an der Universität Bremen. Er forscht i.w. zu zwei Themen: Geschichte des Lachens und Alexander Kluge. Letzte Publikation: “Angst ist ein gutes Mittel gegen Verstopfung.” Aus der Geschichte des Lachens. Berlin: Vorwerk 8, 2010. Nächste Publikation: Begriffe putzen. Zwei Interviews mit Alexander Kluge. Berlin 2013.

Gerald Uhlig-Romero wurde in Heidelberg geboren. Er studierte Musik und darstellende Kunst in Wien und ist Regisseur, Schauspieler, Gründer des Cafe und der Galerie Einstein in Berlin, wo er Fotoausstellungen mit internationalen Fotokünstlern wie Dennis Hopper, Wim Wenders, Helmut Newton realisiert.

Susan Wansink ist “Professor of German” am Virginia Wesleyan College in Norfolk, VA und Architekturfotografin. 

Peter Wortsman a journalist, author and translator who lives in New York. He is the recipient of the 2008 Geertje Potash-Suhr Prosapreis of the Society for Contemporary American Literature in German.

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