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Dec 07 2014

Jay Rosellini

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Potenzial und Problematik des politischen Theaters heute — Zwei aktuelle Beispiele aus Österreich

Anlässlich einer Inszenierung von Anton Tschechows Kirschgarten an der Berliner Schaubühne im Jahre 2008, vierzig Jahre nach dem sagenumwobenen Jahr 1968 also, stellte der Kritiker Nikolaus Merck eine grundsätzliche Frage: “Was ist heute politisches Theater?”[1] Diese Frage wird in der kurzen Theaterkritik nicht eindeutig beantwortet, aber es wird klar, dass der Tschechow-Regisseur Falk Richter im Hinblick auf dieses Genre eher Trauerarbeit als neue Programmatik zu bieten hatte. Dies ist kein Wunder angesichts der “Ratlosigkeit der [in der Stückadaption auftretenden] post-modernen-marxistischen-antikolonialen-feministischen Linken” (so Merck): “Niemand weiß, was tun, aber alle schwätzen darüber.” Dies war natürlich nicht immer der Fall. Im langen zwanzigsten Jahrhundert gab es recht viele Dramatiker, die den Versuch wagten, Agitation, Aufklärung, Belehrung (und manchmal auch Unterhaltung) auf die Bühne zu bringen. Brecht, Piscator, Toller u.v.m. agierten, ehe die Vorsilbe “Post-” das Scheitern aller linken Projekte signalisierte. Die “Ratlosigkeit” (oder eher der Abschied von einem Weltbild mit Alleinvertretungsanspruch) erschien erst in den bleiernen Nachkriegsjahren in Gestalt von Dürrenmatt und Frisch. Als Neuauflage des Weimarer Theaters eroberte das Dokumentarische Theater[2] in den sechziger Jahren unerwarteterweise die Schauspielhäuser, um dann vor der Neuen Subjektivität bzw. der Neuen Übersichtlichkeit die Waffen zu strecken. Seitdem hat es manche Versuche gegeben, das politische Theater wiederzubeleben (u.a. von Einzelkämpfern wie Christoph Schlingensief), aber nicht mehr als das. In unserer Zeit würde folgender Aufruf aus dem Vormärz zweifellos als linke Nostalgie abgetan werden: “Der zukünftige Charakter … [des Dramas] kann nur politisch sein.”[3] Das heißt allerdings nicht, dass der Ruf nach einem eingreifenden Theater völlig verstummt ist. Auch heute kann er formuliert werden, zum Beispiel so:

Ein politisches Theater macht die Wirklichkeit unmöglich (auch im Sinne von schwer erträglich) und zielt auf das Unmögliche, beispielsweise die Utopie einer solidarischen Gesellschaft, die zunehmend in unerreichbare Ferne zu rücken droht.[4]

Das österreichische politische Theater, insofern es als ein eigenständiges Phänomen betrachtet werden kann, blickt nicht in erster Linie auf die Traditionslinie Lessing/Schiller/Büchner/Hauptmann/Wedekind/Brecht[5] zurück, sondern eher auf die Gruppierung Nestroy/Anzengruber/Horváth. Das Utopische ist eigentlich nicht sein Terrain, sondern eher die entlarvende, sprachkritische Satire oder der teils mitleidsvolle, teils skeptische Blick auf das (meist ländliche) Volk. (Gerade beim sog. Volksstück kann man allerdings eine gemeinsame süddeutsche/österreichische Linie ausmachen, verkörpert von Autoren wie Kroetz oder Turrini.)

Jenseits von nationalen bzw. regionalen Eigentümlichkeiten muss man natürlich von gewissen wiederkehrenden Dramentypen reden. Steht ein Individuum im Mittelpunkt, so handelt es sich oft um eine vorbildliche Heldenfigur (wie etwa in den Märtyrerdramen des Barock; man denke an Gryphius’ Catharina von Georgien mit dem Untertitel Bewährte Beständigkeit), obwohl ambivalente, schillernde Gestalten auch vorkommen (etwa Schillers Wallenstein, Büchners Woyzeck, Brechts Courage oder Zuckmayers General Harras in Des Teufels General). Manche Dramatiker versuchen, das Bild einer ganzen Epoche zu zeichnen (z.B. in Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit oder Dieter Fortes Martin Luther & Thomas Müntzer oder die Einführung der Buchhaltung). Im Folgenden geht es um die Analyse von zwei Dramen aus der Gegenwart, die in ästhetischer Hinsicht kaum verschiedener sein könnten, auch wenn beide Autoren aufklären und aufrütteln wollen.

Der Tiroler Schriftsteller, Drehbuchautor und Schauspieler Felix Mitterer (geb. 1948) kommt aus einfachen Verhältnissen. Er möchte aber nicht als Autor von Volksstücken gelten, obwohl er ‘von unten’ kommt.[6] Seit der Uraufführung seines Erstlings Kein Platz für Idioten (1977) hat er zahlreiche Theaterstücke geschrieben. Das breitere Publikum kennt ihn aber eher wegen seiner Arbeit fürs Fernsehen (etwa die Piefke-Saga[7] von 1991). Zu den Themen des Dramatikers Mitterer gehören der Umgang der Gesellschaft mit behinderten Menschen (im besagten Erstling), die Einsamkeit älterer Menschen in Pflegeheimen (Sibirien), die Unterdrückung der Frauen, die Rolle des katholischen Glaubens in Österreich (“Ich stehe sehr kritisch zur Katholischen Kirche, ich kritisiere diese Institution, sie hat viel angerichtet. Aber es gibt keinen Haß oder Antiklerikalismus.”[8]) sowie die Auswirkungen des Nationalsozialismus in Österreich. Auch historische Themen, die eine eingehende Beschäftigung mit dem Material erforderlich machen[9], kommen vor (z.B. die Vertreibung der Protestanten aus dem Zillertal im 19. Jahrhundert in Verlorene Heimat oder der Leidensweg einer verfolgten Glaubensgemeinschaft in Die Hutterer). Obwohl er es selbst nicht leicht gehabt hat, ist der Zorn nicht die Haupttriebfeder hinter seinem Schreiben. Er sah sich veranlasst, das öffentlich zu erklären, nachdem ihn die Kritikerin Sigrid Löffler als naiv-treuherzigen Vertreter eines “Kleine-Leute-Realismus”[10] eingestuft hatte. In seiner Replik schrieb Mitterer: “Der Dichter hat sich selbst und die ganze Welt zu hassen, was? Nicht ich. Ich nicht. Mir geht es gut. Ich bin gerettet. Und ich hoffe, daß sich viele [alle] retten.”[11]

Mitterer veröffentlichte 2013 ein Theaterstück über einen Mann, der weder sich selbst noch sein Land retten konnte. Die Titelfigur von Jägerstätter[12], Franz Jägerstätter (1907-1943), gilt heute als der wohl berühmteste österreichische Kriegsdienstverweigerer des Zweiten Weltkriegs (sein Foto hängt im Glaskasten am Wiener Friedensmuseum in der Blutgasse), aber in den ersten Jahrzehnten nach 1945 war er den meisten Österreichern unbekannt. Dies änderte sich allmählich, vor allem aus zwei Gründen. Der US-amerikanische Soziologe und Friedensaktivist Gordon Zahn veröffentlichte 1964 ein Lebensbild des Österreichers als Neinsager und Widerständler gegen das Unrecht.[13] (Zwei Jahre zuvor hatte er bereits eine Untersuchung über das Verhalten der deutschen Katholiken im Nationalsozialismus publiziert.[14]) Zahn besuchte Jägerstätters oberösterreichische Heimatgemeinde St. Radegund (unweit von Braunau, der Geburtsstätte Hitlers) und interviewte Jägerstätters Witwe Franziska sowie die Dorfbewohner. Das, was er von ihnen erfuhr, legte den Grundstein für das heutige Bild des Menschen Jägerstätter:

From the very first interview […], it became inescapably clear that the people of St. Radegund knew−and remember−two Jägerstätters: an “early” Franz, and a “new” man, who appeared after a sudden and complete change about the time of    his marriage. It was equally clear that it is the early Franz who is more warmly regarded, although the other is remembered for his good qualities, in spite of the    misfortune he brought upon himself and his family.[15]

Im Jahr 1971 vollendete der Regisseur Axel Corti dann seinen halbdokumentarischen Fernsehfilm Der Fall Jägerstätter, der “von der Religionsabteilung des ORF in Auftrag gegeben”[16] worden war und in Deutschland und Österreich ausgestrahlt wurde. Nachgestellte Szenen aus Jägerstätters Leben werden durch Interviews mit Franziska Jägerstätter und vielen Dorfbewohnern ergänzt. Jägerstätters Hinrichtung in Berlin wird sowohl am Anfang als auch am Ende des Films dargestellt. Aussagen aus den Aufzeichnungen und Briefen[17] der Titelgestalt werden in den Dialog verflochten. Im Mittelpunkt des Films steht der bereits ‘gewandelte’ Jägerstätter, der sich klar vom Nationalsozialismus distanziert (so erwidert er schon in der ersten Szene auf dem Dorf den Hitlergruß mit “Grüß Gott”). Wie es zur Wandlung kam, d.h., wie aus einem lebenslustigen, nicht besonders frommen Bauernburschen ein radikaler Katholik und verbissener Kriegs- und Nazigegner wurde, erfährt man nicht. Corti fügt allerdings den berühmten Traum Jägerstätters in den Dialog ein. In den nachgelassenen Aufzeichnungen liest sich dieses Erlebnis “in einer Jännernacht 1938” so:

Erst lag ich fast bis Mitternacht im Bett ohne zu schlafen, obwohl ich nicht krank war, muß aber dann doch ein wenig eingeschlafen sein, auf einmal wurde mir ein schöner Eisenbahnzug gezeigt, der um einen Berg fuhr, abgesehen von den Erwachsenen strömten sogar die Kinder diesem Zuge zu und waren fast nicht zurückzuhalten, wie wenige Erwachsene es waren, welche in selbiger Umgebung nicht mitfuhren. Dann sagte mir auf einmal eine Stimme: “Dieser Zug fährt in die Hölle.” […] Anfangs war mit dieser fahrende Zug ziemlich rätselhaft, aber je länger die ganze Sache ist, desto entschiedener wird mir auch dieser fahrende  Zug. Und mir kommt es heute vor, als stellte dieses Bild nichts anderes dar als den damals hereinbrechenden oder schleichenden Nationalsozialismus mit all seinen verschiedenen Gliederungen […] Somit glaub ich, hat mir Gott es durch diesen Traum oder Erscheinung klar genug gezeigt und ins Herz gelegt, mich zu entscheiden, ob Nationalsozialist − oder Katholik![18]

Cortis Jägerstätter ist demütig, tapfer und unbeirrbar. Im Heimatdorf sind die Meinungen über ihn noch lange nach dem Krieg geteilt. Dem Zuschauer des Films kann allerdings nicht entgehen, dass viele St.-Radegunder Bauern noch Hitler-Bärte tragen!

Warum griff Mitterer zu diesem Stoff, den der Corti-Film nach Jahren des Schweigens ans Tageslicht geholt hatte? Er erklärt, dass man in dem Text “Mein Weg zu Franz Jägerstätter”, der als eine Art Vorwort zu seinem Stück dient,[19] vielleicht einen Exkurs über den österreichischen Umgang mit dem Nationalsozialismus mit Hinweisen etwa auf die Debatte um das Wiener Deserteursdenkmal erwartet[20], aber dem ist nicht so. Mitterer kennt zwar “den wunderbaren Film von Axel Corti” (7), aber das war nicht der Schreibimpuls. Etwa fünf Jahre nach der − lange umstrittenen, immer wieder verschobenen − Seligsprechung Jägerstätters im Jahr 2007 (zur Amtszeit des selbst umstrittenen Papstes Benedikt XVI.) fragte der Schauspieler Gregor Bloéb seinen Freund Mitterer, ob er ein Stück über Jägerstätter schreiben könnte. (7) Dieser war zunächst nicht begeistert, weil er den Fall für “so tragisch, so aussichtslos” (7) hielt. Als er sich jedoch in die Materie vertiefte, entdeckte er einen ‘anderen’ Jägerstätter:

Franz war kein sturer, depressiver “Betbruder”, kein Sonderling und Außenseiter, für den ich ihn gehalten hatte. Franz war ein fröhlicher, aufrechter, tatkräftiger Mensch. Als erster Radegunder besaß er ein Motorrad, als erster schob er den Kinderwagen durch das Dorf, und bis zu seiner Gewissensentscheidung war er außerordentlich beliebt. (7)

Hinzu kam, dass Mitterer von der “große[n] Liebesgeschichte” (8) fasziniert war und auch von Jägerstätters Rolle als Vorbild für “zahlreiche Kriegsdienstverweigerer in der ganzen Welt” (8) beeindruckt war.[21] Das Vorwort schließt mit einer Danksagung an den Schauspieler − und Jägerstätter-Darsteller − Bloéb, denn ohne ihn “würde Franz weiterhin nur einer kleinen, katholischen Minderheit bekannt sein”. (9)[22] Was für ein Mensch wird also dem österreichischen Theaterpublikum vorgestellt, und welche dramatischen Mittel werden dabei eingesetzt?

Die Gestalt in der österreichischen Kulturgeschichte, die am ehesten mit dem Pazifismus und der Friedensbewegung assoziiert wird, ist nicht Jägerstätter, sondern Bertha von Suttner (1843-1914), Autorin des Antikriegs-Romans Die Waffen nieder! (1889) und Friedensnobelpreisträgerin von 1905. Suttner war eine engagierte, streitbare Intellektuelle, die global dachte und handelte.[23] Der Kontrast zu Jägerstätter könnte nicht größer sein. Dieser gehörte zu keiner Bewegung, war nicht politisch aktiv und war vor allem kein Intellektueller. Mitterer zeigt uns einen Mann, der trotz mangelnder Bildung ethisch denken und nach seinem Gewissen handeln konnte,[24] und er zeigt uns auch, dass der junge Jägerstätter kein ‘angehender Heiliger’ war. Da es dem Autor auf die innere Entwicklung ankommt, bemerkt er in den Bühnenanweisungen: “Keine Hakenkreuzfahnen, keine Nazi-Embleme, keine Nazi-Uniformen.” (10) Er verzichtet auch auf Spannung, indem er (wie seinerzeit Corti) die Ankündigung von Jägerstätters Hinrichtung gleich in der ersten Szene platziert.

Die Auftritte der beiden Hauptfiguren Franz und Franziska Jägerstätter werden von einem Chor begleitet, der verschiedene Gestalten annimmt (z.B. die Vox populi, die mahnende/scheltende Stimme, politische Lager − wie in der 5. Szene − oder marschierende Soldaten). Gleich in der ersten Szene werden mittels einer modifizierten Stichomythie die Fronten abgesteckt:

Chor: Spinner, Volksfeind, Verräter.

Vorsprecher: Lässt seine Familie im Stich, lässt sein Dorf im Stich, lässt seine Heimat im Stich. […]

Franziska: Er ist ein Heiliger! Der einzige, der Nein gesagt hat. Einmal werdets ihr einsehen, dass er im Recht war. (12)

Nach dieser Konfrontation wird Jägerstätters Werdegang chronologisch aufgerollt. Als junger Mann wird er Vater eines unehelichen Kindes, er schlägt im Wirtshaus einen Bauern nieder, der ihn als “Dienstbotenbankert und Hendelbauer” beschimpft hat,[25] und er unterscheidet sich grundsätzlich nicht von anderen Bodenständigen aus seiner Gegend.[26] Er weicht allerdings schon früh in einer Hinsicht ab, nämlich darin, dass er ein eifriger Leser ist. Seiner jungen Tochter Rosl erzählt er das später so:

Hat mit seiner Mutter allein auf dem Hof gelebt, und hat nur gearbeitet und gelesen. Studiert, Rosl, Bücher studiert. Über die Welt, wie es da draußen zugeht, und über die Heiligen, über die Verkünder der Wahrheit. […] Die Nachbarn haben ihn ausgelacht, wenn er wieder einmal mit einem Buch am Feldrain gehockt ist […] (41)

Im gleichen Passus beschreibt er sich als “fast ein Einsiedler” (41), das heißt, anders als Suttner hat er in aller Abgeschiedenheit die Wahrheit gesucht, und zwar nicht auf dem Weg des intellektuellen Diskurses, sondern im Glauben, dass es eine Wahrheit gäbe, die ewig wäre. Diese Wahrheit besteht für ihn letzten Endes darin, dass das Dasein auf der Erde nur als christliches Leben einen Sinn hätte. Man muss allerdings kein Theologe sein, um zu erkennen, dass es alles andere als leicht ist, ein solches Leben zu definieren. Jägerstätter berief sich auf die Worte des Linzer Bischofs Johannes Maria Gföllner (1867-1941), ein guter Katholik könne kein Nationalsozialist sein (63).[27] Im Gegensatz dazu hatte der österreichische Kardinal und Wiener Erzbischof Theodor Innitzer (1875-1955) erklärt (von Franziska im Stück vorgelesen): “Für uns Bischöfe ist es nationale Pflicht, uns als Deutsche zum Deutschen Reich zu bekennen, und wir erwarten das auch von allen gläubigen Christen.” (33)[28] In der 19. Szene ist es der opportunistische, taktierende Bischof von Linz − Gföllners Nachfolger −, der Jägerstätter belehrt, ein Soldat müsse kein Nazi sein, und außerdem gehe es “gegen den Bolschewismus” (63f.).[29] Dieser Bischof macht auch eine Äußerung, die das Gegenteil von dem bewirkt, was beabsichtigt war: “Als Einzelner können Sie doch nichts machen, verstehen Sie das endlich.” (65) Ab diesem Zeitpunkt weiß Jägerstätter, dass er seinen Weg allein wird gehen müssen.

Das heißt jedoch nicht, dass Jägerstätter nicht schwankt. Obwohl er sich von dem nationalsozialistischen Staat klar distanziert (er nimmt z.B. keine landwirtschaftlichen Subventionen an), macht er den ersten Dienst bei der Wehrmacht 1940/41 als Kraftfahrer. Danach kann er als Bauer nach Hause zurückkehren. Die eigentliche Verweigerung erfolgt erst 1943 bei der erneuten Einberufung, obwohl alle (die Mutter, die Frau, der Bürgermeister, der Pfarrer[30]) ihn davon abhalten wollen. Dies erfolgt in der 18. Szene des Stückes, an deren Ende Franziska schließlich bekennt: “Tu, wie du musst. Ich steh zu dir.” (61)

Nach der Verweigerung kommt Jägerstätter zuerst in das Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Linz, dann nach Berlin in das Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis in Tegel. Im Gefängnis wird Jägerstätter verprügelt, und die Wärter wollen ihn dazu zwingen, ein Kruzifix anzuspucken (Szene 28), aber unerwarteterweise wird im Laufe der Handlung gezeigt, wie viele Menschen sich um den Verweigerer bemühen und versuchen, ihm zu helfen. Das fängt schon 1938 an, als er es ablehnt, für den Anschluss zu stimmen. Der Oberlehrer (auch Ober-Nazi im Dorf) will den Querkopf zur Rechenschaft ziehen, aber der Chor (als Stimme des Volkes?) weiß das zu verhindern (38). Der Dorfbürgermeister, der Jägerstätter eigentlich als seinen Nachfolger sehen möchte, sorgt dafür, dass jener zeitweise vom Wehrdienst befreit wird (13. Szene). Die Mutter möchte ihn bis Kriegsende im Wald verstecken (Szene 18), und ein österreichischer Wehrmachtsoffizier, der ihn verhören muss, tut alles, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen (“Wir sind die Wehrmacht, wir sind die Armee. Wir sind keine Nazi-Organisation.” (69).[31] Sogar sein zynischer Pflichtverteidiger in Berlin setzt sich unermüdlich für ihn ein, obwohl er seine Ansichten auf keinen Fall teilt: “Blutopfer für das Volk, Blutopfer für Gott! Ein und dieselbe Chose!” (84)[32] Nicht einmal die Familie kann aber eine Wendung herbeiführen: Franziska kommt mit dem Dorfpfarrer nach Tegel, aber Jägerstätter hat seine Familienpflichten längst hinter sich gelassen: “Wer Vater, Mutter, Weib und Kinder mehr liebt als mich. ist meiner nicht wert.” (91; Hier bezieht er sich auf Matthäus 10:37.) Seine letzten Worte sind: “Maria mit dem Kinde liebe, uns noch allen deinen Segen gib.” (93)

Was können die Zuschauer also mit nach Hause nehmen? Sie werden mit einem Mann vertraut gemacht, der typische männliche Charakteristika (Stärke, Stoizismus, Sturheit) mit Wahrheitsliebe und Zärtlichkeit − besonders gegenüber seiner Frau und den Kindern − verbindet. Kann er den Nachgeborenen als Vorbild dienen? Auf diese Frage gibt es keine klare Antwort. Der grüne Vordenker Rudolf Bahro hat einmal postuliert, die Welt brauche nicht mehr Christen oder Buddhisten, sondern ein paar Millionen Menschen wie Christus oder Buddha.[33] Um ein Jesus (oder zumindest ein Heiliger oder Märtyrer) zu werden, muss man anders sein als alle anderen, wie Jägerstätter in der 26. Szene beteuert: “Ich bin aus allem herausgefallen. Aus meiner Familie, aus meinem Dorf, aus meiner Glaubensgemeinschaft. Es ist nicht schön, allein zu sein und vollkommen unverstanden.” (83) Der Lauf der Weltgeschichte lehrt uns, dass eine radikale Wandlung aller Menschen nie möglich sein wird. In Ausnahmesituationen, etwa in der Französischen Revolution, können jedoch viele zumindest zeitweise anders werden. In seinem Stück lässt Mitterer keinen Zweifel daran, dass Systeme wie der Nationalsozialismus nicht von Individuen, egal wie stark ihr Gewissen wäre, überwunden werden können.[34] Dazu wäre ein organisierter Widerstand nötig, der aktiv wird, ehe das jeweilige System sich zu festigen vermag (Wehret den Anfängen!). Man kann, ja muss Jägerstätter bewundern, aber nur als absolute Ausnahmeerscheinung. Dass dies im Nachkriegsösterreich versäumt wurde, zeigt die vorletzte Szene des Stückes: Die katholische Kirche sieht davon ab, Jägerstätters Fall öffentlich zu erörtern (“Für die Pädagogik an den Menschen sind die Beispiele der kämpfenden Helden, die aus eindeutig richtigem Gewissen [!] konsequent gehandelt haben, die besseren Vorbilder.” – so der Linzer Bischof (93)). und eine Witwen- und Waisenrente wird Franziska Jägerstätter von dem Land Oberösterreich nicht zugesprochen, weil sich ihr Mann nicht “für ein freies und demokratisches Österreich” eingesetzt habe (93). Für die Vertreter von Kirche und Staat war Jägerstätter kein Vorbild, sondern eher ein abschreckendes Beispiel. Da ist es nur konsequent, dass Mitterers Bühnenanweisungen für die Schlussszene lauten: “Etwa zehn Sekunden lang Projektionen von Krieg und Gewalttaten heute.[35] Der Ton so laut, dass es wehtut. Dann Stille.” (95) Das Schicksal des Radegunders bleibt aktuell.

Wie schon so oft konnte Mitterer mit seinem Jägerstätter einen großen Erfolg verbuchen. Das Stück wurde 2013 am Wiener Theater in der Josefstadt uraufgeführt und gehörte auch zum Programm des Theatersommers Haag/Niederösterreich, wo es insgesamt 14 000 Zuschauer gab. Das Stück wurde auch am Tiroler Landestheater in Innsbruck aufgeführt. Die Kritiker sparten nicht mit Lob:

Eine großartig durchkomponierte, zutiefst berührende, sehr wichtige Aufführung[…] Großer Jubel vom Publikum.[36]

[…] ein emotionsgesättigter Abend […] Ein großer Theaterabend.[37]

[.. ] dem Tiroler Dramatiker ist in dieser Montage aus Originalzitaten und Eigenem ein großer Wurf gelungen – lebendiges Theater, ein didaktisches Volksstück, das nie sentimental wirkt, sondern einfach wahr.[38]

[…] Herzlicher Applaus für das rundum gelungene Beispiel eines Stückes Gebrauchsdramatik, das sich nicht klüger dünkt als die Masse der Nachgeborenen.[39]

Bei einem Interview nach der Uraufführung stellte ein Journalist dem Dramatiker Mitterer eine wichtige Frage:

Wie reagierten die geistlichen Würdenträger, die die Uraufführung in Wien gesehen haben?

Sie waren sehr berührt. Kardinal Schönborn, der die Franziska gut kannte und mit ihr beim Papst war, hat mich umarmt. Das hätte ich mir nicht gedacht und es hat mich bewegt. Und der Linzer Altbischof Maximilian Aichern hat mir erzählt, wie er angefangen hat, sich für den Franz Jägerstätter einzusetzen, da hat ihm der oberösterreichische Kameradschaftsbund gedroht, wenn er das nicht einstellt, dann treten alle aus der Kirche aus. Aber er hat nicht nachgelassen, die Herzen hin zu Jägerstätter zu öffnen. Das Stück ist ja auch dazu da, ihn den Menschen näher zu bringen, diesen sehr merkwürdigen, widerständigen Bauern aus St. Radegund.[40]

Die Würdenträger der katholischen Kirche in Österreich haben sich offensichtlich zu einem neuen Standpunkt durchgerungen. Ob das auch bei den Gläubigen der Fall ist?

Bei seinem Jägerstätter entschied sich Felix Mitterer für die Einfühlungsdramatik. Er wählte einen Helden, mit dem man sich identifizieren könnte, stellte den Kampf zwischen Gut und Böse dar und appellierte an die Zuschauer, aus dem Dargestellten die richtige Lehre zu ziehen. Der Erfolg der verschiedenen Aufführungen belegt, dass es immer noch ein Publikum gibt, das diese Art von herkömmlichem Theater goutiert. Man kann es aber ganz anders machen, und im Folgenden soll ein Stück vorgestellt werden, das auf einem völlig anderen Modell basiert. Gemeint ist Kein Licht (2011/12) von Elfriede Jelinek, der Versuch, die Katastrophe von Fukushima zu deuten.

Jelinek ist seit Jahren eine Vertreterin des politischen Theaters, aber hier geht es um ein spezielles Thema, nämlich die Technik und ihre Auswirkungen auf die Natur und die Menschen. Neben den frühen feministischen Dramen (u.a. Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften [1977]), Stücken über Österreich und den Nationalsozialimus (z.B. Burgtheater [1985] oder Rechnitz (Der Würgeengel) [2008]) und Polemiken gegen den Einfluss der radikalen Rechten im Österreich nach 1945 (u.a. Stecken, Stab und Stangl [1996], Ein Sportstück[1998] oder Das Lebewohl [2000]) hat sich Jelinek den Themenblock Technik/Natur/Mensch immer wieder vorgenommen. Die Hauptwerke, die zu diesem Strang ihres dramatischen Schaffens gehören, sind In den Alpen (2002), Das Werk (2003), Ein Sturz (2010) und nun Kein Licht.[41] In der “Nachbemerkung” zum Band In den Alpen erklärt die Autorin: “Zusammenfassend könnte man sagen, diese drei Stücke seien Stücke über Natur, Technik und Arbeit. Und alle münden sie ins Unrettbare, gebaut auf Größenwahn, Ehrgeiz und Ausschluß und Ausbeutung von solchen, die ‘nicht dazugehören.”[42]

In den Alpen behandelt das furchtbare Bergbahnunglück von Kaprun, bei dem 155 Menschen ums Leben kamen. Das Werk dreht sich um die Arbeiter, die das Speicherkraftwerk Kaprun, “ein monströs-gigantisches Aufbauwerk”[43] bauten (Baubeginn in den 20er Jahren, Weiterführung in der Nazizeit mit Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, Fertigstellung erst 1955). Laut Jelinek war dieses Projekt eine “technisch[e] Großleistung”[44], die viel zur Nachkriegsidentität Österreichs beitrug. Ein Sturz schildert den Einsturz des Kölner Stadtarchivs im März 2009. In allen drei Fällen war Hybris im Spiel, obwohl das Kölner Geschehen eher mit Fehlplanung zusammenhing. Nach diesen Ereignissen konnte auch eine “Korrektur” vorgenommen werden (auch wenn die jeweiligen Toten für die Fehler büßen mussten). Die Katastrophe von Fukushima war aber von einer ganz anderen Größenordnung und hatte Folgen, mit denen viele Generationen werden leben müssen. Lässt sich so etwas Ungeheures überhaupt auf dem Theater darstellen?

Der Spiegel hat die Ereignisse so zusammengefasst:

Super-GAU in Japan

In gleich drei Reaktoren des Atom­kraftwerks Fukushima Daiichi kam es nach dem schweren Erdbeben und dem Tsunami vom 11. März 2011 zur Kernschmelze. Radioaktive Stoffe wurden in großen Mengen frei, weite Gebiete mussten evakuiert werden. Die Aufräumarbeiten werden Jahr­zehnte dauern.[45]

Es gab insgesamt fast 16 000 Todesopfer und mehr als 2 700 Vermisste, und ca. 315 000 Menschen werden wohl nie wieder in ihre Heimat zurückehren können.[46] Jelinek, die bei der Vorbereitung ihres Stückes “viele, viele Berichte” studierte (Epilog zu Kein Licht, 51) musste sich entscheiden, wie sie mit der Informationsflut zurechtkommen sollte. Eine Möglichkeit wäre eine chronologische Darstellung gewesen, was mit den Mitteln des Dokumentarischen Theaters vielleicht zu bewältigen gewesen wäre. Ein anderer Zugang hätte bei der Personalisierung angesetzt, beispielsweise mit Porträts der Mitarbeiter, die sich bei dem Versuch, die Kernschmelze zu verhindern, geopfert haben.[47] (Man denke an die berühmten Feuerwehrleute von Tschernobyl.) Das kam jedoch nicht in Frage, weil die Dramatikerin Jelinek kein Interesse an (herkömmlicher) Charakterdarstellung aufweist. Der schließlich gewählte Zugang besteht aus Abstraktion und Meditation. Die Katastrophe selbst wird nicht gezeigt (nicht einmal der Name Fukushima taucht auf), und die einzigen Gestalten sind zwei namenlose Musiker, die die erste und die zweite Geige spielen.[48] Das Vorgehen erinnert bis zu einem gewissen Grad an den dritten Teil von Georg Kaisers Gas-Trilogie (1917-1920), obwohl Kaiser sein Werk mit einer Apokalypse schließt. Sinnbild für die Katastrophe in Jelineks Modell ist die Tatsache, dass die Musik nicht mehr existiert, d.h., die Geiger versuchen zu spielen, aber man hört keine Töne. Geiger A bemerkt dazu: “Musik ist Zeit, und die haben wir nicht mehr.”(8) Eine neue Zeitrechnung hat begonnen: “Im Vergleich zur Halbwertszeit ist unsere Zeit überhaupt nichts wert.”(9) Die Kultur ist also passé, denn die Technik bestimmt alles — auch das Ende von allem. Gleich am Anfang signalisieren zwei Worte diese Dichotomie, nämlich “Schaltpult” und “Ungeheuer”.

Kein Licht kommt ohne Handlung aus. Die Dialoge bzw. Monologe kreisen um das Warum: Wie konnte es zu solch einer Katastrophe kommen? Kann man die Schuldfrage stellen? Wie steht es um das Verhältnis des Menschen zur Natur? Erst allmählich weicht die Verdrängung (B: “Die Natur müßte auch nicht immer so übertrieben reagieren, finde ich […]” – 3) der Einsicht: “Die Natur hat uns vom Feld genommen, die hat sich gedacht, diese wilde Brut nähre ich nicht mehr!” (10) Hier nähern wir uns der Gedankenwelt der Tiefenökologie, deren Vertreter den Menschen nicht als “Krone der Schöpfung” betrachten. Das ist allerdings nicht Jelineks ureigenes Terrain, denn ihre Kritik an der restlosen Ausbeutung der Natur ist vor allem eine Kapitalismuskritik (“[…] weil wir einer Fährte folgten, welche Beute versprach, in Wahrheit aber die Fährte von Dieben war. Die haben uns alles gestohlen!” – 19). Solche Worte werden aber von Musikern gesprochen, die sonst nicht in erster Linie die Sprache als Ausdrucksmittel verwenden. Die Sprache ist Jelineks Welt, und sie kann auch hier, d.h. im Zusammenhang mit einer Katastrophe, nicht davon absehen, ihre Sprachkünste vorzuführen. Der Einsatz von Ironie ist nicht selten schwer zu ertragen, was folgende Beispiele veranschaulichen sollen:

  • Die Toten strahlen, sie sind nicht ansprechend und nicht ansprechbar. (1)
  • Wieso verfährt man so mit uns? Na, der Zug kann sich ja nicht verfahren, der läuft auf seinen Schienen, also müssen wir das tun, ein neues Verfahren finden, und bevor wir uns noch einmal verfahren können, verfährt man in dieser Weise mit uns, die wir doch nicht mehr spielen […] (9)
  • Wir Arschgeigen haben jetzt unseren Sinn, unseren Zweck und unseren Lebenszweck verloren. (26f.)
  • Eine kleine Panik, gemessen an der Maßpanik, ich meine der Massenpanik. (27f.)
  • Woher kommt die Gefahr? Vom Fahren in diesem Fall schon mal nicht. Vom Gehen auch nicht. (31)

Hinzu kommt, dass es immer wieder Anspielungen auf Jelineks Lektüre gibt, und nur einige Eingeweihte werden verstehen, worum es geht. Zu den (teilweise verfremdeten) Quellen gehören Goethe (“Gesang böser Geister über dem Wasser” – 14), Schiller (“die leuchtende Milch der Undenkbarkeitsart” – 33; vgl. Wilhelm Tell) Brecht (“Aber der Größte bleibt nicht der Größte, während das Kleine klein bleibt wie ein Stein im Fluß.” – 15; vgl. “Das Lied von der Moldau”) oder Walter Benjamin (“[…] mit allen Möglichkeiten der grenzenlosen technischen Reproduzierbarkeit […]” – 28). Hinter allem steht Heidegger mit seiner Warnung vor der Übermacht der Technik (vgl. Die Technik und die Kehre). Wie sollen die Zuschauer ein derart dichtes Textgeflecht überhaupt rezipieren?[49] Vielleicht sollen sie das gar nicht. Mitten im Stück findet sich eine wichtige Bühnenanweisung: “ So. Ab hier, die lange Passage, bis die Stimmen wieder aufgeteilt sind, sollten beide gemeinsam schreien – oder sich ihre Texte selber aufteilen. Sie können sich auch überschneiden, so daß man passagenweise nichts mehr versteht.” (26) Kakaphonie als Methode? Das Geschrei als apokalyptisches Fanal? Die vielen Hinweise auf den Zivilisationsmüll unserer Zeit ([MP3-]Player, Fußball-Schiedsrichter/Hooligans, Viagra, Toyota-Pickups als Kriegswagen usf.) scheinen gegen jegliche Hoffnung gerichtet zu sein. Angesichts dessen stehen wider Erwarten folgende Worte am Schluss: “Ein Urteil bitte. Ihr Urteil bitte!”(34)[50]

Jelinek ist selbst anscheinend zu dem Schluss gekommen, dass Kein Licht an sich−trotz des Appells an das Publikum−keine Diskussion in Gang setzen würde. Sie fügte einen Epilog hinzu, bei dem nicht zwei Wiedergänger (ein bekanntes Motiv bei ihr), sondern eine Frau (“eine Trauernde”) zum Sprachrohr wird. Diese Frau soll eine “Augenzeugin” (35) gewesen sein, aber sie kann nicht als Kassandra-Figur fungieren:

Ich bin nicht einmal eine armselige Wahrsagerin, es ist ja alles schon geschehen. Als ich zu sprechen anfing, war alles schon vorbei. Ich bin eine Nachsagerin, eine Nachträgerin, ich trage den Opfern ihr Leben nach, aber sie schaffen es nicht, wieder hineinzuschlüpfen.(40f.)[51]

Im Epilog finden sich zwar immer noch Kalauer (“Hier sterben aber alle. Ohne Ansehen der Person, ja, die Ansehnlichen auch” – 40) und Lektüre-Anspielungen,[52] aber diesmal herrschen erschütternde Bilder vor. Nach der Evakuierung streunen hungrige Tiere umher, und die Toten sind allgegenwärtig: “Da liegen die armen Leichname, Tausende, Zehntausende, ich kannte persönlich etliche von ihnen.”(37) Die Trauernde scheut sich nicht vor Kritik an der Atomindustrie (Westinghouse und Aveva werden z.B. erwähnt), aber ihre Sprache ist eigentlich nicht politisch. Die AKWs werden “die bösen Werke” genannt (36), und der Begriff “Schicksal” kommt mehrmals vor. Die Firma (Tepco ist gemeint) wird als “vielstimmige Hydra” bezeichnet (41). Die Überlebenden sehen sich mit einer völlig vergifteten Welt konfrontiert: “Ich sehe Gemüse, das ich nicht essen darf. Ich sehe Obst, vor dem ich die Augen verschließen muß. Ich sehe Fleisch, das ich wegschmeißen muß, obwohl ich nicht recht einsehe, warum, denn man sieht ihm nichts an.” (40) Vorher habe man auf die Kritiker/Skeptiker nicht hören wollen, denn vor lauter Bequemlichkeit sei man blind geworden (“Wir hatten es warum und gemütlich.” – 46). Die Situation ist post-apokalyptisch, oder doch nicht: Am Schluss heißt es, man müsse das Stück beenden, denn “schlimmer als etwas, das schlimmer ist als schlimm, das geht nicht” (50), aber am Anfang des Epilogs hatte die Trauernde erklärt: “Es kann sich wiederholen, weil es geschehen ist […]” (36) Solange die Atomkraft als Energiequelle verwendet wird, sind weitere Super-GAUs denkbar. Anders als in Deutschland ist in Japan ein Ausstieg aus der Atomkraft nicht in Sicht, da neue AKWs−trotz Protesten gebaut werden sollen (u.a. vom Fukushima-Betreiber Tepco).[53]

Wie reagierten Kritiker und Zuschauer auf die Uraufführung in Köln (die durch die Textcollage Demokratie in Abendstunden ergänzt wurde), die österreichische Erstaufführung in Salzburg (mit Epilog) und andere Inszenierungen? Einerseits stößt man auf Ausdrücke wie “heftig beklatscht”[54], “zu Recht vom Publikum bejubelt”[55] oder ” vom Publikum […] mit langanhaltendem Applaus und Bravo-Rufen gefeiert”.[56] Andererseits fiel es manchem Beobachter schwer, das Werk zu charakterisieren, nicht zuletzt deshalb, weil eine “Grundidee”, ein “rote[r] Faden” gefehlt habe − auch wenn es die Autorin verstehe, “eine Atmosphäre völliger Trostlosigkeit und Beklemmung zu schaffen”.[57] Bei allem guten Willen reflektiere das Theater “sein Scheitern im Umgang mit Katastrophenthemen”.[58] Mehr als das Stück selbst wird Jelineks Vorsatz gewürdigt, ihre “Einreden gegen blinde Technikgläubigkeit und grenzenlose Naturbeherrschung” fortzuschreiben,[59] ihre “Abrechnung […] mit unserer Hybris, durch technisches Know-How die Welt im Griff zu haben.”[60] Merkwürdigerweise erwähnen weder die verschiedenen Kritiker noch die Autorin selbst, dass es seit geraumer Zeit in vielen Ländern (nicht zuletzt in Österreich, wo der Bau eines Reaktors verhindert werden konnte) eine Bewegung gegen die Atomkraft gibt. Was Jelinek betrifft, so könnte das damit zusammenhängen, dass sie den Grünen/Umweltschützern skeptisch gegenübersteht.[61] Angesichts dessen war die Entscheidung, die Uraufführung in Deutschland vorzunehmen, etwas merkwürdig, da sie garantierte, dass das Publikum im “Land des Ausstiegs” ihre Technikkritik wohlwollend aufnehmen würde. In China oder Tschechien wäre man mit ganz anderen Verhältnissen konfrontiert gewesen.[62]

Im Grunde genommen ist Kein Licht ein Lesedrama[63], denn im Theater rauschen die Anspielungen und Querverweise so schnell vorbei, dass es auch Zuschauern aus der Kulturelite schwerfallen dürfte, alles aufzunehmen. (Dass Zuschauer aus den sog. “bildungsfernen Schichten” noch weniger mitbekommen würden, versteht sich von selbst.) Wer sich für eine eingehende Exegese des Textes interessiert, kann sich an Bärbel Lücke wenden.[64] Eine solche Exegese zu den Dramen von Felix Mitterer wird man vergebens suchen, was nicht wundert, denn der Dramatiker und Drehbuchautor Mitterer bemüht sich, möglichst viele Zeitgenossen zu erreichen. Er versucht auch nicht, durch schillernde Sprachakrobatik zu brillieren. Daraus darf man allerdings nicht schließen, dass seine Dramen wirkungsvoller sind als die Jelinekschen, und Mitterer selbst hegt da keine Illusionen. (Lakonisch bemerkte er bei einem Interview, der österreichische Präsidentschaftskandidat Waldheim sei trotz seiner Bemühungen gewählt worden.[65]) Jenseits ästhetischer Aspekte ist er durchaus bestrebt, das zu verwirklichen, was ein Kritiker über Kein Licht bemerkt hat: “Das Theater gibt sich nicht als Lehrmeister, meint nicht, alles besser zu wissen. Aber es legt doch den Finger in die Wunde – es ist nicht gut so, wie es ist.”[66] Summa summarum könnte man also behaupten, dass die Arbeit des politischen Theaters die Welt nicht ändert. Die Literatur insgesamt ist gegenüber den herrschenden Zuständen ziemlich machtlos. Ist sie deswegen ohne Bedeutung, ohne Relevanz? Keineswegs. Sie ist ein Stachel im Fleisch, ein Störfaktor und vor allem ein (alternatives) Archiv. Wie sollten die kommenden Generationen sonst erfahren, dass nicht alle mit der ‘Megamaschine’ einverstanden waren?

 

Endnoten

[1] Nikolaus Merck, “Letzte linke Restposten,” Frankfurter Rundschau, 31. Januar 2008.

[2] Vgl. dazu Jay Rosellini, ” Heinar Kipphardts Bruder Eichmann und das totgesagte dokumentarische Theater”, Modern Language Studies, Jg. 19, Nr. 4 (1989), 3-10.

[3] E. Meyen, “Die neueste belletristische Literatur”, Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 2 (1839), 632. Zitiert nach: Horst Denkler, “Politische Dramaturgie. Zur Theorie des Dramas und des Theaters zwischen den Revolutionen von 1830 unf 1848,” Deutsche Dramentheorien, hrsg. von Reinhold Grimm (Frankfurt/Main: Athenäum Verlag, 1971), Bd. II, 359.

[4] Franziska Schößler, “Politisches Theater nach 1945”, in Politisches Theater, Themenheft von Aus Politik und Zeitgeschichte 42/2008, 22. Ausführlicher: Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation, hrsg. von Ingrid Gilcher-Holtey, Dorothea Kraus und Franziska Schößler (Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2006).

[5] Dass Brecht ab 1950 Österreicher war, wird oft vergessen. Zur Kontroverse um seine Einbürgerung vgl. Gert Kerschbaumer, “Der kalte Krieg gegen die Moderne,” in Kerschbaumer und Karl Müller, Begnadet für das Schöne. Der rot-weiß-rote Kulturkampf gegen die Moderne (Wien: Verlag für Gesellschaftskritik, 1992), 135-138.

[6] Vgl. Karl E. Webb und Nicholas J. Meyerhofer, “Felix Mitterer Interview” [1994], Felix Mitterer. A Critical Introduction, hrsg. von Webb und Meyerhofer (Riverside: Ariadne Press, 1995), 38f. Er kenne zwar die österreichischen Traditionen, versuche aber nicht absichtlich, Volksstücke zu schreiben.

Zur Entwicklung dieser Gattung vgl. Volksstück. Vom Hanswurstspiel zum sozialen Drama der Gegenwart, hrsg. von Hugo Aust, Peter Haida und Jürgen Hein (Munchen: C.H. Beck, 1989).

[7] Der Titel der Serie, die sich auf den Konflikt zwischen Österreichern und deutschen Urlaubern bezieht, ist fast zu einem geflügelten Wort geworden. Vgl. Florian Asamer, “Keine neue Piefke-Saga” [zum WM-Finale in Brasilien 2014], Die Presse, 12. Juli 2014.

[8] “‘Literaten sind relativ uninteressante Menschen’. Interview mit Christine Gabl,” Felix Mitterer. Materialien zu Leben und Werk (Innsbruck: Haymon-Verlag, 1995), 38.

[9] Mitterer meint, er sei bei seinen Nachforschungen “fast fanatisch”. Vgl. “Felix Mitterer Interview”, a.a.O., 36.

[10] Sigrid Löffler, “A netts Büabl”, Felix Mitterer. Materialien zu Leben und Werk, a.a.O., 62. Erstdruck in profil, 29.1.1990.

[11] Felix Mitterer, Leserbrief an profil vom 12.2.1990. Abdruck in Felix Mitterer. Materialien zu Leben und Werk, a.a.O., 66.

[12] Felix Mitterer, Jägerstätter. Theaterstück [Auftragswerk für das Theater in der Josefstadt, in Zusammenarbeit mit dem Theatersommer Haag] (Innsbruck-Wien: Haymon-Verlag, 2013).  Die Seitenangaben im Text dieser Arbeit beziehen sich auf diese Aufgabe.

[13] Gordon Zahn, In Solitary Witness: The Life and Death of Franz Jägerstätter (New York, Chicago, San Francisco: Holt, Rinehart and Winston, 1964). In der Widmung heißt es: “This book is dedicated to the memory of Franz Jägerstätter and to all who, like him, stood alone and said ‘No’ – many of whose stories have been completely lost to history, at least as it is kept and written by men.” (v) Im Anhang druckte Zahn ausgewählte Schriften Jägerstätters ab. Bald danach erschien eine deutsche Übersetzung: Er folgte seinem Gewissen. Das einsame Zeugnis des Franz Jägerstätter (Graz, Wien, Köln: Styria, 1967).

Vgl. den Nachruf auf Zahn: Michael W. Hovey, “A Man of Peace. Gordon C. Zahn, 1918-2007”, Commonweal, Feb. 15, 2008, 6.

[14] Gordon Zahn, German Catholics and Hitler’s Wars. A Stud y in Social Control (New York: Sheed and Ward, 1962). Deutsch: Die deutschen Katholiken und Hitlers Kriege (Graz, Wien, Köln: Styria, 1965).

[15] Zahn, In Solitary Witness, a.a.O., 19.

[16] Hintergrundinformation zum Film unter www.film.at/der_fall_jaegerstaetter. Die Kinofassung hieß Die Verweigerung.

Corti (1933-1993), der eigentlich Axel Fuhrmans hieß, hatte einen Vater, der in der antifaschistischen Résistance in Frankreich aktiv war. Der österreichische Axel-Corti-Preis für herausragende Leistungen in Funk und Fernsehen trägt den Namen des Regisseurs.

[17] Die einschlägigen Texte finden sich in: Franz Jägerstätter. Der gesamte Briefwechsel mit Franziska. Aufzeichnungen 1941-1943, hrsg. von Erna Putz (Wien-Graz-Klagenfurt: Styria, 2007); Erna Putz (Hg.), Gefängnisbriefe und Aufzeichnungen. Franz Jägerstätter verweigert den Wehrdienst (Linz-Passau, Veritas: 1987). S. auch Erna Putz, Franz Jägerstätter … besser die Hände las der Wille gefesselt (Linz-Wien: Veritas Verlag, 1985) und Thomas Schlager-Weidinger, ” … und wenn es gleich das Leben kostet.” Franz Jägerstätter und sein Gewissen (Linz: Wagner Verlag, 2010).

[18] Gefängnisbriefe und Aufzeichungen, a.a.O., 124-127.

[19] Felix Mitterer, Jägerstätter. Theaterstück (Innsbruck-Wien: Haymon-Taschenbuch, 2013). Die Seitenangaben im Text dieser Arbeit beziehen sich auf diese Ausgabe.

[20] Vgl. dazu: Peter Mayr, “Österreichische Einmaligkeit. Deserteure der Wehrmacht warten weiter auf ihre Rehabilitierung”, Der Standard, 23. Mai 2002; Bettina Fernsebner-Kokert und Peter Mayr, “Deserteursdenkmal: Stadt prüft Heldenplatz”, Der Standard, 21/22. April 2012; “Wiener Deserteursdenkmal: Baustart nach Ostern”, Der Standard, 12. Feb. 2014.

[21] Jägerstätter war allerdings kein Totalverweigerer. An einem gerechten Krieg hätte er teilgenommen. Sogar in unserer Zeit, d.h. lange nach der Wende, waren Totalverweigerer ein rotes Tuch. Vgl. das Schicksal von Silvio Walther: Andreas Schwarzkopf, “Verweigerer klagt das Heer an”, Frankfurter Rundschau, 26. Juni 2008. Einfach unglaublich ist das Schicksal von Oliver Blaudszun, der weder in der NVA noch in der Bundeswehr dienen wollte. Vgl. “Verweigerer. Klarer Fall” Der Spiegel 4/1996, 56. Themenüberblick: Dietrich Bäuerle (Hrsg.), Totalverweigerung als Widerstand. Motivation, Hilfen, Perspektiven (Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag, 1988).

[22] Dem würde Corti, lebte er noch, wohl kaum zustimmen. Eine Mitarbeiterin am Wiener Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) sagte mir kürzlich bei einem Gespräch, Mitterers Behauptung könne man so nicht akzeptieren.

[23] Im Juni 2014 veranstaltete die Wiener Nationalbibliothek unter dem Motto “Krieg und Frieden” einen Gedenkakt zu ihrem 100. Todestag. Vgl. “Staatsakt zum Todestag Bertha von Suttners geplant,” Der Standard, 22. Jan. 2014; Österreich gedachte des Kriegsausbruchs 1914″, Kleine Zeitung, `8.6.2014; Oliver Das Gupta, “Pazifistin Bertha von Suttner – Kampf gegen Krieg”, Süddeutsche Zeitung, 21. Juni 2014; Arno Widmann, “Die Ära der Sprengstoffe”, Frankfurter Rundschau, 20. Juni 2014.

[24] Im US-Kontext führt folgende Studie vor, wie gebildete, privilegierte Menschen in Kriegszeiten nach ihrem Gewissen handeln können: Louisa Thomas, Conscience. Two Soldiers, Two Pacifists, One Family−Test of Will and Faith in World War I (New York: Penguin Books, 2011). Die im Titel genannten Pazifisten sind der langjährige Sozialistenführer Norman Thomas und sein Bruder Evan, der wegen seiner Überzeugungen ins Gefängnis kam.

[25] Zu diesem Zeitpunkt ist er von Gewaltfreiheit weit entfernt: “Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, halt ihm auch die linke hin. Ich kann das nicht.” (23)

[26] Zweimal bezeichnet er sich als “Innviertler” (31 und 56).

[27] Gföllner war allerdings nicht frei von antisemitischen Tendenzen. Vgl. Erika Weinzierl, Prüfstand. Österreichs Katholiken und der Nationalsozialismus (Mödling: Verlag St. Gabriel, 1988), 233f. Weinzierl betont, dass Gföllner imstande war, den “Rassenantisemitismus” abzulehnen (“Das jüdische Volk nur wegen seiner Abstammung verachten, hassen und verfolgen, ist unmenschlich und unchristlich.”) und gleichzeitig diese Behauptung aufzustellen: “Verschieden allerdings vom jüdischen Volkstum und von der jüdischen Religion ist der jüdische internationale Weltgeist. Zweifellos üben viele gottentfremdete Juden einen überaus schädlichen Einfluß auf fast allen Gebieten des modernen Kulturlebens aus.” (234)

Ein Parallelfall zu Jägerstätter ist der österreichische Priester Franz Reinisch, der bereits 1942 enthauptet wurde. Im Anhang zu der ersten Darstellung von Reinischs Weg wird Jägerstätter als “Franz II” bezeichnet.

Vgl. Heinrich Kreutzberg, Franz Reinisch. Ein Märtyrer unserer Zeit (Limburg: Lahn-Verlag, 1953), 184-187. Darin heißt es: “Wie Franz Reinisch als Priester, so ist Franz Jägerstätter als Laie ein Märtyrer der Gewissenstreue geworden.” (187)

[28] Im Stück wird nicht erwähnt, dass Innitzer später zu einem Hitlergegner wurde.

[29] “Nebenbei” erfährt man, dass dieser Bischof antisemitisch eingestellt ist. Über Christus sagt er: “Er hat mit dem Judentum gebrochen. Er hat mit dem Judentum nichts zu tun.” (65)

[30] Auch der Chor schreit: “Einrücken! Einrücken!” (61)

[31] Seine Worte lassen einen unwillkürlich an die berühmt-berüchtigte Wehrmachtsausstellung denken. Es wird angedeutet, dass dieser Offizier Kontakt zu den Verschwörern vom 20. Juli hat.

[32] Die Aussagen des Verteidigers Feldmann zum Katholizismus verdienen es, hier festgehalten zu werden:

“Ihr Katholiken seid alle Masochisten. Das ist auch das Problem von Hitler. Er hasst die Katholiken und ist doch selber einer. Einige der größten Schlächter, einschließlich ihm, kommen aus dem katholischen Österreich. Wissen Sie das, Jägerstätter? Ihr seid Anbeter des Todes.” (84) Ferner heißt es: “Der Protestantismus ist die Religion des Mannes.” (77)

Im Film geht Corti noch einen Schritt weiter, indem er die Richter selbst als halbwegs sympathische Menschen schildert.

[33] S. Rudolf Bahro, Logik der Rettung: Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik (Stuttgart: Weitbrecht, 1987), 308. Er fährt dann fort: “Es braucht tatsächlich eine ‘kritische Masse’ von halbwegs verwandelten oder sich verwandelnden Individuen. Bisher waren es immer zu wenige.” (309)

[34] Auch die “Bibelforscher” (Zeugen Jehovahs) verweigerten den Dienst in der Wehrmacht, aber sie wurden anders behandelt als “normale” Deutsche oder Österreicher. Vgl. z.B. das Schicksal von Joachim Escher, dargestellt in: Kirsten John, “Mein Vater wird gesucht.”Häftlinge des Konzentrationslagers in Wewelsburgi (Essen: Klartext-Verlag, 1996), 159-165, zu den Bibelforschern als Gruppe 37-47.

[35] Dieser Teil der Arbeit wurde fertig, als die ukrainische Regierung eine totale Mobilmachung verkündete.

Gleichzeitig tobten die Kämpfe im Gaza-Streifen sowie in Syrien und im Irak. Auch künftige Generationen werden zweifellos die Gelegenheit haben, den Wehrdienst zu verweigern. Die neuen Jägerstätters werden aber wohl in vielen Teilen der Welt kaum mit Verständnis rechnen können. In der Bundesrepublik liegen die Dinge anders: “Ich glaube, dass die Republik im Laufe der Jahre ziviler geworden ist. Und ich bin sicher, dass das Engagement und die persönliche Erfahrung von Kriegsdienstverweigerern dazu erheblich beigetragen hat. Die Selbstverständlichkeit, mit der Zivis heute Teil der Gesellschaft sind−manche können sich gar nicht mehr erinnern, dass das nicht immer so war−, ist ein deutliches Zeichen für diese zivile Republik. Früher galten Kriegsdienstverweigerer als Drückeberger und Vaterlandsverräter. Heute sind sie es, die das Vaterland− der Begriff “Wirtschaftsstandort Deutschland” hat sich stärker eingebürgert − ihrer Arbeit am Leben erhalten. Es ist nicht mehr die SPD allein, die auf das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung pocht. Es gibt keine Partei mehr im Bundestag, die sich über Zivildienstleistende verächtlich äußern würde. Sie werden nicht mehr als KDVer wahrgenommen, sondern als wertvolle Menschen, die soziale Dienste verrichten.” S. Pitt von Bebenburg, ” Kriegsdienstverweigerer verhindern keine Kriege.” Frankfurter Rundschau, 14. April 2003.

[36]Guido Tartorotti, “Jägerstätter-Stück. Der Vorhang ist wie ein Fallbeil”. Kurier, 21. Juni 2013.

[37] “Gut, dass Franz fesch ist”, Tiroler Tageszeitung, 14. Mai 2014.

[38] Norbert Mayer, “Seliger Franz Jägerstätter, bitte für uns!”, Die Presse, 21. Juni 2013.

[39] Ronald Pohl, “‘Jägerstätter’: Glücksfall eines Requiems”, Der Standard, 20. Juni 2013.

Nur bei der FAZ gab es eher kritische Töne: “[…] letztendlich nicht mehr als eine Collage aus Archivbeständen […] Für ein Passionsspiel taugt es, als Drama fehlt dem Wort aber die Fleischwerdung.” Martin Lhotzky in der FAZ vom 20.6.2013. Zitiert nach: www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=8292%3Ajaegerstaetter-felix-mitterers-volksstueck-ueber-einen-modernen-maertyrer-am-theater-in-der-josefstadt-uraufgefuehrt&catid=187%3Atheater-in-der-josefstadt-wien&Itemid=84

[40] Bernhard Lichtenberger, “Felix Mitterer im Interview”, 5. Juli 2013. Online: www.nachrichten.at/nachrichten/kultur/Felix-Mitterer-im-Interview-An-Jaegerstaetter-muss-man-erinnern;art16,1152263

[41] Der Text von Kein Licht findet sich auf Jelineks Homepage. Die Seitenzahlen, die in dieser Arbeit angegeben werden, beziehen sich auf die Druckversion (WORD) des Textes. Das gilt auch für den später hinzugefügten Epilog? (Eine Trauernde. Sie kann machen was sie will:). Der erste Teil wurde auch als Beilage zu Theater heute 11/2011 abgedruckt.

[42] Elfriede Jelinek, In den Alpen (Berlin Verlag: Berlin, 2002), 259. Der Band enthalt In den Alpen, Das Werk und Der Tod und das Mädchen III (Rosamunde). Letzteres kann hier nicht behandelt werden. Vgl. auch folgende Prosatexte, die um das Thema Natur kreisen: “Das im Prinzip sinnlose Beschreiben von Landschaften”, manuskripte 69/70 (1980), 6-8; “Der Wald”, manuskripte 89/90 (1985), 43-44; Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr (Reinbek: Rowohlt, 1985). Vgl. dazu folgende Studien: “Jelinek, une répetition? Jelinek, eine Wiederholung? Zu den Theaterstücken ‘In den Alpen’ und ‘Das Werk'”, hrsg. von Françoise Lartillot und Dieter Hornig (Peter Lang: Bern, Berlin u.a.: 2009).

[43] Elfriede Jelinek, Notiz zur Uraufführung von Das Werk am Wiener Akademietheater am 11. April 2003.

Im Internet verfügbar: www.burgtheater.at/Content.Node2/home/service/shop/08-Das-Werk.at.php

Vgl. Jelineks “Nachbemerkung” zu In den Alpen, a.a.O., 257-258.

[44] Jelinek, “Nachbemerkung”, a.a.O., 258.

[45] Einleitung zu “Fukushima – alle Artikel und Hintergründe”, im Internet verfügbar: www.spiegel.de/thema/fukushima/

[46]Vgl. Fukushima-Unglück – Japan gedenkt der Hunderttausenden Katastophenopfer”, Die Zeit Online, 11. März 2013, verfügbar unter www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-03/fukushima-erdbeben-gau-schweigeminute-gedenken.

[47] Vgl.”Leiter des Katastrophen-AKWs: Held von Fukushima stirbt an Krebs”, Stern Online, 10. Juli 2013. www.stern.de/panorama/leiter-des-katastrophen-akws-held-von-fukushima-stirbt-an-krebs-2036292

[48] Jelinek ist ausgebildete Orgelspielerin, aber sie spielt auch Geige.

[49] Bei der Uraufführung in Köln nahm man radikale Kurzungen vor: “Die Inszenierung verwendet weniger als ein Viertel des umfangreichen Textes Jelineks.” Vgl. Gerhard Preusser, “Untergangsunterhaltung”, Theater heute, Nov. 2011, 8.

[50] Am Ende von Brechts Der gute Mensch von Sezuan ist der Ton allerdings ein anderer: “Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß! / Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!”

[51] An einer anderen Stelle wird klar, dass diese Frau Jelineks eigenen Standpunkt vertritt: ” Bin ich Wahrsagerin, doch nur für mich selbst? […] ich rede weiter, nichts und niemand kann mich noch hindern.” (42)

[52] Dazu zählen Sophokles’ Antigone (“Der Mensch ist zwar ein Ungeheuer, aber er ist ein Dreck, ein Nichts gegen die Natur.” – 38) und Schopenhauer (“Die Welt als Wille und Verstellung” – 41).

[53] Vgl. Carsten Germis, “Tepco baut neue Atomkraftwerke”, FAZ, 6.2.2014 und Christoph Neidhart, “AKW Hamaoka in Japan, ‘Gefährlichstes Kraftwerk der Welt’ soll wieder ans Netz”, Süddeutsche Zeitung, 12. März 2014.

Dass nicht alle Super-GAUs gleich sind, wird von Jelinek nicht thematisiert. Der Fall Tschernobyl wäre zum Beispiel viel verheerender gewesen, hätte es gleichzeitig ein Erdbeben und einen Tsunami gegeben.

[54] (dpa) “Kölner Schauspiel: Jelinek bringt Fukushima auf die Bühne”, Hannoversche Allgemeine, 30. Sept. 2011. Online: www.haz.de/Nachrichten/Kultur/Theater/Jelinek-bringt-Fukushima-auf-die-Buehne

[55] Elisabeth Pichler,”‘Kein Licht’. Wir hätten es wissen können” , Dorfzeitung, 8. Nov. 2012. Online: dorfzeitung.com/archives/19522

[56] Christian Bos, “Der Geigerzähler gibt den Takt vor”, Kölner Stadtanzeiger, 1. Okt. 2011. Online: www.ksta.de/kultur/elfriede-jelinek-der-geigerzaehler-gibt-den-takt-vor,15189520,12056372

[57] (news.de/dpa), “Im Trübsinn fischen: Jelineks Stück zu Fukushima”, 30.9.2011. Online: www.news.de/medien/855228422/im-truebsinn-fischen-jelineks-stueck-zu-fukushima/1/

[58] Eva Pfister, “Jelinek: ‘Kein Licht’ nach Fukushima”, Die Presse, 30. Sept. 2011. Online: diepresse.com/home/kultur/news/697478/Jelinek_Kein-Licht-nach-Fukushima

[59] Vgl. Andreas Rossmann, “Jelinek-Premiere in Köln: Apokalypse grau”, FAZ, 30. Sept. 2011.

Online: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/jelinek-premiere-in-koeln-apokalypse-grau-11410915.html

[60] “Kein Licht” [Spielplanankündigung vom Schauspielhaus Salzburg zur Premiere am 7. Nov. 2012], Online: www.schauspielhaus-salzburg.at/spielplan/stuecke/kein-licht/

[61] Vgl. dazu besonders ihr früheres Werk Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr.

[62] Dafür hat es inzwischen eine Inszenierung in Japan gegeben. Vgl. dazu “‘Kein Licht’ in Tokio”, Online: www.festival-tokyo.jp/en/program/12/kein_licht/”>www.festival-tokyo.jp/en/program/12/kein_licht/ und www.festival-tokyo.jp/en/artist/ElfriedeJelinek/; “Elfriede-Jelinek-Schwerpunkt bei Theaterfestival”, Online:

www.bmeia.gv.at/botschaft/tokio/aktuelles/elfriede-jelinek-schwerpunkt-bei-theaterfestival-in-tokio

Auf Jelineks Homepage findet sich auch ein “Grußwort nach Japan”. Darin heißt es ganz bescheiden:

“Ich freue mich […] sehr über diese Aufführungen und wünsche Ihnen, daß sie meinem Textgeflecht irgendetwas entnehmen können, das Sie mitnehmen können.”

[63] Bis zur Moderne wurden Lesedramen oft von Frauen geschrieben, da sie keine Möglichkeit hatten, ihre Werke auf der Bühne zu sehen. Dass Jelinek, deren Werke sehr oft inszeniert werden, solche Werke verfasst, ist bemerkenswert. Vgl. Heidi Esslinger, “Lesedrama”, The Feminist Encyclopedia of German Literature, hrsg. von Friederike Ursula Eigler und Susanne Kord (Westport CT: Greenwood Press, 1997), 284-285.

[64] Vgl. Bärbel Lücke, “Fukushima oder die Musik der Zeit. Zu Elfriede Jelineks Bühnenstück”, Online:

www.vermessungsseiten.de/luecke/jelinek

Da geht es um Derrida, René Girards Theorie des Komischen und die Quantenphysik.

Rita Thiele, die Chefdramaturgin am Kölner Schauspiel, liefert eine ähnliche Analyse. Vgl. R.T., “‘Nicht einmal ein Wort rührt uns an.’ Über «Kein Licht» von Elfriede Jelinek: eine Text-Recherche mit Stationen bei Platon, Heidegger, Sophokles, René Girard, Günther Anders und natürlich – Jelinek”, Theater heute,

Nov. 2011, 9-13. Siehe auch Gérard Thiériot und Christian Schenkermayr, “In den Alpen; Das Werk; Ein Sturz; Kein Licht“, Jelinek-Handbuch, hrsg. von Pia Janke u.a. (Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler, 2013), 184-190.

[65] “Felix Mitterer Interview”, a.a.O., 39-40.

[66] Ulrich Fischer, “Kein heller Schein”, Fazit/Deutschlandradio Kultur, 29. Sept. 2011. Online:

www.deutschlandradiokultur.de/kein-heller-schein.1013.de.html?dram:article_id=172348

 

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Dec 07 2014

Neil H. Donahue

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The Political Pathology of Amnesia in Postwar Germany:  Tilman Jens’ Demenz: Abschied von meinem Vater (2009)

When Tilman Jens in 2009 published a short, probing memoir, full of sadness and anger, about his famous father Walter Jens, the book critic for Die Zeit, Iris Radisch, declared her “Fassungsloses Staunen” and pleaded at the outset of her review: “Warum schützt den Vater niemand vor seinem Sohn?” She then assumed that role of defender in her own denunciation of what she described as Tilman Jens’s denunciation of his sick, ailing father, which takes the form for her of a stylized “Dämonisierung der Demenz,” turning the father’s illness into a political metaphor. She dismisses the work Demenz: Abschied von meinem Vater as a lamentable instance of filial “Denkmalsturz” that does not even belong in the ranks of other more noteworthy milestones in the post-1968 period of agonistic Auseinandersetzung with the father and the Nazi past, for which subgenre Christoph Meckel’s Suchbild: Über meinen Vater (1980) has served as the prototype.1  
 In a sort of warped parallel to a more recent work in that subgenre, Lars Brandt’s Andenken (2006), Radisch’s describes Tilman Jens’s work simply as a pathetic attempt to diminish the public figure of his father and thereby win him back after the fact as a daddy who should have shared more fully the childhood details of domestic daily life, –presumably instead of reading, writing, teaching, lecturing, and presenting himself in public (she oddly uses the word “zurückerobert,” with the intonations of invasion and conquest that resonate so darkly in German history). In sum, she condemns Tilman’s “ehrlose Entblöβung seines wehrlosen Vaters mit pseudopolitischen Girlanden.”

But Walter Jens was the consummate public intellectual of his time. Though his myriad activities may well have cut into his private time with his family, Radisch, in her indignation, misses the point of Tilman Jens’s necessary attempt to clarify his father’s actions and inactions in light of revelations about his past in the Nazi period and their relation to the principles he had always declared and defended vigorously, vehemently and often, both in public and in private over decades. In his multifarious activities as professor of rhetoric, as classical philologist and translator, as literary critic, novelist, dramatist, enthusiastic debater, outspoken critic and public commentator in  news media (newspaper, TV, radio) on matters from theology to soccer (both sources of devotion, inspiration and sometimes fanaticism), and also in his role as cultural diplomat in German literary-political affairs (head of German PEN after reunification), Walter Jens embodied more fully and broadly than any other single person in the postwar period the principles of the Gruppe 47 that he had belonged to, and of the traditions of the Enlightenment that he venerated and espoused, as public citizen. He was an energetic member of the Gruppe 47 that reestablished a literary community after the Second World War based on explicit principles of candor and commitment to an open society and a literature that reflected that openness, rather than its opposite of abject obedience to state ideology or abstruse evasiveness (as in the literature of Inner Emigration; see Donahue/Kirchner, Flight of Fantasy). His response to the recent past of Nazi totalitarianism as a warning for the future emerged first in his postwar novel Nein: Die Welt der Angeklagten (1948), which presented a dystopian vision of a society with its ideological machinery of systematic persecution, based both on both George Orwell’s 1984 as well as on the (at the time) not yet canonical work of Franz Kafka. His history of literary modernism Statt einer Literaturgeschichte recovered the traditions of German and European modernism, so long suppressed, as sources of critical inspiration for both readers and writers in the postwar period.  
 Like other books in the post-68 tradition of Väterliteratur, such as Bernhard Vesper’s Die Reise (1977), Meckel’s Suchbild (1980), and Niklas Frank’s Der Vater: Eine Abrechnung (1987), or even Meckel’s second contribution to the genre with his counterpart Suchbild: Meine Mutter (2002), Wibke Bruns’ Meines Vaters Land (2004), Ulla Hahn’s Unscharfe Bilder (2005) and Ute Scheub’s Das Falsche Leben Eine Vatersuche (2006), to name but a few, Tilman’s Demenz conflates the personal and the public, the private and the historical, –though he does so consciously and deliberately in order to measure the former, the personal, against the latter, the public-historical, as his father had always advocated and done, — until the moment in question. The book centers upon the moment in 2003 when it became public for the first time that Walter Jens had once joined and belonged to the Nazi Party in 1942, which fact would be noted in the new Germanisten-Lexikon, then in preparation. Rather than to acknowledge and explain, his father denies, equivocates and evades, claiming not to remember, before eventually conceding that he may have signed some scrap of paper (einen Wisch) at some point. His father had spent his career presenting himself as a “Gedächtnis-Virtuose” (58), as a “Gedächtniskünstler” (14) whose “einst so phänomenale Gedächtnis” (13) could summon up details from childhood or long passages of literary texts for declamation, as I once myself heard him do, reciting a long passage of poetry he had heard that morning at a Rigorosum at the Mittagstisch in his home before his Assistenten at the time, who was apparently a regular guest, myself – a visiting graduate student working on a dissertation, his wife Inge and the Swabian Putzfrau.2 His extraordinary memory and public principles of confrontation for the sake of clarity now capitulate before the recognition of his own selective memory gap, which he shared with so many others in the postwar period that he had helped to define and whose attempts at Vergangenheitsbewältigung he encouraged and whose failings in that regard he castigated. Instead, at various points of autobiographical reflection, his past was, like so many others, stylized into an antifascist posture of inner antipathy toward the regime, sympathy for its victims and the good fortune in this one regard of asthmatic disqualification for military activity. 
 What Walter Jens failed to remember or confront in his own past, and chose to elide in his self-presentation, was not only his Party membership (as of September 1, 1942; No. the 9265911), which must have signaled at least some momentary need, desire or willingness to comply, since membership was not casual or automatic, but also an article entitled “Die Epik der Gegenwart: Betrachtung unserer gegenwärtigen Dichtkunst” (April 1943) in a student newspaper or newsletter of a group called Kameradschaft Hermann von Wissmann (named after the Reichskommissar of German East-Africa [Tanzania]), in which a young W. Jens praises Erwin Guido Kolbenheyer and advocates a “Hinwendung zum ewigen Deutschtum” and a “starke Bindung an das Volk” in opposition to “Entartungsliteratur.” He even intones there, according to his son’s excerpts, that “Ohne ein tiefes Bekenntnis zum Völkischen ist Dichtung unmöglich.” Though membership in the Party cannot be dismissed as a passive circumstance, the article, even as juvenilia, shows voluntary, outspoken advocacy of Nazi doctrine, whereby he even condemns such figures as Thomas Mann and Alfred Döblin, whose works he did so much after the war to elevate and celebrate, as in his influential Statt einer Literaturgeschichte (1957).

In the wake of the first revelation of the Lexikon, the article from his student days was found by chance in a private archive and sent to the author; one could still wonder if others exist. Son and journalist Tilman confronts and contextualizes the contradictions that his father both tried to evade and ended up multiplying as he sought to explain and equivocate in ways that he had always excoriated in others. His father’s hypocrisy appeared strikingly at odds with his civil courage and integrity in public and private life in the postwar period. In trying to separate himself at age 80 from a Nazi past that has come back to haunt him, “flüchtet mein aufrechter Vater” notes Tilman “in ein ach-so-deutsches Doppelleben” (71).  Tilman does, as son and as journalist, what his father had taught him to do and follows his example by examining the contexts and putting to question the possibilities of explanation, even creating opportunities for explanation, both public and private, which only lead however to further prevarications and retractions: “Er macht dicht, er beginnt sich einzumauern, er will sein Gedächtnis nicht mehr strapazieren” (78). With that refusal, Walter Jens enters, for son Tilman, into the ranks of so many others from Günter Grass to Siegfried Lenz to Hans-Dieter Genscher from the same generation that either refused to address or tried to hide or elide their involvement or Party membership: he cites the volume Jahrgang 1926/27 by Alfred Neven Dumont to expand his father’s symptomology into a collective historical amnesia or dementia shared by so many: “die Symptome politischer Demenz” (87), as I had done in a more limited fashion in my study Karl Krolow and the Poetics of Amnesia (Camden House, 2002), in which I interpreted that poet’s long and prolific career as poet and commentator in relation to, for the first time, his writings before 1945 and information (with transcripts) that I found (in Hannover at the Niedersächsisches Staatsarchiv) in the file from his denazification hearings, which I was the first person to sign out and read since it was filed in 1947 (not surprisingly, since no one had looked, no single reference to those hearings or to his Party membership appeared in any prior secondary literature or personal information on Krolow). Such knowledge inevitably changes how we read and understand his later works. Karl Krolow remained, however, decidedly and consistently apolitical and opportunistic before the war and after, pursuing his career as a poet (though the context had changed dramatically), whereby Walter Jens, to his credit, had stepped into the public realm and taken others to task with self-righteous outrage. Tilman Jens notes of his father’s Gruppe 47 generation that the public fight against the legacy of fascism and for the right of expression in a new democratic state was “der Leim, der eine ganze Generation von Dichtern und Denkern zusammenhielt . . . Die unbequemen, bohrenden Fragen wurden der Gesellschaft gestellt, nicht aber sich selbst” (90). He employs the metaphor of illness for the localized failure to remember and acknowledge one’s own entanglement in Nazi ideology,3 but in the case of his father, it’s not just a metaphor.

Along with the revelations of his Nazi past, Walter Jens also begins to suffer at the same time from Alzheimer’s; the trajectory of his Vergangenheitsbewältigung converges in dramatic fashion with the onset of his illness: two pathologies coincide, leading to what Tilman calls “gnädiges Vergessen” (123), suggesting that in this case the clinical pathology provided his father with a parallel resolution to what Helmut Kohl memorably called “die Gnade der späten Geburt” or a circumstance that relieves one of culpability or in this case at least, consciousness thereof.  Contrary to Radisch’s blistering condemnation of Tilman Jens’s use (“so abwegig”) of the trope of dementia, his book does not conflate or confuse the two, much less suggest that the one causes the other. Rather he notes simply and sadly how the physical pathology, clinical amnesia, translated the metaphor that characterizes many of his father’s generation into a harsh reality in his individual case; he notes how the prospect of such a debility had horrified a man who otherwise committed his postwar life to a community of open, continuous discourse and exchange of ideas, and who could not and did not wish to imagine, much less experience, an “Entmündigung” contrary to all his Enlightenment ideals; and he notes how the revelations of his father’s Nazi past seemed to undermine his will to fight against the symptoms and reinforced his sense of increasing distance and isolation. Tilman Jens examines these two matters about his father in banal, sometimes sordid and unadorned detail that would seem to some readers (and critics) rather too painful, indelicate, unsentimental and unwelcome, but that in fact fulfill his father’s spirit of clarity and confrontation, as he himself would not and then could not do in this painfully personal instance. Tilman Jens’s candid account punctures two taboos at once in talking frankly about the Nazi complicity of a parent, and also, -what is far more common-, the mental disintegration of a parent, his once so lucid father. Yet another consideration, which Radisch ignores entirely, also informs the narrative.

Tilman’s examination of the circumstances of his father’s converging amnesias also describes the other side of the equation: the difficult circumstances of continual care for the spouse: “Er zuckt mit den Schultern, die grau-blauen Augen fixieren nichts mehr, sie schauen ins Leere. Manchmal aber wird er wütend, presst eine schmerzverzerrte Grimasse ins schmal gewordene Gesicht. Er ballt die Fäuste, noch einmal ein Aufbäuman der Vitalität. Er schreit, haut und spuckt um sich. Die Verzweiflung mobilisiert ungeahnte Kräfte. Wenn er trifft, hat meine Mutter am nächsten Morgen blaue Flecken. Mit über 80 ist auch sie eine Frau, die geschlagen wird. Häusliche Gewalt steht am Ende dieser Vorzeige-Ehe” (10). Tilman also tells the story of his mother Inge Jens and dedicates the book to her, who had always managed to maintain her own career as scholar and editor (“eine in ihrer Eigenständigkeit selbstbewusste und souveräne Frau” 24) with important studies of Expressionist prose, of the Prussian Academy of Arts during the Weimar Republic, of Katia Mann, and of Katia’s mother, and with her invaluable editions of Thomas Mann’s correspondence, despite the overwhelming public brilliance, influence, authority and recognition of her husband. Even in his waning months, overcome with depression and medications, reluctant to speak in public, he calls on his wife to fill in for him at times on public occasions, but then manages in the end: “Meine Mutter weiβ nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Er schafft sich durch den Text, kaum ein Versprecher, die bewährte Droge Publikum zeigt Wirkung. Aber wer von denen, die ihn hier erleben, […], scheinbar souverän, . . . wird sich vorstellen können, was sie durchmacht, wenn keine bewundernde Zuhörerschaft zugegen ist. Wie haben sich daheim, . . . die Wut- und Verzweiflungsausbrüche gehäuft” (36). Yet she continues her own career as best she can, refusing to be eclipsed by his illness any more than earlier by his fame, despite his mounting claims on her attention, and his skepticism and jealousy about her projects: “Meine Mutter schreibt allein. Nicht nur ohne ihn, sondern letztlich auch gegen ihn. So jedenfalls muss er es empfinden. Sie macht die Tür ihres Arbeitszimmers hinter sich zu. [. . .] Er muss zum ersten Mal in seinem Leben gehorchen, sich, fast 82jährig, in eine ungewohnte und schmerzhafte Rolle fügen” (38). Even his doctors recommend to her that she drop her projects: “Die Umverteilung der Rollen, die Degradierung meines Vaters zum Zuschauer eines Schaffensprozesses, werde die Aussicht auf Heilung ernsthaft trüben. [. . .] Inge Jens aber ist Frau Walter Jens zu diesem Zeitpunkt schon über den Kopf gewachsen. Sie bleibt eisern und macht das, was mein Vater in vergleichbarer Situation auch getan hätte: Sie schreibt weiter. […] Jetzt ist es sie, die beim Schreiben durchatmet” (39). Tilman also tells the story, in the microcosm of his own parental home, of the changing roles, the gender dynamics, in the highest levels of German Bildungsbürgertum, and of his mother’s quietly heroic refusal to surrender her own identity as an intellectual and writer to her husband, whether healthy or ill, while also accepting with full support his multifarious activities, his fame and then his illness. In the same year as Demenz, Inge Jens published her own memoirs Unvollständige Erinnerungen (Rowohlt, 2009), which became a Spiegel-Bestseller, where she confronts her own past and feels obliged “die Strukturen meiner Lebensführung zu überdenken” (10); suddenly with her husband no longer present as a partner, her position has changed: “Die unerwartete Gegenwart hat mich […] veranlasst zurückzublicken,und ich habe mit Erstaunen bemerkt, dass dieses Zurückblicken Kräfte freisetzt, die mir auch einen neuen, anderen, freieren Umgang mit dem Hier und Jetzt ermöglichen” (11-12). On its own or in conjunction with his mother’s book, Demenz tells the story of their combined coming-to-terms with both the revelations of the father’s past, a secret withheld from both spouse and child, and the demands of his protracted illness, – rather more hands-on Denkmalpflege than melodramatic Denkmalsturz, to return to the complaint by Iris Radisch, who omits this aspect of the work. Though the book necessarily and insightfully centers upon the father and the circumstances of his two amnesias, it also describes the secondary effects of those circumstances on the lives of others, – of what happens, the emotional and physical disruption and distress, caused by the loss of memory of both kinds. Demenz appears, directly for the author and indirectly for his mother, as a work of profound and necessary Gegenwartsbewältigung.4

Bibliography

Brandt, Lars. Andenken. München: Hanser, 2006.

Donahue, Neil H. Forms of Disruption: Abstraction in Modern German Prose. Ann Arbor: University of Michigan, 1993.

Dumont, Alfred Neven, ed. Jahrgang 1926/27: Erinnerungen an die Jahre unter dem Hakenkreuz. Cologne: Dumont, 2007.

—-. Karl Krolow and the Poetics of Amnesia in Postwar Germany. Rochester, NY: Camden House / Boydell & Brewer, 2002.

“Suchbilder: Looking for Christoph Meckel.” In: Aesthetics and Politics in Modern German Culture: Festschrift in Honour of Rhys W. Williams. 103-115. Eds. Brigid Haines, Stephen Parker, Colin Riordan. Bern: Peter Lang, 2010.

—-, and Doris Kirchner. Flight of Fantasy: New Perspectives on Inner Emigration in German Literature, 1933-1945. New York and London: Berghahn, 2005.

Jens, Inge. Unvollständige Erinnerungen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2009.

Jens, Tilman. Demenz. Abschied von meinem Vater. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2009.

—-. VATERmord: Wider einen Generalverdacht. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2010.

Jens, Walter.—-. Nein. Die Welt der Angeklagten. Hamburg: Rowohlt, 1950. Reissued with modifications: Knaur, 1968.

—-. Statt einer Literaturgeschichte. Pfüllingen: Verlag Günther Neske, 1958.

Iris Radisch. “Der Mann seines Lebens: Tilman Jens verklärt und denunziert seinen an Demenz erkranten wehrlosen Vater Walter Jens.” Die Zeit 9 (February 19, 2009).

Endnoten

1 For a discussion of that text and its influence on the recent wave of confrontational texts, including Meckel’s parallel piece describing his mother, see my article “Suchbilder: Looking for Christoph Meckel.”

 

2 I had been invited by Inge Jens, while on my Fulbright year in Tübingen, where I was doing research (1983-85) with the sponsorship and guidance of Professor Richard Brinkmann on the topic of Expressionist prose and its relation to the Modernist canon (which later appeared as Forms of Disruption: Abstraction in Modern German Prose). Inge Jens had written her dissertation on Expressionist prose, which at the time remained unpublished but which I could access in Tübingen and in Marbach National Literature Archive, where I spent much time. Professor Brinkmann suggested that I contact her directly, which I did, whereupon she graciously invited me to the midday meal to also meet her husband, who energetically welcomed me into their home and the conversation with a remarkable and highly unusual (compared to general relations between professors and students) animation and lack of formality, which I greatly appreciated. Inge Jens regaled me with stories of how their best man Ernst Rowohlt, the publisher, had provided her with his own copies of pertinent works that at that time, not so long after the war, were still not readily available. Her study was thus, with distance, the first postwar attempt to systematically address the topic, as I indicate in my epilogue to Forms of Disruption entitled “Honorable Menschen” (229-237). For the record, I have had no contact with her since that time. My own brief personal connection to her, Walter and Tübingen at that time is perhaps not irrelevant (and enhanced my curiosity about this issue), but remains nonetheless tangential to my larger, well-documented interest in the literary history of the postwar period in Germany.

 

3Also known of course as Waldheimer’s disease, after Kurt Waldheim, the Austrian Secretary-General from 1972-1981, who was elected President of Austria in 1986, but who selectively forgot to mention his service in the Wehrmacht under the Nazis until 1945)

 

4 One year later, in 2010, Tilman Jens published his Vatermord: Gegen einen Generalverdacht to respond to Radisch and other critics (turning back to the “Schauprozess um mein Buch” 110) by reviewing that motif in literary and cultural history and differentiating his own work in Demenz, where he also had tried, very laudably in my view, to break “das Tabu der Demenz und der leider sehr konkreten Veränderungen, die das Leiden mit sich bringt” (114-115). He also reinforces his narrative with citations from scientific research in cognitive psychology on the pathology of senile dementia, and clarifies more precisely the chronology of his father’s decline in relation to the revelations about his NSDAP past (see 132) as well as his own relations to his father. Though useful in general, and apparently necessary as a response to his many critics, the often expansive contextualization he provides there as addendum does not have, understandably, the dramatic force and urgency of his original account.

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Dec 07 2014

Christine Cosentino

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Monika Marons Zwischenspiel: Erinnerungsarbeit an einem Ort “ungekannter Verheißung”

Nach wie vor warten in der DDR aufgewachsene Autoren mit künstlerischen Gestaltungen ihrer gesellschaftlichen Erfahrungen von Rissen und Brüchen, Hoffnungen und Enttäuschungen auf. Auf den verschiedensten Tonlagen äußerten sich in letzter Zeit Autoren wie Volker Braun, Julia Schoch oder Christoph und Jakob Hein. Kürzlich ergriff auch die 1941 in Berlin geborene Autorin Monika Maron wieder das Wort. Ihr bis dato letztes Werk, der Roman Zwischenspiel [1] (2013), steht in einer Reihe autobiografisch durchwirkter Fiktionen, die mit ihrem Debütroman Flugasche (1981) beginnen, einem Roman, der in der DDR nicht veröffentlicht werden durfte. Dem folgten Werke wie Stille Zeile Sechs (1991), Animal triste (1996), Pawels Briefe (1999), Endmoränen (2002) oder Bitterfelder Bogen (2009), um nur einige zu nennen. Der Autorin Maron – zu DDR-Zeiten die aufmüpfige Stieftochter des Innenministers Karl Maron – ging und geht es in ihrem autobiografisch grundierten Werk um die Bewältigung historisch-biografischen Schutts, um Neuorientierungen und um psychische und existenzielle Probleme. Ein einschneidender Wendepunkt in ihrem Leben war ihre Einreise in die Bundesrepublik noch vor der Wende im Jahre 1988. Nach langer Zeitspanne, rund 25 Jahre später, erschien das Zwischenspiel, und der Leser ist geneigt, der Ich-Erzählerin zu glauben, die untertreibend bilanziert: “[Die DDR …] ein anderes Leben, an das ich mich kaum erinnern konnte” (11). Doch der Titel dieses neuen Werks täuscht. Traditionell ist ein Zwischenspiel ein Intermezzo, ein kompositorisches Element, das einem Hauptteil untergeordnet oder zugeordnet ist. Doch das scheinbar Untergeordnete, Episodenhafte, die kleine, unbedeutende Begebenheit am Randes eines Geschehens entpuppt sich in Marons neuestem Werk als das Hauptstück, ein Zwischenspiel von größter Relevanz, in dem Vergessenes und erfolgreich Verdrängtes aus dem quälenden “Erinnerungskeller” (16) an die Oberfläche geholt und neu durchdacht wird.

In diesem also nur scheinbar episodenhaften Zwischenspiel erwacht die fiktive Ich-Erzählerin, die sechzigjährige Museumsangestellte Ruth, eines Morgens aus einem Traum, an den sie sich nicht erinnern kann, der aber ein “bedrückendes Gefühl” (7) und “dumpfes Unbehagen” (7) hinterläßt. Kurz danach geschieht das Ungewöhnliche. Die empirische Welt um sie herum zerfließt ins Impressionistische, die Erzählerin verliert die Orientierung, der geregelte Ablauf der Zeit ist suspendiert: “Es rumorte in den Verliesen meiner verbannten Erinnerungen” (12). Das Herausfallen aus dem Kontinuum des Alltäglichen und Gleiten in einen surrealen Zwischenzustand – der Gedanke an Kafkas Verwandlung bietet sich an – verändert die Wahrnehmung der Protagonistin und macht es möglich, aus der Distanz der Jahre Vergessengeglaubtes aus dem Unterbewußtsein hervorzuholen. Brüche im Leben der Ich-Erzählerin Ruth, Fehlentscheidungen, Schuld, Verrat, persönliche Verantwortung und existenzielle Ängste werden in Szenen und Bildern neu reflektiert. Dem Leser bietet sich ein autobiografisch durchwirktes Geflecht von Geschehnissen, in dem die Konsequenzen von Entscheidungen neu untersucht und relativiert werden. Das Zwischenspiel ist letztlich Bilanz, Monolog, Selbsterkenntnis oder – wie der Kritiker Christoph Schröder es faßt – “eine Aufklärung im Inneren.”[2] Man könnte ebenfalls von Selbsthilfe sprechen, die es der Ich-Sprecherin nach Einsicht in Ursache und Enstehungsgeschichte ihres Fehlverhaltens und des Fehlverhaltens anderer Personen ihr selbst gegenüber ermöglicht, mit ihren Schuldgefühlen und dem Verrat anderer zu Rande zu kommen. Das Zwischenspiel ist eine Auseinandersetzung der Erzählerin mit den “vielen Ichs in ihrem Leben”, Ichs, von denen sie sich distanziert zu haben glaubte, für die sie letztlich aber immer noch verantwortlich ist. In einem surrealen Park stellt sie sich dieser Problematik: “Was ist so ein Ich eigentlich, dachte ich, wenn dem alten Ich das junge so fremd ist, als gehörte es gar nicht zu ihm. Wo bleiben die ganzen Ichs überhaupt, die man in seinem Leben war und denen man das letzte immerhin verdankt?” (17). Zuzustimmen ist Iris Radischs treffender Bemerkung, die Begegnungen im Park seien “Geistergespräche, die die Erzählerin mit den Toten ihres Lebens – vielleicht auch nur mit den vielen Verpuppungen ihres Inneren – führt.”[3]

“Die Verwandlung des Alltäglichen in seine impressionistische Variante” (31) geht schubweise vor sich. Zunächst bereitet sich die Protagonistin auf die Beerdigung ihrer Freundin Olga vor, die vor langer Zeit in der DDR fast ihre Schwiegermutter geworden wäre, hätte Ruth da nicht in letzter Minute einen abrupten Rückzieher gemacht. Gedanken daran beschwören – zunächst durchaus im empirischen Kontext – bekannte Personen und Konflikte herauf. Dann sieht sie, auf den Balkon tretend, einen Wolkenfetzen über sich, der ruckartig die Laufrichtung ändert. Und plötzlich flirrt die Welt vor ihren Augen, sie erscheint verpixelt, bestenfalls impressionistisch. Eine optische Täuschung oder Sehstörung? Die Welt löst sich ins Irreale auf, und Olga erscheint vor ihr, die Schlüsselfigur, mit der all die Personen in Beziehung stehen, denen Ruth auf der Beerdigung nicht begegnen will, denn es gibt Unausgegorenes, Unerledigtes. Olga – gütig, warmherzig, vernünftig, lebensklug und heilend – wird der Erzählerin auf ihrer irrealen Erkundungsreise durch einen “befremdlichen Park”[4] zur Stütze, Ratgeberin und Wegweiserin. Olga, die einmal Schauspielerin werden wollte, gleicht Agnes, der Tochter des indischen Gottes Indra aus August Strindbergs Traumspiel, Agnes, die die Möglichkeiten und Begrenztheiten menschlicher Existenz erforscht. Olga identifiziert sich mit dieser Rolle. Mitleidig bilanziert sie: “Es ist schade um die Menschen” – ein Schlüsselsatz, der zu einem Hauptmotiv in Strindbergs Traumspiel, aber auch in Marons Zwischenspiel wird. “Schuld bleibt immer, so oder so,” (34) meint Olga lakonisch, eine desillusionierende, aber auch tröstliche Einsicht, die im besten Fall zu Nachsicht mit den Menschen führen kann. Gegen ihren Willen landet Ruth nicht auf der Beerdigung ihrer Freundin Olga, sondern in einem Park, in dem ihr bekannte, auch verhaßte Tote herumspazieren, um “in ihrem Körper die Symptome längst überwundener Seelenzustände zu aktivieren” (104). Dieser “Ort ungekannter Verheißung” (39) ist die Konkretisierung einer inneren Welt, in der es um Versöhnung, Verständnis oder Erlösung geht.

Im Park begegnen ihr Personen, die einmal in irgendeiner Beziehung zu ihr standen, in privat-persönlicher, politischer oder beruflicher Hinsicht; Bernhard, den sie fast geheiratet hätte, sein Freund Bruno, Erich und Margot Honecker, ein Hund, den sie Nicki nennt, ein Mann, der das Böse symbolisiert und immer wieder Olga, auf deren Beerdigung sie in der realen Welt hätte sein sollen, in deren Einflußbereich in einer Traumwelt sie stattdessen Unbewältigtes zu bewältigen versucht. Sie hatte Olgas Sohn Bernhard kurz vor der Hochzeit verlassen, weil er ein krankes Kind, Andy, einen Pflegefall, mit in die Ehe gebracht hätte: “Damals war ich mir monströs vorgekommen, herzlos, gemein, niederträchtig. Den Mann mit seinem kranken Kind verlassen; einfach abhauen mit dem gemeinsamen Kind” (16). Für die gemeinsame Tochter Fanny und sich selbst wollte sie ein “normales” Leben, so überzeugte sie sich selbst. “Ich gehe und dreh mich nicht um” (17), entschied sie damals. Sie reiste mit ihrem späteren Mann Hendrik und ihrer Tochter Fanny in den Westen aus. Doch es rumort in den “Verliesen [ihrer] verbannten Erinnerungen” (12), zumal nicht nur sie an Bernhard und seinem kranken Kind schuldig geworden ist, sondern er auch an ihr. Als sie nämlich Jahre später nach dem Fall der Mauer in ihren Stasi-Akten nachliest, erfährt sie, daß Bernhard unter dem Namen Modigliani in den Westen reiste, um seine Tochter Fanny über den DDR-kritischen Schriftsteller Hendrik, ihren Stiefvater, auszuspionieren. Olga, die weiß, daß nichts im menschlichen Handeln voraussetzungslos geschieht, zeigt Verständnis für Ruths eigennützige Flucht. Sie präsentiert dann aber die Gegenseite, die Perspektive des Sohnes Berhard, der zum Spitzel wurde, um Kontakt zur Tochter aufrechtzuerhalten, seinem Kind, das ihm durch die Ausreise entzogen wurde. Schuld steht gegen Schuld. Doch die Zusammenhänge werden aus dem Abstand der Jahre noch einmal auseinandergeknüpft, dann wird ein Fazit gezogen: “Manchmal, sagte [Olga], gibt es das Richtige einfach nicht und man hat nur die Wahl zwischen dem einen und dem anderen Falschen, und dann weiß der Mensch sich nicht zu helfen” (136).

“Schuld und Unschuld erscheinen” – so der Kritiker Jürgen Verdofsky – “als zwei Seiten derselben Sache, halten aber keinen metaphysischen Trost bereit.”[5] Doch die Tatsache, daß sich die Tochter Fanny von ihrem Vater nicht distanziert hat, daß ihr der Vater mehr wert ist als dessen Verrat, daß aus ihrer, der Tochter Sicht, die Stasi kaum noch als bedrohlich empfunden wird, relativiert oder entschärft die Schuldzusammenhänge. Ruth erkennt, daß das Leben ihrer Tochter “fünfundzwanzig Jahre später begonnen hatte als meins und die Dinge daher für sie etwas anderes bedeuteten als für mich und dass dieses miese kleine Wort Stasi für sie, Fanny, nicht ausreichte, um ihren Vater für alle Zeiten unter seiner Schuld zu begraben” (154). Doch, so bilanzierte Olga anfangs, “Schuld bleibt immer, so oder so”; “Es fragt sich nur, wie man damit lebt und was man daraus macht,”[6] führt Jörg Magenau diesen trüben Gedanken fort. Ruth macht die Probe aufs Exempel. Sie überdenkt ihr eigenes Handeln aus neuer Sicht, reflektiert über Zwänge und Entscheidungen in auswegslosen Situationen, und sie renkt ein, gelassener, mit größerer Nachsicht sich selbst gegenüber. Es wird zum klärenden Dialog mit der Tochter kommen, zu einer Annäherung, indirekt auch zu Bernhard: “Vielleicht würde ich auch sagen, daß ich Bernhard nicht unter seiner Schuld verschwinden lassen wollte, weil er trotz allem, und zwar durch mich, ihr Vater war, vielleicht sollte ich ihr das sagen” (155). An diesen versöhnlichen Worten läßt sich Monika Marons poetisches Prinzip ablesen, das sie in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Deutschen Nationalpreises 2009 wie folgt formulierte:

Das vermag Literatur im glücklichsten Fall: im einzelnen Menschen verstehen, was uns allen innewohnt, und die Umstände erkennen, die es zutage fördern können (meine Hervorhebung). Die Literatur als intuitiver Weg der Erkenntnis, die in der Sprache ihre Zuspitzung oder ihren Ausgleich findet, die in den Exzess oder zur Versöhnung (meine Hervorhebung) führt – so würde ich vage benennen, was mich zum Schreiben von Büchern antreibt.[7]

Eine andere “Schuld-Verrat” Konstellation kristallisiert sich aus Ruths Begegnung mit dem verstorbenen  Intellektuellen Bruno heraus, dem genialen Freund ihres Schriftsteller-Mannes Hendrik, der in der DDR nicht veröffentlichen durfte und mit Ruth und ihrer Tochter Fanny in den Westen ausreiste, wo er zunächst als DDR-Dissident gefeiert wurde. Bruno, der Freund mit dem wahren Talent, blieb in der DDR und trank sich zu Tode. Die Beziehung zwischen den beiden Schriftsteller-Männern gehörte zu Ruths unangenehmen Erinnerungen, “denn die Freundschaft zwischen Hendrik und Bruno habe ich lange nicht durchschaut” (57). Jetzt erfährt sie mehr darüber, denn aus dem alkoholisierten Freund Bruno quillt es pathetisch hervor: “Hendrik, sagte Bruno fast zärtlich. Dann noch einmal heftig: Hendrik, der Verräter. Abgehauen, als er den Erfolg witterte. Der große Exeget der Freundschaft, die ihm dann das Bier nicht wert war, mit dem er darauf angestoßen hat. ‘Mein Freund, ich brauche dich wie eine Höhe, in der man anders atmet.’ Und als er sich die Lungen vollgepumpt hatte und meinen Kopf geplündert, hat er sich davongemacht und auf die Freundschaft geschissen” (53). Bruno, der Außenseiter, rebellierte gegen den DDR-Staat, indem er ihm sein Talent und seine Nützlichkeit verweigerte. Mit Recht nennt ihn Christoph Schröder einen “Oblomow”[8] in Anlehnung an den russischen Autor Gontscharow und seinen Anti-Helden Oblomow. Dieser sieht seine Gesellschaft als krank und verweigert sich ihr, indem er fast den ganzen Tag im Bett bleibt. Bruno und Hendrik waren dicke Freunde, doch in Saufnächten füllte der minderbegabte Hendrik Heft um Heft mit Brunos genialen literarischen Ideen, die er im Westen als seine eigenen verkaufte. Er machte Karriere – bis die Quelle der Inspiration versiegt war. Illusionslos resümiert Bruno: “Die Sache mit der Schuld ist wie ein Hütchenspiel. Es gewinnt immer, der sie verteilt. Ich habe nicht einmal an der Literatur schuldig werden wollen und darum keine Zeile geschrieben, und schwupp, lag die Schuld unter Hendriks Hütchen” (112). Doch dieses Fazit kommt aus dem Munde eines Trinkers. Man muß es ernst nehmen, aber auch wieder nicht.

Die Ich-Erzählerin Ruth teilt Brunos Haß auf den DDR-Staat. Wie ein roter Faden ziehen sich Bezüge auf den zweiten Ehemann ihrer Mutter durch die Handlung, auf den Genossen Keller/Maron, der zeitweilig DDR-Innenminister war. Er, so glaubt sie, hatte ihre Kindheit vergiftet, hatte ihren Kopf mit ideologischem Müll verkleistert, und so blieb “in dem Verhältnis zwischen Mutter und Tochter eine nicht heilende Wunde” (22). Auch damit muß sich Ruth in ihrer “Aufklärungsarbeit im Inneren” auseinandersetzen. Verzahnt damit ist das Auftreten zweier grotesker Figuren, denen aus dem Abstand der Jahre mit Wut allein nicht mehr zu begegnen ist. Ruth begegnet Margot und Erich Honecker, die starrsinnig und rechthaberisch den Sozialismus verteidigen. Über den Genossen Keller und die Honeckers heißt es:

Und als der Genosse zuerst in Depressionen versank und kurz darauf einem Herzinfarkt erlag, empfand ich das als gerechte Strafe für sein anmaßendes Sekretärsleben, mit dem er meine Mutter und damit meine Kindheit verdorben hatte. Es dauerte ein paar Jahre, ehe mir mein Triumph zuwider wurde. Erst als den senilen, krebszerfressenen, entmachteten Männern der Prozeß gemacht wurde, verging mir die Lust auf das Siegen; und auch die Wut (104).

Es überrascht nicht, daß die Heldin in dieser Atmosphäre der Schuldgefühle und des Unerledigten auf eine Figur trifft, die sie zu kennen glaubt, einen Menschen, der sich als das Böse definiert. Sie erinnert sich an ein Porträt eines namenlosen Mannes aus dem Mittelalter, dessen hohlwangiges, bleiches Gesicht mit verschiedenen Hälften sie verwirrt und erschreckt: “Je nachdem, welche Seite seines Gesichts ich betrachtete, konnte ich den Mann für stolz und selbstbewußt halten oder für kalt, sogar kaltblütig” (164). Sie erkenne sich in ihm, meint der Böse, “weil ihr eigenes geknebeltes und gefesseltes Böse sich verbünden will mit mir” (170). Dazu kommt es jedoch nicht, denn die Ich-Erzählerin analysiert Schuldzusammenhänge und wartet mit einem Gegenpol auf: sie begegnet einem Hund, den sie in Erinnerung an ihre Kindheit Nicki nennt, eine Kreatur, die Ruth Liebe schenkt, die Gutes symbolisiert, weil sie “unfähig [ist], das Falsche zu tun” (144). Doch der Schatten von drohendem Bösen bleibt bestehen, denn das Zwischenspiel endet mit einer trüben Aussicht, einer bedrohlichen, apokalyptischen Vision eines karnevalesken Totentanzes. Goyas Bild “Das Begräbnis der Sardine” nimmt vor ihrem inneren Auge groteske Formen an und entringt ihr die Worte: “Wenn das die Zukunft sein soll, du lieber Gott” (189).

Hunde waren bereits in dem Roman Endmoränen Thema und Motiv von Marons Überlegungen gewesen. So auch im Zwischenspiel. Im Park gesellt sich Ruth ein großer, honigfarbener Hund mit blauen Augen zu, der ihr nicht mehr von der Seite weicht und sich mit ihr fürchtet, wenn Böses auf sie zukommt. Diese Begegnung enthält eine Botschaft für die Ich-Sprecherin. Sie erinnert sich an die Memoiren des ungarischen Autors Tibur Dery, Niki oder die Geschichte eines Hundes, in denen es um Freundschaft und Versöhnung zwischen Mensch und Hund geht, “stellvertretend für alle Tiere, die von den Menschen mit rücksichtsloser Gewalt und Überheblichkeit, bei völliger Missachtung der Autonomie des Lebens, behandelt würden” (122). Ruth glaubt an eine Fügung, “die mir die Gegenwart des Hundes beschert hatte, nicht an eine göttliche, auch das Wort schicksalhaft war zu gross, aber ich musste zugeben, dass etwas Religiöses, wenigstens etwas dem Religiösen Ähnliches meinem Gefühl anhaftete” (122). In ihren Frankfurter Poetikvorlesungen, Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche (2005), in denen es um poetologische Konzeptionsversuche beim Entstehen des Romans Endmoränen geht, kommt einem Hund ebenfalls eine spezifische Rolle zu: “Er bewirkt etwas in der Person, die mit ihm lebt.”[9] Die Person ist hier Johanna, die sich abgekapselt hat, aber in der Sorge um einen struppigen herrenlosen Hund ihren “haustierähnlichen und gänzlich unnützen Zustand”[10] im Käfig depressiver Teilnahmslosigkeit überwindet: “Ein “wunderlicher Anfang” (Endmoränen, 253) für die neuermutigte, kontaktsuchende Heldin. Die Goethesche Folie – des Pudels Kern – ist erkennbar. Im Zwischenspiel geht es gesteigert um das im Hunde-Motiv angelegte Versöhnende oder “Religiöse”. In den Poetikvorlesungen  heißt es, ein Hund sei unfähig zur Schuld und “[habe] wonach der aus seiner transzendenten Verankerung gerissene Mensch sich sehnt: etwas, zu dem er gehört, das größer ist als er selbst. Und daß wir einem anderen Geschöpf das sein können, was wir selbst zwischen Philosophie und Sterndeutung vergeblich suchen, rührt uns bis an den tiefsten Punkt unserer Seele” (36-37). Auch im Zwischenspiel trägt der Hund Nicki in seiner Symbolik von Liebe und Rührung wesentlich zum Geist von Verständnis und Versöhnung bei.

Marons Zwischenspiel gleicht – so führt Ulrich Rüdenauer aus – “einer Epiphanie”[11], zwar nichtals Selbstoffenbarung einer Gottheit, möchte man hinzufügen, vielmehr auf der Folie des Hunde-Motivs als etwas “dem Religiösen Ähnliches” (122). Für die Ich-Sprecherin bedeutet das Nachsicht, Verzeihen und Versöhnung, ohne daß politische oder persönliche Geschehnisse verharmlost werden. Widersprüche und Schuldzusammenhänge bleiben bestehen, aber sie müssen akzeptiert und ausgehalten werden. Es scheint, daß der Protagonistin ernst ist bei dieser Vergegenwärtigung, denn bei ihrer Rückkehr in die wirkliche Welt stellt sie nüchtern und sachlich fest: “Mein Auto fand ich unter der Laterne, das Nummernschild konnte ich klar und deutlich erkennen” (191).

 

Endnoten

[1] Monika Maron, Zwischenspiel (Frankfurt M.: Fischer, 2013). Zitate im Text der Arbeit.

[2] Christoph Schröder, “Zwischenspiel von Monika Maron: Ost-Berlin spürt eines Morgens eine Lähmung,” Der Spiegel 30. Oktober 2013.

[3] Iris Radisch, “Ein Tag im totgesagten Park,” Die Zeit 31.10. 2013.

[4] Beatrice Eichmann-Leutenegger, “Traumspiel in einem befremdlichen Park,” Neue Zürcher Zeitung 5. Dezember 2013.

[5] Jürgen Verdofsky, “Über die Schuld im Leben: Marons Roman ‘Zwischenspiel’,” Badische Zeitung 16. November 2013.

[6] Jörg Magenau, “Ein beharrliches Flirren vor Augen,” taz. die tageszeitung 31. Oktober 2013.

[7] Monika Maron, “Dankesrede zur Verleihung des Deutschen Nationalpreises 2009 am Dienstag 16. Juni 2009. Deutsche Nationalstiftung.

[8] Christoph Schröder, “ ‘Zwischenspiel’ von Monika Maron,” Der Spiegel 30. Oktober 2013.

[9] Maron, Wie ich ein Buch nicht schreiben kann und es trotzdem versuche (Frankfurt M.: Fischer, 2005) S. 38.

[10] Maron, Endmoränen (Frankfurt M.: Fischer, 2002), S. 83.

[11] Ulrich Rüdenauer, “ Die Tücken des Hütchenspiels,” Süddeutsche Zeitung 23.10. 2013.

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Dec 07 2014

Christine Cosentino

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“Unverbindlichkeit  auf  Dauer”: Julia Schochs  Reminiszenzen in dem Roman Selbstporträt mit Bonaparte

Im Nachhinein der Wiedervereinigung  gab es  eine Flut fiktiver oder autobiographischer Erinnerungsliteratur, die der Feder von Autoren aus der entschwundenen DDR entstammen. Christa Wolf, Volker Braun, Monika Maron, Uwe Tellkamp, Andre Kubiczek und Christoph und Jakob Hein waren einige unter vielen, die sich mit der Frage beschäftigten, welche psychischen Nachwirkungen das  Ende der DDR auf den Einzelnen haben konnte.  Noch heute, rund zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, stehen östliche Autoren aus verschiedenen Generationen im Sog von Geschichtsverlust und Des- oder Neuorientierung. Erhellende Erinnerungsarbeit in der ganz persönlichen Geschichte innerhalb der Geschichte des DDR-Staates wird zur Voraussetzung, sich dem neuen westlichen Staat zu stellen, sich in ihm zu integrieren oder kritische Distanz zu gewinnen. Auch die 1974 geborene Autorin Julia Schoch, Tochter eines NVA-Offiziers,  knüpft hier an. In ihren Erzählungen  Der Körper des Salamanders, vorrangig aber in ihren Romanen Mit der Geschwindigkeit des Sommers [1] (2009) und Selbstporträt mit Bonaparte [2] (2012)  geht es um existentielle Erschütterungen,  um Menschen, die ihre Geschichte und  ihren Halt  verlieren und perspektivelos dahintreiben. In deutlicher Korrespondenz mit Christa Wolfs Roman Nachdenken über Christa T.  widmet sich auch die um zwei Generationen jüngere  Kollegin Schoch dem Thema  privater oder gesellschaftlicher Auflösung,  entschwundener Hoffnungen und versuchter, jedoch fehlgeschlagener  Neukonstituierung. Wie Wolf nimmt  sie die Frage auf,  mit welchen Inhalten und Hoffnungen die neu entstandene Lücke zu füllen sei. Sie kennt die Gefahr von Isolation und Entfremdung: ”Die Lücke, die einen vom anderen trennt,  darf nicht zu groß werden. Es sei denn, der Wille ist stark genug, die Lücke auszufüllen, immer aufs Neue und dauerhaft” (B 62).

Schoch umkreist in analysierenden  Rekonstruktionsversuchen das Problem des Verlustes eines geliebten Menschen, eines Staates, eines aufgegebenen Lebensraumes, einer  Liebe und letztlich des Verlustes eines traditionellen Zeitgefühls oder “einer normalen Zeitrechnung” (B 60).  Rekonstruiert  eine Ich-Erzählerin im Roman  Mit der Geschwindigkeit des Sommers  das Leben ihrer an der DDR und der Bundesrepublik gescheiterten Schwester, die Selbstmord beging, so reflektiert in Selbstporträt mit Bonaparte ein namenlos bleibendes grübelndes Ich über eine “merkwürdige” Liebe, die sich nur im zeitlosen, abgeschirmten Interieur eines Kasinos verwirklichen lässt. Für beide Werke gilt Frauke Meyer-Gosaus  Statement, die Wende fungiere  als  “ein Scharnier zwischen Nichts und Nichts”[3]. In  diesem Sinne schlägt sich die  Gestaltung  des zeitlichen Leerraums  in einer leitmotivischen Reflexion  der Begriffe  “Zeit-Vertreib”, “Zwischenzeit” oder  “Aus-der-Zeit-Fallen” nieder  und zwar nicht nur in einer verschwommenen Chronologie der Handlung,  sondern auch im Sinnieren  der gleich zu Anfang  beider Werke  gestellten Frage: “Was weiß diese Zeit von einer anderen?” (B 9)  bzw. “In welch sonderbarer Zeit spielt das, was ich erzähle?” (G 9).

Doch es gibt andere Gemeinsamkeiten in beiden Werken, und sie seien  kurz  erwähnt.  Sie betreffen den Versuch, den Stillstand und die Stagnation einer in der DDR  anerzogenen  Wartehaltung  – “diesen bedrohlichen Gleichmut”  (G  60)  bzw.  “diese merkwürdige Gleichgültigkeit” (B 20)  – zu durchbrechen. Da die westliche Konsumentengesellschaft mit ihrem Überangebot an Möglichkeiten und Entscheidungen den Menschen oft überfordert,  verwirrt und beschämt, endet dieser Versuch in der Un-wirklichkeit  konservierter Lebensträume; diese sind in Liebesbeziehungen eingefangen, die mit rückwärtsgerichteten Phantasien befrachtet sind. Wurde in den Tagträumen der rekonstruierten Schwester-Figur ein ehemaliger NVA-Soldat  zum Symbol  des Versprechens auf eine utopische Zukunft, einer für möglich gehaltenen, “nicht probierten Version” (G 63) des DDR-Experiments  – “Wenn sie ihn umarmte, umarmte sie das Phantom eines anderen Lebens” (G 63) –  so “erfüllt” sich  die Liebe der beiden Protagonisten in Selbstporträt mit Bonaparte nur in der Unwirklichkeit des  Kasinos. Da  beide  sich – so Jana Hensels  sinnvolle Einschätzung  –  als  “übriggebliebene” (B 33)  “Vergangenheitswesen”[4]  ohne  Zeitgefühl begreifen, empfinden sie hier ein  “seltsam verloren gegangenes  Gefühl einer Gemeinschaft”,  allerdings  “ohne [die] Verschworenheit”  (B 50) DDR-spezifischer Kontrollorgane.  Trotz starker Ablehnung  der “abgezirkelten, starren Welt aus Vorschriften” (B 87) erinnert sich die Ich-Erzählerin/die Autorin mit Wehmut an ihre Kindheit und Jugend im entschwundenen Land. Vertraut gewordene Gebäude in den Städten werden abgerissen, eine Zerstörung des Vertrauten, und eine als demütigend empfundene Abwertung des früheren Lebens.  Es handelt sich in Selbstporträt mit Bonaparte  um  – so das sarkastische Bonmot eines Spiegel-Rezensenten  – “ein genaues Protokoll, wie und warum eine von der Wende überforderte  Ostfrau samt ihrem Lover in der Stupidität von Spielbanken so etwas wie Heimatglück findet.”[5]  Mit der Geschwindigkeit des Sommers  endet die Liebe der Schwester zum Soldaten.  Unfähig zu Entgrenzung und  Neukonstituierung,  begeht  sie Selbstmord, ironischerweise an dem Ort, der der Inbegriff  der Freiheit und der unbegrenzten  Möglichkeiten ist, New York.   Der wegen seines Profils Bonaparte  genannte Liebhaber dagegen verschwindet aus dem  Leben der reflektierenden Erzählerin. Sein Porträt  fungiert im Selbstporträt der Erzählerin als Nachruf.  Das Verschwinden löst den Erzählstrom aus, der das Vergangene retten soll.

Selbstporträt mit Bonaparte  suggeriert  Selbstanaylse; die Ich-Erzählerin rekonstruiert  den Geliebten und hinterfragt, was sie an diesen Menschen gebunden hat: “Und sobald ich mich im Spiegel betrachte, erscheint sein Kopf hinter meinem. Eine Art Doppelporträt oder Selbstporträt als Paar” (B 30). Wer ist die nachdenkende  Ich-Sprecherin?  Sie ist in der DDR groß geworden, lebt in der Stadt P., die man unschwer als Potsdam erkennt,  und ist ausgebildete Historikerin, die ihre Stellung an der Universität aufgibt, um sich der Literatur zu widmen. Sie arbeitet als Schriftstellerin und schreibt Texte für Kataloge mit Photos von Städten, die sich in der neuen Zeit architektonisch wandeln. Auf einer Historiker-Konferenz über “Ansichten der Vergangenheit” lernt sie einen Mann kennen, dessen Vortragsstil merkwürdiger Gleichgültigkeit und offensichtlicher Verachtung seinem Publikum gegenüber die Ich-Erzählerin fasziniert. “Wozu das Ganze” (B 21), äußert er sich und bläst ihr lässig imaginierten Zigarettenrauch ins Gesicht. Er folgt ihr drei Tage später in ein Ostseebad, und beide gehen ins Kasino, wo sie sich der Leidenschaft des ewigen Moments hingeben. Außerhalb dieser Sphäre  geschieht wenig.

Wer ist dieser Mann? Er ist ebenfalls in der DDR  großgeworden, rebellierte gegen  Stagnation  und Vorschriftenzwang im verriegelten Land  (“Raus! Raus hier!” (B 75) und entfloh in die Sowjetunion, wo  er an einer Erdöltrasse arbeitete. Als er zurückkam, rutschte er “plötzlich in eine vollkommen andere Zeit, ohne wirklich zu verstehen,  wie er da hineingeraten war” (B 77). Er verliert seinen Glauben an die Vergangenheit und an die Zukunft. Trotzdem studierte er Geschichte,  mokiert  sich aber über Historiker, die den Gang von Ereignissen und  deren  Zusammenhänge  sowie deren Ursachen und Wirkungen logisch zu erklären versuchen. Er tue es aus “Trotz, nicht Widerstand” (B 79) gesteht er, wobei er diese “Trotzhaltung” auch auf die Ich-Erzählerin überträgt: “Gut möglich, so Bonaparte, dass wir die meisten Dinge noch immer so taten” (B 79). Der britische Germanist Paul Cooke hatte in seiner Analyse von Ingo Schulzes Simple Storys  im Jahre 2003 auf eine ostalgische Trotzidentität ehemaliger DDR-Bürger verwiesen, die allerdings im vereinigten Deutschland prozesshaft dem pragmatischen Akzeptieren der neuen westlichen Welt Platz mache:  “a more dynamic, fluid notion of Eastern identity within the context of contemporary German society.”[6] Bonaparte jedoch stagniert. Statt scheinbar unverbundene historische Ereignisse im Rückblick zu ordnen, zelebriert er eine  Theorie des Chaos:

Die einzelnen Momente der Menschheitsgeschichte waren nicht Stufen, sondern Pontons, den festen, breiten Blättern von Seerosen nicht unähnlich, die im ewigen Ozean der Zeit trieben und zwischen denen keine Verbindung bestand. Ihr Standort, ihre Beziehung untereinander folge, so Bonaparte,keiner Logik. So gesehen gäbe es weder Vergangenheit noch Zukunft, in gewisser Weise also auch keinen Tod … Die Dinge passierten chaotisch, wirr und unberechenbar (B 114-115).

Bonapartes  Philosophie spiegelt ein unüberbrückbares  Kommunikationsdefizit im  Charakter;  er ist unberechenbar und  gleichgültig,  pflegt einen chaotisch wirren Lebensstil und neigt zu extremem Individualismus: “dazu seine Anzüge, die ich Cary-Grant-Anzüge nannte (figurbetonte Zweireiher, wie sie heutzutage kein Mensch trägt), und die er sich nach Hollywoodaufnahmen schneidern ließ” (B 48).  Sein eigenes Fazit: es gehe  darum, “etwas aus sich zu machen, was man eben gerade  nicht  gezwungen worden war zu sein, darum, gewissermaßen so unselbst wie nur möglich zu werden” (B 57).  Entdeckt die Ich-Erzählerin hier Wahlverwandtschaften? Auch sie hatte ja zu DDR-Zeiten in ihrer Jugend rebellisch auf Einheitskleidung, Zwang und Vorschriften reagiert. Sie kam mit Badelatschen in die Schule,  eine Herausforderung, die  ihr das  Prädikat  “Sie … Sie … Individuum”  einbrachte und den Bescheid, dass sie ihren Wusch, Fremdsprachen zu studieren,  auf “ewig an den Nagel hängen könne” (B 76).  Sind es  solche  Allergien, die sie in diesem skurrilen, exzentrischen  Chaoten bestätigt findet, Allergien,  die  letztlich in eine Gegenwelt  führen, die frei von gesellschaftlicher Problematik ist?  Sie reflektiert: “ Vielleicht ist der einzige Grund für die Liebe heutzutage tatsächlich der, dass man ein gleichartiges Wesen braucht, um seine Vergangenheit, also sich selbst, nicht zur Erfindung werden zu lassen” (B 76).

Warum wird das Roulette zum zelebrierten Ritual der Liebe? Es bedarf nicht der geringsten Überzeugungsarbeit, als Bonaparte der Ich-Erzählerin an den Badeort an der Ostsee folgt und vorschlägt, ins Kasino zu gehen. Im späteren Nachsinnen über diesen merkwürdigen Ort ihrer Liebe findet sie im Rückblick auf ihre Vergangenheit die verborgenen Fäden, die die Gegenwart und ein Porträt ihrer selbst entwerfen. Roulette war dem Kind nicht unbekannt. Das Mädchen hatte ein Spielzeugroulette mit Plastikkessel und grellbunten Jetons. Die Vorstellung, die sich mit diesem Spiel verband, faszinierte sie schon damals:

Roulette – das war der Inbegriff einer gänzlich anderen Welt, und alles, was gänzlich anders war als mein Leben in einer verschlafenen Kleinstadt am äußersten Rand eines verriegelten Landes, war verheißungsvoll. Wenn ich in ausländischen Filmen Menschen im Kasino sah, wurde ich sehnsüchtig … (B 17) Eine Zeitlang dachte ich, das Roulette sei nichts weiter als ein Symbol für die Freiheit, nach der ich mich sehnte. Eine Freiheit, bei derman sich unspektakulär durch die Welt würde bewegen Können (B 18).

Die Neu-Integration in der Bundesrepublik jedoch mit dem endlosen Vorrat an Reiseangeboten und Entscheidungsmöglichkeiten für Gegenwart und Zukunft  scheint das Ich auf neue Weise zu belasten und führt letztlich zur Flucht in den imaginierten Stillstand der Zeit, zum  Zeit-Vertreib, zu  einem Aus-der-Zeit-Fallen oder dem Heraufbeschwören einer Zwischenzeit.  Die Ich-Erzählerin sinniert: “Vielleicht, so denke ich jetzt, ist unsere Leidenschaft fürs Roulette tatsächlich nie etwas anderes gewesen als eine Form des Ausharrens. Eine Art, die Zeit zu überstehen, am behaglichsten aller Orte” (B 82). Die Frage, ob der Rückzug ins Kasino aus den Überforderungen der neuen westlichen Welt zu erklären ist, scheint zunächst überzogen. Doch evoziert die Unwirklichkeit  dieses behaglichsten aller Orte imaginierte Gewissheiten, auch Schutz, Rausch, Ekstase und eine Form zauberhafter Sicherheit, die sich in der wirklichen Welt nicht finden lässt: “Mit ihren überschaubaren Regeln, den uhren- und also zeitlosen Interieurs, ihren samtenen Abpolsterungen gegen das Draußen sind sie [die Kasinos] die sichersten Orte der Welt” (B 83). Das Verlangen nach Überschaubarem,  nach  Sicherheiten und wohliger Geborgenheit jenseits einer unberechenbaren Welt ständigen Auftrumpfens  lässt sich aus der psychischen  Disposition des Charakters  erklären, sicherlich aber auch aus dem Erbe früherer Sozialisierung im verschwundenen Staat.

Die Glorifizierung des Roulettespielens ist problematisch. Obwohl die Ich-Erzählerin wiederholt vom kontrollierten Spielen oder “vernünftigen Spielen” (B 113) spricht, kann man sich des Gedankens an Suchtverhalten nicht erwehren. Die Verzahnung  des  Glücksspiels mit der Liebe wird in Schochs Werk zum Lebensinhalt und führt zum gefeierten Rückzug aus dem sozialen Umfeld. Man denkt an Dostojewskis  Roman Der Spieler (1866) , in dem zerstörerische Spielsucht ebenfalls mit einer komplizierten Liebesgeschichte gekoppelt ist. Als Polina dem sterblich in sie verliebten Spieler Aleksej ihre Liebe gesteht, ist dieser bereits in die Psychofalle des Glücksspiels geraten. Für die Liebe ist es zu spät; er erliegt der Sucht.  Schoch ist sich der Gefahren einer solchen Obsession durchaus bewußt. En passant umreißt sie ein Psychogramm  klassischen Suchtverhaltens. So berichtet Bonaparte von einer Nacht im Kasino, in der er sein gesamtes Forschungsstipendium verliert:

Seinen  Worten zufolge hatte er gespielt wie ein vergifteter Affe. Die meisten beklagen sich nach einem verlorenen Dreh über die Ungerechtigkeit, Bonaparte ignorierte Verluste. Für das Verlieren hat er wortwörtlich keinen Sinn. Er straft das Glück, wenn es ihn verfehlt, mit Verachtung, ja er fühlt sich nicht im Geringsten angesprochen, ganz so, als müsse dem System irgendein Fehler unterlaufen sein … Mit ungerührter Miene verlässt er den Spieltisch, um in einem unerkannten Moment (unerkannt vom Zufall) wieder da zu sein  und das Ganze gewissermaßen geradezurücken. (B 113-114).

Selbstporträt mit Bonaparte  jedoch auf der Folie einer solchen Gedankenführung zu interpretieren, wäre Sache der Suchtexperten. In Schochs Roman greift dieser Ansatz zu kurz. Literaturkritiker reagierten  sehr unterschiedlich.  Auf das gesellschaftliche nachsozialistische Umfeld zwischen Nichts und Nichts wurde an früherer Stelle hingewiesen.  Die bereits erwähnte Spiegel-Rezension deutete die Kasino-Atmosphäre  als “eine von allen Anforderungen und Ideologien freie Parallelwelt.”[7] Nina Albus sieht es ähnlich: “Es ist der Genuss des Moments, frei von Bedeutung und Geschichte. Es ist das Aufsaugen des bloßen Seins im Jetzt, grenzenlos – das  Aus-der-Zeit-Fallen.”[8] Kai Spanke stimmt zu;  in seinen geradezu  schwärmerischen  Ausführungen wird der Ort der Liebe “zum sakralen Ort, denn im Innern vollziehen sich gleich zwei Transsubstantiationen der besonderen Art – Jetons verwandeln sich in Geld, und Zeit verwandelt sich in Ewigkeit.  Das ist der Kern des Romans:  Unaufhörlich fällt die Erzählerin aus der Zeit, beim Lieben wie beim Spielen.”[9] Einen gesellschaftlichen Ansatz, der jedoch strapaziert wirkt, wählt Welf Grombacher. Das Glücksspiel stehe nicht nur ”für die neue Freiheit”, es werde geradezu zur “Metapher” für die DDR: “Das Spiel gleicht einer Gemeinschaft von Spitzeln, in der jeder jeden belauert. Außerdem ähnelt die Schicksalsergebenheit des Spielers der des Staatsbürgers im totalitären System.”[10]  Unfähigkeit, sich den alltäglichen  Zwangsverhältnissen zu stellen  und einen daraus resultierenden  Realitätsverlust hebt dagegen Tobias Heyl hervor: “Die lustvolle Ohnmacht unterscheidet sich vollständig vom normalen Leben, in dem man unablässig Entscheidungen treffen, Verantwortung übernehmen, dem Alltag irgendeinen Sinn abkämpfen muss. Die Leidenschaft des Spiels befreit von all diesen Zwangsverhältnissen zur übrigen Welt, genau wie die Leidenschaft der Liebe, die auf den einen Augenblick hin gerichtet ist, da es nur diesen einen Mann gibt […] .”[11] Hier knüpft Karim Saab an, der das Spiel als  Metapher, als gelebte Liebe im Ritual des Kasino-Besuchs interpretiert: “Das Spiel soll als Metapher herhalten – für die Suche und Notwenigkeit des Glücks. Es steht auch für den absolut erstrebenswerten  Zustand der Selbstvergessenheit, Hingabe und Euphorie. Das Roulette eröffnet den Figuren die Möglichkeit, aus der Gegenwart zu  fallen, eine Qualität, die sonst nur der Liebe zugeschrieben wird.”[12]

Wie steht es mit dieser Liebe, der sich die Ich-Sprecherin so bedingungslos hingibt? Erwähnt wurde bereits, dass außer den Kasinobesuchen wenig in diesem Roman geschieht. Zu erinnern sei an das Motto, das dem Roman vorangestellt ist: “Aber die Zeit vergeht, und was passiert eigentlich?” Dieses Zitat ist dem Film Thomas Crown ist nicht zu fassen (1968) entnommen, einer Kriminalkomödie, in der ein gelangweilter, sich einsam fühlender Millionär nach Nervenkitzel sucht, um sich lebendig zu halten. Sind Liebe, Euphorie, Rausch, Ekstase, Spannung in  Selbstporträt mit Bonaparte ebenfalls als Hilfskonstellationen zu begreifen, die den beiden “Übriggebliebenen” einen Platz in der Gesellschaft garantieren oder sie aus dem  Zustand von Langeweile oder Passivität locken? Treiben Identitätsdefizite und Assimilationsunfähigkeit die Erzählerin in den Teufelskreis  von Liebe, Sucht und Glücksspiel? Die Handlung ist diffus. Die Ich-Erzählerin  gesteht, sie sei Bonaparte in der Tat verfallen;  sie ist ihm willenlos ausgeliefert, und bedingungslos bis zum Masochismus gibt sie sich dieser Liebe hin. An dieser Stelle wäre zu fragen, ob  frühkindheitliche Prägungen zu dieser sonderbaren Liebe, dieser “Unverbindlichkeit auf Dauer”,  beigetragen haben.  Unberechenbarkeit hatte das Mädchen  bereits im Verhalten des Vaters kennengelernt, der sich sang und klanglos davonmachte, wann immer ihm danach zu Mute war und der dann nach der Wende auf Jahre hinaus verschwand.  Auch Bonaparte kommt und geht, wie er will,  richtet nie ein zärtliches Wort an sie  –  “Wozu das Ganze?” – verbietet sich jegliches  Eindringen in die Privatsphäre, schreibt nie einen Liebesbrief und ist unfähig, “sie auf gewöhnliche Weise zu lieben” (B 26), Verhaltensmuster, die die Ich-Erzählerin anstandslos akzeptiert.  Nüchtern resümiert sie: “Würden wir nicht dort hingehen, ins Kasino, wäre es vorbei. Wir würden eindringen in eine normale Zeitrechnung” (B 59-60).

Die Liebe der “Übriggebliebenen” ist  im wirklichen Zustand normaler Zeitrechnung von Müdigkeit, Erschöpfung und einer passiven Wartehaltung gekennzeichnet, die ein utopisches Versprechen auf Zukunft ausschließt. Nichts ist geblieben vom rebellischen Individualismus des Kindes, das sich zu  DDR-Zeiten so vehement gegen Vorschriftenzwang gestemmt hatte. Es ist offen, ob die Erzählerin in der Hingabe an den gedehnten Moment des Glückspiels letztlich doch in den Bereich des Pathologischen geglitten ist. Zweifel kommen  ihr:  “Plötzlich dachte ich, dass  die ewige Gegenwart des Spiels vielleicht tatsächlich ein Fluch sei, dem man nicht mehr entkommt. Dass sie nichts anderes bedeutete, als allmählich alles zu verlernen, was einen in der wirklichen Zeit hielt. Die Formen des Lebens, das Interesse für seinen Sinn und seinen Unsinn, für seine Vergeblichkeit und kurzen Feuerwerke” (B 127). Traumwandlerisch  treibt sie durchs Leben und wartet. Es ist unklar, worauf sie wartet.

Auf einer Lesung im August 2012 wurde die Autorin Schoch gefragt, warum sie das Kasino als Schauplatz eines Gegenorts gewählt habe.  Sie erklärte, sie selbst sei eine Zeitlang ins Kasino gegangen.  Es handele sich um ein Zeitphänomen, die Zeit sei verantwortlich. Es habe zu tun mit dem Verschwinden von Städten, so, wie DDR-Bürger sie gekannt hätten, mit den enormen architektonischen Veränderungen in der Stadt Potsdam, die sich rapide  in eine restaurierte, royal-restaurative Stadt zurückentwickele, als habe es die letzten hundert Jahre nicht gegeben. In kompletter Ratlosigkeit und Desorientierung seien die beiden Liebenden ihres Romans ins Kasino ausgewichen  – wie sie selbst.[13] Diese Ausführungen befriedigen nur teilweise. Schoch betont Architektonisches in der Gegenwart, äußert sich jedoch nicht über im DDR-Staat verwurzelte  psychische  Schäden ihrer Protagonisten. Die fiktive Ich-Erzählerin in  ihrem  Roman jedoch geht in ihren Reminiszenzen dem Problem der Weltflucht an die Wurzel.  Sie  geht auf Spurensuche.  Durchweg dringen Erinnerungssplitter realsozialistischer Sozialisierung in ihre Grübeleien. Die Mauer ist gefallen, Gleichgültigkeit und Gleichmut sind geblieben. Gängelei und Reglementierung wirken im Bewusstsein der Liebenden weiter fort. Im Zusammenblenden von enttäuschter Liebe und gesellschaftlichem Frust evoziert die Autorin in den letzten Zeilen des Romans eine Stimmung von lähmender Passivität, Apathie und Starre, die jeglichen Bewegungsdrang und jegliche Initiative ausschließt. Auch für Selbstporträt mit Bonaparte gilt, was die Autorin in  Mit der Geschwindigkeit des Sommers  als Last  fortwährenden DDR-Erbes  herausstellte: “Ich halte es für möglich, daß der wortlose Gleichmut jener Zeit in uns geblieben ist, dass wir ihn mitschleppen bis zum Tod. Und dass gar nichts ihn ersetzen kann, nicht eine neue Liebe, auch kein Plan zum Fortgehen, ja: nicht einmal die Lust der Freiheit” (G 120).


 

Endnoten

[1] Julia Schoch, Mit der Geschwindigkeit des Sommers (München: Piper,  2009). Seitenzahlen werden im Text der Arbeit  mit der Sigle G angegeben.

[2] Schoch, Selbstporträt mit Bonaparte (München: Piper, 2012).  Seitenzahlen werden im Text der Arbeit mit der Sigle B angegeben.

[3] Frauke Meyer-Gosau, “Wir sind zu früh”,  Literaturen  05 (2009).  S. 26.

[4] Jana Hensel, “Die Liebenden von Potsdam”,  der Freitag  41 (2012).

[5] “Der letzte Jeton,” Der Spiegel  05.11.2012.

[6] Paul Cooke, “Beyond a Trotzidentität? Storytelling and the Postcolonial Voice in Ingo Schulze’s Simple Storys”,  Forum for Germanic Language Studies, 39.2 (2003), S. 299.

[7] “Der letzte Jeton”,  Der Spiegel  05.11.2012.

[8] Nina Albus, “Ewigkeit des Augenblicks”,  Südwest-Presse 28. 12. 2012.

[9] Kai Spanke, “Nichts geht mehr, aber alles ist möglich”,  Frankfurter Allgemeine Zeitung  04.09. 2012.

[10] Welf Grombacher, “ Gemeinschaft ohne Verschworenheit”,  Märkische Oderzeitung 12.12.2012.

[11] Tobias Heyl, “Im Archiv des Zufalls”,  Süddeutsche Zeitung 29. 10.2012.

[12] Karim Saab, “Roulettespiel ohne Tragik: Julia Schoch hat einen Potsdam-Roman geschrieben, der die Liebe und das Glücksspiel verherrlicht”,  Märkische Allgemeine Nachrichten 13.11.2012.

[13]“ Selbstporträt mit Bonaparte von Julia Schoch”, www.youtube.com/watch?v=g7PTD4y0UYA,  Video Redaktion 08.11.2012.

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Dec 07 2014

Billy Badger

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»Vorübergehende Schönheit« — Die poetische Kamera Bas Böttchers

Die kulturellen Produkte einer Epoche widerspiegeln wohl immer die Gesellschaft, der sie entspringen. Sie tragen in sich etwas vom Zeitgefühl und Lebensrhythmus der Zeit und der Reaktion der jeweiligen Künstler darauf.[1] T.S Eliot, einer der bedeutendsten Vertreter der literarischen Moderne, reagierte seinerzeit auf eine Zivilisation, die er bekanntlich als „vielfältig und komplex“ empfand, mit einer Poesie, die ebenfalls schwierig, vielfältig und komplex sein musste.[2] Bertolt Brechts „reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“ entstand als Reaktion auf die heiklen Jahre der späten 1930er, die man nicht habe verschlafen dürfen, denn sehr regelmäßige Rhythmen hätten in der Lyrik eine „unangenehme einlullende, einschläfernde Wirkung”, und folglich in den finsteren Zeiten des Nationalsozialismus verheerende Konsequenzen.[3] Auch der österreichische Exildichter Erich Fried reagierte – beinahe zwanghaft – auf die herrschenden Zustände seiner Zeit. Mit einer klaren, einfach wirkenden Sprache suchte er die Widersprüche und Ungerechtigkeit einer »zerrissenen« Welt aufzudecken und zu kontern. In dem Gedichtband Um Klarheit fragt er: „Darf ein Gedicht / in einer Welt / die vielleicht untergeht / an ihrer Zerrissenheit / anders als einfach sein?“[4]

Im neuen Jahrtausend ist der vielreisende Sprechpoet Bas Böttcher ebenfalls um eine Lyrik bemüht, in der sich die Komplexität seiner Welt spiegelt. Seine Spokenword-Texte entspringen u.a. der lyrischen Intention, die Welt einfach so darzustellen, wie sie ist. Im Rahmen eines englischsprachigen, von Anna Funder moderierten Gesprächs mit Böttcher, Wladmir Kaminer und Carsten Beyer beim Berlin Dayz Festival in Melbourne, Australien erklärte er: „I just try to reflect the world I am living in.”[5] Umso wichtiger ist ein solches Vorhaben in einer Welt, die mit Sinnesreizen dermaßen überlastet ist, dass man sich nichts mehr merkt:

 

Man merkt nichts mehr!

Nichts merkt man mehr!

Und keiner merkt, dass man nichts merkt,

denn keiner merkt, dass da was wär.[6]

 

In der heutigen Informationsgesellschaft befinden wir uns die meiste Zeit, wie Siegfried Kracauer meint, in einem Zustand dauernder Empfängnis.[7] Es herrscht eine Informationsüberlastung,[8] da „immer mehr Absender über immer mehr Medien immer mehr Botschaften an die immer gleichen Zielpersonen richten.“[9] In den Worten von Martin Scherer sind wir „trächtig vor Unterhaltung und Nachricht aus aller Welt.“[10] Dieser Überfluss an Informationen bedeutet jedoch nicht, dass entsprechend mehr Informationen aufgenommen und verarbeitet werden können.[11] Vielmehr begegnet uns ein unablässiger Strom von Sinneseindrücken, die wir nicht im vollen Maße isolieren, wahrnehmen, oder aufheben können. Stattdessen wird „der Ausschnitt derjenigen Informationen, die wahrgenommen werden können, an allen zur Verfügung stehenden Informationen immer kleiner”, so dass es „eine paradox anmutende Informationsarmut innerhalb des Informationsüberflusses herrscht.“[12]

 

Diese Charakteristik der modernen Welt entgeht Böttcher nicht. Auch ihm fällt auf, dass wir „[d]auernd auf Empfang ohne Einschaltzeiten“ sind, und „Jeder Content on demand omnipräsent“ ist.[13] Durch die unbegrenzte Informationsflut leben wir in „Babylon 2.8″. Wie zu alttestamentarischen Zeiten herrscht eine Art babylonischer Sprachverwirrung. Täglich konfrontieren und produzieren wir einen Wirrwarr von sprachlichen Informationen, und wir verstehen nur einen Bruchteil davon. Wir „reden wie im Mythos“ und verwirren „Wörter wie Werte.“[14] Anstatt dieser Charakteristik der modernen Welt kritisch entgegenzuwirken, bleibt Böttcher seiner lyrischen Intention treu, und zwar die Welt so darzustellen, wie sie ist. Inhaltlich wie auch formal, denn die zwangsläufig lückenhafte Kommunikation innerhalb der alltäglichen Informationsflut spiegelt sich vor allem in seinem Vortragsstil bei Bühnenauftritten. Nicht um sonst hat er einen Ruf als „Sprachakrobat:“ Seine schnell vorgetragenen Texte mit „verschachtelten und überaus amüsanten Satzkaskaden voller Assonanzen und Stabreime“ sorgen für eine Informationsüberlastung, [15] so dass, wie Böttcher selbst einräumt, nicht einmal „ein Muttersprachler […] beim Poetry Slam […] immer alles sofort“ versteht.[16] „Es sind Texte für das schnelle Jetzt”, wie Ralf Julke in der Leipziger Internet Zeitung findet.[17] Um seinen ausländischen Zuhörern einigermaßen entgegenzukommen, lässt Böttcher auf Bühnen in Australien, China oder Brasilien synchrone Übersetzungen auf großen Monitoren laufen. Obwohl er hofft, dass „with the subtitles and the original sound“ sich sein Publikum „the whole picture“ verschaffen kann, weiß er trotzdem: „Maybe it’s too fast,“ denn „some people complain »I can’t read this fast, I can’t listen that fast«.“[18] Seine Vortragsgeschwindigkeit gehört zur Geschicklichkeit eines lyrischen Zauberers, der „lyrische Kaninchen aus erdichteten Zylindern“ zieht,[19] so dass das Publikum nicht weiß, wo „auf einmal das Kaninchen her[kommt].“[20] Diese Überlastung seiner Zuhörer mit einer Kaskade von „Sprachtricks“ nach der anderen ist durchaus überlegt und beabsichtigt und dient zur Widerspiegelung einer informationsgesättigten Gesellschaft, wie er im Gespräch mit John Sinclair vom Radio Free Genoa erklärt:

 

Böttcher: It depends on how much information you can deal with in the second.

Sinclair: Well, you’re willing to provide as much as they can take.

Böttcher: Well, I mean, it’s a part of our society to have information overflow …

Sinclair: …overload…

Böttcher: …overload, yeah, information overload, and maybe poetry should reflect that in its own way.[21]

 

Vor allem spiegelt sich der Informationsüberfluss in seiner Vortragsgeschwindigkeit:

 

even the tempo, the speed when I speak is also part of the reflection, because I think a poetry, which reflects our everyday life, should be also fast, and should maybe be a bit too much, you know, too many words per minute, but then you try to grab some of the meaning.[22]

 

Böttcher stellt sich eine Lyrik vor, die das Publikum wie ein Autofahrer auf der Autobahn erlebt: „Same when you drive down a freeway, and you can’t see all the pictures and everything which is passing by so fast. So, this is the concept behind my poetry as well.“[23] Auf der Autobahn werden Autofahrer mit einer Reihe nur flüchtig wahrnehmbarer, einander rasch ablösender Bilder konfrontiert; im Spokenword-Club werden die Zuhörer mit ebenso schnell vorbeiflitzenden, flüchtigen, auditiven Momenten bombardiert. Kaum erklingt das gesprochene Wort, so beginnt es auch zu verklingen, um dann vom nächsten abgelöst zu werden:

 

Jedes Wort ist immer nur für den Moment präsent, deswegen kann man das Stück, was wir gerade gehört haben, auch programmatisch verstehen, weil es eben da drum geht, dass die Texte auch immer nur für den Moment präsent, wo sie gehört werden, wo sie als Schallwelle im Raum stehen und das ist der Moment, für den ich schreibe. Die Buchseite ist dabei dann eher so eine Art Nebenprodukt, eher sozusagen die Konservierung des Ganzen.[24]

 

Während es dem Zuhörer höchstens gelingt, etwas von der Bedeutung des Vorgetragenen aufzuschnappen („to grab some of the meaning“), scheint die Schriftversion – etwa wie ein Foto – die vorbeiflitzenden Bilder auf einmal stehenbleiben und zeitgleich als Ganzes in Erscheinung treten zu lassen. So erinnert die Gegenüberstellung von der flüchtigen Präsenz des performten Texts und der zeitlosen Verfügbarkeit dessen fester Niederschrift an den Unterschied zwischen den flackernden, unscharfen Bildern der Camera obscura und der für alle Zeit festgehaltenen Darstellung der Außenwelt, die der Fotoapparat ermöglicht. Die Camera obscura ist bekanntlich ein geschlossener, abgedunkelter Raum, der in der Größe vom Kästchen bis zum Festsaal variieren kann, mit einer einzigen Öffnung, durch die Licht einfällt. Auf der der Öffnung gegenüberliegenden Wand bildet sich dann eine kopfstehende, seitenverkehrte und verkleinerte Projektion der Außenwelt ab.[25]

Bewegungen in der projektierten Außenwelt spiegeln sich in der abgebildeten Szene auf der Projektionsfläche, und mit jeder neuen Szene wird die vorige ausgeblendet bzw. ersetzt. Mit dem Fotoapparat vermag man hingegen den flüchtigen, nicht wiederholbaren Moment einzufangen oder, in den Worten John Bergers, „die flüchtigen Erscheinungen zu isolieren.“[26] Schon früh erkannte man diesen Vorzug der Kamera:

 

The most transitory of things, a shadow, the proverbial emblem of all that is fleeting and momentary, may be […] fixed for ever in a position which it seemed only destined for a single instant to occupy […] Such is the fact, that we may receive on paper the fleeting shadow, arrest it there and in the space of a single minute fix it there […].[27]

 

In dieser Hinsicht ist die Poesie für viele Dichter das literarische Gegenstück zur Kamera. Für den amerikanischen Dichter Jack Spicer z.B. gleicht das Gedicht einer Kamera wegen seiner Funktion als „a device of freezing the evanescent real:“[28]

 

Poetry, almost blind like a camera

Is alive in sight only for a second. Click,

Snap goes the eyelid of the eye before movement

Almost as the word happens.[29]

 

Die Kamera – ob poetisch oder literarisch – ist eine Art »Gedächtnismaschine«, die zum Festhalten des sonst vergänglichen Wahrgenommenen dient. Die Bezeichnung der Poesie als eine Art »Erinnerungstechnologie« ist weit verbreitet. In seinem einflussreichen Buch The Sounds of Poetry beschreibt der amerikanische Dichter Robert Pinsky Poesie als „a technology of remembering”.[30] Dieser Impuls, etwas zu bewahren, liege, so der englische Dichter Philip Larkin, aller Kunst zugrunde. Larkin schreibe Gedichte, um Dinge, die er „gesehen / gedacht / gefühlt“ habe, zu bewahren; und das sowohl für sich wie für andere.[31]

Wenden wir uns an dieser Stelle der Metapher der lyrischen »Autobahn« noch einmal zu. Selbst mithilfe der Erinnerungstechnologie einer Kamera gelingt es dem Fotografen nicht mehr als eine Momentaufnahme zustande kommen zu lassen. Je nachdem wann dieser den Auslöser drückt, wird ein leicht anderer flüchtiger Augenblick auf der Speicherkarte des modernen Fotoapparats festgehalten. In seiner Einführung in die mündliche Dichtung findet Paul Zumthor[32], dass eine Fotografie die Außenwelt ebenso wenig vollständig darzustellen vermag, wie die Buchseite das mündlich performte Gedicht. Nach Zumthor gleiche der frei performte Text einem See an einem windigen Tag. Von Augenblick zu Augenblick verleihen die herrschenden Licht- und Wetterverhältnisse diesem See einen anderen Charakter. Vom See liefert ein Foto kaum mehr als eine zweidimensionale Momentaufnahme der windgefegten Oberfläche. Obwohl in seinem Schulbuch Die Poetry-Slam-Expedition  Böttcher den Schrifttext auf der Buchseite als „Konservierung des Ganzen“ beschreibt, stimmte er Zumthor vollkommen zu. Zwar besteht das Schriftgedicht aus den gleichen Grundelementen wie das mündliche Gedicht, doch wie Wasser verfügt das Gedicht über drei Aggregatzustände mit jeweils verschiedenen Eigenschaften. Unter normalen Bedingungen liegt Wasser in seinem natürlichen Zustand jedoch als Flüssigkeit vor. Ebenfalls ist der natürliche Zustand der Poesie nicht die feste, starre, unbewegliche Form, sondern die flüssige, gesprochene Form.[33] So büßt ein Gedicht viel an dessen Multi-Dimensionalität ein, wenn es einem Formatwandel unterzogen wird und es seine feste Form annimmt. Auf der Buchseite fehlt u.a. die inhärente „klangliche Dimension“ der performten Version.[34] Ob Foto oder Gedicht ist das auf Papier gefangene Kunstwerk eine zweidimensionale, gepixelte und komprimierte Repräsentation des Originals, wobei auditive, visuelle und sonstige Informationen verloren gehen.[35]

Folglich ist es kaum verwunderlich, dass Böttcher die Camera obscura als passendes Modell für die schöpferische Vorgangsweise des Lyrikers aufgreift:

 

Das war dann so eine Idee. Das ist der Schritt im Grunde von der Auseinandersetzung beim Thema, durch’s Schlüsselloch durch, und auf der anderen Seite, so wie eine Camera obscura, entsteht dann der Text. Man muss ihn vom Kopf auf die Füße stellen. Dann funktioniert’s hoffentlich.[36]

 

Im Wesentlichen beruhen die Camera obscura und der Fotoapparat auf der gleichen Grundtechnik. Abgesehen von deren Umgang mit dem flüchtigen Moment, dienen beide optischen Geräte dazu, die Außenwelt naturgetreu darzustellen, dem Künstler sonst unbemerkte Details zur Kenntnis zu bringen und diesen die gespiegelte Welt in deren Einzelheiten beobachten zu lassen. Aus diesen Gründen gehörte eine Camera obscura im achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert beinahe zur unentbehrlichen Grundausrüstung vieler Maler und Zeichner.[37] Mitte des 18. Jahrhunderts betonte der italienischer Schriftsteller und Kunstkritiker Francesco Graf von Algarotti in seinem bekannten Aufsatz die Vorzüge der Camera obscura:

 

The machine, contrived for this purpose, consists of a lens and a mirror so situated, that the second throws the picture of any thing properly exposed to the first, and that too of a competent largeness, on a clean sheet of paper, where it may be seen and contemplated at leisure. […] After all, it is no way surprising, that we should, by means of this contrivance, discover, what otherwise we might justly despair of ever being acquainted with. […] The best modern painters among the Italians have availed themselves greatly of this contrivance; nor is it possible they should have otherwise represented things so much to the life. […] In short, Painters should make the same use of the Camera Obscura, which Naturalists and Astronomers make of the Microscope and Telescope, for all these instruments equally contribute to make known, and represent Nature.[38]

 

Ähnliche Funktionen misst Böttcher der lyrischen Kamera in der Dokumentation zu seinem Schulbuch Die Poetry-Slam-Expedition bei. In Bezug auf seine thematischen Schwerpunkte erzählt Böttcher, dass ihn vor allem »Sachen« interessieren, die sich im Kleinen manifestieren und sich im Kleinen zeigen. Manche wichtige Dinge finden auch versteckt statt und die kann man versuchen als Poet aufzudecken. Man richtet seine poetische Kamera auf Details.[39]

In der Lyrik sowie der Fotografie geht es weit über eine großflächige Widerspiegelung der Außenwelt hinaus. Mithilfe des Objektivs gelingt es Böttchers poetischer Kamera nicht nur Motive herzuholen bzw. hervorzuheben, die mit dem bloßen Auge sonst unbemerkt bleiben würden. Vielmehr vermag der Dichter anhand der »optischen« Besonderheiten der Lyrik das bislang Unsichtbare sichtbar zu machen. Er deckt auf; enthüllt das Verpackte, und entdeckt das Versteckte, denn im „Spiegel, hinter Glas oder im Fokus […] Jede Verpackung will enthüllt sein […] Alles Versteckte will entdeckt sein.“[40] Eine ähnliche optische Fähigkeit misst seinerzeit der amerikanische Schriftsteller Mark Twain der Literatur bei in Bezug auf das Werk seines Schriftstellerfreunds William Dean Howells. Im Interview mit der Portland Oregonian erzählte Twain, „It is like a star so far away that the eye cannot discover it through the most powerful telescope, yet if a camera is placed in the proper position […] a photograph of the star will be the result.“[41]

Wie oben schon angedeutet, unterscheiden sich die Camera obscura und der Fotoapparat durch deren Umgang mit den flüchtigen Bildern der Außenwelt. Mit seinem optischen Gerät erstellt der Fotograf selbst eine starre, unbewegliche, fixe Repräsentation der Wirklichkeit, wie sie ihm in dem Augenblick erschien, und legt sie seinem Publikum als zeitloses Artefakt vor. Mit der Camera obscura wird dem Betrachter die Wirklichkeit in Echtzeit vorgeführt, wobei die unzähligen Bewegungen des Originals naturgetreu wiedergegeben werden. Im achtzehnten Jahrhundert pries der Mathematiker Jean Leurechon ausgerechnet diese Charakteristik der Camera obscura an, und zwar die Vermittlung von Bewegung:

 

Above all there is the pleasure of seeing the movement of birds, men or other animals and the quivering of plants waving in the wind; for although all that is reversed, nevertheless, this beautiful painting, beyond being foreshortened, represents ingeniously well that which no painter has ever been able to represent in his painting, to realize movement continued from place to place.[42]

 

Geht es um die Produktion der Poesie, so scheint sich die statische Schriftpoesie zur Fotografie zu verhalten, wie die Bühnenpoesie zu den rastlosen Bildern der Camera obscura. Obwohl Böttcher seine Gedichte im Schriftformat veröffentlicht bzw. »konserviert«, und darauf Wert legt, dass sie sowohl »on page« als auch »on stage« funktionieren, schreibt er „definitiv für die Bühnen.“[43] Anstatt seinem Publikum leicht verständliche Texte mit einer vereinfachten lyrischen Form und Thematik vorzutragen,[44] gestaltet er vielschichtige Gedichte mit einer Fülle von mehrdeutigen Wortspielen, die die hohe Informationsdichte der heutigen Welt widerspiegeln sollen.[45] In Bezug auf die Rezeption der Poesie existiert das Bühnengedicht für das Publikum nur in äußerst kurzer Form in toto, und nur so lässt es sich in toto erfassen.[46] Sonst entfaltet es sich in Echtzeit über die Dauer des Vortrags hinweg — im Rahmen des Slam-Formats handelt es sich um einen bis zu fünf Minuten langen Zeitabschnitt. Für die Dauer seines Auftritts muss sein Publikum mit einer ununterbrochenen Reihe von Bildern rechnen. Nach der Autobahn-Analogie setzt Böttcher seine Zuhörer hinter das Steuer eines hochtourigen Wagens, so dass sie nur einzelne, teils verschwommene, schnell vorbeiflitzende Bilder der äußeren Landschaft wahrnehmen, aufnehmen und festhalten können.[47] Wenn die letzte Silbe verhallt, bleibt dem Zuhörer eine lose Sammlung von Eindrücken, Bildern und Motiven. Mit Hilfe des Gedächtnisses entsteht dann eine für jeden Zuhörer verschiedene, meist lückenhafte, selbst ergänzte lyrische Einheit, die sowohl laufend als auch nachträglich aus einer Reihe von lyrischen »Schnappschüssen« zusammengesetzt wird. Insofern bietet sich auch die Foto-Analogie als passendes Modell für die Rezeption der mündlichen Dichtung. Das Wiederherstellen einer Repräsentation der Außenwelt übernimmt nicht der Künstler mit seiner »gedächtnislosen« Camera obscura, sondern jeder einzelne Betrachter mit dem eigenen fotographischen Gerät und Gedächtnis, und folglich entstehen so viele Kompositbilder wie Betrachter, wobei jedes Bild eine jeweils andere Teilmenge der zur Verfügung gestellten Informationen darstellt.[48] Als fotografische Modelle für dieses lyrische Verfahren bieten sich einige Analogien. In gewisser, dennoch eingeschränkter Weise erinnert die Wiederherstellung des Gedichts im Gedächtnis der Zuhörer an das Verfahren der Computertomografie, indem eine dreidimensionale Repräsentation des Originals aus zusammengesetzten Schnittbildern erzeugt wird. Jeder Zuhörer unterzieht das performte lyrische Original eigenen bildgebenden Verfahren, die dessen äußere Flächen (Form) und innere Struktur (Inhalt) ermitteln und ein – keineswegs vollständiges – 3D-Modell des Originals rekonstruieren lassen. Ebenfalls bietet auch nur bedingt die Analogie eines Sammel- bzw Fotoalbums, das z.B. vom Urlauber nach einem Aufenthalt am exotischen Ort zusammengestellt wird, ein treffendes Modell der im Gedächtnis rekonstruierten, gespeicherten Wirklichkeit. Jeder Urlauber kehrt mit einer jeweils anderen Sammlung lose zusammenhängender (gedanklicher) Bilder nach Hause zurück, die zwar wohl ähnliche Landschaftsszenen darstellen, aber die verschiedenen Interessen, Einstellungen und Erfahrungen der Urlauber widerspiegeln.

Sowohl das tomografische wie auch das Foto-Album-Modell vermögen nur ein statisches Kompositgebilde des empfangenen Bühnentexts darzustellen. Indem das lyrische Verfahren Böttchers darin bestehen soll, seinem Publikum eine Reihe fast zu schnell passierender Bilder vorzuführen, und es ihm zu überlassen, sein Bestes zu tun, „some of the meaning“ aufzuschnappen, um sich dann aus den diskreten gewonnenen Bildern eine eigene Repräsentation des rasch Vorbeiflitzenden zusammenzuschneiden, die die Bewegung des Originals wiedergibt, liegt eher die Bewegbild-Technik der Kinematografie als passendes Model nahe. Im Filmformat wird Bewegung vorgetäuscht; die Bewegungen der Außenwelt werden als eine Reihe rasch aufeinanderfolgender statischer Bilder wiedergegeben. In den Worten des französischen Philosophen Henri-Louis Bergson, „movement is made of immobilities.“[49] Wie Bergson schon Anfang des 20. Jahrhunderts am Beispiel von vorbeimarschierenden Soldaten schilderte, wird mithilfe statischer Bilder und der Bewegung im »Apparatus« [Filmprojektor] die ursprüngliche Bewegung in der Außenwelt rekonstruiert:

 

to take a series of snapshots of the passing regiment and throw these instantaneous views on the screen, so that they replace each other very rapidly. This is what the cinematograph does. With photographs, each of which represents the regiment in fixed attitude, it reconstitutes the mobility of the regiment marching. […] In order that the pictures may be animated, there must be movement somewhere. The movement does indeed exist here; it is in the apparatus. It is because the film of the cinematograph unrolls, bringing in turn the different photographs of the scene to continue each other, that each actor of the scene recovers his mobility; he strings all his successive attitudes on the invisible movement of the film. […] Such is the contrivance of the cinematograph. And such is also that of our knowledge.[50]

 

In Übereinstimmung damit fordert Böttcher sein Publikum zunächst auf, die eigene Kamera in die Hand zu nehmen, Motive zu finden und „Schnappschüsse“ zu machen. Am Anfang des gleichnamigen Gedichts spricht Böttcher jeden Zuhörer direkt an:

 

Nimm diesen Fotoapparat

Nimm diese Kamera

[…]

Finde Motive, mach Fotos

Drücke den Auslöser (Z. 1-2; 10-11).[51]

 

Mit der Kamera rettet der »Fotograf« diskrete Motive aus dem unendlich vorbeifließenden Strom der lyrischen Bilder. Während Bergson von „the passing reality“ schreibt, deutet Böttcher auf die ebenfalls zweideutig interpretierbare „vorübergehende Schönheit:“

 

Für die vorübergehende Schönheit, die anhaltende Zeit

sie passiert dir, sie passiert dich

im Vorbeigehen ein Blitzen und so erscheint sie allen

im Begriff zu strahlen, gleich ihr verfallen (Z. 5-9)

 

Anhand der internen Kamera kann der fotografierende Zuhörer die endlos verfließende Zeit kurz stoppen, „die anhaltende Zeit“ anhalten, und somit ein Motiv des »schönen« Bühnentexts, wie er in diesem Bruchteil einer Sekunde nur „vorübergehend“ und nie wieder erscheint, aufnehmen und konservieren. Dem Wort »vorübergehend« sei er verfallen, sagt Böttcher, „weil es zwei Dinge gleichzeitig beschreibt, einmal das physische Vorüber-Gehen, und man guckt vielleicht hinterher. Und das andere ist diese Flüchtigkeit vom Moment.“[52] In beiden Sinnen des Wortes sind die Bilder der Bühnenlyrik »vorübergehend«; in beiden Sinnen des Wortes »passieren« sie: Wie auf der Autobahn ziehen sie rasch vorbei und so passieren sie einen ebenso rasch (Z. 6). In den dort üblichen Geschwindigkeiten fallen sie nur kurz ins Auge des Fahrers, ins Objektiv der Kamera; sie werden nur flüchtig erlebt und so passieren sie einem ebenso kurz. Jedes Motiv erscheint „im Vorbeigehen [wie] ein Blitzen“ (Z. 7): Kaum ist das Motiv im „Begriff zu strahlen,“ kaum sind wir ihm verfallen, so beginnt es schon zu verfallen (Z. 9).

Jedes aufgenommene Motiv wird – wie „Pixel gebannt auf Chips“ (Z. 34) – im Gedächtnis gespeichert, doch die Bilder geben das Original nicht vollkommen authentisch und naturgetreu wieder, denn eine Fotographie ist nicht einfach eine mechanische Repräsentation oder Aufzeichnung der Wirklichkeit, sondern immer das Ergebnis absichtlicher, unbewusster und auch zufälliger Entscheidungsvorgänge.[53] Je nach Einstellungen der Blende rücken gewisse Motive in den Fokus und wiederum andere in den Hintergrund; je nach Blickwinkel werden bestimmte visuelle Informationen ausgeblendet, andere werden mit Nachdruck hervorgehoben:

 

Schau wie der Spiegel sein Reflex-Spiel treibt

Mit Brennweite, Blende und zweiunddreißig Gigabyte (Z. 3-4).[54]

 

Mit zunehmender Brennweite nimmt auch der Vergrößerungsfaktor zu, so dass – wie oben schon angedeutet – bislang unbemerkte Details plötzlich sichtbar werden. Indem jeder Zuhörer autonom und teils unbewusst eigene Entscheidungen über Einstellungsgrößen, Belichtung, Bildgestaltung, Regie sowie auch Subjekt trifft, spielen persönliche Einstellungen eine prägende Rolle bei der Darstellung der Außenwelt im Gedächtnis. Nach Bergson rekonstruieren wir „the individuality of each particular movement by combining this nameless movement with the personal attitudes”.[55]

Die Kamera, die Böttcher seinem Publikum anbietet, existiert für „die Fortfolge von hell aufbrennenden / keine Sekunde dauernden / jede Hundertstel beginnenden und endenden Momenten“ (Z. 12-14); für eine Reihe beinahe übergangsloser aufeinanderfolgender Bilder, die einzeln nur flüchtig erscheinen, aber zusammen Bewegung vortäuschen. Das Verfahren schildert Bergson in Bezug auf Wahrnehmung und das Gedächtnis: Wir setzen „a kind of cinematograph inside us“ in Gang.[56] Ebenfalls für Böttcher verfügt jeder Zuhörer über den eigenen kinematografischen Apparat, mit dem er aus einzelnen »Schnappschüssen« den eigenen Film im Gedächtnis zusammenschneiden kann. 2005 experimentierte er – zusammen mit Berliner Slam-Master Wolf Hogekamp – mit einem Medium, das „die Slam-Poesie visuell, und akustisch, und inhaltlich vermittel[n]“ soll. So kamen Poetry Clips Vol. 1 zustande; eine Sammlung verfilmter, inszenierter Gedichte auf DVD mit dem Charakter von Musikvideos.[57] Obwohl die Herausgeber ihrem Publikum mit den Poetry Clips lyrische Filme vorführen, weiß Böttcher, dass im jedem Fall der eigentliche Film im Kopf stattfinde, und zwar „Im Kopf des Betrachters.“[58]

 

Endnoten

[1]        Siehe Biller, Maxim. „Literarisches Grundsatzprogram.” Die Weltwoche 25

[2]        Eliot, T.S. Selected Essays. New York: Harcourt & Brace, 1932. 248.

[3]        Brecht, Bertolt. „Nachtrag zu »Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen«.“ Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik Bd. 2. Hrsg. Norbert Miller und Harald Hartung. München: Carl Hanser, 2003. 549.

[4]        Fried, Erich. Gesammelte Werke Bd. 3. Hrsg. Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach. Berlin: Wagenbach, 1993. Vgl. „Widerspiegelung“ in Fried, GW 511. „Wenn die Gedichte / einfacher werden / so zeigt das / nicht immer an / daß das Leben / einfach / geworden ist“.

[5]        Böttcher, Bas, Wladimir Kaminer & Carsten Beyer. Im Gespräch mit Anna Funder. Berlin Dayz. Wheeler Centre. 4. November 2010.

[6]        Böttcher, Bas. Neonomade. Dresden: Voland & Quist, 2009. 11.

[7]        Kracauer, Siegfried. Das Ornament der Masse. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977. 323.

[8]        Drengner, Jan. Imagewirkungen von Eventmarketing: Entwicklung eines ganzheitlichen Messansatzes. Wiesbaden: GWV, 2003. 14.

[9]        Pepels, Werner. Marketing-Arbeitsbuch. München: Oldenbourg, 2012. 27.

[10]       Scherer, Martin. „Der Leser als Flaneur. Von der Verlangsamung der Welt beim Blättern.” Medientheorie und Medientheologie. Hrsg. Klaus Huizing und Horst F. Rupp.Münster: LIT, 2003. 32

[11]       Pepels 27.

[12]       Pepels 27; 32.

[13]       Böttcher, Neonomade 14.

[14]       Böttcher, Neonomade 7.

[15]       „Berliner Rap-Poet Bas Böttcher in Saarbrücken. Offizieller Botschafter für das Jahr der Geisteswissenschaften 5. Juli, 14.00 Uhr, Bühne am St. Johanner Markt“ kein Datum. Web. 9. Mai 2008.

[16]       Böttcher, Bas. Interview mit Rolf S. Wolkenstein und Ann Kathrin Weldy. „Interview mit Bas Boettcher.“ ARTE.TV. 4. Dezember 2007. Web. 3. September 2012.

[17]       Julke, Ralf. „Talkshow aus, Bas Böttcher an. Dies ist kein Konzert!“ Leipziger Internet Zeitung, 21. März 2006.

[18]       Böttcher, Kaminer & Beyer.

[19]       Zentrifugal, „tricks drauf.“ tat oder wahrheit. Jive, 1999. Vgl. Böttcher, Bas. Interview mit Achim Schmitz-Forte. WDR5. Neugier genügt. Redezeit. 1. Februar 2007; Böttcher, Bas. Interview mit Ingrid Schneiberg. „Zu Gast: Bas Böttcher, »Reisender Dichter«.“ HR2. 11. August 2011. Podcast.

[20]       Böttcher. Interview mit Schmitz-Forte.

[21]       Böttcher, Bas. Interview mit John Sinclair. Radio Free Amsterdam. Radio Free Genoa Poetry. 20. März 2008.

[22]       Böttcher, Kaminer & Beyer.

[23]       Böttcher, Kaminer & Beyer.

[24]       Böttcher, Bas. „Dichter beim Frühstück. Fünf Poeten im Gespräch mit Karsten Binder.“ RadioBremen: Literaturforum. 15. Juni 2013.

[25]       Klinger, Kerrin und Matthias Müller. „Die Raumkonstrukte der Camera obscura.“ Raumkonfigurationen in der Romantik. Hrsg. Walter Pape. Tübingen: Niemeyer, 2009. 57-71. 57. Selbst Böttcher verwendet die Camera obscura als Metapher für die Textproduktion.

[26]       Berger, John. Ways of Seeing. London: Penguin, 1972. 18.

[27]       Draaisma, Douwe. Metaphors of Memory. A history of ideas about the mind. Übers.Paul Vincent. Cambridge: CUP, 2000. 119.

[28]       Katz, Daniel. The Poetry of Jack Spicer. Edinburgh: Edinburg UP, 2013. 41.

[29]       Spicer, Jack. My Vocabulary did this to me. The Collected Poetry of Jack Spicer. Hrsg. Peter Gizzi und Kevin Killian. Middletown, CT: Wesleyan UP, 2008. 26

[30]       Pinsky, Robert. The Sounds of Poetry: A Brief Guide. New York: Farrar, Straus, and Giroux, 1998. 5.

[31]       Larkin, Philip. „Statement.” Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik Bd. 2. Hrsg. Norbert Miller und Harald Hartung. München: Carl Hanser, 2003. 721.

[32]       Zumthor, Paul. Oral Poetry. An Introduction. Minneapolis: U of Minnesota P, 1990. 118.

[33]       Böttcher. Interview mit Schmitz-Forte.

[34]       Böttcher. Interview mit Schmitz-Forte.

[35]       Vgl. Zumthor 118.

[36]       Böttcher, Bas. „Dokumentation: Bas Böttcher.“ Die Poetry-Slam-Expedition: Bas Böttcher. Ein Text-, Hör- und Filmbuch. Hrsg. Bekes, Peter und Volker Frederking. Braunschweig: Schroedel, 2009. CD-ROM.

[37]       Draaisma 108.

[38]       Algarotti, Francesco. An Essay on Painting. Written in Italian by Count Algarotti. London: Printed for L. Davis and C. Reymers, 1769. 61, 62, 64f, 66.

[39]       Böttcher, „Dokumentation: Bas Böttcher.“CD-ROM.

[40]       Böttcher, Bas. Vorübergehende Schönheit. Dresden: Voland & Quist, 2012. 40-41.

[41]       Zitiert nach Cook, Jennifer Carol. Machine and Metaphor: The Ethics of Language in American Realism. New York: Taylor & Francis, 2007. 28.

[42]       Zitiert nach Wheelock, Arthur K. Jan Vermeer. New York: Harry N. Abrams, 1981. 38.

[43]       Böttcher, Bas. Interview mit Klaus Thies. „Lyrik-Akrobat.“ RadioBremen. 2006.

[44]       Vgl. Hall, Donald. „The Poetry Reading. Public Performance / Private Art.“ American Scholar 54 (1985): 63-77. 74.

[45]       Böttcher. Interview mit Thies.

[46]       Zumthor 29.

[47]       Böttcher, Kaminer & Beyer.

[48]       Siehe Zumthor 183: „Poetry, therefore, is what is received, but its reception is a unique, fleeting, irreversible act, and an individual one, for it is doubtful that the same performance is experienced in an identical manner […] by any two audience members.”

[49]       Bergson, Henri. Creative Evolution. New York: Henry Holt, 1911. 308.

[50]       Bergson 305-306.

[51]       Böttcher, „Schnappschüsse.” Vorübergehende Schönheit 14-15.

[52]       Böttcher, Bas. Interview mit Barbara Zelger und Anja Larch. „Bas Böttchers Bühnenpoesie, Slam Poetry, Poetry Slams. Der 1. deutsche Slam-Poet im Interview.“ Franzmagazine. 26. Oktober 2012. Die Inspiration für den Titel des Gedichtbands „kam von der ganz simplen Situation: Auf meinem Handy habe ich so eine Meldung »vorübergehende Netzstörung«. […] Und auch die Texte – kann man ja sagen – sind nur vorübergehend präsent und wenn der Auftritt endet, sind sie auch wieder weg.“

[53]       Barthes, Roland. Image-Music-Text. Übers. Stephen. Heath. New York: Hill and Wang, 1978. 16-17.

[54]       Böttcher, „Schnappschüsse.” Vorübergehende Schönheit 14-15.

[55]       Bergson 306. Vg; Berger 10.

[56]       Bergson 306.

[57]       Hogekamp, Wolf und Bas Böttcher. Hrsg. Poetry Clips Vol. 1. Lingua-Video. 2005. Siehe auch Porombka, Stephan. „Clip-Art, literarisch. Erkundungen eines neuen Formats (nebst einiger Gedanken zur sogenannten ‚angewandten Literaturwissenschaft’).“ Hrsg. Künzel, Christine und Jörg Schönert. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007. 223-244.

[58]       Böttcher, „Dokumentation: Bas Böttcher.“ Die Poetry-Slam-Expedition. CD-ROM; vgl. Böttcher, Interview mit Schmitz-Forte.

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Dec 07 2014

Anna Rosmus

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Passau: Wieder Tor zum Osten?

11. September. In den USA steht er für die Terrorangriffe der Al Qaida von 2001. In Passau steht er für die Massen, die 1989 aus der DDR kamen. Zumindest auf der internationalen Bühne wälzten sich die Kolonnen damals angeblich spontan und vollkommen überraschend über die Grenzen.
In Wirklichkeit hat sich die Entwicklung freilich über viele Monate hinweg derart systematisch abgezeichnet, dass selbst mir als Studentin klar war, wohin diese Reise geht.

Nachdem Michail Sergejewitsch Gorbatschow 1988 Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets wurde, ermöglichte er den Ländern des Warschauer Pakts, ihre Staatsform künftig selbst zu bestimmen. Im Mai 1989 begann Ungarn, seinen Eisernen Vorhang zu Österreich zu entfernen. Am 4. Juni 1989 fand die erste halbwegs freie Parlamentswahl im Ostblock statt.

Ich mochte “Gorbi”, wie er auch in Passau bald genannt wurde, auf Anhieb und hatte meinen 1988 in Polen adoptierten Hund nach ihm “Mischa” genannt. Als die Passauer Neue Presse in Zusammenarbeit mit der Universität Passau versuchsweise ein Presse-Seminar veranstaltete, hatte uns Dr. Heinrich Gartz aufgefordert, einen Leitartikel zu schreiben. Ich betitelte meinen: “Erst Gorbatschow, und dann?”
Als ich bei Professor Eroms eine Seminar zum Thema Sprache in der BRD und in der DDR belegte, schien dort ein Konsensus zu bestehen, dass die beiden Gesellschaften sich seit dem Mauerbau derart weit auseinander entwickelt hatten, dass es mittlerweile sogar Verständigungsprobleme gab: Nicht nur beschrieben gleiche Begriffe unterschiedliche Inhalte, sondern für gleiche Inhalte gab es unterschiedliche Begriffe. Um diesen Sachverhalt genauer unter die Lupe zu nehmen, konzentrierte ich mich bei der verpflichtenden Seminararbeit die Aspekte Umwelt, Sport, Frauen und Juden.

Weil authentisches Quellenmaterial aus der DDR so gut wie nirgends in der Stadt aufzutreiben war, besorgte ich mir solches umgehend privat. Unter den von mir Befragten waren Menschen wie der renommierte Schauspieler Erwin Geschonneck, den ich bei einer gemeinsamen Tournee mit Berthold Brechts Tochter Hanne Hiob als Überlebenden des versenkten KZ-Schiffes Cap Arcona kennengelernt hatte.

Ich bat auch Akademiker wie die Soziologin Irene Runge, die ich einige Jahre zuvor beim Kongress Europäischer jüdischer Studenten in Brüssel kennengelernt hatte, mir Material zu schicken. Dazu zitierte ich fleißig aus Zeitungen der BRD und aus dem Neuen Deutschland der DDR.
Wie immer ich die Lage betrachtete, von der Entsorgung west-deutschen Problemmülls in der DDR bis hin zur staatlichen Förderung der Synagoge in Ost-Berlin: Sowohl die grenzübergreifende Politik wie auch die örtliche Berichterstattung in beiden deutschen Staaten lief derart rasant aufeinander zu, dass immer mehr Artikel genauso gut im jeweils anderen Land erscheinen hätten können. Der gesamte Trend ließ nur eine Schlussfolgerung zu: Die Mauer verschwindet, und zwar bald!

Populär schien eine solche Vorgehensweise nicht gerade zu sein: Ich war offenbar die Einzige im Seminar, die Kontakt zu Individuen wie auch Repräsentanten in der DDR aufgenommen hatte. “Begleitet” wurde unser Austausch umso intensiver, und zwar von Geheimdienstlern auf beiden Seiten: Nicht einer den an mich adressierten Umschläge erreichte mich intakt. Jeder einzelne war arg lädiert, um nicht zu sagen zerfetzt, und demonstrativ mit breiten, farblich auffallenden Klebestreifen der Bundespost versehen, die besagten, die Sendung sei beim Transport beschädigt worden. Die Kollegen in der DDR arbeiteten zumindest diskreter.

Professor Eroms machte zwar keinen Hehl daraus, dass er meine These für abwegig hielt, er bewertete meine Arbeit aber dennoch mit einer “sehr gut”, – mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass die von mir eingereichten Nachweise tatsächlich zwingend waren.
Als der ungarische Ministerpräsident mit seinem Außenminister am 25. August nach Bonn reiste und angekündigte, die Grenzen zu öffnen, wurden ihnen Mega-Kredite zur Loslösung vom Ostblock zugesichert. Seither ließ die ungarische Regierung immer mehr Ostdeutsche in den Westen reisen. Damals kamen sie mit dem Zug nach Passau, und fuhren weiter in ein Auffanglager.

Am 4. September verständigte das Innenministerium den Passauer Landrat, dass mehrere tausend Flüchtlinge kommen werden. An die 4.000 ehrenamtliche Helfer waren fast für das Bayerische Rote Kreuz im Einsatz. Der ADAC rüstete sich. Alles wurde choreographiert: Von Nachtquartieren bis hin zu Bergen an Kinderspielzeug, Kleidung und Ständen mit Berufsangeboten. Die Stadt glich einem aufgewühlten Ameisenhaufen. Die Stadtwerke legten zehn Kilometer Leitungen. 60 Toiletten und mehrere Telefonzellen wurden installiert. Lastwagen brachten Betten aus München. Im Foyer der Passauer Nibelungenhalle wurden Formalitäten erledigt und im vorderen Bereich wurde Essen ausgegeben. Der “Rest” stand voller Liegen. Auf einem Parkplatz in Vilshofen, ein paar km die Donau hinauf, entstand ein Lager von über 100 Großzelten mit 1.600 Feldbetten. Weitere Ankömmlinge wurden in Zeltstädten bei Hengersberg und Tiefenbach erwartet. Sogar Kasernen in Grafenau, Landshut, Schwandorf und Amberg wurden umfunktioniert. Das ließ sich nicht verheimlichen.

Am 10. September 1989, um 11 Uhr kam die Meldung, dass es losgehe. Um Mitternacht stand die Grenze offen. In Passau und Umgebung wurden Behörden informiert, Fahrgemeinschaften gebildet und heiße Getränke vorbereitet. Die Passauer Neue Presse druckte eine Sonderausgabe mit 24 Seiten voller Angebote zu Wohnungen und Arbeitsplätzen. Offiziellen Angaben zufolge durchquerten allein in den ersten drei Tagen etwa 14.000 Menschen zunächst Österreich. Passau setzte sich als Grenzstadt groß ins Licht. Berufsfotografen erwarteten bereits in der Nacht Autoschlangen und am Grenzübergang Suben bildete sich schnell eine Kolonne. Als erstes Auto rollte der weiße Toyota des Ostberliner Gastwirts Gerhard Meyer über die Grenze, der mit seiner Familie kam. Auch 37 Doppeldeckerbusse brachten Flüchtlinge.

Auch ich zog “mit Kind und Kegel” los, um Ankömmlinge zu treffen. Meine beiden Töchter schenkten anderen Kindern einige ihrer Stofftiere und Kinderbücher. Ich erinnere mich noch heute an die Haufen von Reportern, die alle “über Nacht” in Passau eintrafen und sich zumindest nach außen perplex gaben. Einer der Ersten, die sich aus dem Ausland bei mir direkt meldeten, war Åke Williams, ein Reporter aus Göteborg in Schweden, der seit drei Jahren immer wieder aus/über Passau berichtete. Er wollte mit einem Fotographen kommen und wissen, was in Passau “wirklich” vor sich ging. Offiziellen Darstellungen traute er nicht. Von da an habe ich nicht nur schwedische und amerikanische Journalisten “hinter die Kulissen” geführt.

Was mir im allgemeinen Trara “sauer” aufstieß, waren alte Schlagworte wie “Passau, das Tor zum Osten”.
Im März 1938 waren Passauer Truppen ins benachbarte Österreich einmarschiert. Ein halbes Jahr später waren Passauer Truppen in die benachbarte Tschechoslowakei einmarschiert. 1939 waren Passauer Truppen an der Zerschlagung der Rest-Tschechei und am Einmarsch in Polen beteiligt, nicht zu reden vom Überfall auf die Sowjetunion 1941.

Die von Hitlers Getreuen errichtete Nibelungenhalle mit ihrem Schießanlagen im Zentrum der Stadt hatte schon Mitte der 30-er Jahre der Österreichischen Legion als Trainingszentrum gedient, ehe sie zum Massenquartier für die einmarschierenden Truppen und dann für die ebenfalls strategisch orchestrierte, aber angeblich spontane Massenflucht aus der Tschechoslowakei umfunktioniert worden war. Passau hatte sich damals nicht nur als “Tor zum Osten” feiern lassen, sondern einen gigantischen Torbogen als Wahrzeichen der Stadt geplant. Der ausgebliebene Endsieg und das Eintreffen der Alliierten hatten dies freilich verhindert.

Auch Ungarn war kein unbekannter Faktor. Einer der ersten Partner bei jenem Aufbruch in den Osten war der ungarische Reichsverweser von Horthy gewesen. Noch ehe dieser beim Führer in Berlin eingetroffen war, hatte ihn Passau zeremoniell willkommen geheißen. Nachdem Imre Nagy im Ungarischen Volksaufstand vom Herbst 1956 erklärt hatte, dass Ungarn den Warschauer Pakt verlasse und die sowjetischen Soldaten zum Verlassen des Landes aufforderte, waren zwar hunderte Aufständische hingerichtet und andere interniert worden, aber eine Massenflucht ergoss sich über Österreich in den Westen. 1957 hatte die Stadt Passau ihretwegen das 1933 Albert Leo Schlageter gewidmete Kreuz auf dem Hammerberg mit einem Stephanskreuz ersetzt. Das damals von Flüchtlingen gegründete Orchester Philharmonia Hungarica wurde von der Bundesrepublik subventioniert und erreichte den Rang eines Staatsorchesters. International mochte das alles zwar weitgehend in Vergessenheit geraten sein, aber in Passau war die Erinnerung an diese “glorreichen” Tage geradezu peinlich schnell erwacht.

Und 1989 fand Deutschland auch einen Grund, den 9. November, der bislang als Jahrestag des fehlgeschlagenen Hitlerputsches von 1923 und der berüchtigten Reichspogromnacht von 1938 vielen ein Dorn im Auge war, legitim zu feiern: Mit Gorbatschows Segen stand die Mauer nämlich jetzt auch in Berlin offen. Drei Tage später stürzte der seit 1954 amtierende KP-Chef in Bulgarien, und unmittelbar darauf begann die Samtene Revolution.
Als Michael Verhoeven’s Film Das Schreckliche Mädchen im Frühjahr 1990 bei der Berlinale Premiere hatte, lief der Film als erster deutscher Beitrag sowohl in West- wie auch in Ostberlin. Michael Verhoeven, der in Berlin studiert hatte, und Lena Stolze, die in der DDR aufgewachsen war und “mich” spielte, gingen damals mit mir vom Westen zu Fuß durch das Brandenburger Tor in den Osten, und ich erinnere mich bis heute, wie krass unterschiedlich die Publikumsreaktionen vor allem zu jenen in den USA waren. Was für viele Amerikaner nach wie vor zum Schieflachen komisch ist, machte dort hautnah betroffen. Die Überwachung, einschneidende Bevormundung, Isolierung und das daraus resultierende Risiko des Individuums, das von der Staatsdoktrin offen abwich, war allzu real und gegenwärtig, um darüber lachen zu können.

Auch weil ich aus der Grenzregion komme, polnische wie tschechische Vorfahren hatte und mich schon so lange intensiv mit der Rolle Deutschlands im Dritten Reich beschäftigte, wurde ich immer wieder zu Filmfestivals und anderen grenzübergreifenden Veranstaltungen eingeladen.
Als Barbara Stamm im Herbst 2014 in Vilshofen die Ausstellung 25 Jahre Tor zur Freiheit eröffnete, hieß es, dass allerhand Fotos, Dokumente und sonstige Erinnerungsstücke an den Spätsommer 1989 erinnerten, “als das Passauer Land im Mittelpunkt des weltpolitischen Geschehens stand.”

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Dec 07 2014

Gabriele Eckart

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Im deutschen Fadenkreuz der jüdischen Selbstfindung — Vorwort zu Gabriele Eckarts Interview mit der Schriftstellerin Irina Liebmann

 Die deutsch-jüdische Wahlverwandtschaft, von der Heinrich Heine einst in seinem Pariser Exil geträumt hatte, war im Dritten Reich zu einer deutsch-jüdischen Qualverwandtschaft geworden und hatte sich zum real-surrealen Alptraum Europas ausgewachsen, dessen post-traumatische Symptome auch heute noch so manche Lebensgeschichte auf nachhaltige Weise prägen. Jüngstes Beispiel dafür ist ein Interview, das Gabriele Eckart mit Irina Liebmann führte. Beide sind sie in der Deutschen Demokratischen Republik aufgewachsen und haben sich bereits früh als Schriftstellerinnen profiliert. Während Eckart 1987 in die Bundesrepublik überwechselte und schon ein Jahr später in die Vereinigten Staaten auswanderte, ist Liebmann in Deutschland geblieben und lebt heute in Berlin.

Gabriele Eckart befragt in ihrem Interview mehrfach Irina Liebmann nach ihrer jüdischen Identität, wobei letztere wiederholt zwiespältig antwortet. Einerseits assoziiert Liebmann in einem ihrer Bücher ihr kritisches Bewusstsein mit ihrem „jüdische[n] Widerspruchsgeist“, und auf die Frage nach ihrer Haltung in gewissen Dingen antwortet sie: “Da bin ich dann durchaus die Tochter einer deutschen Familie preußischer Juden aus Oberschlesien und einer russischen Intellektuellenfamilie aus der Sowjetunion – aufgewachsen in der DDR.“ Andererseits reagiert sie mehrfach ungehalten auf Fragen nach ihrer jüdischen Identität. So meint sie zum Beispiel an einer Stelle: „Diese Fokussierung auf das ‚Jüdische“ empfinde ich als ideologisch. Nein, ich verzichte auf Völkerpsychologie.“ Am bezeichnendsten ist wohl ihre folgende Antwort auf die Frage nach ihrer Herkunft: „Halbrussin – Halbjüdin, darf man mal wissen, bis wohin die Hälften reichen? Natürlich beeinflusst meine Herkunft meinen Blick, da lege ich auch großen Wert darauf, aber für die konkrete Situation mitten in Deutschland, Europa, Berlin sensibel zu sein, hat wenig mit Blut- und Identitätsgewurstel zu tun.“

Für diese explizite, wenn nicht gar sarkastische Abwehr gibt es zweifellos historische und mentalitätsgeschichtliche Gründe. Der mehr oder weniger unterschwellige Antisemitismus der DDR war ein dumpfer, abgründiger Nachhall des stalinistischen und vor allem nationalsozialistischen Antisemitismus. Irina Liebmanns zwiespältiges Verhältnis zu ihrer halbjüdischen Herkunft hat sicherlich viel mit der Gewaltherrschaft dieser beiden totalitären Staatssysteme zu tun und dem langen, geschichtlichen Schatten, den sie auf die Nachgeborenen werfen. Einerseits fühlte sie sich vor dem Fall der Berliner Mauer wohl eher zur Vertuschung ihrer jüdischen Herkunft genötigt, andrerseits fand sie sich nach dem Fall der Mauer in einer Lage, die eine Wiederentdeckung ihrer jüdischen Herkunft geradezu ermutigte. Der Philosemitismus der sogenannten Gutmenschen jener deutschen Wendejahre war ein nicht unwesentlicher Teil ihres Zeitgeistes. Und nicht zuletzt war es vor allem die damalige, kontinuierliche Einwanderung russischer Juden ins wiedervereinigte Deutschland, welche die jüdischen Gemeinden der Bundesrepublik auf erstaunliche Weise neu belebte und ein neues Bewusstsein für die jüdische Kultur mit sich brachte. Von dem erstaunlichen Boom der deutschen Klezmermusik, die Berlin für Jahre zur internationalen Hauptstadt der jiddischen Volksmusik machte, hier einmal ganz zu schweigen. Wie man es auch drehen und wenden mag, das gelebte, jahrtausendealte Judentum mit seinen reichen, mannigfaltigen Kulturtraditionen ist weitaus mehr als ein biologisch-ideologisches Konstrukt der totalitären Moderne.

„Sie muss den Faden finden“, so bezeichnet Liebmann die Aufgabe ihrer Protagonistin in ihrem Roman Freie Frauen und meint damit die Suche ihrer Heldin nach ihrem verlorenen Sohn. Auch Liebmann identifiziert sich mit dieser Suche nach menschlichen Beziehungen und verwandtschaftlichen Zusammenhängen, wenn sie sagt: „Wir müssen den Faden finden … Alles ist zerschnitten, verworren, verdreht, und meine Aufgabe ist es, den Faden wieder zu finden. Lebensfaden. Aufwickeln.“ Das Gespinst der Lebensfäden, die Gespenster der verfolgten und verlorenen Verwandten, all dies erinnert Eckart an die schwarzromantische Spukliteratur in der Tradition E.T.A. Hoffmanns. Dieselbe Gespensterwelt beschwört auch die Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger in ihrer Bestseller -Autobiografie Weiterleben. Eine Jugend herauf, und auch Irina Liebmann assoziiert das zerrissene Netzwerk ihrer Lebens- und Familiengeschichte mit dieser dunklen Spukwelt des heimatlich Unheimlichen.

Im Gegensatz zur deutsch-jüdischen Schauergeschichte der Alten Welt zeigt sich die jüdisch-amerikanische Lebenserfahrung in der Neuen Welt in einem ganz anderen Licht. Die uralten stereotypischen Vorstellungen von jüdischem Witz und jüdischer Weisheit finden sich in Amerikas zahlreichen jüdischen Wissenschaftlern und Nobelpreisträgern sowie in den vielen Erfolgsgeschichten jüdischer Unterhalter und Schauspieler vom Broadway bis nach Hollywood immer wieder von neuem bestätigt. Diese Tatsache wird von der breiten amerikanischen Öffentlichkeit weder biologisch noch ideologisch kommentiert, sondern mehr oder weniger als selbstverständlich zur Kenntnis genommen. Schon seit langem feiert dieses Land seine Berühmtheiten, angefangen von Groucho Marx bis Albert Einstein, um nur zwei ikonische Beispiele zu nennen, für ihre jüdische Komik und Genialität.

Was die ethnische Identität betrifft, so ist in der Neuen Welt das Modell des Schmelztiegels längst dem Vorbild der Salatschüssel gewichen, die in ihrem bunten Mischmasch die multikulturelle Vielfalt ihrer Bevölkerung anschaulich versinnbildlicht. Seit dem nachhaltigen gesellschaftlichen Wandlungsprozess der siebziger Jahre stehen Parolen wie „Gay Pride“ und „Black is Beautiful“ für die fortschreitende Emanzipation von Minderheiten, die jahrhundertelang verachtet, unterdrückt und verfolgt worden waren. Ein Paradebeispiel dafür ist die flamboyante Sängerin und Schauspielerin Cher, die sich selbstbewusst als „part Armenian, part Cherokee“ identifiziert. Anders gewendet, das einstige amerikanische Ideal des WASP (White Anglo-Saxon Protestant) hat längst seine Allgemeingültigkeit verloren. Mel Brooks, einer der bekanntesten jüdischen Schauspieler und Filmregisseure, hat dieses neue Selbstbewusstsein von gesellschaftlichen Minderheiten, diese cross-cultural montage diverser Traditionen und Konventionen, wohl am treffendsten auf den Nenner gebracht, wenn er einmal sinngemäß meinte, dass es ohne Juden und Schwule keinen Broadway und kein Show Business gäbe.

Die deutsche Kulturgeschichte kann auf eine noch weitaus längere, kreative Symbiose deutsch-jüdischer Dichter, Denker und Künstler zurückblicken, angefangen von Heine über Kafka und Freud bis zu Kurt Weill, den Comedian Harmonists sowie zahlreichen anderen deutsch-jüdischen Künstlern der Weimarer Republik und nicht zuletzt den kritischen Vordenkern der Frankfurter Schule. Am Ende der Weimarer Republik war ein ganzes Drittel der deutschen Nobelpreisträger jüdischer Abstammung. Es ist fürwahr eine illustre Galerie von Geistesköpfen, ehe diese Vorbilder der deutschen Kultur im Dritten Reich zu Zielscheiben des Spottes wurden und das jüdische Volk insgesamt einer Ächtung, Verfolgung und grenzenlosen Vernichtung ausgesetzt war, deren abgründiges Ausmaß jeglicher Beschreibung spottet.

Lebensfaden“ und „Völkerpsychologie“: Das unzweideutige Bekenntnis zur eigenen Herkunft, den berechtigten Stolz auf die einzigartigen Leistungen seines eigenen Volkes – jahrtausendelanger Verfolgung zum Trotz – mit dem faschistischen Rassenwahn in Verbindung zu bringen und als Altlast seiner mörderischen Ideologie abzutun – wäre das nicht der endgültige Sieg des Dritten Reiches über die letzten Überlebenden seiner „Endlösung“?!

Frederick A. Lubich

 

“Wir müssen den Faden finden”: Ein Gespräch mit Irina Liebmann

1. Ich mag dein Buch Wäre es schön? Es wäre schön! Mein Vater Rudolf Herrnstadt, für den du 2008 den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen hast. Deiner Lesart nach war Herrnstadt der kommunistische Phantast im Kampf gegen Ulbricht und seine Hausmacht, die eiskalte Machtpolitiker waren, Paranoiker. Ich musste beim Lesen an Cervantes’ Don Quichotte denken, mein Lieblingsheld in der Literatur: dein Vater ein Ritter, der gegen Windmühlenflügel kämpft und zerschmettert wird, so siehst du ihn. War Dir die Ähnlichkeit Deines Vaters mit Don Quichotte beim Schreiben bewusst?

I.L: Der Kampf gegen den deutschen Faschismus war zu keiner Zeit eine Donquichotterie. Auch wenn viele Menschen dabei oft so herzzerreißend schlecht ausgestattet waren wie der spanische Junker. Und es waren eben Krieg und deutscher Faschismus, die das Handeln meines Vaters bestimmt haben. Der Erste Weltkrieg beherrschte seine Jugend, der Aufstieg des Faschismus und der Zweite Weltkrieg beherrschten seine späteren Lebensjahre.
Auch die heute als absurd empfundene Absicht, auf den Trümmern des verlorenen Krieges ein ganz neues und besseres Deutschland aufzubauen, ist nur aus dieser Vorgeschichte zu verstehen.
Dass dieses vermeintlich bessere Deutschland von einem Unterdrückungssystem aus der Wiege gehoben wurde und bald auch nach seinem Bilde geformt, liegt daran, daß es eben vor allem die von Kommunisten geführte Sowjetunion war, die das Hitlerregime zerstört hatte, was die Kommunisten weltweit in ihrem Geschichtsbild erst einmal bestätigte. Ohne die Sowjetunion hätten die deutschen Kommunisten sich über ein neues, linkes Deutschland gar keine Gedanken zu machen brauchen.
Als einen Don Quichotte sehe ich meinen Vater eher in seinen letzten Jahren im Apparat der SED, das sind acht Jahre. Nur die idealistische Verklärung des wirklichen Zustands der Sowjetunion und eine völlige Unterschätzung dessen, wie Apparate funktionieren, konnte ihn, einen individualistischen Intellektuellen, dazu verführen, sich da zum Ratgeber und Weltverbesserer aufzuschwingen.

 

2. Die ersten sowjetischen Kulturoffiziere, die 1945 nach Berlin kamen, waren in deinen Augen ähnliche Phantasten; sie wurden dann rasch abgelöst von den Apparatschiks; du benutzt den Ausdruck “Ritter aus Absurdistan” für diese Kulturoffiziere – glaubst du, der Ausdruck würde auch auf deinen Vater passen?

IL: Ich betrachte die sowjetischen Kulturoffiziere für die erste Zeit ihres Wirkens gar nicht als Phantasten. Da waren sie noch für eine kurze Zeit getragen von der Hoffnung, nach den Opfern des Krieges würde es in der Sowjetunion eine gesellschaftliche Erneuerung geben. Das wurde damals dort allgemein erwartet. Die „Begegnung an der Elbe“ zwischen sowjetischen und amerikanischen Soldaten schien außerdem ein neues Zeitalter der Freundschaft und Verbrüderung zu eröffnen. Sie lebten in einer ganz neuen, zerbrechlichen Realität: Hitler kaputt – Alliierte verbrüdert – dem deutschen Volk wird jetzt geholfen mit humanistischen Werten. Zumal sie hier in Deutschland Freiheiten bekamen, die sie in der Sowjetunion nicht gehabt hatten. Nicht deswegen nenne ich sie „Ritter aus Absurdistan“, sondern, weil ihre Botschaft in ihrem Hinterland auch in der neuen Situation nach Kriegsende nicht Realität wurde. So ergibt sich der Eindruck imaginärer Ritter. Und doch ist ja auch Don Quichottes Botschaft unsterblich geblieben. Und er hat das gewusst.

Übrigens wird es uns vielleicht schon bald ähnlich ergehen. Denn wie damals, im Jahr 1947, fällt auch jetzt gerade zwischen Ost und West wieder ein Vorhang, und hier wie dort könnte es sein, dass man Menschen wie uns, die 1989 an ein neues und besseres Kapitel der Ost-West- Beziehungen glaubten, für Phantasten hält.

 

3. Was mir gefällt, ist, du schreibst an gegen beides: gegen die Verurteilung deines Vaters in der DDR zu einem Parteifeind und gegen seine Reduktion im Westfernsehen auf einen Parteijournalisten – du führst einen Zweifrontenkrieg und forderst ein differenziertes Bild, das deinem Vater als Mensch gerecht wird. War das dir so von Anfang an beim Schreiben des Buchs bewusst oder ergab es sich erst beim Recherchieren?

I.L: Dieser „Zweifrontenkrieg“ war mir von Anfang an bewusst. Aber ich bin nicht die Einzige, die inzwischen feststellen muss, dass das Bemühen um eine differenzierte Sicht auf unsere Geschichte bisher vollkommen erfolglos war. Der Kalte Krieg hat in Wirklichkeit nie aufgehört. Neuerdings denke ich so. Nur so gesehen wird verständlich, warum unsere Zeitgeschichtsschreibung aus der Schwarz-Weiß-Malerei nicht herauskommt.

 

4. Du betonst, dass dein Vater ein gläubiger Mann war, gläubig an die sogenannte “Sache” – das erinnerte mich beim Lesen an die Geschichte der katholischen Kirche, die Parteireinigungen mit all den Toten erinnerten mich an die Inquisition. Stalin war der neue große Inquisitor, viele seiner Opfer, wie du zeigst, waren Juden – wie damals in Spanien ja auch. Siehst du auch den Kommunismus aus dem Abstand der Jahre als eine Religion?

I.L: Ja. Der Kommunismus als Instrument der Machtergreifung und Machterhaltung in patriarchalen Gesellschaften hat Züge einer Religion entwickelt. Das ist inzwischen vielfach untersucht. Als Idealvorstellung eines friedlichen Zusammenlebens von Menschen auf der Grundlage von gemeinschaftlich verwaltetem Eigentum gehört er zu den alten Menschheitsträumen.
In matriarchalen Gesellschaften waren und sind Lebensvorstellungen, die wir als kommunistisch bezeichnen, selbstverständlich. Da fehlen dann natürlich alle Verwaltungs- und Wissenschaftsaspekte der Moderne.

 

5. Ich mag an allen deinen Büchern, dass du so interkulturell bist: manche deiner Texte spielen in Transiträumen, in Polen, in Russland. Du sprichst Russisch, bist als Deutsche Halbrussin und auch Halbjüdin; obwohl dein Hauptthema in mehreren Büchern die Stadt Berlin ist, siehst du dieses Territorium mit einem fremden Blick, dem der Maria aus Kasan zum Beispiel, und siehst damit viel mehr, als wenn du nur “auf Deutsch” gucken würdest. In der DDR musstest du diesen Drang in die Weite und zum Perspektivenwechsel unterdrücken, aber er stak schon in dir drin. Hattest du deshalb nach dem Abitur Chinesisch studiert?

IL: Es stimmt, ich bemühe mich um Weite, um das Verbindende, wo so viel getrennt wurde, in unserem Leben. So würde ich das nennen. Und da bin ich nicht die Einzige. Menschen, gerade eingesperrte Menschen haben immer die Weite gesucht, den Geist, dafür müssen sie durchaus nicht halb dies und halb das sein. Halbrussin – Halbjüdin, darf man mal wissen, bis wohin die Hälften reichen?

Natürlich beeinflusst meine Herkunft meinen Blick, da lege ich auch großen Wert drauf, aber für die konkrete Situation mitten in Deutschland, Europa, Berlin sensibel zu sein, hat wenig mit Blut- und Identitätsgewurstel zu tun. Andere Autoren haben da auch Gefühle und reisen auch in Transiträumen umher. Auch muss mir jemand dann mal erklären, wie man „auf Deutsch“ guckt, und was für ein Deutsch das dann wird.

 

6. Warum hattest du nach dem Studium mit Chinesisch nicht weitergemacht?

IL: Ich glaubte, nach dem Sprachstudium würde ich nach China fahren können, und nach Asien überhaupt. Aber im zweiten Studienjahr verschlechterten sich die Beziehungen der DDR zur Volksrepublik China. Wir bekamen alle keine Arbeit als Sinologen und ich verlor die Sache aus den Augen. Ich wollte ja auch schreiben.

 

7. In deinem Text Die freien Frauen geht es um einen Transitraum zwischen verschiedenen Kulturen, polnisch, jüdisch, deutsch, ein Bahnhofscafé in Kattowice, und dabei passiert es, dass auch die Zeiten durcheinander geraten. Die Jahre vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, in denen du tragischen Aspekten der Familiengeschichte nachforschst, vermischen sich mit der DDR-Zeit und mit heute. So wie in diesem Text ist ein bestimmter Raum oft die Achse, um die sich deine Erinnerungen, Nachforschungen und Reflexionen drehen. Außer in dem Herrnstadt-Buch, in dem du um ein differenziertes Bild deines Vaters ringst, ist es immer ein bestimmter Raum (ein Café, ein Wohnhaus, eine Straßenecke, ein Bahnhof), der deine Schreiblust auslöst; sehe ich das richtig?

IL: Ja, das hast du gut bemerkt. Ich brauche einen poetischen Ort für meine Phantasie. Und in der Gegend um den Hackeschen Markt habe ich ihn sehr früh gefunden. Diese Gegend ist für mich nach wie vor magisch und ich werde weiter darüber schreiben.

8. Ein Raum, der dich stark anzieht, scheint auch das Archiv zu sein. Als ich in Stille Mitte von Berlin las, wie du in der Bibliothek sitzt und feststellst, wieviel von der jüdischen Geschichte Berlins unter den Teppich gekehrt worden ist, kommst du mir wie eine Archäologin vor, die über Scherben sitzt und sich fragt, warum so viele fehlen. Sogar in Grundstückbauplänen suchst du. Es erinnert mich an Sebalds Vorgehensweise; hast du etwas von ihm gelesen und magst du ihn?

IL: Sebalds Bücher kenne ich nicht. Die genaue Recherche – egal wo – gehört für mich zu einer ordentlichen Arbeit. Sie ist produktiv und bewahrt einen vor Klischees.

 

9. Zurück zu deinem Herrnstadt-Buch: Es ist zum einen eine Liebeserklärung an deinen Vater, der Chefredakteur des Neuen Deutschland war und 1953 von Ulbricht und seiner Clique gestürzt wurde, weil er mehr Demokratie verlangte. Und es ist zugleich eine ziemlich scharfe Kritik an ihm. Zum Beispiel erinnerst du ihn daran, dass er 1952, anlässlich der Slansky-Prozesse in Prag, im Neuen Deutschland die Darstellung der Prozesse durch die Partei gerechtfertigt hatte, nämlich, dass Lansky und seine Genossen “Verräter” gewesen wären. Du schreibst: “Ein Quadratmeter Lügen, und die hat er drucken lassen, er! Wird es ihm langsam klar?” Einer der 1952 in Prag Hingerichteten, Ludvik Freijka, war sogar sein Jugendfreund gewesen. Was verhinderte, dass dein Vater in diesem Moment für immer ein Apparatschik wurde, so einer wie die anderen? Er war ja in diesem Moment ganz nahe dran. Warum kehrte er zu seiner journalistischen Anständigkeit zurück? War es das Jüdische in ihm oder was war es?

IL: Ich glaube, das eine folgt aus dem anderen. Zuerst kommt die brave und parteikonforme Wiedergabe der „Dokumente“ des „Verrates“ der Prager Kommunisten. Da muß auch Angst dabei gewesen sein, daß er selbst in Gefahr sein könnte (was tatsächlich so war, heute wissen wir es). Und gerade der Ekel, den das erzeugt haben muß, wird dann wieder ein Motor dafür gewesen sein zu rebellieren. Ob es „das Jüdische in ihm war“? Was soll denn „das Jüdische“ sein?

 

10. Du beschreibst eindrucksvoll die Kälte, mit der die KPD-Führung schon in der Emigration in Moskau Rudolf Herrnstadt behandelte und vermutest, das hänge mit seiner Herkunft aus dem Bürgertum zusammen, die ja sichtbar war an seinen Manieren, Anzügen, Hüten und seiner Weltläufigkeit. Die anderen, Ulbricht und Co., schreibst du, waren Kleinbürger, beschränkt; sie hatten es nicht einmal geschafft, Russisch zu lernen in all den Jahren der Emigration. Du vermutest, der Sozialneid ist ein Grund für diese Kälte, damit der Neid auf Herrnstadts Bildung. Ich vermutete beim Lesen etwas ganz anderes. Es war Antisemitismus. Die KPD-Mitglieder kamen aus Deutschland, sind dort antisemitisch sozialisiert worden, vielleicht war ihnen das nicht bewusst, aber es war so, und Herrnstadt war Jude! Sie interpretierten sein Anderssein rassistisch und reagierten entsprechen distanziert. Ist es möglich, dass das stimmt?

IL: Du meinst, es war Antisemitismus, der die Kälte gegen Herrnstadt in Moskau entstehen ließ. In meinen Augen war er ein Mann, den die sowjetischen Funktionäre den deutschen kommunistischen Emigranten vor die Nase setzten. Ein Mann, von dem sie noch nie etwas gehört hatten, und der nicht aus ihrem Apparat kam. Dort misstraute einer dem anderen und sie waren alle zerstritten. Nein, ich glaube nicht, dass du Recht hast.

 

11. Du benutzt an einer Stelle in deinem Russlandbuch den Ausdruck “mein jüdischer Widerspruchsgeist.” Ich habe das Gefühl, erst nach der Wende, während deiner Forschungen über deine Familiengeschichte, entstand dieser Geist. Der Widerspruchsgeist war vorher da, aber wurde er nicht erst jüdisch nach der Wende?

I.L: Warum sollte denn mein Widerspruchsgeist, der immer schon da war, nach der Wende jüdisch geworden sein? Weil ich da endlich mein Judentum frei entfalten konnte und alle meine (selbstverständlich guten) Eigenschaften endlich als „jüdisch“ erkennen?
Ich habe nicht versucht, mich nach dem Mauerfall über Volk, Blut oder Religion neu zu definieren. Identität ist für mich die Übereinstimmung dessen, was ich zu sein vorgebe und anstrebe mit dem, was ich als Person bin, und das verantworte ich selber. Haltung.

Da bin ich dann durchaus die Tochter einer deutschen Familie preußischer Juden aus Oberschlesien und einer russischen Intellektuellenfamilie aus der Sowjetunion – aufgewachsen in der DDR.

Das gerade, das Leben dort, die Widersprüche unserer Zeit, unseres Landes, aber auch unsere Bildung, unsere Erziehung zum Denken in Widersprüchen – erinnere Dich bitte! – sie war auch produktiv. Gerade, weil diese Bildung uns zum Denken, auch zum politischen Denken führte und dieses Denken gleichzeitig wiederum reglementieren wollte. Das unterscheidet ehemalige Bürger der DDR bis heute von Bürgern der alten Bundesrepublik – der Widerspruchsgeist. Und das sollte dann plötzlich vom Blute bestimmt gewesen sein? Unverrückbar, gottgegeben?! Welch geistige Enge!

Denk an deine Geschichte, du warst doch selbst der personengewordene Widerspruch. War dieser Widerspruchsgeist dann „deutsch“? „Arisch“?

Was ich über meinen „jüdischen Widerspruchsgeist“ in dem Rußland-Buch schreibe, ist   ironisch gemeint, da meine Zimmerwirtin in Moskau ja so viel Angst vor den Juden hatte.

 

12. Dieses unterschwellig Antisemitische unter den Kommunisten in Moskau setzte sich, wie du zeigst, bis später fort. Die in den Slansky-Prozessen in der ČSSR Verurteilten waren auch zumeist Juden. Du schreibst: “Juden waren gut genug, die Kastanien für Moskau aus dem Feuer zu holen, nun waren sie gut genug, Blitzableiter zu sein.” Wie jeder weiß, gab es nach den Ärzteprozessen in Moskau einen starken politischen Druck auf die jüdischen Gemeinden der DDR. Dieser Druck löste 1953 eine jüdische Fluchtwelle in den Westen aus, Julius Meier zum Beispiel und 500 andere Juden, aus der ganzen DDR. Wann war in deinem Leben etwa der Punkt, an dem dir die Augen aufgingen für das Antisemitische in der kommunistischen Bewegung? Wie alt warst du?

IL: Die Kommunistische Bewegung hat mich erst interessiert, als sie gescheitert war, das war ziemlich spät.

Als Kind und Jugendliche lebte ich in der ostdeutschen Provinz. Von den Nöten der jüdischen Gemeinden erfuhr ich dort gar nichts. Antisemitismus habe ich in dieser Zeit nur in Äußerungen meiner Mitschüler erlebt. Nicht gegen mich, sondern es waren die alltäglichen Gehässigkeiten der deutschen Bevölkerung gegen Juden, Polen, Russen und Kommunisten. Volksmund der Nazizeit sozusagen. Übrigens immer nur halblaut und mit dem Zusatz: „Man darf ja nichts sagen“. Kommunistenkinder waren in meiner Kindheit und Jugend ab dem Alter von zehn Jahren nicht mehr dabei. Es war ja die deutsche Provinz, in der ich aufwuchs, seit wir aus Berlin fort mussten.

 

13. In deinem Band Die schönste Wohnung hab ich schon, was soll denn jetzt noch werden beschreibst du den Antisemitismus heute, in der Nachwende-Zeit. Es gibt ein Gedicht mit dem Titel “Es saßen drei Leute mit mir am Tisch.” Darin beschreibst du ein Gespräch von drei Männern auf einem Schiff über die Frage in Berlin leben oder nicht. Einer, ein Berliner aus der Hamburger Straße, also aus dem Ostteil der Stadt, sagt, er könnte hier nur noch bleiben, wenn er alle “Arschgesichter” vertreiben dürfte und meint damit vor allem Juden. Vor der Wende wurde das nicht so direkt gesagt, aber der Antisemistismus war da. Man spürte ihn. Ich spürte ihn deutlich, als ich den DEFA- Film Hotel Polan und seine Gäste sah, der Anfang der achtiger Jahre im DDR-Fernsehen lief. Das war purer Antisemitismus, zwischen den Zeilen, versteckt, aber deutlich spürbar. In Stille Mitte von Berlin erwähnst du das “Gefühl von Peinlichkeit und Beklommenheit”, das das Wort jüdisch zu DDR-Zeiten in Dir auslöste. Ist es möglich, dieses Gefühl genauer zu erklären?

IL: „Arschgesichter“! Warum beziehst Du das auf Juden? Nach der Grenzöffnung strömten Massen von Menschen nach Berlin – Mitte, Tag und Nacht, die bisherigen Bewohner der Straße hatten die Nase voll von allen, die da kamen, sie waren überfordert, sie konnten nicht mehr – sie waren mit ihren Kräften am Ende, da war jeder ein „Arschgesicht“. Und der Ausruf am Ende ist nicht feindlich, er ist überrascht. Er entspannt eigentlich eine Situation, weil da einer sagt, was er denkt:“ Mensch, du siehst ja wie ein Jude aus!“ Die Antwort könnte sein: “Na und?“ Das wäre vielleicht Normalität.

Der unterschwellige Antisemitismus in der DDR war wie gesagt durchaus spürbar. Es war manchmal unheimlich, in einer Kleinstadt z.B. zu recherchieren und abends allein in einem Wirtshaus zu sitzen. Da konnte man es mit Händen fassen, dass es das alte Reich war, wo ich saß, eben dieses Nazideutschland, wo ungeheure Verbrechen beinahe widerspruchslos geschehen waren.

Ich empfinde es bis heute sehr stark, dass ich mich in dem einzigen Land Europas befinde, das den Sieg der Alliierten 1945 nicht als Befreiung empfand, nicht als Freude, sondern als Unglück, als Tiefpunkt der eigenen Geschichte. Das haben auch die aus den Konzentrationslagern und der Emigration zurückgekehrten Antifaschisten von Anfang an schmerzlich empfunden, die ja einen neuen Staat aufbauen sollten. Sie waren eine winzige Minderheit. Ohne die Besatzungsmächte wären sie ein Nichts gewesen, und sie mussten sich oft selber zwingen, mit Menschen zu arbeiten, von denen sie einige Jahre zuvor noch ins Zuchthaus gebracht worden wären oder ins Lager. Daher auch wurde so hart mit gleicher Münze zurückgezahlt. Brechts Vorschlag 1953 an die Parteiführung, sich ein anderes Volk zu wählen, hat diesen makabren Hintergrund.

Ja, in einem abgeschlossenen, dumpfen Land zu leben, auf einer sehr dünnen Decke von Aufklärung, ohne die so bitter nötige Offenheit über das alles – das wurde mir gerade in der deutschen Provinz oft mit Schrecken klar. Dort bin ich ja aufgewachsen, das kann ich beurteilen, dieses Dunkle unter unseren Füßen. Und als ich dann durch die Bundesrepublik reisen konnte, da sah ich in den gleichen alten Wirtshäusern an den Wänden häufig auch noch Fotos der alten Vereine, mit Orden und Ehrenzeichen – die hatten in den Ostkneipen gefehlt, weil sie verboten waren. Wenn ich dann höre, wie unbefangen Du mich als Halbjüdin bezeichnest, kommt diese Erinnerung wieder hoch.

 

14. Gut gefällt mir auch an deinem Herrnstadt-Buch, wie du hin-und herschwingst zwischen “Herrnstadt” und “mein Vater” oder “Rudi” oder sogar ironisch “Towarisch Gernstadt”, wenn du über ihn in der 3. Person berichtest; und auf der anderen Seite steht die Anrede: “Papa”. Der Ton ist einerseits dokumentarisch und andererseits ganz persönlich. Die tollste Stelle ist für mich, wenn du ihm in direkter Rede deine Entrüstung mitteilst darüber, dass im Gründungsdokument des Nationalkommittees Freies Deutschland sein Name fehlt: “Angeschissen wieder mal. Sie haben dich angeschissen, Papa.” Es überrascht dich sehr, aber du fragst nicht nach dem Grund, warum sein Name weggelassen worden war. Mich hat es beim Lesen nicht überrascht, denn die KPD Führung in Moskau hatte ja ein Auge zugedrückt gegenüber Kriegsverbrechen der deutschen Kriegsgefangenen, wenn sie nur im Nationalkommitee mitmachen wollten. Meiner Meinung nach haben Ulbricht und seine Clique Herrnstadt damals “angeschissen”, weil sie keinen jüdischen Namen im Gründungsdokument des Nationalkommittees haben wollten, es sollte arisch aussehen, so arisch wie möglich. Das war eiskalt kalkuliert, von den Russen und von Ulbricht, keine Vergesslichkeit. Dass Herrnstadt selbst in den Gefangenenlagern war und viele Kriegsgefangene für das Nationalkommittee geworben hat, galt nicht. Sehe ich das übertrieben?

IL: Du forderst hier mit Vehemenz eine Antwort ein, die ich Dir nicht geben kann. Ich war nicht dabei. Was ich weiß, ist: Die KPD hatte in Fragen der Kriegführung nicht das letzte Wort, das letzte Wort hatten die sowjetischen Offiziere. Die führten den Krieg, die standen mit dem Rücken an der Wand, die brauchten eine Entlastung an der Front, und nur deshalb kam überhaupt die Idee auf, deutsche Soldaten und Offiziere zu finden, die bereit waren, endlich gegen Hitler zu kämpfen und so das Zögern des deutschen Generalstabes in der Richtung zu beeinflussen, dass sie den Krieg beenden. Der Krieg war ja nach der Schlacht von Stalingrad im Osten nicht mehr zu gewinnen. Die Frage der Kriegsverbrecher wurde daher mit Sicherheit auch pragmatisch entschieden. Solange man einen berühmten General von Seydlitz brauchte, durfte er mitarbeiten und wurde unterstützt, als er unbequem wurde, erinnerte man sich an die Kriegsverbrechen der 6. Armee unter seiner Führung. Moralisch ist die Sache natürlich verwerflich. Aber Moral muss man sich leisten können. Denn in Wirklichkeit waren sie alle Kriegsverbrecher. Bei der kolonialen Kriegführung der Wehrmacht im Osten gab es zu keiner Zeit Gründe, das anders zu sehen. Deine Frage klingt jedoch danach, als ob es weiß Gott genug Menschen gegeben hätte, die „rein“ in die Gefangenschaft kamen, und nur die Kommunisten haben wieder mal die Falschen sich ausgesucht?

Eine im Großen und Ganzen „saubere Wehrmacht“ also? Nein, es galt, den Krieg zu beenden. Das Gründungsdokument im Juli 1943 zielte auf die deutschen Offiziere im Generalstab. Auf deren Schreibtischen sollte der Aufruf landen. Sie sollten eine Gelegenheit bekommen umzudenken. Es ist daher gut möglich, dass es die Überlegung gegeben hat, die wären dermaßen antisemitisch, dass ein jüdischer Name manchen davon abhalten könnte, in ein „von Juden beeinflusstes Nationalkomitee“ einzutreten. Wie sehr diejenigen, die so dachten im Recht waren und ob sie selbst Antisemiten waren – wer weiß es?
Übrigens gab es schon während des Krieges auch innerhalb der deutschen Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion fortwährend Verhaftungen wegen Kriegsverbrechen.

 

15. Herrnstadt wurde abgesetzt als Chefredakteur des Neuen Deutschland und in die Verbannung nach Merseburg geschickt, als TBC Kranker in diese verpestete Chemieluft, weil er gegen Ulbricht war. Der regierte ja mit Drohungen, Zwang, mit dogmatischer Ideologie, spielte Leute gegeneinander aus; Herrnstadt wollte statt dessen einen “offenen Umgang mit allen Menschen”, wie du es nennst, eine öffentliche Diskussion, statt dieser Zuchthausatmosphäre. Glaubst du, die weitere Geschichte der DDR wäre anders verlaufen, wenn dein Vater zum Zuge gekommen wäre?

IL: Die Geschichte der DDR wäre nur im Falle von Reformen in der Sowjetunion anders verlaufen, und die wären nur möglich gewesen durch eine Beendigung des Kalten Krieges auf beiden Seiten.
Kein Funktionär der DDR hätte eine eigenmächtige Demokratisierung überlebt, denn die wäre in Ost und West immer als Destablisierung der DDR (aus strategischer Sicht immer die westlichste Grenzprovinz Moskaus) wahrgenommen worden. Der Verlauf des 17. Juni zeigt genau das. Damals hatte der höchste sowjetische Funktionär in Moskau ja einen Reformversuch unternommen – Berija. Er scheiterte an der plötzlichen Destabilisierung.

 

16. Ein anderer Anstoß für dich dieses Buch zu schreiben war, wie schon erwähnt, die westdeutsche Fernsehsendung über deinen Vater. Sein Leben wurde darin auf das eines SED-Parteijournalisten und Berija-Mannes reduziert, das ärgerte dich; du wolltest, dass endlich differenziert wird; du wolltest seine Ehre retten. Was genau war es, was dich an der Fernsehsendung geärgert hat?

IL: Es war keine „westdeutsche“ Sendung, es war ein Film des Deutschen Fernsehens, produziert im Jahr 2003. Mich ärgerte genau das, was du schreibst: Die Schwarz-Weiß-Rhetorik. Und übrigens – in diesem Film kannst du auch antisemitische Stereotypen der Propaganda erkennen.

 

17. In Stille Mitte von Berlin sprichst du über die Ausreisewelle aus Deutschland von 1849, während der etwa eine Million Deutsche nach Amerika auswanderten. Du schreibst, sie gingen weg, “weil sie es Ernst gemeint hatten mit den Freiheiten für jeden einzelnen Menschen, mit der Freiheit der Person” und schlägst dann einen Bogen zur Ausreisewelle in der 1980er Jahren in der DDR. 1849 und 1850 hatte die Berliner Urwählerzeitung diese Vorgänge dokumentiert, und du schreibst “eine Zeitung wie diese fehlte” in der DDR. Glaubst du, dass dein Vater, so wie du ihn erinnerst, wäre er 1988 noch am Leben und Chefredakteur des Neuen Deutschland gewesen, die Ausreisewelle nach dem Westen wenigstens dokumentiert hätte?

IL: Eine Demokratisierung, wie er sie sich 1953 vorgestellt hatte, hätte solche Ausreisewellen verhindern sollen. Die hätte er dann auch nicht dokumentieren müssen.

 

18. In Joachim Walthers Buch Sicherungsbereich Literatur steht, dass Dieter Noll (Deckname IMS “Klaus Dieter”) über dich als die “operativ bekannte Schriftstellerin Irina Liebmann” berichtet hat. Hast du schon einmal daran gedacht, diese Aktenverwaltungsbehörde als literarischen Ort zu benutzen, von dem aus du kreativ wirst und ein literarisches Erinnerungsbuch schreibst, oder ist die DDR noch zu nah an dir dran?

IL: Vor Jahren hatte ich einmal begonnen, Stasiakten über mich zu lesen, aber bald wieder aufgehört. Oft habe ich laut gelacht in dem Lesesaal, manchmal war ich fassungslos, im Ganzen fand ich es destruktiv. Dieter Noll zum Beispiel ist ein Mensch, den ich nie getroffen habe, nie – und der berichtet. Wem? Wozu? Ich kenne sie alle nicht.

Nein, unsere Arbeit ist schwer, unsere Zeit kurz. Eine miese Beschreibung meines eigenen Lebens ist das letzte, was ich zum Leben brauche.

Das Ganze erinnert mich immer an eine Notiz von Goethe in seinen Naturwissenschaftlichen Schriften. Er war 1813 in Teplitz im Kloster Ossegg und schreibt danach: ” Die Schildkröten in dem Kunstsumpfe treiben nach wie vor ihr abstruses Wesen.” So kommt mir die Einsicht in diese Akten auch vor, wie ein Blick in die Kunstsümpfe … voller Kröten.

 

19. Deine Schwester Nadja Stulz Herrnstadt hat das Tagebuch deines Vaters, das sogenannte Herrnstadt-Dokument, herausgegeben. Da steht anlässlich ihres Rückblicks auf die DDR: “Geblieben ist der Einblick in eine Welt Orwellscher Dimensionen.” Wir haben das Orwellsche schon in der DDR empfunden und sind deshalb weggangen; du nach Westberlin. Was mich wundert, ist, warum bist du nach der Wende in den Osten zurückgekommen? Die DDR gibts nicht mehr, aber die Apparatschiks leben noch. Man trifft sie beim Einkaufen oder in der S-Bahn…

IL: Für mich ist es nicht der Osten, für mich ist es Berlin. Ich wohne jetzt in Berlin – Mitte wie früher einmal. Die Bewohner sind beinahe gänzlich andere. Im „Westen“ war ich auch in Berlin. Dazwischen wohnte ich übrigens etliche Jahre auf dem Lande. Diesen Abstand brauchte ich schon, bevor ich wieder nach Berlin – Mitte ziehen konnte.

 

20. Um nochmals auf das Herrnstadt-Dokument zurückzukommen, das Vorwort ist in Paris 1990 geschrieben, und da steht: “kaum ein Dutzend Monate ist vergangen, seitdem Rudolf Herrnstadts Manuskript vor fremdem Zugriff bewahrt werden musste.” Wo versuchte die Stasi an das Manuskript heranzukommen, in Berlin oder in Paris? Was genau ist passiert?

IL: Da gab es viele Varianten, z.B. falsche Liebhaber.

 

21. Die Literaturwissenschaftlerin Astrid Köhler benutzt den Ausdruck “rote Aristokratie” (er stammt von Havemann) für die Schicht der hohen Funktionäre, die wie dein Vater bürgerliche Intellektuelle waren, gegen Hitler kämpften und darüber in die kommunistische Bewegung hineingerieten, mit hohen Ämtern später in der DDR; sie repräsentierten Prominenz. Nehmen wir einmal an, der Ausdruck passt, und er passt ja, dann warst du als Kind eine kleine Prinzessin, die plötzlich aus dem Schloss hinausgefegt worden ist und zu einem alltäglichen Mädchen wurde. Das ist traumatisch, vor allem wenn du an die Reaktionen der anderen Kinder denkst; du hast in deinem Herrnstadt-Buch darüber geschrieben. Haben sich auch Kinder mit dir solidarisiert?

IL: Ja.

 

22. In die Freien Frauen erwähnst du das Königsdrama, das du immer schreiben wolltest. Ist damit das Drama um deinen Vater, Zaisser auf der einen Seite und Ulbricht & Co. auf der anderen Seite gemeint?

IL: Das Buch Die freien Frauen ist eine Antwort auf das Buch Unsterbliche Geschichte von Jiri Kratochvil. Dort ist eine ewige Liebesgeschichte der Plot und darauf bezieht sich die Absicht meiner Protagonistin, ein Königsdrama zu schreiben.

 

23. In deinem Buch nennst du das geplante Drama “das Drama der Kollektive”. Wie wäre so ein Drama anders als etwa Schillers Maria Stuart oder Shakespeares Dramen um die Könige? Was genau ist der Grund, warum du es noch nicht schreiben konntest oder arbeitest du vielleicht gerade daran?

IL: Das „Drama der Kollektive“ wollte mein Vater schreiben, nicht ich. Ich stelle es mir ähnlich vor wie Brechts „Maßnahme“.

 

24. Als ich deine Beschreibung der Straßen um den Hackeschen Markt las, erinnerte ich mich an meine Jahre in der Auguststraße (ich wohnte sieben Jahre in der Nummer 75, auf dem Hinterhof); alles war schmutzig, heruntergekommen, verwahrlost, ich hatte Ratten in der Küche; jetzt ist hier alles sauber und schick und trotzdem habe ich das Gefühl des Ekels, der Ohnmacht, wenn ich vor dem Haus stehe. Ich könnte hier nicht mehr leben. Bist du durch das Schreiben über die negativen Gefühle hinweggekommen? Denn du wohnst ja hier wieder. Oder brauchst du sie zum Schreiben?

IL: Wir hatten also unterschiedliche Erlebnisse in der Gegend. Ich habe dort meine erste bewohnbare Wohnung bezogen – anderthalb Zimmer im Vorderhaus. Meine ältere Tochter ging in der Gartenstraße in den Kindergarten, meine zweite Tochter ist in der Frauenklinik gegenüber vom Bodemuseum geboren.

Ich habe diese alte Mitte von Berlin immer geliebt. Sie war preußisch, wilhelminisch, modern, plebejisch und königlich, großstädtisch und kleinstädtisch, alles eben, was Berlin ausmacht. Faszinierend und unheimlich. Ich wollte mehr wissen über die Gegend, weil ich spürte, dass da Spannendes verborgen sein muss. Von dem Schrecklichen wussten wir ja etwas – nämlich dass das ehemalige jüdische Altersheim eine Sammelstelle zum Abtransport in die Lager geworden war. Es stand ein Denkmal davor. Es hat mich sehr bedrückt, dass gerade von hier der Mord an der Berliner Juden seinen Ausgang nahm und hätte ein Grund sein können, einen Bogen um die Gegend zu machen. Aber ich wollte diese Ängste überwinden. Das andere aber – Preußen, der Hof, die ersten Fabriken, die Kirchen, die Zwanziger Jahre, die Nazizeit in Berlin – davon wussten wir nichts.

Ich habe also aus Neugier und Selbstüberwindung geforscht, aber die Gegend lässt sich ihr Geheimnis nicht entreißen, und jetzt sitze ich wieder da und will es noch einmal anders begreifen.

Die alten Apparatschiks habe ich dabei nie besonders ernst genommen, die sind mir da auch nicht begegnet, die konnten nicht mein Gegenüber sein. Negative Gefühle verursachten mir in der Gegend viel mehr die altdeutschen Kleinbürger, um es einmal salopp auszudrücken.

 

25. Amelie Heinrichsdorff hat dich während deines Aufenthaltes in Los Angeles in einem Interview über deine Meinung zu den exilierten deutschen Schritstellern gefragt, die da lebten, Feuchtwanger und Brecht zum Beispiel, und wie sie vielleicht deine Arbeit beeinflussten. Du hast darüber gesprochen, dass viele im Exil nur noch historische Sachen geschrieben haben und “nie wieder richtig in die Realität ‘reingekommen’” sind. Das wunderte mich, weil du ja selbst historisch schreibst; du gräbst in Archiven und alten Zeitungen und schreibst die Geschichte von Berliner Häusern und Straßen und Personen wie etwa Franz Pretzel. Dann sagte ich mir, aber du rollst die Geschichte jedesmal von der Gegenwart her auf und nennst das “Erinnerungslücken” füllen. Warum ist es so gekommen, wie es jetzt ist – das ist immer deine Frage… Und das ist der Unterschied zu den Texten der Exilanten. Sehe ich den Unterschied richtig?

IL: Ja, so ist es. In den „Freien Frauen“ zum Beispiel ist es ja ganz deutlich: Die Frau ist hier in Berlin, heute, sie hat ihren Sohn verloren und will ihn finden. Und dann sucht sie tatsächlich mehr in der Vergangenheit. Sie muss den Faden finden. So kann man es vielleicht erklären – wir müssen den Faden finden, das ist mein Gefühl.

Alles ist zerschnitten, verworren, verdreht, und meine Aufgabe ist es, den Faden wieder zu finden. Lebensfaden. Aufwickeln. Ordnung schaffen. Klarheit. Ich nehme mir nicht irgendwelche historischen Ereignisse oder Vergleiche vor, sondern erforsche den Boden, auf dem ich stehe.

 

26. In Stille Mitte von Berlin erzählst du davon, wie die jüdische Geschichte unter den Teppich gekehrt worden ist, auch in der DDR – “Warum fehlt so viel?” fragst du bei dem Blick auf die Archive, “warum wurde gefälscht und abgeschnitten?” Und deine Methode, wir haben schon darüber gesprochen, ist die einer Archäologin, die nach Scherben sucht, um das Fehlende zu rekonstruieren. Ist dir bei deinen Aufenthalten in Moskau schon einmal in den Sinn gekommen, dir die Geschichte des Hotels Lux, in dem deine Eltern eine Zeitlang gewohnt haben, genauer anzusehen? Du kannst Russisch, könntest in den Archiven suchen…

IL: Die Geschichte meiner Familie bietet viele Themen, aber ich muss den Radius eingrenzen, sonst wird es zu viel und auch zu viel von Gestern. Wenn ich die ausradierten Stellen beklage, das Verwischte und Verunklarte, dann rede ich in „Stille Mitte von Berlin“ von den Protokollen eines Gemeindekirchenrates zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts. Konkret geht es in diesem Fall nicht um Juden, sondern um Grundstücke und Intrigen.

 

27. Ich bin dir dankbar für den Hinweis in deinem Herrnstadt-Buch, dass man Leopold Treppers Erinnerungsbuch Die Wahrheit gelesen haben muss. Nicht nur wegen der Geschichte der “Roten Kapelle,” sondern auch wegen der Beschreibung seines Zuchthausaufenthaltes nach dem Krieg in der Sowjetunion. Wie er verhört wurde, das war antisemitisch und folgte dem Motto “die dreckigen Jidden, die sind an unserem ganzen Unglück schuld”. Erinnerst du eine Episode, die sich dir bei der Lektüre besonders tief eingeprägt hat?

IL: Mir hat sich besonders eingeprägt, wie exakt er die Haltung beschreibt, mit der die ausländischen Angehörigen der GRU den Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes erlebten.

 

28. Mich erschütterte vor allem die Stelle, an der Trepper mit einem sowjetischen Offizier aus Weißrussland, dessen Familie von den Nazis ermordet wurde, 1946 eine Zelle teilt. Dann bekommen sie einen neuen Zellengenossen: einen ehemaligen hochrangigen Gestapomann, der in der Gegend von Minsk für die Ausrottung der Bevölkerung verantwortlich war und von der Schlächterei erzählt. Der sowjetische Mitgefangene leidet Qualen bei der Vorstellung, dass der es war, der seine Familie ermordet hat. Sie bitten einen Gefängnisaufseher darum, den Nazi eine andere Zelle zu verlegen, aber der lehnt es ab mit den Worten: “Sie vergessen wohl, dass sie zu demselben Gesindel gehören; es kommt nicht in Frage, ihn zu verlegen.” Das ist ungeheuerlich, das haut mich um; reagiere ich übertrieben?

IL: Nein.

 

29. Ich bewundere Treppers Ton; er schreibt dazu: “Wenn sich die Absurdität überschlägt, kann man ihr nur mit Humor entgegentreten.” Ein gutes Beispiel ist seine Adresse an Stalin: “Ich bin dem ‘Väterchen der Völker’ dankbar, daß ich mit der geistigen Elite der Sowjetunion Umgang haben konnte.” In den sowjetischen Zuchthäusern waren sie ja seine Zellengefährten. Wie würdest du diesen Ton beschreiben?

IL: Trepper ist einer von denen, die über Leichen gegangen sind, ganz wörtlich.

 

30. Neu war mir Leopold Treppers Auskunft zu Richard Sorge, dem berühmten Kundschafter: die Japaner hatten ihn schon 1941 verhaftet, wollten ihn bei Stalin austauschen, aber Moskau machte nichts, um Sorge zu retten; er wurde im November 1944 erschossen. In der DDR wurden wir dann mit seiner Biographie gefüttert, Richard Sorge, der Held! Und dieses wichtige Detail wurde weggelassen! Welch eine Heuchelei. Trepper: “Diejenigen, die ihn töten ließen, haben nicht das Recht, sich reinzuwaschen.” Wusstest du das schon in der DDR vor dem Fall der Mauer, und seit wann etwa?

IL: Von Stalins Verrat an Richard Sorge habe ich auch erst durch Trepper erfahren. Das war 1989. Die Sowjetunion verdankte Richard Sorge den Sieg vor Moskau, also die Wende des Krieges und möglicherweise auch den Erhalt des sowjetischen Staates.

 

31. Trepper nannte die SU unter Stalin und auch noch danach das “Reich der Lüge und der Verfälschung” – das war ja auch die DDR! Britische Germanisten haben darüber geschrieben, dass du, vor allem in Die freien Frauen, in Berlin Gespenster herumlaufen siehst; du schreibst, sagen Kritiker und das ist positiv gemeint, eine neue Art von Spukliteratur in der Tradition E.T.A. Hoffmanns. Sätze wie “Die Gegenwart war es nicht, die hier herumlief” deuten natürlich in so eine Richtung – bist du ein wirklich ein Hoffmann-Fan und schreibst in seiner Nachfolge, oder ist das zu weit hergeholt?

IL: E.T.A. Hoffmann gefällt mir. Ich war auch eine Weile in Bamberg, und die Sehnsucht nach leichten Entwürfen, den Hang zum Singspiel und Drama, das alles teile ich. Und ich liebe es auch, mich auf die Stimmung eines Ortes einzulassen und etwas zu spüren, was nicht zu sehen ist. Manchmal errate ich etwas, was sich dann bestätigt. Da geht es auch um Lügen, aber mehr um Parallelwelten und Gefühle.

 

32. Angesichts deines Satzes “Die Gegenwart war es nicht, die hier herumlief”, fragt man sich, was läuft da in Berlin herum, was ist das genau. Sind es wirklich nur die Gespenster der Vergangenheit, ermordete Juden und Opfer des Stalinismus, oder ist es nicht auch so etwas wie die verschwundene Zukunft? Für uns hatte sie ja existiert, die sogenannte klassenlose Gesellschaft, die einmal kommen soll. Jetzt sehen wir, was passiert ist, warum diese Zukunft keine Chance hatte zur Gegenwart zu werden… und da siehst du sie als Vampir umherlaufen; ist das Gespensterliteratur und wenn nicht, was ist das?

IL: Du hast Recht. Die verschwundene Zukunft ist das eigentliche Thema. Aber dass irgendwo bei mir die Zukunft als Gespenst herumlaufen sollte – nein. Ist aber eine gute Idee. Bisher würde ich sagen, ist es eher das Gespenst der Zukunftslosigkeit, das herumläuft. Zumindest in den letzten drei Büchern ist es anwesend. Hier in Deutschland ist ja inzwischen schon das Wort „Vision“ ein Schimpfwort, „Idealismus“.

 

33. Eine Frage zu deinem neuen Buch Drei Schritte nach Russland: in Teil drei beschreibst du einen Abendspaziergang durch ein russisches Dorf und wie es dein Sehen veränderte: “Dann wird mir klar, wie glatt doch in den vergangenen Jahren alle Flächen um mich herum geworden sind, wie spiegelnd und grade die ganze Welt, in der ich dort lebte – Berlin.” Du fährst fort: “Der rechte Winkel ist nicht der rechte, denke ich dann, und ob ich das endlich mal loswerden könnte, diese Gedanken, dass alles viel ordentlicher sein müsste, als es hier ist, wenn ich länger hierbliebe, hier liefe, hier schliefe zwischen all dem Krummen und Schiefen, und ob ich dann einfach ein Mensch bin.” Ich frage, ob du ohne dein Unbehagen über all die Rechtwinkligkeit um dich herum noch schreiben könntest? Denn dieses Unbehagen – es ist ja eine Rechtwinkligkeit voller Gespenster – macht es dich nicht kreativ?

IL: Nein, nein. Ich schreibe nicht aus Unbehagen. Ich schreibe, weil ich was rauskriegen will. Ich bin dabei herauszufinden, wie die Moderne zusammenhängt mit den ständigen Trennungen und das wiederum mit der verlorenen Lebendigkeit. Stattdessen erscheinen an diesen Stellen dann glatte Flächen – das interessiert mich. Und das deutet sich in dem Russland-Buch schon an. Gerade in dem dritten Kapitel.

 

34. Du kombinierst in mehreren Büchern Sprache und Fotos, meistens Fotos aus Berlin, Mitte, aber manchmal auch aus anderen Orten, Los Angeles zum Beispiel. Warum hast du in Perwomajsk. Erster Mai und La la la L.A. auch drei verwackelte Fotos aufgenommen? Hat das etwas mit den ständig drohenden Erdbeben in L.A. zu tun oder sind die Bilder verwackelt, weil es damals, als du dort warst, gerade gebebt hat? Oder hängt es mit deiner Ästhetik zusammen; das Leben ist ja auch meistens verwackelt?

IL: Da ist keine Bedeutsamkeit. Die verwackelten Fotos fand ich schön. Polaroidfotos verwackeln leicht, wenn man eine alte Kamera benutzt wie ich damals.

 

35. Mir fiel beim Lesen auf, du hast deinen Stil, die langen freischwingenden Sätze mit den Wiederholungen am Ende, erst nach der Wende gefunden. Und weil der Stil der Mensch ist, scheint es mir, du bist erst nach der Wende du geworden als Schriftstellerin. Ich erkläre es mir unter anderem so: dein Prinzip ist, gegen “die zensierte Erinnerung” anzuschreiben, wie du es nennst, und du kannst seit dem Mauerfall viel freier recherchieren, auch über die Verbrechen des Stalinismus. Was du findest, verschränkt sich dann im Text mit Fiktivem, Erinnerungen zum Beispiel, und wie sich das verschränkt, hängt auch davon ab, dass dein innerer Zensor die Schrauben gelockert hat. Die Angst davor, was beim Schreiben am Ende herauskommt und ob das dir Probleme bringt, ist weg. Der große Schwung der Sätze zeigt somit die Freiheit, die du gefunden hast… Interpretiere ich das richtig?

IL: Ich sehe das als eine Frage der Prosa. Ich habe vorher einfach keine geschrieben. „Berliner Mietshaus“ – das waren noch Übergänge vom Bericht zur Beschreibung eines Bildes, ich wollte möglichst genau sein. Danach habe ich nur Dramatisches geschrieben – Hörspiele und Theaterstücke. Erst im Westen wollte ich sozusagen „freie Prosa“ schreiben, und da wurden meine Gefühle wichtiger. Es ist Gefühl, das in so einem freischwingenden Satz sich Bahn bricht. An die Genossen der SED habe ich beim Schreiben nicht gedacht. Es kann aber sein, dass mir so viel Gefühl in der DDR übertrieben vorgekommen wäre.

Erst später ist mir übrigens klar geworden, dass ich meine Entwicklung zur Dramatikerin mit dem Weggehen in den Westen abgebrochen habe. Das Spielerische, das mir so viel Freude gemacht hatte, war weg. Und das für immer. Ich bin darüber traurig. Es hängt mit meiner Existenz als freie Autorin zusammen, dem ständigen Existenzdruck wahrscheinlich, dass ich mich nie mehr einfach an die Schreibmaschine setzen konnte und ein Theaterstück einfach so für mich ausprobieren. Nur aus Spaß. Es fehlte ja auch der Adressat.

 

36. In mehreren deiner Texten geistert Ilse Stöbe umher, Mitarbeiterin der Anti-Nazi-Gruppe “Rote Kapelle”, 1942 in Plötzensee geköpft – in Quatschfresser heisst sie Johanna oder “der Engel”, in die Freien Frauen Olga. Sie geht in deinen Texten als eine Untote herum und erinnert mich mit der roten Narbe um den Hals, die wie eine Kette aussieht, an Bulgakovs Figur Gella, das Zimmermädchen Volands, des Teufels. Das ist für mich ein Beispiel dafür, wie du die russische Literatur aufnimmst und verarbeitest, vielleicht unbewusst. Und Bulgakows Der Meister und Margarita ist ja wiederum ohne Goethes Faust nicht denkbar, so springt die Literatur hin und her, über Grenzen. Hast du dich bei der roten Narbe um den Hals bewusst auf Bulgakow bezogen, oder war die Wahl des Bildes Zufall?

IL: Ehrlich gesagt hatte ich „Meister und Margarita“ damals noch nicht gelesen. Das Bild entspringt dem Gestapo-Foto von Ilse Stöbe, das wie alle diese Fotos ein Doppelfoto ist, und beide enden am Hals. Dieses Bild hatte ich in den Achtziger Jahren sehr lange über dem Schreibtisch und es hat mich für immer beeinflusst. Ohne dass ich die Geschichte so kannte, wie ich sie später in dem Kapitel „Noch einmal über Ilse“ beschrieben habe.

 

37. Zwei deiner Hauptmotive beim Schreiben sind die Geschichte deines Vaters und die der Stadt Berlin. Eine Kritikerin, Lyn Marven, schrieb, die Stadt, vor allem der Stadtbezirk Mitte, und die Ich-Erzählerin in deinem Roman In Berlin, konstruieren einander literarisch; was herausskommt, ist eine Art Ersatzautobiographie. Kann man das so sagen?

IL: Nach meinem nächsten Buch werden wir sehen, was für eine Art von Biographie dabei schließlich herauskommt.

 

38. In deinem Roman In Berlin fand ich den Ausdruck für die DDR: “Land, wo die Rolläden runter sind”. Wie gut passt dieses Bild! Aber es ist natürlich die DDR, die du erst in Merseburg kennengelernt hast und später in Berlin als Nicht-mehr-Privilegierte. Für die Wandlitz-Bewohner waren die Rolläden nicht heruntergelassen. Die dort waren gleicher als die Gleichen; das gehört auch zu der Orwellschen Dimension der DDR, von der deine Schwester in ihrem Vorwort gesprochen hat, nicht?

IL: Die Bewohner von Wandlitz sollen eingesperrter gewesen sein als die einfache Bevölkerung der DDR. Aber ich bin dort nie gewesen. Was mich betrifft – das Ostberlin der direkten Nachkriegszeit, das ich bis zu meinem zehnten Geburtstag kennenlernte, war nicht von heruntergelassenen Rollläden geprägt, sondern von Trümmern, Trümmern, Trümmern. Wir lebten am Stadtrand in Biesdorf und zuletzt ein Jahr in Pankow, in einem abgesperrten Wohnbezirk der Parteielite. Aber da gab es nur einen Konsum.

 

39. In einer Rückblende im Roman In Berlin fragst du dich, warum dir die DDR-Behörden in den 80er Jahren den Pass gegeben hatten, mit dem du frei aus- und wieder einreisen konntest. Du mutmasst, dass sie wegen deines Vaters ein schlechtes Gewissen hatten. Ich glaube, die hatten kein Gewissen. Sie ließen dich gehen, weil sie dich los sein wollten. Du hattest vor, mit Georg Seidel und anderen zusammen ein freies Autorentheater zu gründen, das war ihnen unheimlich. Wie siehst du das heute, 20 Jahre, nachdem du das geschrieben hast?

IL: 1988 war schon ein Jahr der inneren Auflösung der DDR, heute weiß man das. An Künstler wurden Pässe vergeben, damit sie nicht endgültig in den Westen gehen. Es galt dann nicht als „Ausreise“, sondern als „Reise“.

 

40. In deinem interessanten Nachwort zu Georg Seidels Kurzprosaband In seiner Freizeit las der Angeklage Märchen schreibst du: dies ist Literatur aus der DDR, keine DDR-Literatur und argumentierst so: DDR-Literatur habe in ihren besten Werken zwar den Realitätsverlust, die halbfeudale Enge der Verhältnisse, debattiert, aber dieser Realität nicht mit Leidenschaft widerstanden; es war keine Widerstandliteratur. Wer wirklich oppositionell dachte und schrieb, stand mit einem Bein immer schon im Westen, wo man ja problemlos veröffentlichen konnte, was in der DDR verboten war. Samisdat-Literatur wie in Polen, der Tschechoslowakei, der SU, die von Hand zu Hand weitergegeben wurde, kam so nicht zustande. Habe ich das so richtig zusammengefasst?

IL: Ja. Eine wirkliche Radikalität war uns durch die deutsche Teilung abgekauft. Dieser Sonderfall eines halben Landes, in dem man die Seite wechseln konnte, hatte auch auf dem Gebiet der Kunst seinen Preis.

 

41. Als einen Grund dafür, dass die DDR-Literatur keine Widerstandsliteratur werden konnte, siehst du auch die gängige Meinung an, dass ein Überbau die Basis lenke und beherrsche, und die Literatur sei ein Teil dieses Überbaus. Mir gefällt, dass du dabei “wir” sagst: “so haben wir das gelernt und tiefer geglaubt, als uns lieb sein kann.” Das ist sehr selbstkritisch. Danach, und hier wird es spannend, sagst du, in diesem “halbfeudal regierten Gebiet” der DDR “waren wir zu lange einverstanden mit der Macht im Namen eines falschen Antifaschismus. Wir hatten zu wenig Mut.” Glaubst du nicht, dass du mit deiner Forderung auf dem X. Schriftstellerkongress 1987 nach einem freien Autorentheater ganz schön viel Mut gehabt hast?

IL: Ja, Mut. Ein bisschen. Mein Mut auf dem Schriftstellerkongress hatte darin bestanden, dass ich mir diesen Auftritt dort auf dem Kongress erkämpft hatte, denn ich sollte gar nicht reden. Ich habe mich dann in der Pause auf die Tribüne gedrängt und eine Szene gemacht und dann durfte ich plötzlich. Aber da hatte ich wieder nur eine Viertelstunde Zeit, eine Rede überhaupt zu schreiben. Das war aufregend. Ich hätte mir mehr solche Aufregungen in meinem Leben gewünscht. Kämpfen macht Spaß. Das Autorentheater war zu diesem Zeitpunkt aber schon gescheitert. Übrigens auch gescheitert am Egoismus einiger Gründungsmitglieder. Das gehört auch dazu. Das ist es ja: Keine der Erfahrungen beim Aufbau von Alternativen konnten wir wirklich machen. Wir machten uns dadurch Illusionen über uns selbst und die anderen, und das ging so lange wie es einen Gegner gab, dem man für alles die Schuld geben konnte. Nach 1989 wurde die Enttäuschung dann groß.

 

42. Georg Seidel, schreibst du, war eine Ausnahme in der DDR-Literatur: er repräsentierte wirklich “Samisdat”. “Was es an Zeugnissen über die Innenansichten des Lebens in der DDR gibt und vielleicht noch geben wird, sagst du, ist von Leuten geschrieben worden, die sich nicht schützen konnten oder nicht mehr schützen wollten, die verzweifelt gesehen haben, wer sie sind und wo sie sich befinden.” Der Preis, den Seidel dafür zahlen musste, war: “eingeengt, abgeschnitten” zu leben, das heisst, in einer erstickenden Isolation. Besonders berührt hat mich die Stelle, wo du aus dem Ablehnungsbrief zitierst, den Seidel auf seinen Wunsch hin dort zu studieren vom Literaturinstitut in Leipzig bekommen hatte: neben seinen Ressentiments gegen die DDR sagten sie, wäre sein Bild der Frau pubertär verklemmt. Dein Kommentar dazu ist: “Das war die Methode: ein Schlag auf den Kopf und einer in den Bauch.” Genauso habe ich die DDR erlebt, nachdem mein Havelobst-Buch verboten wurde, Rufmord, und das ging dabei auch unter die Gürtellinie. Wurden im Schriftstellerverband Gerüchte über dich ausgestreut, nachdem du öffentlich ein freies Autorentheater verlangt hattest? Wie ließen sie dich wissen, dass sie verärgert waren? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mit dir darüber gesprochen haben. Und wenn doch, wer? Hermann Kant?

IL: Ich habe von einigen boshaften Gerüchten gehört, die verbreitet wurden. Dazu gehörte übrigens auch die Legende von der „roten Aristokratie“, zu der ich gehören würde. Das hat mich schon ziemlich überrascht, dass die Art, wie unsere Familie in Merseburg und Halle lebte, aristokratisch war.

 

43. Ein paar Fragen zu deinem Reisebuch Letzten Sommer in Deutschland: meine Lieblingsstelle ist deine Reflexion über den riesigen Karl-Marx Kopf in Chemnitz, eine Statue, die 1996 während deiner Deutschlandreise noch da stand. Hinter dem Kopf liest du auf einer Bronzeplatte: Proletarier Aller Länder vereinigt euch! und kommentierst: “Wir sollen uns vereinigen. Und dann? Gehorchen und marschieren, so wie immer.” Ich musste daran denken, als wir neulich in Maine im Urlaub waren und unsere Wirtin, eine Jüdin, von den “red diaper babies” erzählte: Kinder aus jüdischen Familien, die im Sommer in marxistische Erziehungscamps geschickt wurden. Sie sagte: “Marx war ja auch Jude…” Warum fühlten sich deiner Meinung nach soviele Juden von dieser Ideologie angezogen?

IL: Diese Fokussierung auf „das Jüdische“ empfinde ich als ideologisch. Nein, ich verzichte auf Völkerpsychologie. Aber wenn Volk und Blut inzwischen tatsächlich wieder so wichtig sein sollten – in Deutschland sind die Archive voll mit Überlegungen dazu, warum „die Juden“ so gerne dem Juden Marx folgten. Dort mal nachschauen.

 

44. Mir gefällt, wie du in Letzten Sommer in Deutschland das Leben anderer Schriftsteller buchstäblich anzufassen versuchst. Du gehst dahin, wo sie gelebt haben und tastest den Raum aus: Brigitte Reimann in Hoyerswerda, Marie Luise Fleisser in Ingolstadt und Brecht in Augsburg. Warum wähltest du diese drei und nicht andere? Sind das Autoren, die dich sehr beeinflusst haben, oder hing es eher mit der Reiseroute zusammen?

IL: Ich fuhr ohne Reiseroute los. Ich wollte einmal rund um Deutschland fahren, daher die Peripherie. Und ich bin leider völlig ahnungslos in Geografie. Also entdeckte ich erst abends im Hotel auf der Landkarte, wo ich eigentlich bin und was sich in der Nähe befindet. So war es eben Zufall, dass es diese drei Autoren waren. Aber dass ich ihretwegen Station machte, das war, weil ich sie lese und verehre.

 

45. An einer Stelle in diesem Reisebuch, in Dresden, reflektierst darüber, dass du vielleicht zu spät zurückgekommen bist aus dem Westen. Du kamst nach der Wende, die du somit verpasst hast, zurück, und du denkst jetzt: “Wer geht, ist sowieso im Unrecht, und nun ist es nicht gern gesehn, wenn einer wieder auftaucht aus der Grube?” Das war 1996. Denkst du inzwischen anders darüber? Ich glaube, du brauchtest diesen Perspektivwechsel von Ost nach West für deine Bücher, ohne ihn wäre dein Blick heute nicht so fremd.

IL: Ja, was wären wir ohne diesen Wechsel der Perspektive? Ich hätte meine Bücher so nicht schreiben können, und in der DDR mit Sicherheit auch so nicht schreiben dürfen.

Es war schwer, es war belebend, es war die Gespensterbahn. Eine Lebensreise voller Angst und Schrecken, viel Liebe auch – anders ist Kunst nicht zu haben.

 

46. Zum Abschluss eine persönliche Frage: Du hast zwei Katzen. Ich habe meinen Mann immer gefragt: Warum haben Menschen Haustiere? Ich verstand es nicht. Jetzt haben wir vier Katzen, und ich verstehe es plötzlich. Hast du das Gefühl, dass die Tiere dein Schreiben beeinflussen?

IL: Ich wollte mit Katzen mehr zu Hause bleiben. Natürlich sagten fast alle: Dann kannst du nicht mehr wegfahren, und ich antwortete: Das will ich ja grade. Natürlich fahre ich noch weg, aber immer nur kurz.

 

Berlin, den 1. August 2014

 

 

 

 

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Dec 07 2014

Frederick A. Lubich

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Vom Berliner Salon der Weimarer Klassik zum heutigen Berlin als internationale Hipster-Hauptstadt der Clubbing-Szene – Betrachtungen zu Peter Wortsman’s Ghost Dance in Berlin – A Rhapsody in Gray und Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl und Heiko Zwirner (Hrsg.), Nachtleben Berlin – 1974 bis heute. (Review Essay)

25 Jahre ist es her, dass die Berliner Mauer gefallen ist. Rechtzeitig zu diesem Jahrestag sind mehrere Bücher erschienen, die Vergangenheit und Gegenwart dieser geschichtlich so vielschichtigen Hauptstadt Deutschlands erkunden. Zu nennen wären unter anderem Rory MacLean, Berlin. Portrait of a City through the Centuries. (New York: St. Martin’s Press, 2014, pp. 421) und Robert Beachy, Gay Berlin. Birthplace of a Modern Identity.(New York: Alfred Knopf, 2014, pp. 309). Ein drittes nennenswertes Buch ist sicherlich Berlin Now: The City after the Wall (New York: Farrar, Strauss & Giroux, 2014, pp. 326) aus der Feder Peter Schneiders, des wohl bekanntesten Berliner Schriftstellers, der diese Stadt immer wieder zum Thema seiner literarischen Arbeiten gemacht hat.

Folgender Review Essay fokussiert Deutschlands wiedervereinte Hauptstadt primär aus persönlichen Perspektiven. Zum einen aus dem Blickwinkel des amerikanischen Schriftstellers Peter Wortsman und seines neuen Erzählbandes Ghost Dance in Berlin. A Rhapsody in Gray (2013), zum andern aus den Erfahrungen und Erkundungen von rund 50 Zeitzeugen und zeitgenössischen Kulturkritikern, die Berlins Nachtleben der letzten 40 Jahre vor allem aus dem Blickwinkel ihrer vielfältigen Club- Mode- und Musikszene erinnern und erörtern und deren Beiträge von Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl und Heiko Zwirner unter dem Titel Nachtleben Berlin – 1974 bis heute (2013) gesammelt und herausgegeben wurden.

Peter Wortsman, Ghost Dance in Berlin – A Rhapsody in Gray. (Palo Alto: Travelers’ Tales, an imprint of Solas House, 2013, pp. 190.): Peter Wortsman wurde als Sohn jüdischer Emigranten aus Wien 1952 in New York City geboren und ist dort zweisprachig aufgewachsen. Er lebt auch heut noch zusammen mit seiner Familie in Manhattan. Bereits als jungen Erwachsenen zog es ihn zurück in die deutschsprachige Kultur, aus der seine Eltern vertrieben worden waren. Er studierte unter anderem als Fulbright-Hayes Stipendiat 1973-74 an der Albert Ludwig Universität in Freiburg das Fachgebiet der Märchen, als Stipendiat der Thomas J. Watson Foundation 1974-75 machte er Interviews mit Überlebenden der Konzentrationslager in Österreich, Polen, der Tschechoslowakei und Israel, und 2010 kehrte er für ein halbes Jahr als Holtzbrinck Fellow an die American Academy nach Berlin zurück. Wortsman ist Autor von Kurzgeschichten, kurzen Romanen, Gedichten und Theaterstücken sowie Übersetzer repräsentativer Werke deutschsprachiger Autoren wie Heinrich von Kleist, Heinrich Heine, Adelbert von Chamisso, die Gebrüder Grimm, Robert Musil und Peter Altenberg. Er ist für sein Schaffen mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, nicht zuletzt auch für seine Reise-Erzählungen, die seit 2008 regelmäßig in der jährlich erscheinenden amerikanischen Anthologie The Best Travel Writing veröffentlicht werden. Darüber hinaus sind seine Essays unter anderen auch in führenden deutschen Zeitschriften und Zeitungen wie Cicero, Die Welt und Die Zeit erschienen. Im Frühjahr 2013 kamen die folgenden drei neuen Bücher von ihm heraus: Ghost Dance in Berlin. A Rhapsody in Gray (Travelers‘Tales/Solas House), Tales of the German Imagination from the Brothers Grimm to Ingeborg Bachmann (Penguin Classics) und Selected Tales of the Brothers Grimm (Archipelago Books) in einer neuen englischenÜbersetzung. Sein Theaterstück Burning Words wurde im Januar2014 indeutscher Übersetzung als Dort wo man Bücher verbrennt … Reuchlins Streit um das jüdischeSchrifttum im Kulturhaus Osterfeld in Pforzheim aufgeführt. Um nur zwei Beispiele aus der kritischen Rezeption seiner Werke zu zitieren: Bloomsbury Review nannte Wortsman „a twentieth century Brother Grimm“, und der bekannte amerikanische Autor Paul Bowles schrieb über seinen Bericht „Snapshots and Souvenirs“: „I was particularly struck by the account of the visit to Auschwitz … excellent.“

Der Erzählband Ghost Dance in Berlin versammelt 22 Vignetten, die während seiner Zeit an der American Academy in Berlin entstanden sind. Ergänzt werden sie durch einen bereits vor dem Mauerfall geschriebenen Essay, der unter dem Titel „The Other Germany – Travel Notes from the Far Side of the World“ im Jahr 1989 im Journal Jewish Frontiers publiziert worden war. Dieser Erfahrungsbericht schildert eine Reise zusammen mit seiner französischen Verlobten nach Ost-Deutschland, um dort alte Freunde zu besuchen. Seine ersten Eindrücke nach der Landung auf dem Berliner Flughafen Tegel beschreibt er folgendermaßen: „(T)he wave of love and revulsion that I feel for everything German sweeps over me with a fury.“(160) Anspielungen an die Stasi als Big Brother, der jeglichen Gedankenaustausch in der DDR zu überwachen scheint, sowie die wiederholten Klagen seiner ostdeutschen Freunde, dass sie sich von ihrem Staat eingesperrt fühlen und nicht zuletzt Erinnerungen alter DDR-Bürger an ehemalige jüdische Mitbürger bilden die wesentlichen Eindrücke von Wortsmans Besuch in der DDR.

In diesem Text kommt der Autor auch über die Ruinenlandschaft der DDR, die sich von Dresden bis Ostberlin, erstreckte, ins weitere Sinnieren: „Here even an American traveler can forget, or at least momentarily suspend, the traumatic dimension of his German-Jewish roots. He can let his fantasy languish in a childhood reverie not yet corrupted by history.“(180) Derartige Reminiszenzen evozieren auch immer wieder die Seelenverwandtschaft des Schriftstellers mit der Märchenwelt der Gebrüder Grimm. So heißt es etwa in der Erzählung „In Search of Lost Shadows“ von einem sonnigen Samstagausflug nach Kunersdorf: „A castle once stood here belonging to a certain Count von Itzenplitz, a name with a comic fairytale ring, like Rumpelstilzchen, Rapunzel, and Rotkäppchen“(126)

Der Grund seines Ausflugs nach Kunersdorf war die Gründung einer Chamisso-Gesellschaft mit Hilfe dreier Liebhaberinnen seines literarischen Werkes. Wortsman umrahmt sein Gruppenbild mit drei Damen folgendermaßen: „Fairytale characters in their own right, these three ladies were a cross between Goldilock’s three bears, Snow White’s seven dwarves and Sleeping Beauty’s fairy godmothers”(128). Der Autor lässt jedoch seine drei verwunschenen Chamisso-Schimären nicht im Niemandsland eines deutschen Märchens zurück, er bringt sie vielmehr auch direkt nach Hollywood, in die Traumfabrik Amerikas. Besonders die Dritte im Bunde scheint ihn zu beeindrucken: „The third, clearly the ring leader, wore a motorcycle leather jacket, like Marlon Brando in the The Wild One and a hard-as-nails look that could kill if you crossed her“(128). Wie schnell aus der heimelichen Märchenwelt von Wortsmans Kindheit das unheimliche Schauderreich des Völkermordes werden kann, zeigt seine Evokation von Treblinka, „when real life Hansels and Gretels went up in a puff of smoke.“(24)

Zwischen den Grimm‘schen Märchen und den „Gräuelmärchen“ über das Dritte Reich, wie Goebbels die Berichte der Alliierten nannte, entfaltete sich im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts auch die Logik einer drakonischen Pädagogik. Bilderbücher wie Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann und Max und Moritz von Wilhelm Busch waren über Generationen hinweg beliebt und ihre Gestalten geistern auch noch durch Wortsmans deutsch-jüdische Erinnerungen. Dabei spielt er ihnen einen weiteren Streich, wenn er zum Beispiel Hoffmanns Suppenkasper zum „Peter the Eater“ verwandelt „a walking sausage until he platzed.“(144) Da das deutsch-jiddische Wort „platzen“ unter Nachfahren jüdischer Einwanderer aus Osteuropa in Amerika auch heute noch bekannt ist, gewinnt die Karikatur vom platzenden deutschen Fettwanst weitere Brisanz, weil ein jüdischer Schriftsteller gegen ihn den Spieß satirisch umdreht.

Von der Welt der Richter und Henker noch einmal zurück ins Reich der Dichter und Denker: Wortmans Spurensuche nach der verlorenen Zeit folgt gewissermaßen dem Vorbild von Hänsel und Gretel, die mit Hilfe ihrer ausgestreuten Brotkrumen wieder nach Hause zu finden hofften. Am bedeutungsvollsten sind in Wortsmans Suche nach seinen deutsch-jüdischen Herkunftsspuren die verschiedenen Friedhöfe in Berlin: „I stopped to pay my respect to the composer Felix Mendelssohn-Bartholdy and the salon hostess Rahel von Varnhagen-Ense, the literary muse of the Romantics and a close friend to Chamisso.“(130). Chamisso liegt dem Schriftsteller aus Amerika sicherlich auch noch aus zwei weiteren persönlichen Gründen am Herzen. Nicht nur reflektiert Chamissos Lebensgeschichte das Auswandererschicksal von Wortsmans eigener Familie, auch Wortsmans französische Frau repräsentiert ein weiteres Mal die Erfahrung der Emigration, wenn auch in etwas anderer Konfiguration.

Auf seiner deutschen „Recherche à la Temps Perdu“ durch die Friedhöfe Berlins kommt Wortsman auch am Grab von Henriette Herz vorbei, eine der großen Salonnieres des aufgeklärten Berliner Bürgertums jener Zeit. Henriette Herz, die ihrem jüdischen Glauben treu geblieben ist, und Rahel Varnhagen von Ense, die zum Christentum übergetreten ist, repräsentieren in geradezu symbolischer Personalunion die vielversprechende deutsch-jüdische Symbiose, die wenige Generationen später auf so unvorstellbare Art und Weise vollkommen zerstört werden sollte.[1]

Als Kind von Eltern, die dem Massenmord am jüdischen Volk entkommen sind, ist Wortsman gegenüber der Erinnerungskultur vor allem im vereinten Berlin besonders sensibilisiert: „No one can fault Berlin for the sin of forgetting. Memory erupts at every turn. Cognizant of the past, the city wears its scars with a certain sullen mix of fatalism and pride, like a one-eyed, limping veteran wears his medals.”(71) Nirgendwo kommt diese Erinnerungskultur monumentaler zum Ausdruck als im Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Wortsman nennt es eine Art “modern-day Stonehenge”(72). Meines Erachtens gleicht jedoch sein gigantisches Stelenfeld eher einem unvollendeten Parkhaus. Wäre nicht ein hoher Glasturm als Mahnmal sichtbar über die ganze Stadt weitaus sinn- und wirkungsvoller gewesen? Und in ihm hätten, wie bereits im „Tower of Life“ des Holocaust Museums in Washington, D.C., die Abbildungen der Ermordeten auf würdevolle Weise die Opfer der Shoah noch einmal vergegenwärtigen können – anstatt ihrer mit einem Labyrinth monotoner Betonklötze zu gedenken.

Von der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte zum Geistertanz nach Auschwitz: Die Villa der American Academy am Wannsee, die einst dem jüdischen Bankier Hans Arnold und seiner Familie gehörte, ist ein derartig gediegenes Bauwerk, welches auch heute noch der Tradition des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums Reverenz und Repräsentanz verleiht. Im Zusammenhang mit dieser Villa kommt Wortsman erneut auf die Berliner Salonkultur zurück, nur diesmal aus der Perspektive der Weimarer Republik und des ihr folgenden Dritten Reiches: „This house is haunted […]. How, I wonder, do the ghosts groups get along? Do the high-strung specters of the original residents […] ignore […] the more recent special arrivals, the phantoms of the booted men in black?“(60) Von der hier stattgefundenen Wannseekonferenz und ihrem abgründigen Beschluss der “Endlösung” ganz zu schweigen.[2]

Weitere Heimsuchungen: Immer wieder kommt Wortsman auf die deutsch-jüdische Geschichte und Kultur zurück, manchmal fantastisch, manchmal ironisch-sarkastisch. So schwelgt er zum Beispiel in den beiden Kapiteln „Wurstlust“ und „Poultry Epiphany“ in Erinnerungen an Schaller & Weber und all die anderen deutsch-jüdischen Delikatessengeschäfte, die in seiner Kindheit das kulinarische Angebot Manhattans bereichert haben und ihm nun in den Kneipen und Kaufhäusern Berlins so anheimelnd wiederkehren. Als Kind Wiener Eltern kann er zudem angesichts von Eisbein und Bratwurst nicht widerstehen, sich mit ihnen auch parodistisch psychoanalytisch auseinanderzusetzen. So fragt er sich, ob ihre Verlockungen nicht etwa auch Evokationen von Freuds “Wiederkehr des Verdrängten“ sein könnten: „Perhaps the German psyche (including its German-Jewish variant) is secretly consumed by a fear of castration and/or penis envy, depending on the sex – which, to assuage – they transfer to the pig.“(52) In diesem sexualpsychologischen Lust- und Ratespiel rund um Wurstobsessionen und Gender-Bender-Transformationen kann ja vielleicht Conchita Wurst, Wortsmans ferne österreichische Landsmännin, die im Frühjahr 2014 als bärtige Sängerin den Eurovision Song Contest gewonnen hatte, aus praktisch-persönlicher Perspektive weiterhelfen. Allen weltlichen Verwirrungen zum Trotz: „Rise Like a Phoenix“! Dies ist nicht nur der Titel von Conchita Wursts musikalischem Blockbuster, sondern auch, wie sich zeigen wird, das Motto für Wortsmans literarischer Beschwörung des aus seinen Ruinen wieder auferstandenen Berlins.

Die Vignette „Dietrich Undressed“ ist eine kokette Hommage an Deutschlands berühmtesten Hollywood-Star, dessen gesamte Garderobe vor Jahren vom Filmmuseum am Potsdamer Platz erworben worden war. Bereits Marlene Dietrichs Name, der beide Geschlechter einschließt, verleiht ihrer androgynen Aura programmatische Signifikanz: „(D)aring and endearing, the Blue Angel rises again – phoenix-like – to entice posterity with peacock feathers and black garter belts – the sultry soul of Berlin.“(34) Wie genau ihr Bewunderer mit dieser Beschreibung auch das heutige Nachtleben von Berlin, seine zum Teil überaus flamboyanten Nachtschwärmer mitcharakterisiert, wird sich in der folgenden Rezension erweisen.

“Phoenix forever being reborn“(xiv), so versinnbildlicht Wortsman den bunten Vogel Berlin bereits zu Beginn seiner Berliner Rhapsodie. Im Einklang mit dem emblematischen Musik-Zyklus der deutschen Romantik nennt er seine winterlichen Streifzüge durch die verschneiten Stadtlandschaften eine „Winterreise“. Hingetuschte Reminiszenzen an Bilder der flämischen Malerschule vermischen sich mit Reverenzen an die künstlerische Avantgarde der Zwanziger Jahre, Schilderungen von Demonstrationen maskierter Autonomer beschwören erneut die politischen Straßenschlachten der Weimarer Republik herauf, und andere Szenerien verdichten sich immer wieder zu Fotografien, die Parklandschaften, verschneiten Denkmäler, die krakeliges Mauergraffiti und manches mehr zeigen.

Wer das heutige Berlin nicht als ein eiliger Turbo-Tourist, sondern vielmehr als ein sensibler Flaneur durchstreifen möchte, der sowohl das Schöne wie auch das Schreckliche dieser Stadt und ihrer Kultur und Geschichte erfahren will, der ist in den Betrachtungen und Beobachtungen von Wortsmans Geistertanz rund um Berlin und seinen oft so zwiespältigen Evokationen immer wieder auf witzige und geistreiche Weise gut aufgehoben.

 

***

 

Wolfgang Farkas, Stefanie Seidl und Heiko Zwirner (Hrsg.) Nachtleben Berlin – 1974 bis heute. Berlin: Metropol, 2013, pp. 306.

Die rund fünfzig Beiträge zu diesem Bildband sind zum größeren Teil von Autoren geschrieben, die sich in Zeitungen wie tip, Berliner Zeitung, Die Zeit, Der Spiegel sowie auch in TV-ARD einen Namen gemacht haben. Ergänzt wird die Reihe der Beiträger von Künstlern, Galeristen und Betreibern berühmter Bars, die für diesen Sammelband interviewt wurden und zum Teil auch Bildmaterial aus ihren Privatarchiven zur Verfügung gestellt haben. Die drei Herausgeber schreiben in ihrem Vorwort „Willkommen im Nachtleben“: „Die große Party begann spätestens am 29. Januar 1974, als im Chez Romy Haag die Nachtclub-Revolution ausgerufen wurde und die Betreiberin als Königin der queeren Herzen eine neue Ara des Feierns begründete“.(19) Romy Haag war damals die berühmteste Transsexuelle und verführerischste Schönheitstänzerin Berlins und West-Deutschlands. Der Ruf ihrer Travestie-Revuen ging bald weit über Berlin hinaus und internationale Stars wie Nina Hagen, Freddie Mercury, Lou Reed, Tina Turner und die Rolling Stones und – last but not least – Andy Warhol, besuchten, wenn sie in Berlin waren, gern das berühmt-berüchtigte Etablissement.

Spätestens als Iggy Pop und David Bowie gegen Ende der Siebziger für mehrere Jahre nach West-Berlin zogen, begann die Halbstadt zunehmend zum Mekka von Malern, Musikern und Filmemachern sowie kreativen Jugendlichen und anarchischen Selbstverwirklichern jeglicher Couleur zu werden. Quintessenz dieses Zusammentreffens lebens- und liebeshungriger Außenseiter war die sich entfaltende Schwulenbewegung, die Berlin wie schon einmal in der Weimarer Republik zu ihrem liberalen Eldorado machte. Sie beschwört auch einmal mehr das Sinnbild vom Phönix aus der Asche herauf, denn seit Jahrtausenden wurden Schwule geächtet und im Dritten Reich schließlich verfolgt und umgebracht – nur um sich Generationen später als Bewegung ausgerechnet in der einstigen Hauptstadt des deutschen Faschismus umso bunter und flamboyanter wieder aufzuschwingen.

Symbolischer Höhepunkt dieser erotisch-sexuellen Synergie im geteilten Berlin war sicherlich die Liebesgeschichte zwischen David Bowie und Romy Haag, die Martin Schacht den Erinnerungen Letzterer zufolge mit diskreten Pinselstrichen nachskizziert. Die Herausgeber nennen in ihrem „Clubindex“ unter dem Schlagwort „Café Anderes Ufer“ David Bowie den Schutzheiligen dieses Lokals. Dieser Titel scheint freilich etwas deplatziert angesichts der Tatsache, dass der Superstar mit schweren Depressionen sowie dem erklärten Ziel nach Berlin gekommen war, sich dort endgültig von seiner Drogenabhängigkeit zu befreien. Ausgerechnet in West-Berlin, der damaligen „Welthauptstadt des Heroins“(59ff). Und so erscheint denn David Bowie eher als ein gefallener Engel im himmlischen Höhenrausch über Berlin — Wäre er und die Berliner Bohème von damals nicht auch ein lohnendes Thema für den nächsten Dokumentarfilm von Wim Wenders, der mit seinem Film Der Himmel über Berlin (Wings of Desire) zum internationalen Kultregisseur aufgestiegen war?![3]

Figurierte David Bowie, der englische Extraterrestrische, als gefallener Engel über Berlin, so repräsentierte Martin Kippenberger seine mehr oder weniger bodenständige Ergänzung. Als trinkfester Hans Dampf in allen Gassen und Stammgast in Berlins angesagtesten Kneipen verstand er es bestens, aus sich und seinen Kunstwerken Kapital zu schlagen, sodass seine Bilder nur wenige Jahre nach seinem Tod auf den heutigen Investitionsmärkten weltweit zu Millionenpreisen gehandelt werden. Verkörperte David Bowie den damaligen Zeitgeist von Berlin, dann versinnbildlichte Martin Kippenberger das nach dem Mauerfall so viel beschworene Prinzip der Joint Ventures, in seinem Fall die Fusion von Kunst und Kapital. Sie ist das beste Potential dieser Stadt, und Kippenberger ist sicherlich einer ihrer berufensten Schutzpatrone all ihrer kosmopolitischen Aspirationen. Und die Seele von Berlin ist – wie schon Peter Wortsman in seinem Ghost Dance in Berlin erkannt hatte – in der Tat Marlene Dietrich. Denn Berlins Nachtschwärmer sind alle – wie schon der Blaue Engel – mehr denn je „von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt.“

Die immer wieder auch sehr poetisch und metaphorisch geschriebenen Reminiszenzen und Reflexionen bringen die Eindrücke von und die Erinnerungen an das Berliner Nachtleben anschaulich zum Ausdruck. So leben zum Beispiel ihre „Kneipengänger, Nachtcaféhocker, Tresenhänger“ und „Szenenläufer“(35) in einer „ummauerten Halbstadt“ die als „freieste unter den deutschen Städten“ (35) charakterisiert sowie als „Insel der Glückseligen“ (35) mitten „am Ende der Welt“ (35) glorifiziert wird. So exklusiv einige der Clubs sein mögen, so urwüchsig sind die anderen, deren exzentrisches Ambiente oft schon in ihren kurios-skurrilen Namen zum Ausdruck kommt wie etwa “Blechkiste”, “Kumpelnest”, “Ritter Butzke”, “Clärchens Ballhaus”, “Intensivstation” und “Club der polnischen Versager”, um nur einige zu nennen. (969,270). Sie sind das explizite Kontrastprogramm zu so renommierten Lokalen wie das “Café Berger”, die “Paris Bar” und das “Exil”. Stephan Landwehr bezeichnet das “Exil”, in dem Oswald Wiener einst als graue Eminenz des Wiener Orgien- und Mysterientheaters residierte als, „elegantester Absturzladen der Stadt“ (76). Jack Nicholson soll in diesem Lokal ausgerufen haben: „Wow! This is my favorite place in the world!“(76-80) In jüngerer Zeit werden derartige Absturzläden auch mehr und mehr zu kreativen Bildungsstätten, wie etwa das “WestGermany” (sic), dessen Räume für Konzeptkunst, Installationen, Performances, Lesungen und Konzerte verwendet werden. Zusammenfassend vermutet der Spiegel-Redakteur Tobias Rapp in seinem Beitrag zu diesem Band: „Heute ist der Berliner Club das, was vor gut 200 Jahren der Salon gewesen sein dürfte“ (244). Womit wir wieder bei Henriette Herz und Rahel Varnhagen von Ense wären. Freilich wäre so manches, was im heutigen Nachtleben von Berlin zu hören und zu sehen ist, damals wohl kaum salonfähig gewesen, wie ein Blick in die Berliner Tanz- und Musikszene zeigen kann.

Wenn Musik das „kulturelle Gedächtnis“ (179) einer Epoche darstellt, dann findet sie sicherlich in der mannigfaltigen Musik-Szene Berlins ihre klingende Kristallisation, die von Punk, Hip-Hop, Disco-Pop bis zu „Electro-Trash‘(249) reicht. Dieser Soundtrack des Zeitgeistes entfaltet sich in einer Vielzahl von Tanzlokalen, angefangen von schmuddeligen Spelunken bis zu hochgestylten Discos, wie der “Dschungel”, das “Risiko” und das “Metropol”, eine Tanztrutzburg, in der sich in ihren Hochzeiten bis zu 500 Lederschwule vergnügten, sowie das “Tresor”, dem Clubindex dieses Buches zufolge der „wichtigste Techno-Club der Welt“ (280), dem schließlich nur noch das “Berghain” den Rang ablaufen konnte. Es wurde auch von internationalen Fachzeitschriften wie dem britischen DJ-Magazin zum besten Club der Welt gewählt (189). Gudrun Gut, die Mitbegründerin der Punkrockband “Malaria”, sowie Produzentin der wöchentlichen Radiosendung „Ocean Club“ bringt Berlins vielschichtiges Amüsierlabyrinth von Low Culture und High Culture auf den bezeichnenden Nenner einer „Undergroundhochburg.“ (73).

Die Achse Berlin – New York: Bemerkenswert am geteilten und vereinten Berlin war und ist seine Funktion als transatlantischer Brückenkopf nach Amerika. Berlin, Berlin und New York, New York, das wurde zur magischen Doppelformel des avantgardistischen Kulturaustausches zwischen beiden Kontinenten. Während es in den siebziger und achtziger Jahren vor allem britische und amerikanische Film- und Rockstars waren, die sich gern in Berlins Diskotheken-Dschungel tummelten, waren es bald auch West-Berliner Künstler wie Naomi, die nach New York zogen. Ab 1979 gingen komplette Modenschauen nach New York und organisierten dort extravagante Events unter dem Titel „Berlin Nights – The Nights of Decadence.“ (54) Eine ganz besondere Art von Kulturtransfer stellt der New Yorker “Kit Kat Club” dar. Christopher Isherwoods Berliner Geschichten aus der Weimarer Republik inspirierte nicht nur Bob Fosses Hollywood Musical Cabaret (1972), sondern auch den “Kit Kat Club” am New Yorker Broadway, der wiederum in Berlin zur Gründung des populären “Kit Kat Clubs” führte.[4]

Joachim Sartorius, unter anderem ehemaliger Kulturreferent in New York und von 2001 bis 2011 Leiter der Berliner Festspiele, zollt in seinem Beitrag der frühen Kulturpolitik Berlins großen Beifall:

In die geteilte Stadt strömten schon damals Künstler aus aller Welt. […] das war eine der besten Investitionen des Staats oder des Senats von Berlin überhaupt […] der Künstler aus allen Sparten aus der ganzen Welt einlud, ein Jahr oder ein halbes in West-Berlin zu verbringen. So wurde aus Berlin eine Eldorado für Künstler, ein hervorragender Schachzug […] Und wie diese Auserwählten Berlin deswegen liebten […] Diesen Luxus im Vergleich mit den Löchern in New York, Paris, London oder Rom […] Offen und großzügig. Demokratie pur. Es lebe die zukünftige Hauptstadt der freien Welt(81)

In Bezug auf die Berliner Kulturpolitik würde Peter Wortsman sicherlich in das Loblied von Joachim Sartorius miteinstimmen.

Was in diesem Bildband und seiner großen Galerie der notorischen und renommierten Berliner Lokale fehlt, ist das “Café Einstein Unter den Linden”. Das “Exil” und die “Paris Bar”, denen in diesem Band ganze Artikel gewidmet sind, können zwar auf eine längere Geschichte zurückblicken, doch das “Café Einstein Unter den Linden”, 1996 u.a. von dem Theaterregisseur Gerald Uhlig-Romero nur wenige hundert Meter vom Brandenburger Tor gegründet, hat sich innerhalb kürzester Zeit als eines der bekanntesten und wichtigsten Kaffeehäuser Berlins, ja der Bundesrepublik überhaupt entwickelt. Seit längerer Zeit ist Uhlig-Romero nun schon Alleinbetreiber des Kaffeehauses und gestaltet es nach seinen Vorstellungen. Hier geben sich Künstler und Politiker jeglicher Provenienz ein Stelldichein, die BBC berichtet aus seinen Räumlichkeiten, einmal im Jahr begegnen sich hier Nobelpreisträger aus aller Welt, und in der angeschlossenen Galerie stellten schon zahlreiche bekannte und berühmte Maler und Fotografen vor allem aus den Vereinigten Staaten ihre Werke aus, angefangen von Joel Grey, dem süffisanten M.C. in Bob Fosses Cabaret, über Dennis Hopper bis zu Richard Gere. So gesehen is dieses Kaffeehaus nicht nur die „Hauptbegegnungsstätte der Berliner Republik“ geworden, wie es das Magazin Der Spiegel im Jahr2013 formulierte, sondern auch einer der wichtigsten kulturellen Brückenköpfe zwischen Alter Welt und Neuer Welt.[5]

Transatlantischer Totentanz: Was in der Darstellung der Beziehungen zwischen Berlin und New York ebenfalls unerwähnt bleibt, ist der tödliche Tribut an die sexuelle Revolution. Die Mit-Achtziger waren nicht nur die Hochzeit der Gay-Liberation und ihrer Tanz-Manie diesseits und jenseits des Atlantiks, sie waren auch die schlimmsten Jahre der Aids-Epidemie. Im Nachtleben Berlin findet dieser moribunde Totentanz mit keinem Sterbenswörtchen Erwähnung. Dies ist umso erstaunlicher, als gerade in dieser Zeit das Berliner und New Yorker Nachtleben immer mehr Vergnügungssüchtige ans jeweils andere Ufer der beiden Kontinente lockte. [6]

Im Schatten der Shoah: In der Weimarer Republik hatte die vielbeschworene deutsch-jüdische Kultursymbiose sicherlich ihren Höhepunkt erreicht. Nie zuvor in der fast 2000- jährigen Geschichte deutsch-jüdischen Zusammenlebens hatten die deutschen Juden in den Geistes- und Naturwissenschaften, sowie im Bereich der Kultur, Politik und Wirtschaft so viel zum nationalen Erfolg und internationalen Ansehen Deutschlands beigetragen. Das Berlin der Weimarer Republik war mit seinen rund 170 000 Juden das kulturelle Zentrum des Judentums in Deutschland gewesen. Im vorliegenden Bildband ist von der einstigen Kreativität und Vitalität des Berliner Judentums aus geschichtlich offenkundigen Gründen kaum noch etwas zu spüren. Lediglich die beiden jüdischen Fotografen Helmut Newton und Daniel Josefsohn geistern sporadisch durch Fußnoten oder Halbsätze. Während Newton noch im Berlin der Weimarer Republik geboren wurde und sich im Laufe seines Lebens als einer der international bekanntesten Fotografen etablierte, hat sich der nach dem Krieg in Hamburg geborene Josefsohn vor allem als einer der in Deutschland gefragtesten Fotografen einen Namen gemacht.

Helmut Newtons hatte im wiedervereinten Berlin noch mehrere Foto-Ausstellungen, inklusive in der Berliner “Newton Bar”, wo bis heute seine großformatigen „Big Nudes“ hängen — starker Tobak für so manchen koran- und bibelfesten Touristen aus den Vereinigten Staaten oder Vereinigten Emiraten — , jedoch keiner der Beiträge zu diesem Bildband geht auf die Bedeutung dieser beiden deutsch-jüdischen Künstler für die Wiedergeburt Berlins als provokative Kulturhauptstadt Deutschlands weiter ein. Es ließe sich jedoch argumentieren, dass sie repräsentativ sind für eine deutsch-jüdische Renaissance, die vor allem im wiedervereinten Berlin zu beobachten ist. Von der massiven Immigration russischer Juden, als deren bekanntester musikalisch-literarischer Repräsentant Wladimir Kaminer gelten mag, bis zum Zustrom tausender Israelis, deren Eltern und Großeltern einst aus Deutschland geflohen waren, zeichnet sich eine erstaunliche Neubelebung jüdischen Lebens und Schaffens vor allem in der deutschen Hauptstadt ab. [7]

Als populärstes Phänomen der jüdischen Renaissance kann sicherlich der Boom der Klezmer-Musik gewertet werden, der um die Jahrtausendwende die deutsche Hauptstadt zur globalen Metropole des internationalen Klezmer-Revivals machte. Zu jener Zeit spielten bis zu 30 Klezmer-Bands allabendlich in den Kneipen, Clubs und Konzertsälen von Berlin. Die Germanistin Leslie Morris hat dieses Klezmer-Revival als „Sound of Memory“ bezeichnet. Obwohl dieses Revival in diesem Bildband keine Erwähnung findet, können ihre wehmütigen Klezmer-Melodien und mehr noch die allabendlichen Tanzvergnügen zu den Klängen der fröhlichen Freylachs zweifellos ebenfalls zur Bereicherung des Berliner Nachtlebens gezählt werden. Zudem haben es lokale Klezmer-Sänger wie Karsten Troyke und Klezmer-Bands wie Di Grine Kuzine durch ihre zahlreichen Konzerte im In- und Ausland weit über die Grenzen Berlins zu weltweitem Ruf und Ansehen gebracht. Und so wird auch die Klezmer-Musik ein Teil jenes sich aufschwingenden Phönix aus der Asche, den schon Wortsman in seinem Ghost Dance in Berlin beobachtet hatte.[8]

Romantik – Remixed & Unplugged: Bernd Calloux‘s poetisch-faktenreicher Essay “Spielzeit 77/78: Die weiße Phase“ berichtet vom aufblühenden Nachtleben in West-Berlin, vom „Thrill des Night-Tripping, der späten Touren – erfüllt von der Sehnsucht nach dem speziellen Moment“ und er kommt zu dem literaturgeschichtlichen Schluss: „Der Dichter Novalis hatte dieses Motiv schon vor zwei Jahrhunderten erkannt: „Alles, was uns begeistert, trägt die Farbe der Nacht“ (39). Bei genauerem Zusammenlesen der verschiedenen Beiträge gibt sich das Berliner Nachtleben, sein Weltgefühl und seine Weltanschauung in der Tat auch als eine gesteigerte Wiederbelebung der deutschen Romantik zu erkennen. Der nächtliche Ruinenzauber romantischer Maler und Dichter kehrt wieder in den modernen Trümmerlandschaften Ost-Berlins und seiner zahlreichen Abrisshäuser und Industriebrachen. Ein Paradebeispiel derartiger Ruinenromantik ist der “Eimer”, ein Abrissbau in der Rosenthaler Straße, der sich ein gutes Jahrzehnt lang halten konnte: “Im Erdgeschoss fehlte der Fußboden, das Publikum stand im Keller und sah hoch, dahin, wo der Rest des Erdgeschosses die Bühne bildete. Oben gab es ein Café … Hinten und ganz oben wohnten die Besetzer.“(270)[9]

Auch das romantische Leitmotiv der Wanderschaft kehrt wieder, und zwar im „urbanen Nomadentum“(174) der Berliner Bohème, die mit den wechselnden Orten ihrer Kellerbars und Disco-Kaschemmen weiterzieht. Prototyp dieser vagantischen Club-Kultur ist wohl das WMF, das ehemalige Berliner Stammhaus der Württembergischen Metallwarenfabrik. Es wird in diesem Bildband als „Große(r) Wanderer“(176) und „weltläufigster Club der Stadt“(176) bezeichnet, dem nach Jahren des rastlosen Umherziehens schließlich 2010 die Puste ausging. Doch Heike Blümner will in ihrem Beitrag seinen endgültigen Untergang noch immer nicht wahrhaben: „Das WMF ist ein toter Stern, der immer noch leuchtet“(177) Da hätten Caspar David Friedrichs Sternengucker am nächtlichen Himmel etwas recht Wundersames zu betrachten gehabt.[10]

In diesem Zusammenhang kann man die „nomadische Stadtplanung“(174) Berlins als ein Model für die wachsende soziale Mobilität unserer westlichen Zivilisation und ihrer Globalisierung und Internationalisierung sehen. Die Großstadt als eine Metropolis „On the Road“, um das Motto der Beatniks und den Titel ihres Kultbuches auf den neuesten Stand zu bringen. Inzwischen ziehen auch schon Künstler von der Westküste Amerikas — lange das versprochene Paradies aller kreativen und innovativen Abenteurer — nach Berlin, wie etwa der kalifornische Musikproduzent Eric Clarke (251), um im schöpferischen Schmelztiegel Berlins kräftig mitzumischen.

Schwarzromantische Gespensterwelt: Berlins Keller- und Katakombenwelt ist auch heute noch von den Schaudern des Dritten Reiches durchzogen. So war zum Beispiel die Kneipe “Ellis Bierbar” einmal ein Lokal, in dem sich die SA ihre Strichjungen hielt (27). Zu erwähnen wäre auch der “Bunker”, das Disco-Lokal in der Rheinhardtstraße, der einst wie bereits der Name andeutet, als Luftschutzbunker diente, in dem die Berliner gegen Ende des zweiten Weltkrieges vor dem über sie hereinbrechenden Bombenhagel Zuflucht suchten. Apocalypse Now – die letzte Todesfuge des großdeutschen Totentanzes. Wenn sich hier Jahrzehnte später im Zwielicht der Stroboskop-Kugeln Punks oder Skin-Heads in Neo-Nazis verwandeln, dann rocken und rumoren einmal mehr die Poltergeister des Dritten Reiches, dessen Katastrophengeschichte in Berlin ihren schwindelnden Höhepunkt und schaudernden Abgrund gefunden hatte. Nirgendwo kann man sich besser gruseln. Und wenn irgendwo in dieser Welt die makabre Goth-Mode und ihre gruftige Goth-Musik ihre Urheimat hat, dann in diesem Gespensterreich. („Ghost Dance in Berlin“, so hatte es Peter Wortsman auf den treffenden Nenner gebracht.)

Im Einklang mit der romantischen Nacht- und Naturschwärmerei steigen hier auch viele Partys im Freien: „An einem ganz normalen Sommerwochenende finden in Berlin mehrere Duzend Open-Air-Partys statt.“ (263) Und natürlich kehrt auch das romantische Motiv der Sehnsucht vielfach gesteigert wieder in der Suche der Berliner Nachtschwärmer nach Rausch und Entgrenzung, Exzess und Ekstase. Ganz nach dem romantischen Motto der „verkehrten Welt“ verwandelt sich dabei das wehmütige Liebesleid — soweit wie möglich — in die sofortige Liebesfreud. An die Stelle des sexuell verschobenen und spirituell aufgehobenen Verlangens tritt — vor allem in der Gay Community — die Maxime der „Instant Gratification“, die Suche nach dem flüchtigen Glück in den Nischen der Ruinen und im Dunkeln der Nacht.[11]

„Sturm und Drang“ – up-to-date: Die englische Sprache hat ihr Vokabular nicht nur durch das deutsche Wort „Wanderlust“, sondern auch durch den deutschen Begriff „Sturm und Drang“ bereichert. Das letztere ist geradezu ein Leitmotiv der deutschen Kulturgeschichte und ihres sich in den letzten zwei Jahrhunderten entfaltenden Jugendkultes. Angefangen von der Literatur des deutschen Sturm und Drangs und den politisch-literarischen Ambitionen des Jungen Deutschlands über die Jugendstilkunst des fin de siècles und ihrer bündisch organisierten Wandervogelbewegung bis zur Studentenrebellion der 68er Generation zieht sich diese Entwicklung. Auch die Malerschule des ikonoklastischen Expressionismus aus den zwanziger Jahren kehrt wieder in der Berliner Malerschule der sogenannten „Jungen Wilden“, und beide Bewegungen sind Teil jener jugendlichen Energien, die schließlich Berlin rund um die Jahrtausendwende zur „anarchischen Hipster-Hauptstadt“ machen, sodass die „kreativen Massen der westlichen Welt scharenweise heranströmen“(197). In den Umzügen der Berliner Love Parades verschmolzen letztendlich heterosexuelle Erotik mit homosexueller Exotik und zusammen zogen die Ravers Millionen partyfreudige Jugendliche aus aller Welt an. Auf der Straße des 17. Juni Richtung Siegessäule feierte dieser tanzende Jugendkult seine fröhlichen Urständ.

Figurierte David Bowie in den späten 70er und frühen 80er Jahren als gefallener Engel über Berlin, so triumphierte in den nuller Jahren die transsexuelle „Gloria Viagra“ als glamouröse Gallionsfigur des tanzenden Jugendkultes, die als DJ im 15. Stockwerk eines Hochhauses am Alexanderplatz schweißtreibenden Disco-Pop auflegte. Ist man historisch hellhörig, so bekommt man in Gloria Viagra auch noch das „Gloria Victoria“ des zweiten deutschen Kaiserreiches mit, dessen wilhelminisches Wahrzeichen die phallische Siegessäule ist, Preußens protzendes, steingewordenes Imponiergehabe. Nur marschierten jetzt Berlins Männer nicht mehr als säbelrasselnde Soldaten zum nächsten Weltkrieg auf. Vielmehr tanzten sie nun in ihrem Glitzerfummel – und so manche/r eine wunderbare Romy-Haag – ganz nach dem Fanal der 68er Generation: „Make Love not War“.[12]

„So Berlin: The Glamour and the Grit“. Die zahlreichen Abbildungen dieses Billbandes illustrieren auf vielfache Weise die für Berlin so einzigartige Verschränkung von Jet-Set-Schick und Trash- und Trümmer-Ästhetik. Gemeinsamer Nenner vieler Fotografien ist immer wieder die aufgedrehte Euphorie und – vice versa – erschöpfte Energie, die ihre Nachtschwärmer und übernächtigten Dauertänzer ausstrahlen. Da in den achtziger Jahren unter anderem der Sportswear-Look die modische Montur der Tanzclubs war, wurden Alltagsklamotten endgültig zum akzeptablen Outfit für nächtliche Tanzveranstaltungen. Anders gewendet: An die Stelle des einstigen Mottos „dressed to kill“ trat jetzt eher die modische Parole „wear and tear“. Diese Verkehrung des amerikanischen Versprechens „from rags to riches”, das in der Neuen Welt so lange die Erfüllung ihrer Glücksverheißung war, ruft nun umgekehrt – mutatis mutandis – Erinnerungen an das Berlin der Gründerzeit rund um 1900 herauf. Während Adolph von Menzel zum Hofmaler der preußischen Belle Époque aufstieg, wurde Heinrich Zille der Maler ihrer Hinterhöfe, der mit schwungvollen Pinselstrichen die Alltagsfreuden seiner Berliner und nicht zuletzt ihre Schwoof-Vergnügungen anschaulich illustrierte.

Utopia-Revisited: Die geschichtsphilosophischen und gesellschaftskritischen Diskursformationen im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts, angefangen von Hegels historischer Dialektik und ihrer Verkehrung durch Marx bis zu Freuds Lustprinzip und Blochs Prinzip Hoffnung, haben ein Element der Utopie gemeinsam, das den Menschen Freiheit, Selbstverwirklichung und ein gerütteltes Maß an irdischer Glückseligkeit verspricht. Dieses utopische Element scheint auch immer wieder expressis verbis in den Schilderungen der Berliner Glücksuche auf, verwandelt die Stadt in eine „Insel der Glückseligen“ und ist – ultima ratio –eine letzte kollektive Kristallisation dieser utopisch-imaginären Perspektive – aller Berliner Ruinen-Realität zum Trotz. In diesem Sinne ist denn auch der im Jahre 2001 eröffnete „Club der Visionäre“ ein ironischer, pathetisch-parodistischer Tribut an diese deutsch-jüdische Utopie-Tradition. Christiane Rössinger, Autorin und Liedermacherin, fasst in ihrem Essay „Engtanz in Mitte“ das Erlebnis einer durchtanzten Berliner Nacht – „mit und ohne Drogen“ – folgendermaßen zusammen: „Als hätte man für ein paar rauschhafte Stunden in einer Utopie gelebt“(150)[13]

Annus mirabilis! Quo vadis? Das Jahr 1989 ist als Wunderjahr in die Annalen der deutschen Geschichte eingegangen. Ohne das Wunder des Berliner Mauerfalls wäre die Wiedervereinigung Berlins und Deutschlands, Berlins erstaunliche Clubkultur und nicht zuletzt seine vor Jahren noch unvorstellbare Wiedergeburt jüdischen Lebens in Deutschland nicht möglich gewesen. Wenn die deutsche Geistesgeschichte vom Sturm und Drang der Weimarer Klassiker bis zum vielseitigen Unternehmungsgeist der Weimarer Republik sprechende Anzeichen sind, dann sollte es eigentlich um die Zukunft Berlins als Magnet und Metropole kreativer Energien und kultureller Innovationen recht gut bestellt sein … „Nächstes Jahr Jerusalem“, das war Jahrtausende lang die Antwort des jüdischen Wandervolkes auf die Frage „Wohin“. Heute lautet die Antwort wanderlustiger Jugendlicher rund um die Welt auf die gleiche Frage nach dem wohin immer häufiger: „Berlin“.[14]

Summa summarum: Ein alphabetischer Clubindex, der die wichtigsten Lokalitäten des Berliner Nachtlebens auflistet und ausführlich kommentiert, beschließt den Bildband. Insgesamt gesehen stellt er – trotz einiger Auslassungen – eine ausgezeichnete, lehrreich-unterhaltsame Enzyklopädie dar, die vor allem Liebhabern der deutschen Hauptstadt, ihrer vitalen Clubkultur und ihrer facettenreichen Musikszene bestens zu empfehlen ist.

 


 

Endnoten

[1] Zu einer jüngsten Erörterung dieser deutsch-jüdischen Kulturtradition mit besonderer Berücksichtigung der Berliner Salons um 1800 siehe Robert Schopflocher, „Ein Augenblick der Hoffnung – Sie lud zu Toleranz und Vielfalt: Eine Verbeugung vor Henriette Herz, in deren Salon sich das aufgeklärte Deutschland fand.“ In Die Welt Essay – Literarische Welt, 1. November 2014, S.7. Der Schriftsteller Robert Schopflocher ist selbst ein letzter Repräsentant dieser deutsch-jüdischen Kulturgeschichte, der als Jugendlicher mit seinen Eltern in den späten dreißiger Jahren nach Argentinien ausgewandert ist. Zu einer jüngsten Würdigung seines literarischen Werkes siehe Frederick A. Lubich (Hrsg.) Transatlantische Auswanderergeschichten – Reflexionen und Reminiszenzen aus drei Generationen. Festschrift zu Ehren von Robert Schopflocher. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014, pp. 675.

[2]Auch bekannte Holocaust-Überlebende wie Ruth Klüger haben in ihren Erinnerungen geschrieben, dass sie sich mit zunehmendem Alter mehr und mehr von den Geistern der ermordeten Verwandten heimgesucht fühlen.

[3] Als ich 1972-1973 für ein Jahr im englischen Newcastle upon Tyne lebte, stand David Bowie kurz vor seinem internationalen Durchbruch. Ich sah ihn dort bei einem Konzert aus nächster Nähe. Als er in seinen hohen Plateau-Schuhen über ein Kabel stolperte, stand er wieder so anmutig auf, dass sich mir dieser Augenblick schon damals geradezu sinnbildlich eingeprägt hat als das Schauspiel eines gefallenen und sich wieder erhebenden Engels.

[4] Emma Stone ist die jüngste Inkarnation von Sally Bowles im New Yorker “Kit Kat Club”, der das in den achtziger Jahre berühmt –berüchtigte Studio 54 als heutige Spielstätte hat. Siehe „New Girl at the Kit Kat Club“ In Vanity Fair, December, 2014, pp.170-171.

[5] Als Uhlig-Romero Yoko Onos Rockoper New York Story in Deutschland inszenierte, lieferte ich dazu die Übersetzung und so feierten wir zusammen mit Yoko Ono und den Schauspielern des Musicals im Berliner Löwenpalais die Premiere. So wurde auch ich – zumindest für eine denkwürdige Nacht – Teil des sagenhaften Nachtlebens von Berlin und seines deutsch-amerikanischen Kulturtransfers.

[6] Wir lebten in jener Zeit fast ein Jahrzehnt in New York City und es verging kaum ein Tag, an dem nicht ein Nachruf auf einen an Aids gestorbenen Kunstschaffenden aus dem Tanz- Musik- und Theatermilieu Manhattans in der New York Times erschien. Bis in die Reihen meiner Studenten riss dieser heimtückische Liebestod seine grausamen Lücken.

[7] Im Zusammenhang mit der Eröffnung des neuen jüdischen Museums in Warschau schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 25. Oktober 2014 in ihrem Feuilleton: „Während Berlin zur Lieblingsstadt vieler Juden weltweit und Deutschland zum schaurig-effektiven Sympathieland wurde, ist Polen für die meisten noch immer ein einziger Friedhof.“

[8] Von den Gespenstern der Vergangenheit: Frank-Walter Steinmeier, der deutsche Außenminister hat am 13. November 2014 in Berlin die Antisemitismus-Konferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ eröffnet. Dabei sprach er vom Antisemitismus nicht nur als einem „Dolchstoß ins Herz der Gesellschaft“, er nannte auch das erneute Aufblühen jüdischen Lebens in Deutschland nichts weniger als eine Wunder und kam zu dem Schluss: „Jüdisches Leben ist zurück im Herzen dieses Landes – und da gehört es hin.“ (Deutschland-Nachrichten – Online, 17. November 2014). Bemerkenswert ist an dieser Formulierung auch ihre rhetorische Volte. Rekurrierend auf die „Dolchstoßlegende“ der Weimarer Republik, deren politische Rechte das angeblich bolschewistische Judentum für die deutsche Niederlage im ersten Weltkrieg verantwortlich machten, verkehrt Steinmeier die Positionen und identifiziert das Herz Deutschlands mit der deutsch-jüdischen Wiedergeburt, die sich nirgendwo offenkundiger manifestiert als in der wiedervereinigten Hauptstadt Deutschlands.

[9] Im vielfach ausgezeichneten Film Good Bye Lenin spielen markante Szenen in dieser kunterbunten Abriss- und Ruinenwelt.

[10]Das Leitmotiv der romantischen Wanderlust spiegelt sich auch noch in Künstlernamen wie N.O.M.A.D, alias Hans Reusch, wider, der 1996 nach Berlin zog und dort ein fester Bestandteil der Graffiti und „Urban-Art-Scene“ geworden ist (S.249).

[11] Genau besehen ist Ulrich Plenzdorfs Roman Die neuen Leiden des jungen Werther, einer der Klassiker der DDR-Literatur, und die Spiel- und Narrenfreiheit seines Protagonisten in den Ost-Berliner Laubenkolonien auch ein literarischer Vorbote der kommenden, tanzenden Aussteigerkolonien rund um Kreuzberg, Schöneberg und Prenzlauer Berg.

[12] “Alle Lust will Ewigkeit”, so wusste es schon Friedrich Nietzsche, der sieche Dionysiker unter den deutschen Dichtern und Denkern. In diesem Sinne figuriert umgekehrt die Persona „Gloria Viagra“ auch als wandelndes Mahnmal vom kommenden Schwund der Manneskraft und emblematisiert dergestalt einmal mehr das barocke Motto vom „Memento Mori“ und seinem „Sic Transit Gloria Mundi“.

[13] Und wenn die Nachtzauber verlöschen, wenn alle Visionen und Illusionen im Morgengrauen verpuffen, so bleibt ihren Träumern von ewiger Jugend die zwar ernüchternde jedoch immerhin nicht falsche Erkenntnis: „Berlin bietet den verschiedensten Leuten die Möglichkeit zur Verlängerung ihrer Pubertät.“ (236)

[14] Ein jüngster, dreiseitiger Artikel in der Sonntagsausgabe der New York Times vom 23. November 2014 bestätigt diese andauernde Attraktion Berlins für die internationale Jugendgeneration. Unter dem Titel „Still Partying in the Ruins“ schreibt Jon Pareles: „This month Berlin celebrated the 25th anniversary of the 1989 opening of the Berlin Wall. The anarchic energies set free by its fall have defined the city for a generation (…). One Aspect of reunification that no one would have predicted – the emergence of techno and a tenacious, do-it-yourself club scene – has turned out to be not a passing night-life fad, but a cornerstone of the city’s identity.”(pp. 1 and 5-6)

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Dec 07 2014

Peter Wortsman

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Berliner Taxifahrer sind eine Sorte für sich

Berliner Taxifahrer sind eine Sorte für sich. Respektierte Autoritäten sind sie in Sachen Verkehr, Kenner des Stadtlebens, vertraut mit jeder Neben- und Seitenstraße der einst geteilten, nun wiedervereinten Metropole — und ihre Non-Stop Kommentierung, gewürzt mit viel Berliner Schnauze, macht jede Fahrt zu einer Reise entlang den wechselhaften Bruchlinien der Geschichte.
Zum Beispiel – nennen wir ihn Willy – der mich von der Villa am Wannsee, in der ich mich über den Winter eingenistet hatte, zu einer Wohnung im Prenzlauer Berg fuhr, wo ich meinen Berlinaufenthalt auslaufen lassen wollte, brachte. Mit der Statur eines Hafenarbeiters, der Sprungkraft eines Boxers und dem Lächeln eines glücklichen Mannes, schwang er mein Hab und Gut, das sich in zwei schweren Taschen befand, vom Bürgersteig in den Kofferraum.
„Ich mag Russen und Amerikaner“, sagte er in holprigem Englisch, wobei er meine Reaktion
im Rückspiegel überprüfte, „aber Briten kann ich nicht leiden.“
„Warum denn?“ fragte ich auf deutsch zurück.
„Die Russen sind von Natur aus großzügig, die Amerikaner aus Gewohnheit“, redete er weiter, sichtlich erleichtert, in seiner Muttersprache.
„Und die Engländer?“
„Die Engländer sind wie Schildkröten, sie tragen ihre Insel mit sich, wo immer sie sind und kriechen nie heraus.“
„War Berlin nicht auch eine Insel?“
„Kommt drauf an…“
Hier wurde mir klar, dass er aus dem Osten stammt. Wie er die „Wende“ erlebt habe und wie die Ereignisse, die zum Fall der Mauer führten und die ihm folgten, fragte ich ihn.
Er schwieg einen Moment, sah mir in die Augen. „Sie sind kein Engländer!“
„Amerikaner.“
„Die Mauer gibt es immer noch, bloß jetzt ist sie nicht mehr aus Beton sondern aus Geld.“
Und dann erzählte er mir seine Geschichte. Er war immer Kraftfahrer, erst Busfahrer, später Taxifahrer. Er verdiente genug, um zu leben. Viel mehr brauchte er nicht.
An dem Tag, als er von der Grenzöffnung hörte, beschloss er, den Westen zu besuchen, nur um zu sehen, wie es dort ist. Gerüchte gingen um, die Grenze würde nur für ein paar Stunden offen sein und dann wieder geschlossen werden.
„Du hast ein Kind!“, warnte ihn sein Vater, als er ihm sagte, er wolle rübergehen. „Hau nicht einfach ab!“ „Wohin soll ich denn abhauen? Alles was ich liebe, ist hier.“
„Wir haben uns nichts vormachen lassen.“ Er schaute wieder zurück, um sich zu vergewissern, ob der Amerikaner im Rückspiegel nicht anderes von ihm dachte. „Ich bin 1963 geboren, in der Sputnikzeit.
In der Schule erzählten uns die Lehrer, dass die Sowjetunion niemals einen Angriffskrieg geführt habe. ‘Und was ist mit Finnland?’, habe ich gefragt. Ich hatte meinen Stalin gelesen!” Der Lehrer bestellte meinen Vater zur Schule: “Ihr Sohn verbreitet subversive Gedanken.” Worauf mein Vater antwortete: “Mein Sohn ist ein guter Kommunist. Vaters Vater war ein Roter, wurde verhaftet und verschwand dann in einem der ersten KZs der Nazis. Vater wurde zur Wehrmacht eingezogen aber desertierte gegen Ende und wurde von einer Bäuerin in ihrem Kartoffelkeller versteckt.“
„So wie in der Blechtrommel“, sagte ich und fragte mich, ob er wohl ebenso Zuflucht unter ihrem Rock gesucht hatte.
„Jeder Berliner hat irgendwo ein Stück Grünes“, sagte Willy mit einem Achselzucken. “Aber als die Mauer kam, verloren wir unser Grundstück im Westen. Da erinnerte sich Vater an die Freundlichkeit der Bäuerin und kaufte ein Stückchen Land neben ihr in Kohlhasenbrück.“
„Der Ort von Kleists Michael Kohlhaas?“
„Kann sein“, zuckte Willy mit den Schultern, „ich hab nicht viel am Hut mit Dichtung. Vater liebte das Stückchen Land fast so wie er das Leben liebte. Mutter ist nie hingefahren – ich habe immer vermutet, es ging ihm um mehr als nur um den Garten“, erzählte er mit einem Augenzwinkern.
„Dann kam die Mauer dazwischen. Immer wenn er den ‘Spargel gießen’ wollte, musste ich ihn 67 Kilometer rund um West-Berlin herumkutschieren, um dort hinzukommen. Dann kam die Wende. Ich sagte zu Vater, der war von Beruf Bauingenieur: ‘Wollen wir nicht ein Haus bauen? Du hast das Know How und ich die Muskeln.’ Aber Vater meinte: ‘Jetzt ist es zu spät.’ Die Bäuerin war gestorben.
Als er gestorben war, fand ich auf dem Tisch ein Paket mit meinem Namen, voll mit Plänen für ein Haus, das er entworfen hatte… Das Haus, in dem ich jetzt wohne.“
Willy ließ den Motor laufen und bestand darauf, meine beiden schweren Taschen die zwei Treppen hinaufzutragen. Ich gab ihm ein, für Berliner Verhältnisse, großzügiges Trinkgeld.
„Das ist aber zu viel!“,sagte er.
„Für den Spargel, der wird auch immer teurer!“, sagte ich und er lachte.


Aus dem Englischen von Werner Rauch
Copyright © 2011 Peter Wortsman

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Dec 07 2014

Utz Rachowski

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Meine Lager Gießen und Marienfelde November 1980

Ich kam am 20. November nach 14 Monaten Haft im Aufnahmelager in Gießen an. Dort gab es einen Lauf-Zettel, man musste Behördenwege innerhalb des Lagers machen. Ich stand sehr früh auf und war der erste der am Vortag angekommenen Gefangenen.
Ärztliche Untersuchung zuerst, dann Bürokratie, Personalien, alles etwa 6-8 Stunden lang. Am Ende eine Kommission, die fragte, in welches Bundesland in Westdeutschland man gehen wollte. Ich sagte (West)-Berlin, weil ich dort einen einzigen Menschen kannte (den berühmten Schriftsteller Jürgen Fuchs, der seit meiner Schulzeit mein Freund war). Verwandte, Bekannte oder andere Freunde in Westdeutschland hatte ich nicht.
Nur drei Gefangene hatten es geschafft, an einem einzigen Tag diese Bürokratie zu durchlaufen und alle Stempel auf dem Laufzettel zu bekommen. Am späten Nachmittag gingen wir, wir hatten neben 30 Mark ein Zugticket und ein Flugzeugticket erhalten, zum Bahnhof Gießen, um nach Frankfurt/Main zum Flughafen zu fahren. Dort fanden wir nach langem Suchen unseren Flug auf dem riesigen Flughafen. Man muß sich vorstellen, dass wir nach Jahren im Gefängnis plötzlich dort unter Tausenden Menschen standen, 24 Stunden vorher hatten wir noch in unseren Zellen gesessen.
Flug nach Berlin, dann sahen wir von oben die orangefarben beleuchtete Berliner Mauer deutlich beim Anflug. Wir flogen Pan Am, denn keine deutsche Fluggesellschaft durfte Westberlin anfliegen.
Die anderen zwei Mitgefangenen wurden von Verwandten abgeholt, und ich stand plötzlich allein vor dem Fughafen in Tegel. Ich fragte einen Taxifahrer, wie viel es ins Aufnahmelager kosten würde, es war viel zu teuer. Also fragte ich einen umherstehenden Busfahrer, der war freundlich und schrieb mir einen Zettel: Bus bis Jacob-Kaiser-Platz, dann U-Bahn 7 bis Mehringdamm, dort umsteigen in U-Bahn 6 Richtung Alt-Mariendorf, dann wieder Bus. Ich fragte zwei ältere Leute im Bus nach dem Lager, sie sahen mich an wie einen Verbrecher, sagten mir aber, wo ich aussteigen muß an der Haltestelle des Lagers Marienfelde.
Pförtner in Uniform… Er gab mir den Schlüssel für ein Zimmer, das schon mit zwei ehemaligen Gefangenen belegt war, ich war der dritte. Beide waren in der DDR schwere Kriminelle mit jeweils acht Jahren Haft wegen Schlägereien und Diebstahl. Ich wusste sofort: Hier musst Du wieder raus! Von einem Knast in den anderen, dachte ich…
Nächsten Morgen schon belästigten mich die beiden ehemaligen Gefangenen mit Fragen, wie viel Geld ich noch hätte, ob ich mit ihnen heute Bier trinken gehen würde usw. Ich ging schnell zum Frühstück. Dort war eine nette Frau, die mir zusätzlich Milch gab, obwohl ich schon über 25 war (wie sie sagte, durfte sie nur Personen unter 25 Milch zum Frühstück geben). Sie sah wohl auch, wie ich aussah: nach den Monaten der Zwangsarbeit blass und wächsern im Gesicht, und jeden Morgen liefen durch Kreislaufschwäche meine Finger und Hände bis zum Handgelenk schwarz an. Ich rief danach, es war auch meine einzige Hoffnung, meinen Freund Jürgen Fuchs an, und er und seine Frau Lilo sagten sofort, dass ich zu ihnen kommen solle, sofort raus dort! Ich besuchte sie am Mittag und fuhr am späten Nachmittag zurück ins Lager, um meine wenigen Sachen zu holen, es war nur ein kleiner Kunst-Lederbeutel. Die beiden „Mitbewohner“ hatten mich bereits bestohlen, meine Schuhe und meine Jacke waren weg, die ich am Vormittag in einer Kleiderkammer des Lagers Marienfelde erhalten hatte. Man gab sie mir, weil ich nur Sommerkleidung hatte, meine Verhaftung war an einem warmen Tag Anfang Oktober des vorletzten Jahres gewesen.
Ich wohnte sechs Wochen bei der Familie Fuchs, die mich mit Kinder-Vitaminsäften und gutem Essen wieder aufpäppelte, und dann war ich auf Vermittlung von Sarah Kirsch zu Gast im Literarischen Colloquium am Wannsee. Nach 10 Wochen fand ich eine eigene Wohnung in Tempelhof. Von diesen drei Orten aus musste ich jedoch noch sehr oft aus bürokratischen Gründen zurück ins Lager Marienfelde (und auch zu vielen anderen Ämtern der Stadt). Um als Ostdeutscher ein Deutscher zu werden brauchte ich, obwohl ich jeden (!) Wochentag 4 – 6 Stunden unterwegs war, über sechs Wochen. Gerade im Lager Mariendorf waren die Bearbeiter der bürokratischen Angelegenheiten überwiegend unfreundlich und herablassend.
Ich musste auch zu den sogenannten „Sichtungsstellen“ der West-Geheimdienste. Außer zu den Briten. Die Franzosen waren lässig drauf und schenkten mir Gauloises-Zigaretten ohne Filter, sie fragten mich kaum etwas, und wir lachten viel zusammen. Die Deutschen, der BND, sie waren steril, graue Anzüge und graue Gesichter, distanziert und sie fragten auch nicht viel. Einer beeindruckte mich, mit dem Wissen, als er mir sagte, wo genau es am Waldrand meiner kleinen Stadt eine gute Pilzgegend gibt. Der amerikanische Geheimdienst jedoch bestellte mich nach einem kurzen Erstgespräch im Lager Marienfelde an einen anderen Ort in der Stadt, ähnlich einer Kaserne. Dort wurde ich von einem sehr unfreundlichen, verhalten aggressiven Mann im mittleren Alter über Stunden verhört, es war eine Situation ähnlich der Stasi-Vernehmungen… Nach dem ersten Überraschungsmoment (etwa 40 Minuten), bis ich die Situation begriff, verweigerte ich zunehmend jede Aussage, wodurch der Mann noch schärfer und verbal aggressiver wurde. Nach etwa drei Stunden sagte ich zu ihm: Wenn die Russen Westberlin überfallen, dann springen Sie als Amerikaner ins letzte Flugzeug nach Westen und mich stellen die Russen an die Wand. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und mir.
Daraufhin beendete der Mann seine Vernehmung. Er schien auch beeindruckt. Ich musste etwas unterschreiben, was offenbar mit Geld zusammenhing („for working“). Am Ausgang des Hauses (eines von vielen in der Kaserne) erhielt ich vom Pförtner 30 Mark. Ich ärgere mich noch heute, dass ich das Geld angenommen habe, diese Situation plötzlich am Ausgang hatte mich überrumpelt. Ich war und bin ein wirklicher Amerika-Fan, brachte es 2012 sogar bis zu einem Lehrauftrag in der Stellung eines Professors für deutsche Sprache am Gettysburg College, aber diese frühere Westberliner Erfahrung ging mir noch lange nach.
Erst viel später im Leben dachte ich darüber nach, ob die verschiedenen Dienste der westlichen Alliierten nicht doch an einem Seil zogen, ihre folkloristischen Rollen bei den Verhören spielten und sich danach austauschten. Auf jeden Fall schien ihnen bewusst, dass sie in Westberlin alle zusammen an einem seidenen Faden hingen.
Nach etwa sechs Wochen seit meiner Ankunft in Berlin war ich nun ein „echter Deutscher“ und musste nicht mehr ins Lager fahren.
Einen meiner Mitbewohner des Zimmers im Lager Marienfeld sah ich noch einmal wieder, mitten in der Stadt, ich achtete erschrocken darauf, dass er mich nicht erkannte. Er trug meine Winterjacke und meine neuen Schuhe. Ich gönnte sie ihm, aufrichtig.

Nach dem Fall der Mauer erfuhr ich durch die Medien, dass der oberste Leiter des Lagers ein Spitzel der „Stasi“ war und unzählige Berichte nach Osten geschrieben hatte.

10. Mai 2014

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