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Dec 07 2014

Utz Rachowski

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Die glückliche Melancholie

(Dankrede anlässlich der Verleihung des Nicolaus Lenau Preises am 5 Oktober 2014 in Esslingen)

Heute ist für mich ein glücklicher Tag. Denn über Jahrzehnte hinweg war bisher der 5. Oktober für mich ein tief schwarz konnotierter Tag in meinem persönlichen Leben.

Heute vor 35 Jahren, 6.00 Uhr früh, holten mich zwei Männer aus dem Bett, und ich verschwand für 14 Monate hinter Gefängnis-Gittern und verlor für weitere 10 Jahre meine Heimat. Der Mauerfall, dessen 25. Jahrestag wir in Bälde begehen, wendete 1989 auch individuell dieses, mein ganz persönliches Schicksal.

Max von Löwenthal, Gatte der platonischen Geliebten Lenaus, Sophie von Löwenthal, notierte von 1838 bis 1843 Gesprächsfetzen, Meinungen und Einsichten des Dichters Nikolaus Lenau, von denen es allerdings in seinen Gedichten kaum Spuren gibt.

Einiges davon möchte ich gern zitieren:

Die Polizeibehörde wird nicht müde, Niembsch, obwohl er ihr mit aller Gradheit seines edlen Charakters entgegengetreten und sie damit, so hätte man meinen sollen, entwaffnet hat, durch Verhöre zu plagen. Sie hat es vielleicht darauf abgesehen, ihn aus dem Land zu treiben, ihn, den Deutschland mit fast ungeteilter Verehrung nennt… Jeder deutsche Staat, der obskuranteste und obskurste vielleicht, würde stolz darauf sein, Lenau zu besitzen, und sein Vaterland will ihn dafür strafen, dass er Lenau geworden. (Wien, 14. November 1838)

Niembsch. Nikolaus Niembsch Edler von Stehlenau, der für sich den Künstler-Namen Nikolaus Lenau wählte, unter Verwendung des StrehLENAU seines Namens. Dies aber war keineswegs nur der Wirksamkeit als Wiedererkennungseffekt des Dichters für sein Publikum geschuldet, das war mitnichten nur künstlerisches Spiel, dieser Schritt bewahrte ihn über Jahre hinweg vor der Verfolgung der Österreichischen Polizei und der Zensurbehörde Metternichs, in deren Fänge er dann schließlich doch geriet, spätestens 1837 mit der Veröffentlichung seines Versepos’ Savonarola.

Nikolaus Lenau schrieb:

Wie schrecklich ist es, in einem Lande und unter einer Regierung zu leben, wo ich keinen Augenblick sicher bin, dass man mich nicht überfalle und mir meine Manuskripte wegnähme.“ Und an anderer Stelle: „Und doch gebührt mein Haß noch immer viel weniger dem Gesetz selbst, als denjenigen legalisierten Bestien, die das Gesetz auf eine so niederträchtige Art handhaben… überall nur boshaft gierige alles geistige Leben benagende Fußwerkzeuge, und unsere Censoren stellen im Gegensatze der Pflanzen- und Fleisch fressenden Thiere die Klasse der geistfressenden Thiere dar, eine abscheuliche, monstruose Klasse!

Am 5. Oktober 1979 suchte damals an diesem Vormittag, nachdem sie mir den Wohnungsschlüssel abgenommen hatten, gleich fünf Männer der politischen Polizei „Stasi“ in meinem neun Quadratmeter großen Zimmer nach Aufzeichnungen literarischer Art, Gedichte vor allem, Tagebuchaufzeichnungen, dramatische Versuche: und nahmen sie mit sich. Sieben Monate verhört und dann angeklagt, schließlich zu 27 Monaten Gefängnis verurteilt wurde ich wegen fünf meiner Gedichte, wegen – so wörtlich: „staatsfeindlicher Hetze in Versform“. Die Gedichte jedoch waren keineswegs Aufrufe zum gewaltsamen Widerstand gegen die Obrigkeit, sie schilderten aber offenbar treffend die Tristesse und den Zustand eines stagnierten Lebens in einem Staat, der sich für die endgültige, höchste und letzte Entwicklungsstufe in der Geschichte der Menschheit erklärt hatte.

Das, denke ich, hatten wir schon mal, und es hieß im Jahrhundert Lenaus Restauration.

Diesmal nannte sich das politische System „real existierend“, was unfreiwillig und ungewollt der Wahrheit entsprach, und in meiner Zeit, bezogen also auf den Marxismus, die Hegelsche Philosophie ließ grüßen und blinkte durch, die ebenso in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die verknöcherten Verhältnisse (unter denen Nikolaus Lenau lebte und unter denen Heinrich Heine nach Paris fliehen musste und Hunderttausende Deutsche nach Übersee auswanderten) als Endpunkt der Geschichte festschrieb. Uns heute in den westlichen Demokratien wurde wieder einmal „Das Ende der Geschichte versprochen“ – mal abwarten, denke ich, seit langem befallen von Lenauscher Melancholie.

Max von Löwenthal notierte am 11. Oktober 1839 in Wien:

Niembsch lebt in jener Armut, welche zu Deutschlands Schmach das unveräußerliche Erbteil seiner größten Dichter ist, wenn sie eben Dichter sind, er lebt überdies in einem Lande, dessen Bewohner gegen Literatur und ihre Helden im wesentlichen doch gleichgültig sind und dessen Regierung vollends einen Mann wie ihn, anstatt ihn nach Gebühr zu achten und hochzustellen, sogar anfeindet und mit kleinlicher Gehässigkeit verfolgt.

Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen noch sagen, warum ich besonders froh bin, gerade diesen Literaturpreis, der diesen Namen trägt, entgegennehmen zu dürfen:

Nikolaus Lenau ist vorrangig kein politischer Dichter.  Darf ich Sie in diesem Bezug mit einer nicht erbetenen Äußerung belästigen: Ich auch nicht.

Tief ist meine Enttäuschung jeweils, wenn man unsere Gruppe von 77 ausgebürgerten Schriftstellern aus der ehemaligen DDR unter „Dissidenten“ heute noch rubriziert, mich gar noch hinzu rechnet als ehemaligen „Bürgerrechtler“.  Dichter wollte ich sein von meinem 16. Lebensjahr an, was dann über mich kam als Schicksal,  war den Verhältnissen geschuldet, auch meine literarischen und auch die nahe an die Zeit gelehnten Äußerungen.

Auch war ich immer ein leicht zögerlicher Mensch und ein Melancholiker dazu, von früh an, die sogenannten „Großen Zeiten“, in denen es uns verheißen war zu leben, taten das ihre hinzu und verstärkten diese Anlage.

Auch im Falle Lenaus ist bis zum heutigen Tag nicht wahrhaft medizinisch geklärt, was seine Krankheit zum Tode auslöste; wie hoch ist darin Anteil der versteinerten Verhältnisse seiner Zeit? Diese meine Frage bleibt offen.

Restauration ist immer eine besonders gute Zeit: zum Verrücktwerden. Das Beispiel Hölderlin.

In Lenau sehe ich einen, der vorausging, einen Melancholiker, der wie auch ich mehrere Studienrichtungen anging, am längsten bei der Medizin blieb, der Jus und landwirtschaftliche Ökonomie studierte und Ungarisches Recht, ich selbst Medizin, Kunstgeschichte und Philosophie, und dann auch diese verließ.

Hervorhebenswert seine Freundschaften und Solidarität mit Polen! Seine Lied-Gedichte, die er nach den gescheiterten Aufständen dort schrieb! Im Mai nächsten Jahres erhalte ich in Wroclaw zusammen mit Wolf Biermann, Reiner Kunze und Jürgen Fuchs (dieser posthum) die „Dankbarkeitsmedaille der Solidarność“,  die nur an 160 Deutsche vergeben ist, aber an über 500 Franzosen, wofür sie steht, will ich hier nicht breit erklären, nur dass ich der einzige deutsche Schriftsteller war, der unter dem Kriegszustand 1981 bis 1983, nach Polen hinein fuhr, um literarische Manuskripte von internierten Kollegen, die in Lagern saßen, aus dem Land herauszuholen und schließlich übersetzt in den Sendern Westdeutschlands vorlas. Um den Gedichten die größtmögliche Öffentlichkeit zu geben und ihre Autoren damit vor dem schlimmsten zu schützen.

Amerika! Wie verschieden waren seine und meine Erlebnisse dort. Er auf dem Pferdeschlitten 600 Meilen in eisiger Schneekälte durch Crawford County Ohio, davon krank niederliegend über Monate in Pittsburgh und Economy, erhielt ich den ungleich besseren, warmen und glücklich privilegierten Einstieg von Oben, als Lehrender am Gettysburg College in Pennsylvania.

Aber: Die Gedichte, die aus den zwei so verschiedenen Erleben entsprangen – dann überraschend gleich in Ton und Sujet: Bekenntnishaft die Solidarität mit den dort Entrechteten ganz verschiedener Couleur, er sah die vertriebenen Indianer, ich die Schwarzen, rechtlos und unterlegen.

Eines meiner Gedichte möchte ich vorlesen, es ist nicht enthalten in dem heute unter dem Namen Lenau ausgezeichneten Gedichtband „Miss Suki oder Amerika ist nicht weit!“, zu dem mir eben dieses kleine junge und kluge Hündchen mit dem Namen SUKI übermütig beisprang und sich verwegen in die andere Waagschale warf – entgegen meiner deutsch gelebten Melancholie aus „Schwermuth“ (Lenau).

Hier also eines jener Gedichte über mein anderes Amerika, das ich auch sah:

 

Philadelphia PH-Wert

Das Rot und das Blau

der Lackmus-Test

im Hotelfenster:

wieviel Base Freiheit

wieviel Säure der Armut

 

der schwarze Hüne

am Morgen

auf dem Weg

zur Liberty-Hall

lag regungslos

hingestreckt

über dem Heizungsschacht

 

und schlief nicht

 

Zusammen mit dem Italiener Giacomo Leopardi, im selben Jahr 1798 geboren wie Lenau, dessen Canti ich als Dichter geradezu verehre, und dem Engländer Lord Byron, dessen Gedichte ich hoch schätze und dessen berühmten Reiserouten ich teils persönlich nachgehen konnte – er hatte sich leidenschaftlich für den Freiheitskrieg der Griechen eingebracht, bildet Nikolaus Lenau für die Literaturgeschichte der Welt zusammen mit beiden genannten Dichtern DAS DREIGESTIRN der Melancholie.

Diesen Preis, über dem der Name Nikolaus Lenau aufscheint, nunmehr von keinerlei mühsam angespartem schwäbischen Mammon belastet, nehme ich sehr dankbar an und mit Freude, denn auch der 5. Oktober erscheint für mich von nun an künftig als ein glücklicher Tag!

Ich danke Ihnen, den Preisgebern, der Stadt Esslingen und vor allem auch meinem Verleger-Ehepaar Birgit und Andreas Eichler, die sich auf den langen Weg vom Erzgebirge nach Esslingen machten, um heute bei dieser Ehrung, die auch eine für ihren verlegerischen Mut ist, dabei zu sein.

 

 

 

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Dec 07 2014

Gabrielle Alioth

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Schwarz-weiß

Zwei Arbeiterhände türmen Backsteine aufeinander, eine dritte streicht mit einem Spachtel Zement dazwischen. Ich bin sechs Jahre alt und der Fernseher – ein großer brauner Kasten – steht erst seit ein paar Wochen in unserer Wohnstube. Am liebsten schaue ich Ivanhoe zusammen mit meinen Schwestern. Der Ritter in der schimmernden Rüstung überwindet alle Hürden. Nun sitze ich zwischen meinen Eltern. Sie betrachten die Bilder von der wachsenden Mauer schweigend, aber ich weiß: Das ist Berlin.

Zwei Jahre später ist Kennedy in Berlin. Alle mögen Kennedy, und die ganze Familie sitzt vor dem Fernseher. Meine Mutter hat einen Schokoladekuchen gebacken, und wir trinken Tee. Ich habe noch nie so viele Leute auf einem Platz gesehen. Als Kennedy fertig gesprochen hat, jubeln sie; meine Eltern lachen.

Während ich in einem Reihenhäuschen in einer Schweizer Vorstadt aufwachse, ist Berlin ein schwarz-weißer Ort in der Vergangenheit. Als ich 1972 im Kino die freudige Erwartung in Michael Yorks Gesicht sehe, wie er sich in Cabaret durch die Menschen auf dem Berliner Anhalter Bahnhof drängt, denke ich: Da will ich auch mal hin.

Im Sommer 1986 stehen wir an der innerdeutschen Grenze. Wir leben seit zwei Jahren in Irland, und Grenzstationen mit Wachtürmen und Verbauungen sind uns aus Nordirland vertraut, nur dass sie hier spiegelverkehrt, nicht gegen außen, sondern gegen innen gerichtet, scheinen. Die Grenzwächter interessieren sich nicht für uns, und wir behalten unsere einstudierte Erklärung, warum wir mit Schweizer Pässen in einem irischen Auto nach Westberlin wollen, für uns. Dass mein Mann Journalist ist, hätten wir ihnen auf keinen Fall gesagt.
Ich kann nicht fassen, wie grün die durchmauerte Stadt ist, und als ich auf der Suche nach einem Hotel den Kudamm hinaufsteuere, packt mich Übermut. Am nächsten Tag, während mein Mann auf der Redaktion des Tagesspiegel über Beitragslängen und Zeilenhonorare verhandelt, fahre ich in den Osten. Bahnhof Friedrichstrasse, Unter den Linden, Pergamon, am längsten bleibe ich in einer Buchhandlung am Alexanderplatz. Bereits am Abend in unserem Westberliner Hotel kommt mir der Tag wie ein Traum vor. Die Bücher, die ich gekauft habe, sind in Leinendeckel gebunden und riechen seltsam.

Am 9. November 1989 sitze ich in Irland vor dem Fernseher und schaue den Jubelnden zu, so wie man am Silvestervormittag eine Neujahrsfeier in Australien betrachtet.

Im Frühjahr 1991 sind wir wieder in Berlin. Mein Mann arbeitet nun auch für ostdeutsche Rundfunkstationen, und ich begleite ihn zu einem Termin im Funkhaus an der Nalepastraße. Der Pförtner in seinem roten Backsteinhäuschen mustert uns mitleidig, während er mit dem Redakteur telefoniert. Dann erklärt er uns den Weg. Er führt über ein verlassenes Gelände in ein leeres Gebäude, durch einen endlosen Flur, der von ausgeräumten Glasschränken gesäumt ist, zu einem Lift. Dieser trägt uns ächzend in die zweite Etage. Dort erwartet uns der aufgekratzte Redakteur, der mit ein paar Kollegen zusammen noch hier haust, wie auf einem sinkenden Schiff. Einer der Kollegen lädt uns für den Abend auf ein Glas Wein zu sich nach Hause ein. Der Taxifahrer flucht, als wir ihm die Adresse nennen, und auf den gereizten Einwand meines Mannes, er sei schließlich in dieser Stadt zu Hause, meint er, er habe in seinem Leben schon mehr Straßennamen vergessen, als wir je gekannt hätten. An den Abend in der überfüllten Wohnung in einem Plattenbau erinnere ich mich gut. Es gab Wurstscheiben und Pumpernickel zum Wein, danach Kaffee mit Schokoladekuchen. Der Fernseher in der Ecke war ein brauner Kasten. Die Gespräche drehten sich um Vergangenes. Unser Gastgeber wusste, dass er nicht mehr lange beim Rundfunk arbeiten würde, seine Frau hatte ihre Stelle als Ärztin bereits verloren. Für eine Umschulung waren sie beide zu alt. Einige Stunden lang nahmen wir teil an ihrem Abschied von früher.
Auf ihren Rat hin fahren wir am nächsten Morgen nach Klein Glienicke. Dort ist man daran, die Reste der Mauer zu entfernen. Es ist ein sonniger Tag, und eine Weile schauen wir den Arbeitern zu, die mit Pressluftbohrern das Fundament herausbrechen, den Graben füllen und das Kopfsteinpflaster ersetzen, das auf beiden Seiten noch vorhanden ist. An manchen Stellen ist bereits nicht mehr zu sehen, wo die Grenze gewesen ist. Eine Weile schicken uns der Rundfunkkollege und seine Frau noch Weihnachtskarten, die bis zu den Rändern mit Erklärungen bedeckt sind, dann nicht mehr.

Wenn ich heute durch Berlin gehe und die schimmernden Fassaden betrachte, denke ich manchmal an Ivanhoe, und dass irgendwo in Walter Scotts Roman die Sonne im Westen aufgeht.


© G. Alioth, 2014

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Dec 06 2014

Axel Reitel

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Ein Ständchen von Lenin und Trotzki

Für Hubertus Giebe

Lenin und Trotzki als Musikanten

Wo man singt, da lass dich nieder

Volksweise

Das Gegenteil ist der Fall.
Sie stehen auf dem Foto nebeneinander:
an der Quetschkommode Leo
mit Lenin im Duett den Schlager
für Längen- und Breitengrade:
O Tannenbaum … du blühst
nicht nur zur Sommerzeit…

Das Jahr des Schnappschusses ist ungewiss,
die Kleidung deutet auf Frühling,
aber es muss ja ein Wintertag gewesen sein,
vorstellbar eine wärmende Sonne an Weihnacht,
eine Flucht aus der Zeit[1] war es kaum.
Beide Opfer von Attentätern. Einschuss (bei Lenin)
wie Einschlag (bei Trotzki) trafen ins Hirn, ihre
Zentrale der Ideale der Ermordungen:
wer muckt wird ausgelöscht, soweit
neben dem Singen ihre Strategie.
Nur erwähnten sie nie Italien,
die Canto di Malavita [2]. Da ist
allen alles klar. Geschieht ein Mord,
weiß man wer’s war.

30. Juni – 03. August 2014

 


 

Die gefahrvolle Inschrift

In memoriam Frank Kraus, 1962-2012,
Daniel 5, 25-28

Als unser Mormone in der Nacht des 13. Dezember, an einem Sonntag SOLIDARNOŚĆ mit großen, bronzenen Lettern an die zitronengelbe Gartenmauer des Hauses unseres alten Bürgermeisters a. D geschrieben hatte, vergingen zwei Tage noch bis zum erwarteten Besuch. Nach dem Klingeln öffnete er die Wohnungstür und bat den Abschnittsbevollmächtigten Malik[3] und die beiden Volkspolizisten höflich in die Gute Stube. Er hörte auf das geräuschvolle Durchsuchen des Kücheninterieurs, wie der kleine Kohleofen geöffnet wurde, dann der Gasherd, und er biss sich leicht auf die Lippen, als eine Tasse aus dem Geschirrschrank fiel und auf dem Boden zersprang, denn er hatte das Farbtöpfchen und den Pinsel auf dem Schrank abgestellt und nicht weggebracht. Er sah, wie beide Polizisten um das Farbtöpfchen herum die Oberfläche des Schrankes abtasteten, und schließlich den Triumph in Maliks Augen. Wir alle im Wohnbezirk wussten um Maliks Hass auf unseren Mormonen, aber niemand kannte dafür den Grund. Die Polizisten kamen aus der Küche zurück und zuckten mit den Achseln. Unser Mormone aber dachte daran, was er für das Untersuchungsgefängnis einzupacken habe. Doch nichts geschah. Der Malik durchsuchte nun selbst die Stubenkommode, sah unter der Schlafcouch nach und schrie dann, noch immer mit Triumph in der Stimme: “Gibs auf, wo ist das Leergut!” Was war? Es waren in derselben Nacht, als unser Mormone die Inschrift anbrachte, Diebe in die Brauerei unseres Viertels eingedrungen. Doch unser Mormone war kein Dieb und die Beförderung erhielt nicht unser ABV Malik, sondern später ein anderer, der die Freundschaft unseres Mormonen gewann, in Wahrheit aber als Inoffizieller Mitarbeiter unserer städtischen Kreisdienststelle der Staatssicherheit gegen ihn ermittelte. Dessen Klarnamen erfuhr unser Mormone auch nach dem Gefängnis nicht, und wir wussten nichts von ihm. Die von getarnten Malermeistern übertünchte Inschrift aber ist noch heute an der Gartenmauer zu erkennen.

 


 

Frank Francis Kraus_Gunter Bottich

Himmelfahrt 1985 in Plauen / Vogtland. Frank Kraus, links im Bild,
mit seinem besten Freund im Wohnbezirk „Syratal“, der ihm auch die
Farbe für die Inschrift besorgte, Gunter Bottich.


So ging es

Vom Hungerstreik der Polit-Häftlinge im Strafvollzug Cottbus 1981

3.Fassung [4]

Für Hannes Schwenger

Dass der Mensch gern auf dieser Erde lebt.
Reiner Kunze

1.
Das war das Schönste. Und so las sich die
in Räumen versteckte Losung: „17. Dezember
Kampftag der Solidarność
Donnerstag-Mittag Solidaritätshungerstreik.
Solidaritäts-Komitee politischer Häftlinge(SKPH)“.
Und so erinnere ich mich im Gedicht.

2.
Der Himmel warf sein Seidengrau
in den Freihof, Freikaufknast Cottbus,
ein Schotterplatz, kein Grün.
Dreihundertfünfzig Häftlinge streikten
an jenem klirrende Dezembertag,
Kommando für Kommando.

3.
Wir standen da, im weihnachtlichen Schnee,
und harrten aus, umgeben
von Hundegebell und Wolkensümpfen
aus Feldfrucht und Speck,
blieben an diesem Tag die Löffel in der Tasche:
Zur notwendigen Sichtbarmachung.

unserer Solidarität mit der polnischen
Gewerkschaft Solidarność,
Bevor das Kriegsrecht zur Gewohnheit
wird der Macht und einmalig, in Polen,
die Forderung nach einem runden Tisch, wie
auch das Jahrhundertwort: tak my możemy,

Jahre später: yes we can.
Taktisch widerstehend,
gelassene Stille,
von Drohungen der Aufseher unterbrochen:
“Essen, na los!”
“Alles verabredet vorher!”

4.
Natürlich. Sie verfügten über ein Spitzelheer.
Wussten’s vorher und standen in der Speisebaracke
schon ganz früh mit ihren Rüden, den Unheiligen, Spalier.
Doch nichts: wie Primadonnen nach einem misslungenen
Sprung, blickten die gemeinen Frugenköche,
zu den vollen, aber unberührten Tellern.

5.
Es ging zurück in die Zellen. Hofrichter,
der Ranghöchste der Kanaillen, ließ antreten:
“In Zweierreihen ab!” Zurück im Hafthaus ließen sie
die Hunde an der langen Leine in die Zellen
springen und nach uns schnappen. Das waren
die Blumen für unseren Kampftag.

6.
Keine Angst, die Zellen waren Universen,
Ärzte, Professoren, Olympioniken, es gab
Wissen und Ertüchtigung. Jedes Lexikon
strahlte uns, bald aufzubrechen wohin:[5] die Seychellen, nach Afrika oder weiter,
mit allen Ländern in Kontakt, in Tempelhof.[6]

7.
Sodann der Himmel im Seidenblau.
Das Blaue vom Himmel auch vor dem
Offizier für Kontrolle und Sicherheit (OKS) Träger:
“Du lehnst Wałesa ab, klar!” “Unterschreib!”
“Im Bann des Sozialistischen Wegweisers [7] wünschst du wie Orpheus noch zu singen!”

8.
Nein: geschlossen strebten wir gen West.
Strafgefangene, Staatsfeinde, Handelsware:
für jeden von uns kassierte das Land hundert Riesen.
Doch so schön, umgeben von Hundegebell,
war auch dies gemeinsame Wort vers le est
[non fou]: Unrecht vermiesen statt Rübenragoût.
(1991/6. Juli 2014)

 

Endnoten

1. Hugo Ball, zitiert von Peter Sloterdijk, in: Du musst dein Leben ändern, Suhrkamp, 1. Aufl. 2009 S. 100.

2. CD: “Il canto di Malavita (La Musica della Mafia)”. Label: Pias (rough trade). Lieder der kalibrischen Mafia (Ndrangheta). Inhaltlich geht es um die Gesetze der Ehre, das Schweigens und der Vergeltung .

3. Im Kürzel ABV. Üblicherweise gab es in jedem Viertel (im DDR-Deutsch „Wohnbezirk“) einer Stadt einen für die Kontrolle und Sicherheit verantwortlichen ABV.

4. 1.Fassung in: Marion Brandt, Für eure und unsere Freiheit. WEIDLER Buchverlag, 1. Auflage 2002, S.359f. Polnisch. Aussprache ż = żet = wie sz.

5. Friedrich Hölderlin, Lebenslauf, Zeilen 15-16: Und verstehe die Freiheit, /Aufzubrechen, wohin er will. Die Bibliothek Deutscher Klassiker, Band 20, I/I, S.285.

6. In Berlin-Tempelhof (Gontermannstraße) wohnte der Autor die ersten Monaten in (West-)Berlin.

7. Jargon des Haft-Regimes im Zuchthaus Cottbus für den Schlagstock.


 

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V.l.n.r. Victor Witt, Knut Dahlbor, Lech Walesa, Axel Reitel im Büro Walesa im Grünen Tor in Gdansk

 

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Nov 18 2014

Rainer Stollmann

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Films by Alexander Kluge that relate to some of the themes in his book History and Obstinacy, which has recently been published in English

These  short films below provide openings to various parts of his recently published book in English History and Obstinacy. Notes reference specific chapters or sections of the book.


Man’s Essential Powers
— See Chapter 1: The Origins of Labor Capacity in Separation (The Permanence of Primitive Accumulation), especially “Different Forms of Property” (pp. 79-97) and “Man’s Essential Powers” (p. 88).
— See Commentary 8: The Loss of Reality/The Loss of History: “The Landscape of Industry is the Opened Book of Human Psychology” (pp. 242-46)

 

 


 

The Obstinate Child
— See “The Obstinate Child” and “A Comparison Between Antigone And ‘The Obstinate Child’” (pp. 292-93 and 293-94)
— See “Antirealism of Feeling”(pp. 414-15)

 


 

“Der Gesamtarbeiter” vor Verdun [youtube_sc url=”https://www.youtube.com/watch?v=dgpQCnUwJ6M”]

 


 

Lament of the unwanted product
— See “Production, Primary and Secondary” (pp. 406-07)

 

 


 

One person is the mirror of another
— See “The Brain as a Social Organ” (pp. 192-93)
— See Chapter 7: Love Politics: The Obstinacy of Intimacy (pp. 341-84)

 

 


 

The Concierges of Paris
—See “The Concierges of Paris” (pp. 428-29)

 

 


 

The song of the crane Milchsack IV
— See Chapter 3: Elements of a Political Economy of Labor Power, especially: “The Contradiction between Living and ‘Dead Labor’” (pp. 128-30)

 

 


 

We are the inhabitants of the Cosmos
— See Commentary 3: “On the Concept of the Real” (pp. 156-61)
— See also “21,999 B.C.” (pp. 438-39)

 

 


 

The death that had to laugh
— No particular hint. The fairy-tale touches some significant keywords of the book like cooperation, practical sense, antirealism of feelings, and the comic as a form of direct protest.

 

 


 

The forced institution of Exchange & I’ve never seen two dogs exchange a bone
— See Commentary 12: The Ancient Naval Hero as Metaphor of the Enlightenment: German Brooding Counter-Images;
— “Obstinacy,” especially “The Violent Learning Process of Commodity Exchange on The Mediterranean Sea” (pp. 273-74)

 

 
 

 


 

Money makes things mobile
— See “The Differentiation of Strong and Weak Social Forces and of Hermetic and Associative Forces” (pp. 140-43) [youtube_sc url=”https://www.youtube.com/watch?v=L-SCf9MIwyY”]


Light veins
—See “A Return to ‘Cultivating Independently’” (p. 405) See also “Capitalism within us” (pp. 419-20)

 

 

 


 

How much blood and horror
— See Commentary 2: “The Contemporaneity of Mental History” (pp. 154-55)

 

 

 

 

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Jun 12 2014

Autoren Glossen 38/2014

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Michael Augustin ist ein in Lübeck geborener Bremer Lyriker, Essayist, Autor kurzer Prosa und Dramen. Außerdem ist er Redakteur bei Radio Bremen.

Peter U. Beicken ist “Professor of German” an der Universität of Maryland, College Park.

Christine Cosentino ist “Professor of German” an der Rutgers University in Camden und Mitherausgeberin der 1997 gegründeten Literatur und Kulturzeitschrift Glossen.

Gabriele Eckart ist eine deutsche Autorin und “Professor of German and Spanish” an der Southeast Missouri State University.

Günter Kunert ist ein deutscher Autor und Lyriker.

Helga Kurzchalia ist eine Berliner Autorin und Lyrikerin.

Frederick A. Lubich ist “Professor of German” an der Old Dominion University, Norfolk, Virginia.

Utz Rachowski ist ein deutscher und vor allem Vogtländischer Autor.

Axel Reitel ist ein deutscher Autor und Lyriker.

Walter Weber ist Redakteur bei Radio Bremen.

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Jun 12 2014

Peter U. Beicken

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In Memoriam Cornelius Schnauber (1939-2014)

Cornelius Schnauber hatte ein bewegtes Leben hinter sich, als er am 21. Februar im Alter von 74 Jahren nach einem Herzanfall starb, zu früh und alle berührend, die ihm nahe waren oder nur aus der Ferne kannten. Seit Monaten an einen Rollstuhl gefesselt, glaubte er im Herbst des vergangenen Jahres noch, an der Tagung des Exil-P.E.N.s in Italien teilnehmen zu können. Gabrielle Alioth und Frederick Lubich haben auf der Webseite dieses P.E.N.s Schnauber ihre Nachrufe gewidmet.

Unermüdlich war Schnauber in seinen Tätigkeiten und immer zutiefst beteiligt. Das Hollywood der vielen Emigranten wurde seine “zweite Heimat”, nachdem er Deutschland verlassen hatte. Vor allem darüber hat er publiziert, Wertvolles zugänglich gemacht und einsichtig übergreifende Zusammenhänge dargestellt.

In Freital bei Dresden wurde er geboren als Sohn einer Opernsängerin und eines Nazi-Offiziers, der die deutschen Truppen in Turin befehligte. Der Fünfzehnjährige floh aus der DDR in den Westen Deutschlands, 1954 zum ersten Mal. Jedoch kehrte er wieder zurück und floh erneut im Jahre 1957, um in Hamburg Germanistik und politische Wissenschaften zu studieren. Nach der Promotion (1965) wanderte nach Amerika aus, unterrichtete zuerst in North Dakota (1966-1968) und ging danach an die University of Southern California in Los Angeles, wo er bis zu seiner Emeritierung (2006) als Associate Professor für deutsche Sprache und Literatur tätig war.

Als eine rege und leidenschaftlich involvierte Persönlichkeit lenkte Schnauber seinen Blick über die engeren Grenzen seines Faches hinaus. Wie kein anderer war er engagiert im kulturellen Austausch zwischen der Alten und der Neuen Welt. Mit dem Gespür für Mögliches verband er das Geschick im Organisatorischen. So gründete er das Max Kade Institute for Austrian–German–Swiss Studies, dem er lange als Direktor vorstand, um in Los Angeles intensiv und weitreichend den Kulturaustausch mit international besetzten Veranstaltungen, Tagungen und Seminaren mit prominenten Schriftstellern, Politikern, Musikern, Filmkünstlern aus deutschsprachigen Ländern und den USA zu fördern. Besonders widmete er sich den kulturellen Beziehungen zu Berlin, Dresden und Wien.

Zu Schnaubers Œuvre gehören zahlreiche Bücher und Essays zur NS-Diktatur, Exilerfahrung und Gegenwartsliteratur. Darüber hinaus publizierte er Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Lebenserinnerungen. Seit dem Fall der Berliner Mauer diente er als Berater für Dokumentarfilme in verschiedenen Ländern. Für seine vielseitigen Verdienste war Schnauber hochdekoriert: zweifacher Träger des deutschen Bundesverdienstkreuzes, Mitglied des Exil-PEN und Träger des Goldenen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich; dazu Auszeichnungen von der Stadt Los Angeles und der American Association of Teachers of German.

Für Schnauber war das Verhältnis zu Musik, Musiktheorie und Oper ein Familienerbe, das er an seine Kinder, Tom, den Komponisten, und Christina, die Opernsängerin weitergab. Er selber saß oft am Flügel und spielte. Seit 1992 wirkte er als Pädagoge deutscher Diktion (German Diction Coach) an der Los Angeles Opera, und seiner Freundschaft mit Placido Domingo entstammt seine Biografie des unvergleichlichen Sängers.

Schnauber und der Film. Ein Medium, das ihn gepackt hatte. Mit Weltoffenheit, aber auch durch Zufall und glückliche Umstände lernte er viele der in Kalifornien lebenden Emigranten aus Deutschland und Österreich persönlich kennen, gewann ihre Freundschaft und war geschätzter Gesprächspartner und Vertrauter. Regisseure wie Billy Wilder, Fritz Lang, Fred Zinnemann und der Komponist Eric Zeisl waren unter diesen Freunden.

Ich selber habe Schnauber nicht getroffen. Aber er war mir ein Begriff. Das kam so. Ein Schneetag in Berlin, 1994. Aufwärmen im Bücherbogen am Savigny-Platz, wo ich mein Filmbuch Eldorado hatte. Auf dem Tisch im Gemenge der vielen Titel Schnaubers Fritz Lang in Hollywood. (1986). Attraktiver Umschlag, Fritz Lang keilförmig im Schwarz. Zugeschweißt der Band. Ich mache auf, lese auf einem Hocker, vertiefe mich. Nimme es mit, obwohl ich doch ganz andere Titel gesucht hatte. Aber da war ein Einblick in den Menschen Lang, das grantige Genie, der Regisseur als arroganter Koloss und als sentimentaler Watschenmann, der Lotte Eisner, die er liebte und verehrte, durchaus auch als “dumme Gans” zu beschimpfen sich herausnahm. Auch Schnauber wird dauernd düpiert, beleidigt und dann wieder besänftigt, weil der Maestro wieder lieb wird, wieder freundlich – bis zum nächsten Grantigsein. Schnauber hat diese Achterbahnfahrt der Zumutungen und Gefühle geduldet, ertragen, ausgehalten. Er hat facettenreich zur Physiognomie des Menschen (und Künstlers) Fritz Lang beigetragen und auch den Untergrund des Exils, die maßlose Ungerechtigkeit und den Frust der verletzten Ehre und die Melancholie geschundener Würde durchscheinend gemacht. Zur Größe der Kunst gehören nicht nur die Werke, sondern auch die menschlichen Seiten der Künstler, besonders das Leiden in schwieriger Zeit. Da bin ich Schnauber dankbar, dass er den Alltag erlittener Schmach eingebracht hat, wo die Kunstwerke kaum diesen Untergrund in ihrer Aura transparent machen.

Als Trans-Lit2 Beiträger ist uns Schnauber ja auch in Erinnerung. In einem seiner Jugendgedichte, “Das verlorenen Paradies!”,  hat er, emphatisch und epitaphmäßig, sich der Extreme des Herzens vergewissert und sie uns nahe gebracht zum Eingedenken:

Längst sind verstummt die empfindlichen Saiten;
War’s doch ein Mensch, der die Harfe zerbrach.
Doch aus der Ferne, durch alle unsre Leiden
Klingen die Töne der Liebe noch nach.

 

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Jun 12 2014

Christine Cosentino

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Christine Cosentino, Schräge Typen – Sonderlinge in Jakob Heins komischen Geschichten

Probleme  der Abweichungen vom konventionellen Normalverhalten und der möglichen Grenzauflösung ins Pathologische sind dem in der DDR geborenen Autor Jakob Hein  (Jahrgang 1971) keineswegs fremd, denn hauptberuflich ist er Facharzt für Kinder-  und Jugendpsychiatrie in Berlin. Bekannt und geschätzt ist er weitgehend für seinen unverkrampften Umgang mit dem Thema DDR. Von seiner  Erstveröffentlichung  Mein erstes T-Shirt (2001) bis zu seinem bis dato letzten Werk, der mit Jürgen Witte veröffentlichten Abhandlung  über Deutsche und Humor  (2013)[1],  bereicherte er durch die Jahre  hindurch den literarischen Markt mit köstlichen Satiren über ideologische, sozialkritische, psychologische oder existentielle Problematik sowie menschliches oder gesellschaftliches Fehlverhalten. Im Erforschen skurriler Charaktere trug Hein weitreichend zum Inventar der sonderbaren Käuze in der Weltliteratur bei. In ihrer Verschrobenheit oder ihrem Angesiedeltsein in einer gesellschaftlichen Grenzsituation  fügen  sich seine  Protagonisten trotz  individuellen Andersseins nahtlos  in die Reihe von Grass’ Oskar Matzerath, Cervantes’ Don Quichote,  Gontscharows  Oblomov  oder Kafkas Gregor Samsa ein.  Eins haben sie alle gemeinsam: sie bewegen sich  freiwillig-unfreiwillig “ex centro” an den Rand der Gesellschaft in eine isolierende Nische, die sie als Exzentriker ausweist.  Meist sind es harmlose, sogar liebenswerte  Menschen, die den Leser erheitern;  oft jedoch lösen sie mit ihrem Anderssein im Bereich genormter Konventionen Beklemmungen und Unbehagen aus.  Der Leser beginnt, darüber nach nachzusinnen, ob nun der Aussteiger ein ernstzunehmendes Problem  für die Gesellschaft ist oder ob die Gesellschaft das Problem ist.

Im  “humoristischen Lachen öffnet man Grenzen”, [2] heißt es  in einem Gespräch der Philosophen Odo Marquard und Steffen Dietzsch  über das Lachen und den Humor. Heins Lebenshaltung ist die eines  Humoristen. Mit dem Gestus ironischer Übertreibung charakterisiert  er sich  in einem Radio-Interview folgendermaßen: “Also für mich ist es so, dass Humor so eine Art Krankheit ist. Es gab Zeiten in meinem Leben, wo ich mir gewünscht hätte, daran nicht zu leiden, aber ich habe es nun mal und probiere, damit zurande zu kommen …”[3] Das gelingt ihm nicht nur als Autor, sondern auch als Lesebühnenmoderator der Berliner Reformbühne Heim @ Welt, wo er seine Texte vorliest oder andere Autoren vorstellt. In seinen Werken paaren sich Komik und Witz, Ironie und Groteske,  denn  –  so führt  er in einer  Untersuchung  über Deutsche und Humor aus:   “Humor ist  keine  Gattung,  sondern eine Haltung, eine Vielzahl von Methoden wie Satire, Zynismus, Clownerie usw.”  ( 117). Fast alle Werke Jakob Heins sind hintergründig witzige Bücher über die Absurditäten des Alltags in der vergangenen DDR oder in der bundesdeutschen Profitgesellschaft. Mit Recht nennt ihn Michael Opitz  “einen Spezialisten für komische Geschichten, die von merkwürdigen Zeitgenossen handeln.”[4]  Es sind  zumeist  Satiren oder Grotesken über skurrile Charaktere in alltäglichen Situationen, in denen ein Ich-Sprecher von der Perspektive eines naiven Außenseiters Ost-West-Klischees aufs Korn nimmt. Von der  Miniaturensammlung Mein erstes T-Shirt  (2001) über  das  US-Reisebüchlein  Formen menschlichen Zusammenlebens  (2003) bis zum erst kürzlich erschienenen satirisch aufgedrehten Landeskunde- und Geschichtsunterricht Fish’N’Chips @ Spreewaldgurken  (2013) geht es um solche Clownerien. Deutschland, so die treffende Einschätzung eines Kritikers, wird zum “Absurdistan.”[5] Das gilt, so kann man verallgemeinern, für das Gesamtschaffen Jakob Heins.

In dieser Arbeit sei ein kurzer Blick geworfen auf einige eigenbrötlerische Randfiguren, Aussteiger, Sonderlinge  oder Exzentriker im Werke Jakob Heins, die sich “ex centro”  in eine gesellschaftliche Grenzsituation begeben, die  ihnen das Leben erträglich macht oder die sie erdrückt.  “Komik” –  so der Philosoph Helmut Plessner –  gehört der Ebene an, “in der sich der Mensch als solcher und im Ganzen in der Welt und gegen die Welt behauptet. Sein Irgendwo-irgendwann-Darinstehen, d.h. seine exzentrische Position, ermöglicht ihm, sich und seine Welt, in der er zu Hause ist und auf die er sich versteht, als begrenzt und offen zugleich zu nehmen, vertraut und fremd, sinnvoll und widersinnig.”[6] Sehr ähnlich sehen die Autoren Jakob Hein und Jürgen Witte diese “exzentrische Position”: “Humor ist die bewußte Hinwendung des Geistes zu den Fesseln der Realität” (H 33). Gelingt es dem Außenseiter,  sich mit den Fesseln  abzufinden oder sie sogar  abzuwerfen, so öffnet er im humoristischen Lachen Grenzen und findet  seinen Frieden. Gelingt es ihm nicht, so klingt, laut Plessner, “das Lachen gepreßt, und der Verlegene oder Verzweifelte hat das Gefühl eines deplacierten Ausdrucks.”[7] Hein skizziert  beide Typen: den verschrobenen Einzelgänger, der in seinem Anderssein nur anders tickt und den isolierten Sonderling, der unter Realitätsverlust  leidet. Doch dann gibt es noch einen Zwischenbereich, in dem die beiden Typen ineinander gleiten und zur Gefahr für sich selbst oder andere werden können. Diese Situationen sind bar aller Komik. Dem Leser erstirbt das Lachen.

Im Jahre 2008 erschien der Roman Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht[8],  in dem Hein in ironisch-witziger Brechung mit einem “übermächtigen Bezugstext”[9], dem Faust-Stoff, spielt. Das Werk ist ein Bündel  “schräger Allerweltsgeschichten”,  –  so meint ein Kritiker – in denen Hein die “traurigen Gestalten der Überflußgesellschaft  unterläuft.”[10]  Der Leser begegnet seltsamen Käuzen, die sich ernsthaft in lang ausgedehnten Reflexionen und schier endlosen Tiraden den Kopf zerbrechen, wieviel Milch in einem guten Kaffee sein darf,  wie man am besten  “die vollkommen sinnlose” Chinesische Mauer würdigen soll oder  “inwiefern die Form der Toilettenschüssel mit dem Nationalcharakter eines   Landes in Verbindung stehe”  (26).  All diese Sonderlinge  sind auf Glückssuche    oder auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, kurz, auf der Flucht aus der Gesellschaft und der Konvention. Die  Hauptfigur jedoch  ist  Boris Moser,  ein  “schräger Typ”,  wie die Frau seiner Träume ihn nennt,  der  eine  “Agentur  für  verworfene Ideen”  betreibt,  in der er abstruse  Ideen  jeder Art sammelt, nur keine Romananfänge.  Er ist ein harmloser, freundlicher  Exzentriker auf  der Suche nach einer Form erfüllten Lebens.  Er findet das  Glück ganz  unerwartet, indem er von ihm verworfene Romananfänge zu Geschichten ausweitet, die er erzählt. In einer Art Rahmenhandlung lernt er nämlich die schöne Rebecca kennen, die durch Zufall in seinen Laden kommt. Sie interessiert sich für  ihn und seine schrägen Ideen, besonders aber für seine  Romananfänge und die Geschichten, die sich dahinter verbergen. Und so  erzählt ihr Boris drei ineinander verzahnte Geschichten ohne Ende, die um ein Kernstück,  einen Pakt mit dem Teufel   –  “des Pudels Kern“?  –  kreisen.

In der Art einer russischen Matrioschkapuppe, in der immer weitere kleinere Figuren stecken, gleitet im Erzählstrom eine Geschichte in den Anfang einer neuen, bis dann beim Erscheinen der dritten und letzten Puppe/Geschichte die Reihenfolge wieder umgekehrt wird; der Kreis schließt sich. Die Handlung führt zurück in die Ausgangssituation mit den beiden Hauptfiguren Boris und Rebecca. Um dem beglückenden Moment der Begegnung  Dauer  zu verleihen  –  “Verweile doch …” , heißt es bei Goethe – , will der versponnene  Erzähler  Boris mit seinen Geschichten die schöne Rebecca zum Bleiben bewegen, hatte sie doch anfangs schelmisch gedroht: “Wenn du mir jetzt nicht gleich die ganze Geschichte erzählst, dann drehe ich dir zunächst den Hals um und verlasse dann deinen schrägen Laden für immer” (48).

Die Faustsche Folie wird bereits im Titel des  Romans sichtbar. Wird  bei Goethe in der Osterspaziergang-Szene  “Vor dem Tor”  (Faust 1) dem Moment eines sich ewig wiederholenden tagtäglichen Sonnenuntergangs  beglückende  Dauer  verliehen –  “Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht” –, so dehnt sich auch die Beziehung von Boris und Rebecca märchenhaft  ins vielversprechend Dauerhafte. Sie lädt ihn zu sich nach Hause ein.

Zunächst hört Rebecca die Geschichte von der schönen Sophia, die die Gedanken anderer Menschen lesen kann, eine Last, unter der sie zusammenbricht.  Sie liegt auf der Intensivstation eines Krankenhauses im Koma. Telepathisch erzählt sie dem Nachtarzt Sebastian über ihre Arbeit als Sekretärin bei einem mürrischen alten Schriftsteller, der erblindet ist. Dieser diktiert ihr die Geschichte über den  “merwürdigen Menschen” Heiner, einen frustrierten Gelehrten, der beschließt, “nach dem Sinn des Lebens  zu forschen” (104). In seiner Studierstube versucht er, aus den wichtigsten Büchern der Welt Teile herauszudestillieren,  “[die] das  Puzzle in seiner Lebenszeit zusammenfügen” (106) und zu der Erkenntnis führen  sollen,  “wie alles sich zum Ganzen webt” (Faust 1, Nacht). Dieser moderne Faust  scheitert, weil die ständige mediale Ablenkung und der  überbordende Informationsüberfluss des modernen technischen Zeitalters  zu immer wieder neuen, sich rapide ändernden, letztlich nichtssagenden  Ergebnissen führt. Und so kommt es zu einem Pakt mit der mephistophelischen Teufelsfigur Wolf, der ihn an einen, Ort, an dem es keine Ablenkungen gibt,  projiziert, nämlich ins fünfzehnte Jahrhundert. Dort angekommen, wird ihm schnell  klar, dass er zwar mit dem  Informationsüberfluß seines Zeitalters nicht mehr belastet ist, jedoch im technisch begrenzten Mittelalter seine Forschungsergebnisse mit niemandem teilen kann. Seine Arbeit ist ihres Sinns beraubt. Er stagniert im Zustand fortwährender Unzufriedenheit, wobei ihm klar wird, dass ein Spiegelbild seiner selbst seinen Platz im einundzwanzigsten Jahrhundert eingenommen hatte: “Die unerträgliche Wirklichkeit des einen war der Wunschtraum des anderen gewesen” (157). Die Geschichte hat kein Ende, zumal sie auf der Tastatur eines Computers mit thailändischem Alphabet  getippt wurde. Die Handlung  gleitet zurück zu Sophia, die auf der Intensivstation liegt. Der Tag bricht an;  der telepathische Dialog  bricht ab. Die Geräte werden abgeschaltet.

Am Schluß taucht Boris wieder in der Rahmenhandlung auf.  Er allein hat  unter den vielen Glücklosen der Handlung das Glück gefunden, wenn auch durch Zufall. Im Durchbrechen von Erwartungshaltungen zeigt sich unfreiwillige Komik.  Boris hat im Erzählakt die fremde Frau für sich gewonnen. Selbstbewußt ergreift sie die Initiative und im deutlichen Abweichen vom literarischen Vorbild  –  “Mein schönes Fräulein, darf ich wagen/ Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen” (Faust 1)  –   bietet sie ihm den Arm: ”Einen Moment fragte er sich, ob es richtig war, dass sie ihm den Arm anbot, und ob nicht er das hätte tun sollen, aber dann hakte er sich vorsichtig bei ihr ein” (174) So gelingt es ihm, die Fesseln der ihn  einengenden unmittelbaren Wirklichkeit abzuwerfen: Boris, der merkwürdige Sonderling mit einem Minimum an Sozialkontakten,  steigt aus der genormten Gesellschaft  aus, um in eine private Sphäre des Liebesglücks einzusteigen, in der das Du seiner  skurrilen inneren Welt mit Sympathie begegnet .

Um einen Menschen, der ebenfalls neben der Spur läuft, geht es in einem anderen, dem vorigen Text diametral entgegengesetzten Text. Im Jahre 2006 veröffentlichte Jakob Hein den Roman Herr Jensen steigt aus. [11]  Der Titel spricht für sich selbst. “Nicht das Alltägliche, nicht der Wahnsinn interessieren Jakob Hein, es ist der schmale Grat dazwischen”, so heißt es im Klappentext. Hein projiziert seinen Sonderling folglich in jenen Zwischenbereich, in dem Scharfsinn und Irrsinn letztlich nicht mehr unterscheidbar sind. Der Roman Herr Jensen steigt aus ist ein Psychogramm. Wann, falls überhaupt, ist ein Isolierter oder Einzelgänger, der selbst  ganz klar erkennt, “daβ er am Rand der Gesellschaft [steht]”(83) und durch das Raster sozialer Normen fällt, eine Gefahr für sich?  Bei Heins  “Anti-helden”  Herrn Jensen erscheinen eines Tages Vertreter aus der Psychiatrie: “Wir haben Hinweise erhalten, dass Ihr Verhalten in letzter Zeit einfach etwas merkwürdig  geworden ist. Und deshalb würde ich Sie bitten, mit uns mitzukommen […] (132), um Gefahren von sich selbst und anderen abzuwenden” (133).  Kann das Merkwürdige ihn zum Kandidaten für die Zwangsjacke machen?  Harmlos, wunderlich, verschroben wirkte Herr Jensen schon immer; er war ein Mensch, über den man lachte.  Aber eine Katastrophe in seinem ereignislosen Leben wird zum krisenauslösenden Moment, macht die Welt plötzlich unerwartet “zu einem unscharfen, schwer faßbaren Etwas unvereinbarer Widersprüche”,   in dem “er sich treiben läβt” (42). In welche Richtung aber treibt er? Treibt er auf den Abgrund zu? Hein gibt keine Antwort, er beobachtet und berichtet, lässt klinisch nüchtern die Fakten sprechen. Er präsentiert 18 numerierte Kapitel (001-018) mit sachlich formulierten Überschriften, die sich wie eine wissenschaftliche Akte bzw. Krankenakte lesen.

Herr Jensen ist unangepasst, lebensfremd, motivations- und orientierungslos, still und introvertiert; ein freundlicher Mensch, der  keine Freunde, keine Frau, kaum Kontakt zur Familie hat und der sich in seinem  Daueraushilfsjob als Briefträger recht behaglich eingerichtet hat. Er will nicht auffallen, fühlt sich in seinem Anderssein wohl und will in seinem gesellschaftslosen Vakuum in Ruhe gelassen werden. So wird er Gegenbild des ständig unter Druck stehenden, konkurrenzbewussten modernen Menschen, der sich unbehaglich in der Gegenwart dieses exzentrischen  “Spinners” fühlt.  Die Leistungsgesellschaft, die allein auf Konsumdenken und Entertainment programmiert ist, hat für einen Einzelgänger wie Herrn Jensen keinen Platz. Schon aus diesem Grund gehört er in die Reihe der “Auβenseiter”, die Hans Mayer im Rahmen seiner Sozial- und Kulturkritik einer ausführlichen Untersuchung unterwirft: “Eine Denkrichtung, die eine sogenannte Personalisierung verachtet, um allein die Kollektivität anzuerkennen, die quantitativ erheblichen Regelfälle, statt der qualitativen Einzelfälle, fördert das fetischisierte Denken und damit eine unmenschliche Praxis.”[12] Das heiβt also, dass es dem Leser in diesem Personalisierungs-Fall überlassen ist, darüber nachzudenken, ob Herr Jensen ein ernstzunehmendes Problem oder ob die normierende Welt das Problem ist.

Treibt dieser harmlose Sonderling in steigender Verwirrung aus dem unscharfen Zwischenbereich von Wahn und Sinn in den totalen Irrsinn, nachdem seine Arbeitsroutine bei der Post plötzlich zum Stillstand gekommen ist? Ihm wird “im Rahmen unseres neuen Programms zur Verhinderung betriebsbedingter Kündigungen” (25) gekündigt. Die Folge ist totale Isolation.  Zunächst entwirft er eine Philosophie des Nichtstuns, die dem Studium verblödender Fernsehprogramme gewidmet ist, bis er, an den Rand des Wahnsinns getrieben, den Apparat samt angelegter Akten aus dem Fenster wirft. Die Werte, die die Fernsehprogramme vermitteln, sind ihm fremd, und so begreift er, der Fremde, daß er außerhalb gesellschaftlicher Normen steht, zumal Normalität in der Gesellschaft folgendes bedeutet:

Man sollte viele Freunde haben.

Man sollte die aktuelle Mode kennen.

Man sollte Ahnung von Musik haben.

Man sollte fröhlich sein.

Man sollte Geld haben.

Man sollte schön sein.

Man sollte etwas mit sich anfangen.

Man sollte Träume haben. (83)

Herr Jensen diagnostiziert, daß er nicht normal ist. Er, der nie so richtig eingestiegen war, steigt aus: “Herr Jensen mußte feststellen, dass er nicht normal war. [Er mußte] nun erstaunt erkennen, daß er am Rande der Gesellschaft stand” (83). Er lebt in völliger Stille. Seine antigesellschaftlichen Verschrobenheiten verschärfen sich. Meist sitzt er im Sessel und reflektiert über Verschwörungstheorien; er glaubt sich verfolgt und halluziniert: “[Er] sah jetzt sein breites Grinsen auf der glänzenden Oberfläche  seines Kaffees” (88).  Das Grinsen würde, laut Plessner, “den Abbruch seines Daseins [signalisieren]” und die Unfähigkeit, “sich von der Komik des Deplaciertseins packen zu lassen” (Plessner, 166).  Sollte  Komik im Zustand der Arbeitslosigkeit und Isolation  überhaupt vorstellbar sein, so wäre das Lachen sicherlich gequält und verzerrt, und auch dem Leser würde das Lachen über diesen seltsamen Kauz und Sonderling vergehen. Herr Jensen, nachdem ihm von Seiten des Staates mitgeteilt wird, dass er wegen seines merkwürdigen Verhaltens reif für die Psychiatrie sei, löscht sich selbst aus. Er entfernt sein Namensschild von seiner Tür.  Der Ausstieg aus der Gesellschaft ist abgeschlossen.

Ein Text ganz anderer Art  ist die groteske  Erzählung  Wurst und Wahn. Ein Geständnis[13]  (2011). Es handelt  sich um das satirische  Geständnis eines Kriminellen, der,  in den Wahnsinn getrieben, eine  Kult- und Leitfigur in der Gesellschaft ermordet hat. In verzerrt  übersteigerter Form präsentiert Hein einen Bereich gesellschaftlicher Mitte, der von Fanatismus und missionarischem Eifer durchdrungen ist.  Hier ist ein namenloser, sich drangsaliert fühlender Ich-Sprecher  kein Aussteiger oder Outsider, sondern  das Gegenteil, ein “Einsteiger” bzw.  Insider.   Er ist ein durchaus lauterer Bürger,  ein “ein wenig langweiliger [Mensch]” (29), der aber  “immer dabei sein wollte”  (9), “ein friedfertiger,  total unauffälliger Mensch” (30), dessen Mitschüler zum Teil zwei bis  drei Schuljahre  brauchten, um sich seinen Namen zu merken. Dann allerdings, unter enormem sozialen Druck,  steigt er, ein argloser Fleischesser,  tiefer und tiefer in eine totalitäre, zwanghaft  vegetarisierte Gesellschaft ein.  Vegetarismus wird zur  gesellschaftlichen  Massennorm und zur einzig wahren Lebensform.  Der fleischessende Protagonist wird beim Versuch, sich den neuen Normen anzupassen, buchstäblich in den Wahnsinn und zum Mord  getrieben. Nicht das  ausschließende  A-Normale einer Grenzsituation führt in diesem Vegetarismusmonolog in den Irrsinn, sondern  die einschließende “Normalität”  der Mitte.  Diese Mitte schafft Attribute, die gewöhnlich dem traditionellen Exzentriker oder Außenseiter zugeschrieben  werden: “Ich wurde schrullig” (46). Hein kommentiert: “Die Ideologien hinter diesem ganzen Unsinn satirisch zu überspitzen und dann eben bis zur Katastrophe, bis zum Mord zu übertreiben, das hat mir absoluten Spaß gemacht.”[14]  Er, der selbst Vegetarier ist, stellt  einen   “merkwürdig” willenlosen Menschen vor,  der  nicht  – “ex centro”  – von sozialen Normen abweicht, sondern  in blinder Hörigkeit im  totalitär durchvegetarisierten  gesellschaftlichen  Zentrum aufgeht und verkümmert.  Es geht, so kommentiert  Hein in einem Interview,  “einerseits um die Kritik an übermäßigem Fleischgenuss, andererseits um Satire gegen die ideologische Aufladung.”[15]

Auf einer Weihnachtsfeier mit Arbeitskollegen bestellt sich der ahnungslose Protagonist sein traditionelles Weihnachtsessen, eine Gänsekeule, Rotkohl und Klöße. Entsetzt findet er sich einem Sturm der Entrüstung ausgesetzt. Und da es “ihm immer wichtig gewesen [war], nicht aus der Reihe zu tanzen” (9), gelobt er unter Druck und Zwang, Vegetarier zu werden. Entzugserscheinungen und Entwöhnung verändern ihn physisch und psychisch. Die Zähne fallen ihm aus, er nimmt ab, seine Haut ist fahl. Er leidet an Erbrechen, Delirium, an epilepsieartigen Aussetzern, Depression und Impotenz. Hein treibt die Groteske auf die Spitze:  Glieder und Penis fallen ab. Worte  wie “Hackbraten”  und “Leber” nuschelnd, schlurft der Leidende durch  die Wohnung: “Die Augen weit aufgerissen laufe ich in der Wohnung herum und stecke mir wie ein Kleinkind alles Mögliche in den Mund, kaue darauf herum. Nach zwei Minuten ist der Spuk herum und ebenso unvermittelt wie der Anfall angefangen hat, spreche ich den davor begonnenen Satz zu Ende” (35). Hilflos wendet er sich ans Internet und stellt Kontakt zu Tom Tofu her, der Leitfigur des Vegetarismus. Dieser versorgt ihn mit guten Ratschlägen, die ihm den Vegetarismus schmackhaft machen sollen. Doch der dahinsiechende Neu-Vegetarier träumt weiterhin von Rouladen, Würsten und Gänsekeulen und stellt letztendlich Kontakt zum Untergrund her,  zu Bert Brühwürfel von der Gruppe “Meat Friends”.  Diese Gruppe hat es sich zum Ziel gemacht, die unter Druck zum Vegetarismus bekehrten Unglücklichen wieder zur Fleischkost zurückzuführen. Zum Rückfall ins Karnivore kommt es schnell. Der ausgehungerte Protagonist schließt sich der karnivoren Gruppe an; er muss jedoch sehr bald erkennen, daß beide Gruppen, die Pro- und Antivegetarier, schamlos kollaborieren und dass er Opfer ihrer konspirativen Machenschaften geworden  ist.  Fassungslos und nicht mehr Herr seiner Sinne tötet der Erboste den mächtigen Tom Tofu. Dem Polizeikommissar  gesteht er in einem langen Monolog, wie es zu dem Mord gekommen ist: “Mein ganzes Leben ist zerstört, meine Arbeit dahin, genau wie mein Penis (99)  [..] Nach  Meinung  der Vegetarier habe ich eine ihrer Leitfiguren getötet und gleichzeitig nach Meinung der Karnivoren ihren wichtigsten Unterstützer […]”  (101).  Der Protagonist, der sich selbst einmal als  “schrullig” und Mensch der Mitte bezeichnet hatte, entledigt sich seiner gesellschaftlichen  Fesseln;  komischerweise geschieht das in der Rand-  oder Grenzsituation  des Gefangenseins.  Das Gefängnis wird ihm zum Refugium, zum Hort der Sicherheit und Freiheit: “Denn ein Leben in Freiheit kann es für mich nur hinter Gittern geben.  Da draußen werde ich nie wieder sicher sein, ich kann keine Straße überqueren […], ohne um mein Leben zu fürchten”  (101).

Heins Interesse an Grenzsituationen ist offensichtlich. Sie signalisieren einen Bruch mit der gesellschaftlichen Normalität, die zumeist als substanzlos, monoton  und erdrückend erlebt wird,  die jedoch auch ein Maß an Geborgenheit und Verbindlichkeit gewährt. Wer aussteigt, ändert den Blickwinkel. Das kann, wie im Falle von Herrn Jensen, in tragische Isolation führen. Diese Tragödie ist jedoch voll unfreiwilliger Komik, denn durch sein Nichtstun wird Herr Jensen zur Provokation in der Leistungsgesellschaft. Er wehrt sich entschieden gegen sinnlose Schulungsmaßnahmen des Arbeitsamtes und findet Ruhe in seiner Einsamkeit. Somit  wird er in dieser Grenzsituation zur gesellschaftlichen Herausforderung.  Der schrullige Boris Moser dagegen findet Zufriedenheit ex centro im Schrägsein, denn es ist gerade diese merkwürdige Charaktereigenschaft, die die schöne Rebecca für ihn einnimmt. Schrägsein macht ihn attraktiv.  So lebt er außerhalb  der gesellschaftlichen Mitte nur im märchenhaften Moment schöner Zweisamkeit:  “Verweile doch, du bist so schön.”  In die extremste Grenzsituation am äußersten Rand der Gesellschaft gerät jedoch ironischerweise der konformistische  Mensch  der Mitte.  Wurst und Wahn führen den gebeutelten Protagonisten dieser überzeichneten Satire an einen Ort seltsamer Freiheit:  ins Gefesseltsein in einer Außenseiterposition.


 

Endnoten

[1] Jakob Hein und Jürgen Witte, Deutsche und Humor. Geschichte einer Feindschaft (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2013).  Zitate mit Seitenzahlen im Text der Arbeit.

[2] Odo Marquard und Steffen Dietzsch, “’Das Lachen ist die kleine Theodizee’: Odo Marquard im Gespräch mit Steffen Dietzsch”, Luzifer lacht. Philosophische Betrachtungen von Nietzsche bis Tabori, hs. v. Steffen Dietzsch (Leipzig: Reclam, 1993), S. 15.

[3] Oliver Kranz, “Porträt: Jakob Hein”,  WDR Mosaik, Sendung am 8. 3. 2013.

[4] Michael Opitz, “Erzähler von Format”, Deuschlandfunk  26. November 2013.

[5] Ralph Gambihler, “Deutschland als Absurdistan”, Dresdener Neueste Nachrichten 16.3.1906.

[6] Helmut Plessner, “Anlässe des Lachens”, in: Luzifer lacht …, pp. 119-175; hier 146.

[7] Plessner, 166.

[8] Hein, Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht (München: Piper, 2008). Zitate mit Seitenzahlen im Text der Arbeit.

[9] Sandra Kerschbaumer, “Vom Landen im Müll”, Frankfurter Allgemeine Zeitung  30.9.2008.

[10] Ulrich Steinmetzger, “Stylishes Dampfgeplauder”, Neue Ruhr-Zeitung 17.11.2008.

[11] Hein, Herr Jensen steigt aus, 3. Auflage (München: Piper, 2006). Zitate mit Seitenzahl im Text der Arbeit.

[12] Hans Mayer, Außenseiter (Frankfurt/M.: Suhrkamp Taschenbuch, 1981),  S. 464.

[13] Hein, Wurst und Wahn. Ein Geständnis (Berlin: Galiani Verlag, 2011). Zitate und Seitenzahlen im Text der Arbeit.

[14] Hein, “’Das tote Tier und das schlechte Gewissen.’ Gespräch mit Klaus Pokatzky”, Deutschlandradio Kultur   5. 12.  2013.

[15] Hein, “Ein wahrer Mensch isst viel Fleisch”, Frankfurter Neue Presse 15.10. 2011.

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Jun 12 2014

Axel Reitel

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Schwäne

Wieder eine Phase der Revolution
Ihr schwarzen Schwäne auf den steppengelben Hügeln
Hier bin ich als Kind Karpfen füttern gegangen
Hier habe ich die ersten Fluchtpläne
Am Teich in den Sand gezeichnet
Und hätte dafür verhaftet werden können
Erst vierzehn Jahr
Am Teich sind noch immer die alten Polizisten unterwegs
Am Standbild des Heiligen Georg sehen sie jetzt aber
Mit schüchternem Blick vorüber
Im letzten Rest des Abendrotes weichen sie heute sogar
Einer Gruppe singender Kinder aus
Wind Wind singen die Kinder bringe Regen Wind
Auch in dieser Phase der Revolution
Ihr schwarzen Schwäne auf den fichtenbraunen Grashügeln
Habe die Bäume ihre Rinde noch
Zünden Lichter über dem Wasser
Neue Verrücktheiten in den alten Kindern an
Lange –
Lange habe ich auf diesen Herbst gewartet
Aber heute –
Heute da eines dieser Kinder am Ufer fragt
Warum der Drache so grausam gewesen ist
Beginnen sich die Münder der Passanten
Zu bewegen
Und bilden mählich Laute über der noch klammen Zunge
Ich weiß nicht
Aus welchem Land ihr gekommen seid
Ihr schwarzen Schwäne auf den Nachthügeln –
Ob auch ihr die bleichen Geschwister zu eigen habt
Die im Aschenputtelhemdchen
Die unbegreiflichen Schläge ausgeteilt bekommen
Ob auch ihr Verjagte seid
Ob auch dort trotz der unbegreiflichen Schläge
Die Kinder es sind
Die zu singen nie aufhören
Wind, Windsingen die Kinder verbinde die Wunde entbinde dich Wind
Die Nacht hat euere Farbe angenommen
ihr unsichtbaren Schwäne
alles ist jetzt still
In der Luft rauscht ein Gewitterwind –
In diesem Land
in den selbst das Feuer mit kalten Füßen
zu Bett geht, sind die Menschen heiß geworden

 

Das Exil und der Sandberg („… das große Gedicht“ Alexander von Bohrmann, Freie Presse)

I

Dass ich mich träume
In verlassene Strassen
Destillen Zum Kindheitsglück
Geschichten verwehter Zeit –
Das ist nicht abstellbar
Aus Niederungen kommend
In diese Ebene wo
Zwei in derselben Sprache
Sich vergiften im Gespräch
Erinnre ich mich täglich
Des Namens meiner Wohnstatt
Aus der ich gejagt und in
Handschellen gegangen bin
Und dass ein Mädchen war
Und eine Stimme die war
Sanft wie eine Umarmung
Unter Pfirsichbäumen Gras:
Die einhergehen im Gezänk
Und stöbern in Küche und
Schuppen des Nachbarn Blut auf
Im Mund die kleinen Zungen-
Stöße der inneren Angst –
Die wachsen hinab in den
Grund aus gestorbenem Land

II

Auf dem Sandberg Schatten
Sprechen Gräber Geschichten
Rief der Fährmann sein Ho he’
Und es zog uns der See zu
Und den Schädelstätten Sodoms –
Der Druiden der Kindheit
Neckten uns wenn wir schliefen
Und der Tod stand auf Wolken
Und die Mythen und das Ich
Stellten dar ein Gassenlied
Aus der geteilten Hölle Welt
Und ritten über die Städte
Ritten ins unmögliche Nichts
Und jede Stadt lag in Wehen
Und im Sterben lag jedes Land

 

Bericht aus meiner Mutterstadt

für Hannes Schmidt

I

Die Fotografie grobkörnig
See Himmel Ufer
Acht Kinder
Dahinter die Älteren neben den Alten
galizische Juden
zu sehen ist die Familie Elimelech Reifen
gekommen in Frieden
am Abend fand sie
der Brandsatz im Stiebl

II

Am Abend las
Elimelech den Enkeln
Aus den Hausmärchen der Gebrüder Grimm
(siebzig Mitglieder der Familie
steht nicht in den Märchen
kamen um in den KZ)

III
Und Goldberg
Heinrich und Isidor es blieb von ihnen
Eine Postkarte geworfen
Aus einem Viehwaggon
gefunden zwischen Gurs und Auschwitz
1943
die Worte französisch:
pas d’ espior –
die Empfängerin las die Worte der Finsternis

III
Da
lagen Hänsel und Gretel
am blonden Brot
und schoben Juden
ins Feuer

 

Usti nad Labem

Hier haben wir
Den Ruf der Freundschaft gehört

Morgens sang ihn
Die Drossel
Auf unserem Zelt

Betrunken vom Licht
Tauchten wir
Unter die Inseln aus Asche

Abends im Pivnice
Gossen wir die Erde
Für Jan Palach

Die taumelnden Worte
Trug der Wind uns davon

 

Der Maler Chagall träumt Gott

Türen öffnen
Das ist gut
Aus offenen Türen heraus
Sehe ich besser
Engel der zur Erde stürzt
Mann mit Violine
Ochs und Esel fidelnd
Die schönen Häuser wohnlich
Und die Paare
Die herrlichen Kräfte der Triebe
Sonne Welt
Aus Blume Tier und Stein hervor
Aber auch dieses –
Mit Fahnen rückt es heran
Wirft um die Häuser
und ruft dreimal den Tod –
Dagegen Türen öffnen
Das ist gut,
was versuche ich anderes

 

Roter Stein

Roter Stein vom Ettersberg Roter Stein nicht Nacht
Nacht schwarze Limousine
Sechstürig wie der Tod der sein Reich in Mohnblüten hat
Roter Stein der weißen Schatten grau wie Rauch
Grausame Blume wie Wahrheit wie Wasser
Nach dem Bade der geretteten Haut
Die Geretteten weckt die Frühe der Träume
Wie ein tanzendes frostiges Licht
Roter Stein Holunder aufgehoben habe ich dich
nicht Nelke nicht Mohn
Tag im Monat Juley im Herzen die Gnade der späten Geburt doch bang
Drang eine Stimme beauty fac,
Aus einer Limousine schwarz am Ohr vorbei :
Heute kommt kein Zug mehr an. (Und lachte und fuhr weiter)
Roter Stein der weißen Schatten grau wie Rauch
Schwarze Stimmen sind zu hören schwarze Schatten
Ein neues Nachtlied Nelke Mohn, klingt wie ein uralt Lied heran –
Im Walde schlafen wieder die Vögel
Die toten Generale ruhen mit ihren Toten auch
Unten in den Städten spürest du
Von solchen Morden kaum einen Hauch.
Alles behind und long ago die Nächte haben bunte Lichter Neon Mohn
Kaum noch Juden ’n paar Maudits die’s auch nicht übersteh’n
Bis dahin ab ins Dancehouse fanny Veilchenschlager Trips und Phon
Ach Roter Stein vom Ettersberg Holunder Remember
Alles auf einmal – auf meinem Vertiko im Kreis aus Steinen aus
Solingen, Sarajevo, Jericho,
liegst du so friedlich, draußen rufen die Vögel
über keinem Wipfel ist Ruh’

 

Der Gewinn

Jeder Moment sagtest du
kann in dir alles ändern
Du schützest dich so vor Verlust
Der aufgehende Regenbogen glättete deine Stirn
Aufatmend sah ich den geretteten Gewinn.

 

Exkursion

Ich sagte sie atme
Ich sagte er erfinde das Rad
Es blieb von ihnen eine dünne Spur

 

Passionsspiel

Heute morgen wurde das Lamm ausgewählt
Der Fleischermeister schärfte das Messer
Auf dem Schleifstein steckt die Dornenkrone
Vor dem Schlachten spielt er den Jesus
Im Stein geätzt das Wort Hoffnung

 

Violent Games

Raben schlugen mit Muscheln die Fenster ein
Raben zerhackten dem Eisverkäufer die Haut
Der Kostümverleiher spricht von Gewinn
Die Badegäste unterhalten sich über ein neues Spiel

 

Aufzeichnungen des Schauspielers R.

Menschenkörper sind Krankenhäuser
Hamlet auf dem Weg zur Visite
Das Publikum stellt die Diagnose
Tun oder nicht tun
Wir kommen ohne Erwartungen nicht aus
Applaus, das Publikum stellt die Diagnose
Alle Vorhersagen bestätigen dein Leben

 

Requiem auf ein allzu geliebtes Paar

Ihr wurde überlassen die Bahn
Ihm wurde überlassen der Pfeil
Die Anfeuernden fordern den Beginn

 

Letzte Nachricht

In der schwarzen Frühe zogen die Imker aus
einer von ihnen hatte letzte Nachricht empfangen
für einen Moment war uns die Welt zu Ende
gebliebener Frost fror die Bienen ein
Die übrigen sind fortgezogen
Und wir können nicht ohne Bienen sein
Schweigend sammeln wir die leeren Körbe

 

Liebeszonen

Jeden Sonntag am Rauchtisch ist nochmals Krieg
sind Städte die sich ihnen beugen wie Frauen
Der Blinde sagt: wir sind willkommen wie man sieht
Der Lahme: und wie schnell zusammen gehauen

Die Zonen der Liebe sind verminte Gelände
Die Welt hat einen zureichenden Grund
Es umfingen ihn ihre Hände
was vorher eckig, war nun mehr rund

 

Ode an eine Briefmarke
(Marburg 1982, 1998)

In dieser Stadt
die meine erste Stadt gewesen ist
die ich bestaunt hatte
nachdem ich verkauft worden war
gingst nun auch du einher
und schriebst eine Ansichtskarte
für die schließlich in deinem Hotel
keine Briefmarke zu haben war
Als ich die Karte
Aus deinen Händen nahm
und die Stadtansicht aus betrachtete
freute ich mich
dass du gesehen hattest
was auch ich gesehen hatte
und dankte der kleinen Nachlässigkeit
jenes Hotels

 

Goethe aus Weimar, 1998

Nachts regieren wieder die Steine,
die bewunderten Werte
versiegen in den Herzen aus Sand

 

Engelsturz

Engel fielen über Nacht
Die Leere zu füllen
Den Hufschlag der Uhr zu enthüllen
Umschlungen blieben wir verschont
Am Morgen standen die Wiesen voll Tau

 

Liebesvisionen I-II

I

Hinter den geschlossenen Lidern
Über den Herzflur trat sie auf
Den ersten Pedanterien entflohen
War ich noch allerlei

Sie – in den Fabriken zu Hause
Und in den Galerien
Die Männer besitzgläubig macht
Und mich umstellte mit ihrem Bild

II

Damals als die Seele noch Unsterblich war

Auf dem Stadtparkring Am unteren Ende der Bahnhofstrasse
Zwischen den Schaukästen Apokalypsen vor der Brust
Sprechen sie dich an –
Ich möchte nicht
Dass SIE
In die Hölle kommen!
Wer ist dein Berater?
Verflucht ist der Mensch der sich auf Menschen verlässt!
Und du von Mitleid festgehalten musst hören was die Hölle ist –
Du wirst keine Ruhe haben Tag und Nacht
Du denkst dabei an sie wo sie wohnt seitdem sie
In diese Stadt gekommen war Ihr Lachen in Häuserfluren
Ihre Haut ihr Hut ihr Haar

 

Das Zelt

Nacht Zeltplatz am Strand plätscherten
Die Wellen Fruchtwasser am Strand standen
Die Picknickkörbe mit Kuchen gefüllt
Im Bauch des Zeltes hatten wir Träume
Von den großen Führern die traten
Hinter falschen Schnurrbärten hervor
Als die Nacht sehr hoch stand gewaltüberhäuft
und voll Wunder unserer ungestümen Bewegungen
war uns dass man nach uns rief
in den Händen Heimat dann Pfiffe, wir traten nicht hervor

 

So kam es

Der Kummer verschlief
Der Strom war sanft
Deine Haut war eben
Deine Sprache war gut
Nichts hielt uns fest
Fest war uns alles
Das Licht an uns war –

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Jun 12 2014

Frederick Lubich

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Angie’s “Starry, Starry Nights” – Code Name “Maybe, Maybe Not”

oder

Denk ich an Deutschland in der Nacht: Eine muttermythische Phantasmagorie

 

„Angie, they can’t say we never tried“

The Rolling Stones

 

Musik-Enthusiasten und transatlantische Cineasten der Baby-Boomer-Generation, die auch als New-Age-Generation bekannt geworden ist, werden sich erinnern: „Starry, Starry Night“ war Don McLeans romantische Hymne auf Vincent van Gogh, „Maybe, Maybe Not“ war der englische Titel des deutschen Spielfilms Der bewegte Mann aus dem Jahr 1994 mit Till Schweiger in der Hauptrolle. Letzterer hatte die einst heimliche Liebe zwischen Männern in eine romantische Komödie verwandelt. Jüngere amerikanische Fernsehserien wie Cougar Town und Sex and the City leisten heute ähnlich unterhaltsame Aufklärungsarbeit, was die lang verheimlichten Sehnsüchte von Frauen in einem gewissen Alter betrifft. Ihre reiferen Begehren erreichen gewissermaßen ihren  sinnbildlichen Höhepunkt, wenn sie es verstehen, ihre weibliche Pracht zudem in weltliche Macht umzusetzen. Dieses späte Lustspiel ist das große sexualpolitische Lehrstück unserer zeitgenössischen Vergnügungsgesellschaft, in der französische Verhältnisse samt ihrer mehr oder weniger gefährlichen Liebschaften zunehmend Schule machen. Denn heutzutage wollen bekanntlich alle leben wie Gott in Frankreich, beziehungsweise wie Dominique Strauss-Kahn in New York oder  jetzt François Hollande in Paris. Ihre Triumphe und Debakel sind das Schauspiel der New-Age-Lovers als Anti-Aging-Spektakel, die gute alte Counter-Culture der freien Liebe und ihrem möglichen Leid auf dem neuesten Stand der heutigen Zeit. Diese fortlaufende chronique scandaleuse findet jetzt in Berlin ihre neueste Fortsetzung und geschlechtsspezifische Vollendung, denn es heißt, auch

 

Frau Merkel treibe es jetzt immer toller!

Glaubt man jüngster Lauschangriffe,

fährt nun auch sie auf einem Roller

mit Willi Wohlklang, ihrem Geiger,

bei Nacht und Nebel immer wieder

höchst klammheimlich zu Till Schweiger.

Der Geiger ist ein Meister der Nostalgie,

ein passionierter Rock ‘n‘ Roller,

doch Tango ist sein dernier cri.

Und eskortiert er seine Dame

zum Rendezvous mit ihrem Beau,

dann ist Guillaume sein Künstlername.

Schon schlägt ihr Herz so voll Verlangen,

oh Rausch der steigenden Erwartung!

Wird’s eine Sternstund? Hoffen, Bangen!

Zum Glück hat sie ein Telefon,

mit dem ruft sie mobil voraus:

„Sei startbereit – ich komme schon!“

Sie schwärmt erneut von jener „Action“

grad so wie einst als junges Mädchen

auf ihrer Such nach „Satisfaction“.

Man lauscht und hört ”You are my man,

come on, let’s spend the night together!

I can’t get … oh yes … you can!!”

Um jene Stimmung erneut zu verbreiten,

streicht der Willi schon ganz locker

vom Hocker unterwegs die Saiten.

Bald sind sie wider bessres Wissen

vom Wohllaut seiner vollen Klänge

bewegt, beschwingt und hingerissen.

Abermals wird sie zur femme fatale

und dreht den Schweiger immer lieber

zum Weimar-Schieber „Damenwahl“.

So wird der Abend zur langen Nacht,

das Sternenzelt zum hohen Gefunkel

und die Liebe zur Himmelsmacht.

“My Angel … Angie … Honky Tonk!

Oh my darling … you are a devil …

sehr sympathisch … Gott sei Dank!!“

Und mit viel Wonne, Wunsch und Wahn,

Erde hin und Himmel her,

geht‘s im Sturm und Drang hinan.

“Starry, Starry Night …

they would not listen,

they did not know how, perhaps they’ll listen now.”

 

Und in der Tat, bereits in aller Herrgottsfrüh zur morgendämmernden Tagesschau berichten die Lauscher der letzten Nacht vom Ausflug unsrer bewegten Frau. Sie ahnen die Tat, sie kennen den Ort, doch hüten sie ihr dunkles Geheimnis, denn sie alle kennen das Losungswort. Bilder freilich sprechen tausend Worte und Blitzebilder noch viel mehr, und so wird im Laufe der Zeit Angies nächtliche „Action“ …

 

zur erbaulich beschaulichen Staatsaktion,

denn das wilde Mädchen kehrt stets zurück

als glückliche Mutter der deutschen Nation.

Und jedesmal geht ein Ruck durchs Land, denn dieses staatliche Theater ist die restaurative Utopie der geheimnisumwitterten Magna Mater. Diese göttlich allnährende Mutter ist zwar sagenhaft umstritten, doch dafür bestes Gedankenfutter. Freilich muss man es verstehen, die Zeichen der Zeit auch richtig zu sehen. So erinnert sich zum Beispiel

 

 das deutsche Volk sehr gern noch bis heut

an ihren prunkenden Brunhildbusen

mitten in der Stadt Bayreuth.

 

So hold und hehr – was wollte man mehr? Frau Republik in Hülle und Fülle! Auf diese üppig-wonnige Weise wurde sie bald einer ganzen Nation zur Quelle barock-allegorischer Inspiration und die dergestalt Verehrte zum gültigen Sinnbild aller höheren Wünsche und Werte. Und nicht zu vergessen ihr Mutterwitz! Jeder davon ein wahrer Geistesblitz für die harte Arbeit am dunklen Mythos vom Großen Runden und seinem Kreisen, von den rollenden Sphären, dem Stein der Weisen …, kurzum, vom Universum aus einem Guss, oder soziologisch richtig gewendet, die ganze Welt im „Wohlstand und Überfluss“. (Es besteht kein Zweifel, sie ist volles Füllhorn und Phallische Mutter … Notre Dame par excellence – Honi soit qui mal y pense!)

Bald hört man in Deutschlands Gerüchteküche wieder jene altklugen Sprüche der ehemaligen Spontibrüder und mehr noch ihrer Spontischwestern, und die sind ganz bestimmt nicht von gestern. Man wird sich erinnern an die Moral von ihrer Geschicht: „Die Zukunft wird weiblich sein oder gar nicht“! – „What self-fulfilling prophecy!“ So geht schon länger ein Unken durch den morgendlichen Dämmer und seine letzten munkelnden Dunkelmänner.

Doch insgesamt freuen sich die Nationen, denn statt Kanonen bringt sie jetzt Butter, Europas deutsche Wirtschaftsmutter, wenn auch zu allem südlichen Leid mit nordisch eiserner Sparsamkeit. Wie dem auch sei, viele beschwören die Alma Mater und ihre mythische Konzeption und verklären Mutter Merkel zu ihrer modernen Reinkarnation. Und das gut skandiert nach dem flotten Motto: „Auf die Dauer hilft nur die gute, uralte Frauen-Power!“

Doch nicht nur fruchtbar sondern auch furchtbar ist dieses Wunderweib und so schaudern andere wiederum aus tieferem Grunde vor ihrem muttermythischen Schlunde, ihrem archaischen Orcus Uterus – so der terminus technicus – oder sie hören und sehen, eh sie für immer vergehen, nur noch Sphinx und Ödipus. Dies ist das Heimlich-Unheimliche der leiblichen Mutter, glaubt man dem Seelenführer Sigmund Freud, und folgt man seiner Seelenkunde – auch das ein zauberhaftes Gleiches -, dann ist man bald in der Geisterrunde des mythischen Mutter- und Totenreiches.

So durchzieht unsere spätmoderne Kultur ein nebuloses Unbehagen aus Heimweh, Weltschmerz und Rätselraten. Experten sprechen von „Twilight Memories“, „Psychomythic Phantasies“… Wie dem auch sei, der Leib- und Lieblingsgeiger unserer Nacht- und Sternenschwärmerin ist wieder mittenmang dabei. Er wendet jedoch seine geheime Mission in nationale Diskretion, denn im Gegensatz zu den Franzosen – von Amerikanern ganz zu schweigen – spielt er den deutschen Ahnungslosen. „Starry Night“, ein Passwort? Nicht dass er wüsste! „Come on, lets spend …? Ein Text aus seinem Kontext gerissen!! Im Übrigen wär‘ er stets dabei und würde trotzdem von nichts wissen.

Willi Wohlklang: Für die einen ist er ein wahrer Wohltäter, für die anderen ein übler Landesverräter, ein Comedian Harmonist der liederlichster Gefühle, während die breite Masse Trübsal blase und weiterhin im Elend wühle, vom Unglück gebeutelt, vom Schicksal geschlagen …, so hört man sie jubeln, jammern und klagen. Grad so wie in Les Miserables! Das wäre wohl die passende Parabel. Auch könnte sich Madame ein gutes Beispiel nehmen an Eugène Delacroix und seiner „Liberté sur les barricades.“ (Voila, Angelique Ma Belle … Avanti Popolo … Mamma Mia … Quelles Mamelles!)

Der Rest ist schon wieder Geschichte, denn kaum ist das Musical halbwegs verklungen, erklingt schon der Himmel über Berlin in lauter Marx- und Engelszungen:

 

Ihr Völker höret die Signale

Taste the East and Test the West!

Our Fathers knew better & Our Mothers know best!!

So come to our Escapades and dance in our Love Parades!!!

Die Große Mutter wartet schon auf ihrem mythischen Weltenthron

und lässt ihren Blick in die Weite schweifen

von Berlin bis ins ferne Babylon.

Und die Bilder immer wilder, die Zeichen der Zeit immer klarer und für die endzeitlichen Munkelmänner werden sie immer offenbarer:

 

Cougar, Sphinx und Behemoth!

Mit Pauken und Trompeten! Die Apokalyps, oh Gott oh Gott!!

 

Die Nachtwächter des Abendlandes, sie sind verstört und finden diesen Höllenlärm schlicht und einfach unerhört. Diese Manichäer der letzten Tage! Wie sie noch immer an ihren alten Weltbildern feilen, jedoch der Himmel über Berlin, der lässt sich bekanntlich nicht mehr teilen. Das wusste schon der Engel der Geschichte, Walter Benjamins Angelus Novus, und jetzt weiß es auch unsere

 

Angela Nova,

flying higher and higher on wings of desire,

oh starry, starry night – Super Nova – shining bright!

 

Per aspera ad astra! Laudate, laudate, angeli et angelae! Oh matrimonium in excelis sub specie aeternitatis!! Fusionen, Visionen, stellare Ekstasen … und dann wieder nichts als Pustekuchen und Seifenblasen. Wie wir uns doch um Sein und Schein die Köpfe verrenken und das geht nun schon so seit Menschengedenken. Nur hin und wieder in weiter Fern ein seltsam schweifender Abendstern. Und dann werden seit je her die Astrologen zur weiteren Beratung hinzugezogen. Am besten sind dafür die Chaldäer, diese altbabylonischen Sternenspäher, dort auf ihren hohen Warten und stets auf der Ausschau nach Astarten, der Sternenkönigin aller kosmisch-burlesken Ausschweifungen. So zumindest hat man sie einst glückselig besungen. Sie versuchen ihr noch immer auf die Schliche zu kommen und sind vor lauter Sehnsucht schon ganz benommen. Die Ewigkeit im Augenblick, das ist die Zauberformel ihrer großen Kosmopolitik. Und dies ist ihr geheimer Rat:

Es gälte, alle Zeichen zu sichern zurück bis zum Ort der ursprünglichen Tat. Also immer wieder hinab und hinan, doch ist dies leichter gesagt als getan. Der Schweiger redet nicht und  der Geiger ist ein wendiger Wind- und Wetterbeutel. Er dreht sich ganz im Geist der Zeit und ist wie alle Musikanten zu jeder Melodie bereit. Weiß er doch mit Friedrich Nietzsche, was für die himmlische Seel und den irdischen Leib für immer der schönste Zeitvertreib. Schrieb jener doch

 

„Oh Mensch! Gib Acht! Was spricht die tiefe Mitternacht?

… Weh spricht: Vergeh! …

Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit.“

Und Tangogeiger sind bekanntlich ganz besonders weltentrunken, sie schwelgen in Teufels- und Götterfunken, versprechen den Himmel und dann wieder die Erde, ganz nach dem Willen der Großen Mutter und ihrem „Ewigen Stirb und Werde“. Musikgeschichtlich ein Phänomen! Jedoch auch realpolitisch gesehen kann man solche Geiger durchaus ähnlich verstehen. Als Mitarbeiter der Inneren Sicherheit wissen sie jedenfalls bestens Bescheid, was den Bürgern des Staates am besten gefällt und somit die gesamte Nation im Innersten zusammenhält.

Liebe, Hoffnung, Glaubenssprung – Frauenheld und Männerheldin, oh matrimoniales Mysterium. Man stelle sich nur einmal vor, Deutschlands wackeres Oberhaupt, sie folge ganz dem Ruf der Zeit, dem postmodernen „Back to the Future“ und seinem ehernen „Vorwärts in die Vergangenheit“. So riefen es einst die rüstigen Matronen und mehr noch ihre reitenden Amazonen. Denn sie wussten es schon immer, am Anfang war der große Schrei, der Urschrei im Kampf der Geschlechter – und ist man ganz Ohr, ein richtig lauschender Liebestor, dann hört man ihn auch noch heute hoch droben im rockend frohlockenden Engelschor:

Make Love Not War!

Turn the Page to a New Age!!

And what angelic highlights – frolicking with a sparkling star!!!

 

Starry, starry night … what shooting stars … from Babylon to Hollywood … oh Heimat, deine Sterne! Und jeder kennt den schönsten Stern am heimatlichen Firmament. Doch ist dies wirklich noch Till Schweiger, Deutschlands letzter Stürmer und Dränger? Oder ist es gar schon der Mick Jagger, Englands großer Seher und Sänger! Denn schließlich war er immerhin der englische Künder der kommenden deutschen Kanzlerin. „Angie“, das war sein Hohes Lied. Damit beflügelte er einst in den höchsten Tönen den Wahlkampf seiner Angela, gab ihren kontinentalen Versprechen höheren Schwung, wenn nicht gar einen Hauch von Götterdämmerung – oh Twilight of the Goddess, oh Twilight Memories – und jetzt kehrt sie aus ihrem Sternenglück immer wieder in unsere Welt zurück. Und Mick Jagger, der alte Schürzenjäger und hagestolze Würdenträger seiner britischen Königin, er stimmt ihn tatsächlich noch einmal an, seinen großen anglikanischen Hochgesang:

 

„She’s like a rainbow …

she comes in colors everywhere.”

***

Oh Lawdy Mama, what Psychedelic Panorama!

Oder ist auch das nur schöner Schein, ein Farbentanz der kosmischen Maya, ein buntbewegter Schleierglanz um ihr galaktisches Nirwana … ein Reigen des Ewig Weiblichen im so vergänglich Leiblichen … ein Gleichnis nur aus Raum und Zeit … kreisend um unsere große, kommende Heimatlosigkeit?

Nacht und Nebel, Wind und Wolken über der Menschheit dunklem Gewimmel … und dann im Morgengrauen das dämmernde Nichts im unendlichen Himmel!

 

… Oh …

 

“Angie, Angie, when will those clouds all disappear,

Angie, Angie, where will it lead us from here?”

And time and again one hears him cry

 “Ain’t it time we said goodbye?”

Thus moans the Rolling Stone,

thus groans the Rocking God,

and the wind is blowing,

 „Maybe, Maybe Not“.

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Jun 09 2014

Helga Kurzchalia

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Aus Zimmer 39

Vom Reis hab ick die Schnauze voll. Reis jehört nach China. Wir Deutsche essen Kartoffeln und manchmal och ’n paar Nudeln. Aber eigentlich brauch ick nüscht, mir reicht dit Pillenzeugs. Nachher gibt’s hier dämliche Jagdwurst und bloß wieder zwei Stück Butter zum Frühstück. Hauptsache billig. Den Kaffee kannste eh vergessen. Ach jetzt ’ne tote Oma uff ’m Tisch! Oder ’n großes Steak aus m’ Steakhaus. Oder wenigsten ’ne Curry mit Ketchup und Pommes …

Kieken Sie mal – zwei fette schwarze Autos vorm Fenster. Acht Muselmanen auf einen Schlag. Mann, wat die wieder allet anschleppen! Ick persönlich habe nüscht gegen Ausländer. Meinetwegen sollen die alle kommen. Immer her mit die Ausländer! Willkommen in Deutschland! Für jeden Deutschen einen. Zum Arbeiten. Das Schlimme ist nur, die bringen immer gleich ihre janze Heimat mit. Und dann och noch dit fülle Essen in Körben und Taschen. Ick liege hier wieder alleene im Bett.

Können Sie Ihre Seife nicht in ‘n Schrank packen? Sieht aus wie Sau. Da machen die doch wieder jar nüscht. Der ganze Korridor leer. Keener zu sehen auf weiter Flur. Wenn alle so arbeiten würden! Die quatschen zu fülle. Ick will uff der Stelle nach Hause. Hier hab ick mir satt jesehen. Den Tropf kann ick mir och selber machen. Die Spritze wegen dem Zucker hab’ ick mir heute Morgen selbst verpasst. Jekifft hab ich eben erst. ’Ne ganze Tüte Sauerstoff. Da kommt ja Frau Doktor. Aber ohne Frühstück. Die is och nicht von hier. Ob die schon dreißig ist?

Früher hab ick mit meiner Kleenen in der Ackerstraße Parterre Hinterhof gewohnt, und wenn die oben das Fenster uff hatten, war bei mir mitten im Sommer zappenduster. Jetzt ha’ ick eine Neubauwohnung hinterm Kommunistenfriedhof Friedrichsfelde. Früher hatten wir da Aldi und Zeitungskiosk, Rewe und Spar. Inzwischen hat alles zugemacht. Rewe wurde zuletzt jeden zweiten Tag überfallen. Da hatten die irgendwann och keene Lust mehr. Nur der Apotheke jeht es noch prima!

Bei uns sind nur Schwarzweiße uff der Straße. Nur die Andershäutigen trauen sich noch im Dunkeln ‘raus. Die Alten bleiben abends lieber Zuhause. Früher bei meinem Vater, sind alle immer zusammen in die Kneipe. Da spielte sich jeden Abend dit gleiche ab. Erst hat man sich ‘n bisschen jekloppt und dann noch mitm Doppelkorn uff die Gesundheit anjestoßen. Heute wird ja gleich das Messer jezogen. Das kam damals mit den Italienern auf.

Bei uns wohnen auch ’n paar Russlanddeutsche. Bei denen wird die Nacht ständig zum Tage. Die ihre Kinder hab’n Hummeln im Hintern und sind abends immer bis elf uff de Straße. Ein ewiget rin und raus is dit. Von der Terrasse direkt in die Küche. Haustür kennen die nicht. Klingel Fehlanzeige. Ein paar Fitschis haben wir auch, aber die merkt man ja nicht.

Ick hatte mal ’n kleinen Fitschi in Pflege. Der kam in Trainingshose und Nicky zu mir. Von Unterhemd wissen die nüscht. Keine richtigen Socken im Schuh. Der Kleene blieb nur 3 Wochen bei mir, aber die Eltern standen ständig bei mir auf der Matte und wollten ihren Jungen sehen. Dabei hatte ick ihnen doch gleich gesacht, dit sollen sie besser bleiben lassen. Dit bringt doch nischt! Der Junge hat jedes Mal tierisch gebrüllt, aber dann haben sie schnell ’ne Bleibe gefunden und jetzt hängt sein Foto bei den
anderen im Flur und manchmal läuft er mir noch uff der Straße in die Arme.

Ick wollte nie, dass mir eener ’was vorschreibt. Deshalb bin ich och nie zum Mannschaftsschwimmen. Mädchenfußball war nüscht für mich. Bin keen Herdentier. Mit elf hab ick mal am Prater geklingelt. Die vom Judo haben mich da gleich mit offenen Armen empfangen. Judo gab’s damals fast für umsonst. Am Ende wurde ick deutscher Meister und bin bis Prag und Olomouc in die tiefste Tschechei gekommen und das für janze 68 Mark. Wär’ och gern in München 72 mit dabei gewesen. Aber Frauenjudo hatten die damals nicht.

Wat, Sie sind och ausm Osten? Hätt ick nicht vermutet. Ick dachte Russland oder so wat auf die Art. Frei nach ’m Motto: Wir haben ’n deutschen Schäferhund, da ziehen wir doch och gleich mal nach Deutschland! Sie sag’n ja nüscht? Noch ’n bisschen schwach auf der Brust? Na, wird schon wieda!

’N Afrikaner kommt mir aber nicht in die Tüte. Wenn mir da einer in den Kinderwagen kieckt! Wat soll’n die von mir denken. Dass meine Tochter mit Ausländern rummacht? Meine Bekannte hat jetzt so einen Schwarzweißen in Pflege. Mutter weiß und dick. Vater schwarz und nüscht uff die Knochen, aber Gebete im Kopf. Die Frau landete mit blauen Flecken im Krankenhaus. Mir hat mein Fitschi gereicht. Die ham vielleicht gekiekt, wie ick letztes Jahr auf dem Campingplatz mit dem Kleenen ankam. Ein Aufsehen wie an dem Sonntag, als mein Nachbar im Trabi übern vereisten Peetzsee fuhr.

Die wollten mir im Jugendamt noch ’n zweites geben aber dann kam mir wieder mal meine Lunge dazwischen. Zu fülle wär mir so’n Baby nicht gewesen. Flasche rinstecken, wickeln, hinlegen, bisschen knuddeln, mehr iss ja nicht. Schlimm wird’s nur, wenn sie dann uff stehen und laufen wollen. Auf einmal wird alles anjegrabscht. Kiecken Sie mal meen Handy. Die Kleene ist da 4 und hatte oben keine Zähne, als ich sie bekam. Jetzt hat sie ein neues Gebiss und kann wat sehen durch ihre Brille. Die ihre Mutter war 14 und hatte och so ne Familie. Die leben jetzt alle von Hartz vier. Ich ruf sie gleich mal an. Die liebt ihre Pflegeomi. Ich zähl schon die Tage, bis ick sie wieder habe.

Früher war ick Werkzeugmaschinenschlosser. Im Osten durften wir dit. Als Kind hab ick meinem Vater immer über die Schulter geguckt. Mein Bruder hatte zwei linke Hände und hat sich später tot gesoffen. Die anderen fünf sind jetzt bei Rewe und Aldi. Einer ist Koch aufm Luxusdampfer. Ick war bis zuletzt bei Sternradio. Am Ende haben wir nur noch die ihre Cola- Kisten bedruckt. Danach bin ick für ’n halbet Jahr in den Westen rüber, weil ick ja die Japansachen von Arbeit kannte. Aber dit war och nüscht. Na ick geh jetzt mal toilettieren. Nachher besuche ick im Flur noch den Rittersportautomaten. Mit dem Insulin von heute morgen kann ick mir ruhich mal ’ne Zartbitter leisten.

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