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Jun 07 2014

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Nov 11 2013

Julian Reidy

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Sonnenschein oder Schatten? Zur Entwicklung ethischer Reflexion in Christian Krachts Faserland, 1979 und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten

Christian Krachts vorletzter Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten befremdet zunächst. In diesem kontrafaktischen Fabulierstück zettelt Lenin 1917 in der Schweiz eine Revolution an; die Alpenrepublik wandelt sich in der Folge zur ‚Schweizer Sowjetrepublik’ und verwickelt sich in einen Weltkrieg mit dem faschistischen Deutschland und dessen britischen Verbündeten. Der namenlose Ich-Erzähler (im Folgenden nach James Phelan ‚character narrator’ genannt[i]), ein Parteikommissär aus dem afrikanischen Kolonialgebiet der SSR, erhält den Auftrag, den mysteriösen Oberst Brazhinsky festzunehmen, der ins Réduit geflüchtet ist – in die gigantische Alpenfestung der SSR. An dieser Stelle soll versucht werden, das Befremden bei der ersten Lektüre des Romans wenn nicht zu exorzieren, so doch besser zu verstehen. Wenn man Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten zu diesem Zweck einer intertextuellen Lektüre unterzieht und in Krachts Romanwerk (exklusive Imperium) einzugliedern versucht, könnte man zum Schluss kommen, dass zwischen dem irren und wirren Schweiz-Roman und den beiden zuvor erschienenen Romanen des Autors – Faserland und 1979 – eine klare Diskontinuität besteht. Zu zeigen ist jedoch, dass der Text in vieler Hinsicht ebenso gewitzt und akribisch gestaltet ist wie Krachts frühere Werke, aber im Grundsatz ein anders gelagertes Erkenntnisinteresse verfolgt. Was die in Teilen problembehaftete intertextuelle Vernetzung von Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten betrifft, wird ein Vorbildtext vertieft zu betrachten sein: Joseph Conrads Novelle Heart of Darkness.

Als ergiebig erweist sich indes zunächst der Vergleich mit 1979, dem Debütroman Faserland sowie Der Gelbe Bleistift, einer Sammlung von Reiseberichten. In diesen Texten entwirft Kracht eine widersprüchlich anmutende „Selbstpoetik“ (Lettow 289): Der implizite Autor unternimmt eine aufwendige „Selbststilisierung zum Dandy“ (Lettow 296), schreibt aber zugleich stellenweise mit „aufklärerische[m] Sendungsbewusstsein […] fernab von Ironie und dandyistischem Gebaren“ (Lettow 303). Gerade diese „ethische Komponente […], die das ästhetische Spiel der Selbststilisierung spannungsvoll relativiert“ (Lettow 303) – also die irritierende Diskrepanz zwischen lustvoll zur Schau gestelltem postmodernem ennui und, zum Beispiel, einer schon fast moralistischen Passage über „Drittwelttourismus“ (GB 99) –, scheint in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten kassiert zu werden. Diese Beobachtung wird noch detaillierter zu belegen – und zu widerlegen – sein und am Ende einen klareren Blick auf den Schweiz-Roman erlauben, der in Krachts bisherigem Schaffen eine nur auf den ersten Blick erratische Stellung einnimmt: Die ethische Komponente von Krachts Schreiben tritt in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten durchaus in Erscheinung, allerdings in anderer Form als noch im Frühwerk.

Dem „in den […] Schriften Krachts auszumachenden Selbstentwurf […] im Sinne einer ‚Bastelexistenz’“ eignet also neben dandyhafter „Selbststilisierung“ auch „aufklärerische[s] Sendungsbewusstsein“ (Lettow 286). Dieses manifestiert sich in Faserland in denkbar plakativer Weise in einer Passage, in welcher der ‚character narrator’ über ein idealisches Leben mit der Schauspielerin Isabella Rossellini phantasiert: Er würde ihren gemeinsamen Kindern „alles erklären“ und ihnen

„von Deutschland erzählen, […] von der großen Maschine, die sich selbst baut […]. Und von den Menschen würde ich erzählen, von den Auserwählten, die im Inneren der Maschine leben, die gute Autos fahren müssen und gute Drogen nehmen und guten Alkohol trinken und gute Musik hören müssen, während um sie herum alle dasselbe tun, nur eben ein ganz klein bisschen schlechter. Und dass die Auserwählten nur durch den Glauben weiter leben können, sie würden es ein bisschen besser tun, ein bisschen härter, ein bisschen stilvoller.“ (FL 152-153)

Die „moralischen“ oder moralisierenden „Untertöne[]“ dieses „bedrückenden Szenarium[s]“ (Lettow 291) sind deutlich. Solche Tiraden, wie auch die Feststellung des Protagonisten und ‚character narrators’, dass die „Welt […] unfassbar verkommen“ (FL 30) sei, stehen in einem Spannungsverhältnis zu seinen an anderer Stelle formulierten zynischen und versnobten Ansichten – er mokiert sich bei Gelegenheit gerne mit arrogantem Gestus über die „senffarbenen Sakkos“ fliegender „Betriebsräte“ (FL 52) oder den „Regenbogen-Friedens-Nichtraucher-Ökologen-Sticker“ (FL 30) auf dem Armaturenbrett eines Taxifahrers. Kritische Stimmen übersahen diese Polarität des ‚character narrators’ aber oft und postulierten in Bezug auf Faserland teils in ungebührlicher Weise eine Identität von empirischem Autor und Erzähler oder nahmen zumindest an, dass Kracht seinen ‚character narrator’ in einem affirmativen Licht präsentiere – so zum Beispiel, wenn Joachim Rohloff Kracht (und nicht etwa dem ‚character narrator’) „Herrenmenschentum“ (Rohloff 4) vorwirft. Vielleicht ist der Irrtum, der derart polemischen Kracht-Lektüren unterliegt, mit einem Verweis auf das rezeptionsästhetische Modell von Phelan (und Rabinowitz, siehe Anm. 1) besser zu verstehen: Interpreten wie Rohloff unterstellen Kracht eine ‚authorial audience’, die er gar nicht bedienen will. Anders ausgedrückt: Wer dem realen Autor von Faserland „Herrenmenschentum“ attestiert, geht von einer Appellstruktur aus, die so im Text nicht vorhanden ist und vergisst damit erstens, dass hier ein fiktionaler ‚character narrator’ spricht, und nicht Christian Kracht, und ignoriert zweitens, dass sich die ‚authorial audience’ des Romans nicht aus Schnöseln auf der Suche nach Selbstvergewisserung rekrutiert, sondern der Text vielmehr die Abgründe des Schnöseltums erkundet.

Eine sorgfältige Lektüre stützt die gegenüber Faserland geäußerte vernichtende Kritik keineswegs: Die „Barbour-Salem-Schnösel-Kultur wird“ natürlich „thematisiert und stellt auch den Ich-Erzähler“, sie wird im Roman aber keineswegs „propagiert“ (Bassler 112). Dessen kritisches Potenzial liegt vielmehr gerade in der „Darstellung der Barbour-Schicht als menschlich höchst defizitär“ (Bassler 113). In einer beispielhaften Szene überlässt der ‚character narrator’, dessen Selbstzentriertheit spätestens hier offenbar wird, „seinen Freund Rollo, dessen Depression er nicht auszuhalten imstande ist, sich selbst und damit dem Suizid“ (Lettow 292). Faserland weist mithin einen ethischen, kulturkritischen Impetus auf, der zuweilen überhaupt nicht registriert wurde. Das Spannungsfeld zwischen zynischer Dekadenz und kulturkritischem Reflex, das der „janusköpfige“ (Lettow 294) ‚character narrator’ in Faserland verkörpert, macht in gewisser Hinsicht die Attraktion des Romans aus: Kracht gelingt die Darstellung eines „postmoderne[n] Szenarium[s]“, in dem die „Basis von allgemein verbindlichen Werthorizonten“ erodiert ist und in dem die Figuren an der „kollektive[n] Banalität einer von Markenartikeln dominierten Welt“ (Lettow 289-290) zerbrechen. Die Darstellung dieses „Scheitern[s]“ aller „Ich-Konzeptionen, die einen stabilen und kohärenten Persönlichkeitskern fordern“ (Lettow 294), birgt einen ästhetischen Reiz und ein Identifikations- und vielleicht sogar Erkenntnispotenzial, denn das von Kracht in bester popliterarischer Manier ‚archivierte‘[ii] Deutschland der Neunzigerjahre ist nicht irgendein „postmodernes Szenarium“, sondern eines, „in welchem sich wohl ein jeder heute […] zu bewegen genötigt sieht“ (Lettow 294).

Noch anschaulicher präsentiert sich Krachts „aufklärerische[s] Sendungsbewusstsein“ in den faktualen Reiseberichten im Gelben Bleistift, so beispielsweise in der bereits erwähnten Passage, in der Kracht den Goa-Tourismus junger Aussteiger geißelt:

„Das ist […] Drittwelttourismus der allerübelsten Art. Denn moralisch fragwürdig, das sind nicht die Chartertouristen in ihren ausgegrenzten Kluburlaubsghettos. Nein, diese bringen Arbeitsplätze nach Goa […] und fahren nach zwei Wochen auch wieder ab, ein paar Kunsthandwerksgegenstände im Gepäck. Verachtenswert, das sind diejenigen, die sich [sic] aus Hedonismus der Welt entsagen, diejenigen, die sich finanziell unter die Inder stellen, um Pfennigbeträge feilschen, sich nicht waschen und dann zwei Jahre bleiben.“ (GB 99)

Auch in der Beschreibung einer Demonstration in Phnom Penh scheint Kracht für einen Augenblick jegliche ironisch-popliterarische Distanzwahrung abzustreifen:

Joachim Bessing und ich waren zu feige, mitzumarschieren. Was uns vor wenigen Stunden in Berlin noch als herrlich subversive Tat vorgekommen war, nämlich das wahllose Mitmarschieren bei unsinnigen Demonstrationen, hielt uns hier mit einem lastwagengroßen Spiegel unser wahres Gesicht vor: Wir waren feige Popper. Und wir erkannten: Hier in Kambodscha hört die Popkultur auf. Es gab hier keinen ironischen Bruch zwischen dem, was ist und dem, was sein sollte. Hier ging es um zwanzig Dollar mehr im Monat.“(GB 138)

Spätestens hier zeigt sich, dass Krachts ‚authorial audience’ offenbar heterogener und seine frühen Texte facettenreicher sind, als einige Interpreten vermuteten. Wäre Kracht tatsächlich nur ein Gimmick-Autor, dessen Bücher gleichsam als Accessoires für eine ‚authorial audience’ aus blasierten ‚Poppern’ zu lesen sind, dann könnte es in ihnen keine subtilen und selbstentlarvenden Momente der Introspektion geben.

In Krachts zweitem Roman, 1979, finden sich keine derart offen moralisierenden Szenen, und doch könnte man die fatale Reise des Protagonisten als ‚morality tale’ interpretieren, als „Drittwelttourismus“-gone-wrong. Der ‚character narrator’ in 1979 ist wie alle ‚character narrators’ aus Krachts Feder eine seltsam identitätslose Figur, eigentlich eine einzige Leerstelle, aber wir erfahren zumindest, dass er alles andere als ein Intellektueller ist. Christopher, der hochnäsige Freund des ‚character narrators’, dem dieser um jeden Preis gefallen möchte, beschimpft ihn als „mongoloid“ (1979 31), als „Idiot[en]“ (1979 48), als „etwas … einfach“ (1979 53) und als „dämlich, womit er ja auch vielleicht recht hatte“ (1979 19). Aber auch wenigstens ein weiterer Charakter, der Koch Massoud, teilt diese negative Einschätzung der Intelligenz des Protagonisten: „Il est vraiment un peu simple, celui-la [sic]“ (1979 102). Während der ‚character narrator’ in Faserland seine postmoderne Umgebung wenigstens subliminal als problematisch wahrnimmt und sich (wenn auch erfolglos) an ihr abarbeitet, hat sich der ‚character narrator’ von 1979 mit dem „Böse[n]“ arrangiert, dem „schaumigen Meer aus Corn Flakes und Pepsi-Cola und aufgesetzter Höflichkeit“, von dem ihm Massoud erzählt, dessen Ausführungen er „gerne zu[]hört, auch wenn“ er sie „nicht ganz verst[eht]“ (1979 98-99).

Konsequenterweise ist dieser Protagonist nicht in der Lage, die Gefahren, die seine „Drittwelt[]“-Umgebung für ihn bereithält, zu verstehen und adäquat auf sie zu reagieren. Als ihn der Vizekonsul der deutschen Botschaft in Teheran informiert, dass  „die islamische Revolution“ bevorstehe, entlockt dies dem ‚character narrator’ nur ein komisch anmutendes „Huh, je“ (1979 89). Dem Rat des Vizekonsuls – „[v]erlassen Sie den Iran“ (1979 91) – leistet er nicht Folge. Auch das revolutionäre Geschehen selbst wird vom weitgereisten, aber offenbar nicht besonders weltgewandten Protagonisten vollkommen missverstanden: „Etwas Neues war geschehen, etwas völlig Unfassbares […]. Es schien, als gäbe es kein Zentrum mehr […]“ (1979 94). Er (miss)interpretiert also die iranische – und damit: islamistische – Revolution als „wholly postmodern“ (Langston 62) und verwendet dabei sogar Derridas Terminologie, der ja bekanntlich den postmodernen ‚Zentrumsverlust’ diagnostizierte. „Nothing could be further from the truth“ (Langston 62) als die Interpretation des ‚character narrators’, denn was könnte wohl weniger postmodern sein als die diktatorische Installation der „central reactionary modernist ideology“ eines „militant Islam“ (Langston 62), also eines alten ‚grand récit’, in Jean-François Lyotards Terminologie? 1979 weist somit wie die anderen frühen Werke Krachts eine „ethische Komponente“ (Lettow 303) auf, denn der Roman erzählt im Grunde die Geschichte eines Menschen, der sich mit seiner ‚condition postmoderne’ vollkommen arrangiert hat, eines Menschen, der „entirely empty“ ist und dessen „self“ allein aus „appropriated signs“ (Langston 61) besteht. So missinterpretiert der ‚character narrator’ in seiner postmodernen Blindheit die Geschehnisse (und Gefahren) im Iran, was sein Verderben bedeutet:

As the streets of Tehran fill with protestors, the protagonist fails to grasp Iranian fundamentalism’s nostalgic intent to use violence to reverse the historical process toward Western (post)modernity. […] If there is a lesson to be learned in the fate of the protagonist in 1979 it is that a reversal of the postmodern processes, i.e., a retreat back to the modern or even pre-modern, accentuates the vulnerability of the material body to socio-political systems of domination and control that transform bodies into objects. (Langston 62, 65)

Der ‚character narrator’ in 1979 entspricht demnach in gewisser Weise genau den gedankenlosen Abenteuertouristen, deren „moralisch[e] [F]ragwürdig[keit]“ (GB 99) Kracht im Gelben Bleistift so beißend feststellt, und die Geschichte weist sogar ein fabula docet auf – „a lesson to be learned“.

Dabei ist in 1979 ein narratives Moment bereits angelegt, das später Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten prägen wird. Die Handlung von 1979 spielt vor dem Hintergrund faktualer historischer Ereignisse; nicht zufällig ist der Text ganz lakonisch nach einem Jahr benannt. Wirkungsästhetisch betrachtet stellt der Roman einen Bezug zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung her – in der Tat vermischen sich diese beiden Modi in 1979 und sind nicht klar zu scheiden: Die Geschichte des fiktionalen Protagonisten ist untrennbar mit den tatsächlichen Ereignissen des Jahres 1979 verknüpft, denen im Verlauf des Textes auch eine historiographische Deutung verliehen wird, wodurch der namenlose Erzähler zum Chronisten wider Willen wird. 1979 weist damit die Charakteristika auf, welche Hayden White historischen Texten zuschreibt: Er deutet sie als „sprachliche Fiktionen [verbal fictions], deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften“ (White 124-125). Laut White gilt: „[W]ir [erklären] die reale Welt […], indem wir ihr jene formale Kohärenz verleihen, die wir normalerweise mit den Werken von Autoren der fiktionalen Erzählliteratur assoziieren“ (White 154-155). In 1979 findet diese Vermählung von Literatur und Geschichtsschreibung unter umgekehrten Vorzeichen statt, ist aber trotzdem im Groben mit Whites Modell zu charakterisieren: Hier begegnet eine literarische ‚verbal fiction’, deren Inhalt „ebenso erfunden wie vorgefunden ist“ und die historischen Umwälzungen „Kohärenz“ verleiht. Wenn also historische Texte laut White „die reale Welt“ erklären, „indem“ sie die „formale Kohärenz“ literarischer Texte an sie herantragen, so ist 1979 ein Roman, der analog zu dieser Sichtweise einen Erklärungswert aufweist, weil er sich formal als faktual grundierter Erfahrungsbericht ausgibt, in welchem historische Tatsachen und Erfundenes nicht klar zu scheiden sind – weil er, kurzum, einen Grad an Faktualität aufweist, den wir, frei nach White, „normalerweise mit den Werken von Autoren der“ Geschichtswissenschaft „assoziieren“. Diese historiographische Komponente des Romans ist zunächst Teil seiner ‚Verstörungsstruktur’: Die ausgewiesene Faktualität des Textes verstärkt auf der wirkungsästhetischen Ebene den Effekt dieser ‚cautionary tale’, denn sie erlaubt es der ‚authorial audience’, sich umso leichter mit wohligem Grausen in den naiven westeuropäischen ‚character narrator’ hineinzuversetzen. In dieser Weise wird 1979 als eine Art historischer Roman lesbar.

Dieses noch zu spezifizierende historiographische Interesse und die Gestaltung des Textes als historischer Roman nimmt aber auch in gewisser Weise die Versuchsanordnung von Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten vorweg. In diesem wird Geschichte nicht mehr im strikt Whiteschen Sinne verarbeitet – als faktuales Bauelement eines Narrativs, dem mit den Mitteln literarischen Schreibens Form gegeben wird –, sondern wird vollkommen kontrafaktisch erzählt. Dieser Befund lässt den Schluss zu, dass sich zumindest 1979 doch in gewisser Weise mit Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ergänzt, dass es also womöglich doch eine Kontinuität in Krachts Schaffen gibt und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten gar nicht so erratisch ist, wie man zunächst vermuten könnte. Deutlich hervorzuheben sind aber die unterschiedlichen Herangehensweisen an historische Tatsachen und den Modus historiographischen Schreibens. In 1979 werden verbürgte Tatsachen als Gestaltungselemente verwendet, um die abschreckende und damit belehrende Appellstruktur des Textes zu verstärken; in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten dagegen wird Geschichte geradezu gewaltsam umgeformt, in gewisser Hinsicht auch schlicht negiert und durch alternative, fiktive Verlaufsformen ersetzt.

In Ergänzung zu Whites Thesen ließe sich diese graduelle ‚Fiktionalisierung’ im Zuge der mit 1979 beginnenden literarischen Auseinandersetzung mit Geschichte noch genauer durch einen Rückgriff auf Ansgar Nünnings Typologie des postmodernen historischen Romans charakterisieren. Dabei fällt auf, dass 1979 als historischer Roman streng genommen relativ konventionell bleibt. Am ehesten passt auf den Text das von Nünning folgendermaßen skizzierte Modell des „[r]ealistische[n] historische[n] Roman[s]“, welches auf das 19. Jahrhundert „zurückgeht“: Realistische historische Romane, so Nünning, „schildern ein weitgehend fiktives Geschehen in einem raum-zeitlich präzise ausgestalteten geschichtlichen Milieu. […] Im Vordergrund steht die meist chronologische Darstellung einer sinnhaften, kausal verknüpften […] Geschichte, während die Ebene der erzählerischen Vermittlung rein funktionalen Charakter hat“ (Nünning 27).

Mag die Darstellung des „Geschehens“ in 1979 auch durch eine ‚Verstörungsstruktur’ traumartig verzerrt oder intensiviert sein, so erzählt der Roman letzten Endes doch eine durchaus klassisch „chronologische“, „sinnhafte“ und „kausal verknüpfte“ Geschichte, die in einem „raum-zeitlich präzise ausgestalteten geschichtlichen Milieu“ angesiedelt ist. „Funktional“ ist die „Ebene der erzählerischen Vermittlung“ dabei insofern als der Iran und die islamische Revolution des Jahres 1979 eher zweckmäßige Staffage sind: 1979 ist ja in letzter Konsequenz kein genuin historiographischer Beitrag über diese Epoche, sondern eine Art moralistisches Gedankenexperiment darüber, was einem genuin ‚postmodernen’ Individuum im Verlauf eines ultra-ideologischen ‚Backlash’ widerfahren könnte.

Anders verhält es sich mit Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Hier treffen wir kein „raum-zeitlich präzise ausgestaltete[s] geschichtliche[s] Milieu“ an, und wenn das „Geschehen“ auch weitgehend „chronologisch“ geschildert wird, so ist es in seiner Drastik doch nicht auf den ersten Blick „sinnhaft[]“ und „kausal verknüpft[]“ – zumal es ja auf einer Meta-Ebene durch zahlreiche Bezüge auf andere kulturelle Artefakte (Conrads Heart of Darkness, Coppolas Apocalypse Now, Dürrenmatts Winterkrieg in Tibet) vermittelt ist und vielleicht nur über diese intertextuelle und intermediale Vermittlung verständlich wird. Die konventionellen Merkmale des historischen Romans sind hier nicht mehr gegeben. Im Sinne Nünnings müsste man in Bezug auf den jüngeren Text demnach von einem „[r]evisionistische[n] historische[n] Roman[]“ sprechen (Nünning 28). Dieser „unterscheide[t] sich von stärker traditionellen Ausprägungen der Gattung“ wie folgt: „Erstens behandelt der revisionistische historische Roman vornehmlich Stoffe, die von einer kritischen Haltung gegenüber der Vergangenheit bzw. den überkommenen Deutungsmustern […] zeugen“ (Nünning 28) – das trifft zweifelsohne auf Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten zu; diverse historische Tropen (die friedliche Schweiz, das instabile und kriegerische Afrika etc.) werden ‚revidiert’ beziehungsweise invertiert. „[Z]weitens“, so Nünning, erzählen revisionistische historische Romane „Gegengeschichten“, also counterfactual history, wodurch sie die traditionellen formalen und wirkungsästhetischen „Beschränkungen“ der Geschichtsschreibung und des Genres des historischen Romans zu überwinden vermögen – auch dieses Kriterium erfüllt Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten klar (Nünning 28). Damit einher geht das dritte Charakteristikum des revisionistischen historischen Romans, das Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ebenfalls aufweist: Der Text „verwendet“ nämlich „spezifisch fiktionale und innovative Formen der Geschichtsdarstellung“ (in diesem Falle eher Gegengeschichtsdarstellung) (Nünning 28). Während also 1979 noch dem eher traditionellen Modell des ‚realistischen historischen Romans’ verpflichtet ist, lässt sich Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten als genuin „postmoderne“ Form des historischen Romans charakterisieren, namentlich als ‚revisionistischer historischer Roman’ (Nünning 28).

Nun scheint allerdings die von Lettow postulierte moralisierende Ader Krachts, die in Faserland, 1979 und Der gelbe Bleistift dingfest zu machen ist, prima facie in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten zu fehlen. Stattdessen drängt sich im Lichte obiger Beobachtungen die Annahme auf, dass im jüngeren Roman der Fokus auf Geschichte und Geschichtsschreibung liegt. Dieses mutmaßliche Wegfallen ethischer Reflexionen im Stil des Frühwerks lässt sich in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten in mehrerlei Hinsicht zeigen: Bei einer oberflächlichen Lektüre entsteht der Eindruck, dass die politischen und moralischen Implikationen der intertextuellen Bezüge (v. a. zu Conrad) nicht näher reflektiert werden, was ebendiese Bezüge als simple und eigentlich redundante Versatzstücke bloßstellt, und dass die postkolonialen Komponenten des Romans ziemlich krude ausgefallen sind.  

Krachts zahlreiche Verweise auf Conrads Heart of Darkness sind nämlich nicht besonders ergiebig; es kommt kaum je zur einer wie auch immer gearteten Vertiefung des aufgerufenen Intertexts. Überhaupt müsste man hier primär von ‚struktureller Intertextualität’ sprechen, denn die Handlung von Krachts Roman ist gleichsam an derjenigen von Conrads Novelle entlanggeführt: In beiden Fällen beschreibt ein ‚character narrator’, wie er in einer feindseligen Umgebung eine ominöse Figur ausfindig macht – Kurtz beziehungsweise Brazhinsky –, die sich im ‚Herz der Finsternis’ verschanzt hat. Es lässt sich unschwer zeigen, dass Kracht Heart of Darkness sehr genau gelesen haben muss; die Anspielungen beginnen schon früh und lassen sich bis auf die Ebene auch der scheinbar trivialsten Details in den Beschreibungen der beiden Ich-Erzähler verfolgen. So schildert Conrads ‚character narrator’ seine Ankunft in der Basisstation der Kolonisten:

A rocky cliff appeared […], houses on a hill, others with iron roofs; […] blinding sunlight drowned all this at times in a sudden recrudescence of glare. […] [I came upon] […] an undersized railway-truck lying there on its back with its wheels in the air. One was off. The thing looked as dead as the carcass of some animal. (Conrad 16)

Man vergleiche diese Passage mit derjenigen in Krachts Roman, in welcher der ‚character narrator’ zum ersten Mal Neu-Bern beschreibt:

[E]rst ging es an mit Rauhreif überzogenen Wellblechhütten vorbei, dann kam ein Gatter […]. Die Sonne glitzerte kalt im Schnee. Ein gepanzertes, außer Gefecht gesetztes deutsches Automobil stand quer, man hatte es noch nicht weggeräumt. (SuS 13)

In Krachts Text finden sich also beinahe wörtliche Übernahmen (oder Übersetzungen) aus Conrads Novelle. Diese Anspielungen ziehen sich leitmotivisch durch den ganzen Roman. Eine der deutlichsten Parallelstellen, und auch das beste Beispiel für Krachts trotz aller Detailkenntnis oberflächlichen Umgang mit Conrads Text, ist die ‚Hüttenszene’, die Kracht kurzerhand übernimmt.

Genau wie Marlow in Heart of Darkness stößt Krachts ‚character narrator’ auf eine „armselige Hütte“, in der er überraschenderweise „Bücher in“ einer fremden, in diesem Fall „englischer Sprache“ (SuS 68) vorfindet. Bei Conrad stört das Buch über „Seamanship“, das Marlow in der Hütte findet, das ganze semiotische Universum, in dem er sich bewegt: Es passt offensichtlich nicht in seine Umgebung – „such a book being there was wonderful enough“ – und es enthält Randnotizen „in cipher“ (Conrad 43). Später stellt sich heraus, dass das Buch einem Russen in Kurtz’ Station gehört und dass die Notizen eben nicht in einer Geheimsprache, sondern in Russisch abgefasst sind. Bis zu dieser Erklärung aber bleibt die Hüttenszene enigmatisch und ist damit programmatisch für Heart of Darkness: Conrad konstruiert mit großer Akribie eine verrätselte Welt, die nicht mehr lesbar ist, in der Zeichen täuschen können oder vollkommen unverständlich sind, in der mithin die Einheit von signifiant und signifié nachhaltig gestört ist. Die Hüttenszene in Krachts Roman dagegen treibt augenscheinlich nur die Handlung voran. Zwar kommt es auch hier zu einer kleineren semiotischen Verwirrung – „[d]ie Titel sagten mir nichts“ (SuS 68) –, aber diese wird später nicht wieder aufgegriffen und auch nicht weiter reflektiert. Eine Szene, die bei Conrad gleichsam poetologische Funktion hat, erscheint also bei Kracht in vereinfachter und fast schon banaler Form wieder.

Diese ‚blinde’ Intertextualität ist ein Indiz für das Fehlen einer ethischen Komponente im Sinne von Krachts frühem Romanwerk. Denn wenn Zeichen trügen und die Welt nicht mehr interpretierbar ist, hat das auch ethische Implikationen – diese werden bei Conrad reflektiert und spielen bei Kracht kaum eine Rolle. Die Charaktere in Heart of Darkness haben ja nicht nur mit dem Schritt von der ‚zivilisierten’ in die ‚unzivilisierte’ Welt zu kämpfen, sondern auch mit der Erkenntnis, dass diese Dichotomie vielleicht gar keine Gültigkeit hat: In der Heterotopie des Dschungels ist man auf sich selbst zurückgeworfen – „you must fall back upon your own innate strength, upon your own capacity for faithfulness“ (Conrad 56) – und die Widersprüche zwischen den hehren kulturimperialistischen Ansprüchen, dem Glauben an die Perfektibilität der ‚Wilden’ durch „science and progress“ (Conrad 28), und der skrupellosen Ausbeutung eines ganzen Kontinents werden deutlich. So entpuppt sich gerade die angeblich ‚zivilisierte’ Heimat der Kolonisten in der Novelle als verlogene, friedhofsartige Welt – „sepulchral city“ (Conrad 27) –, mithin als wahres ‚Heart of Darkness’:

[B]efore the high and ponderous door, between the tall houses of a street as still and decorous as a well-kept alley in a cemetery, I had a vision of [Kurtz] on a stretcher, opening his mouth voraciously, as if to devour all the earth with all its mankind. He lived then before me […]. The vision seemed to enter the house with me – the stretcher, the phantom-bearers […], the beat of the drum, regular and muffled like the beating of a heart – the heart of a conquering darkness. (Conrad 84)

Diese zentrale Ambivalenz fällt bei Kracht weg. Dabei hätte gerade die intertextuelle Übernahme nicht nur von Details, ‚reality effects’ und ähnlichem Zierrat, sondern auch von Conrads differenziertem Blick auf die moralischen Problem- und Spannungsfelder kolonialistischen Tuns eine Gelegenheit zur ‚Ethisierung’ von Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten geboten – einer ‚Ethisierung’, die Krachts frühe Texte eben durchaus aufweisen.

Der Conrad-Intertext bleibt indes gleich in zweifacher Hinsicht blind. Denn wenn es Kracht auch nicht gelingt, auf Conrad in gleichsam affirmativer Weise einzugehen, also seinen eigenen Text mit ähnlich komplexen Diskrepanzen und spannungsgeladenen Leerstellen zu untertiefen wie sie sich in Heart of Darkness finden, so hätte er in seinen Anspielungen doch von der langen Tradition der postkolonialen Kritik an Heart of Darkness zehren können. Will sagen: Auch eine kritische, vielleicht gar polemische Bezugnahme auf Conrads bekanntlich nicht unproblematische Novelle hätte Krachts Roman eine profunde moralische Komponente verliehen. Nach Spuren einer postkolonialen Conrad-Lektüre sucht man in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten wiederum vergeblich, wie der Roman überhaupt einen sehr bedenklichen Umgang mit (post-)kolonialen Frage- und Problemstellungen betreibt.

Neben der bereits erwähnten Hüttenszene böte in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten vor allem eine Parallelstelle zu Heart of Darkness Gelegenheit für eine ‚ethische’ postkoloniale Reflexion. In Conrads Text nämlich entwirft Marlow einmal ein Alternativszenario, in dem Schwarze durch England ziehen und als Kolonisten auftreten, also den Spieß umdrehen:

[I]f a lot of mysterious niggers armed with all kinds of fearful weapons suddenly took to travelling on the road between Deal and Gravesend […], I fancy every farm and cottage thereabouts would get empty very soon. (Conrad 22)

Dieses Alternativszenario entspricht genau der Versuchsanordnung von Krachts Roman, in dem sich ja tatsächlich ein Afrikaner mit „fearful weapons“ (Conrad 22) durch das Schweizer Mittelland bewegt und als Offizier Autorität über einfache (weiße) Soldaten ausübt. Dieser Rollentausch, gekoppelt mit der sukzessiven Ablösung des Protagonisten von der schweizerischen Indoktrination und seiner nicht nur geographischen Wendung zu den afrikanischen „Brüdern“ und „Ahnen“ (SuS 143-144), mutet zunächst wie eine postkoloniale Geste Krachts an. Der ganze Emanzipationsprozess des ‚character narrators’, der zuerst „die Schweizer Zeit“ (SuS 143) hinter sich lässt und schließlich „durch den Kanal, der nun uns Afrikanern gehören würde“ (SuS 146) in seine Heimat zurückreist, spielt sich in bester Fanonscher Manier als Rückbesinnung auf die eigene präkoloniale Vergangenheit ab, wie übrigens auch der Exodus der Afrikaner aus den von Corbusier konzipierten Retortenstädten „zurück in die Dörfer“ (SuS 148) am Ende des Romans. Dass die Arbeit an Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten auch im Zeichen einer Auseinandersetzung mit Frantz Fanons Thesen stand, gibt Kracht übrigens selbst zu Protokoll[iii]. So heißt es in Fanons Die Verdammten dieser Erde:

[D]ie [kolonisierten] Intellektuellen [stellen] sich in den Rahmen der Geschichte. Sie beschließen, auf die kolonialistische Theorie einer vorkolonialen Barbarei aggressiv zu antworten. […] [M]an muss sich über die Heftigkeit wundern, mit der die kolonisierten Intellektuellen die Existenz einer nationalen Kultur verteidigen. Aber wer diese übertriebene Leidenschaft verurteilt, der vergisst, dass sein Ich sich bequem hinter einer französischen oder deutschen Kultur verschanzen kann, die […] von niemandem bestritten werden. […] [D]iese leidenschaftliche Suche nach einer nationalen Kultur vor der kolonialen Ära [ist] durch das Bestreben der kolonisierten Intellektuellen legitimiert […], gegenüber der westlichen Kultur […] Abstand zu gewinnen. (Fanon 177-178)

Fanons Modell der Dekolonisation, die „Suche nach einer nationalen Kultur vor der kolonialen Ära“, wird von Kracht zweifellos aktualisiert, aber seine Rezeption dieser Thesen greift zu kurz. Die Verweise auf Fanons Befreiungstheorie sind bei genauer Betrachtung oberflächlich und täuschen nicht darüber hinweg, dass Kracht keine realistische postkoloniale Situation konstruiert, oder jedenfalls keine postkoloniale Situation im Sinne Fanons, sondern eine lyrisierend-delirierende Befreiungsphantasie. Fanon beschreibt den Kolonialismus anschaulich als „Terrorregime“ (Fanon 177) und stellt klar, dass „die Dekolonisation […] immer ein Phänomen der Gewalt“ ist, ein „historischer Prozess“, und „nicht das Resultat einer magischen Operation“ (Fanon 29). Bei Kracht dagegen scheint sich die Emanzipation relativ reibungslos zu vollziehen; jedenfalls sind ihm allfällige Schattenseiten des Befreiungsprozesses keine Erwähnung wert. Die „Grausamkeit“, mit der „die blauen Augen unserer Revolution brannten“ (SuS 147), bleibt letztlich eine Blindstelle, denn außer Corbusier, der beim Exodus der Kolonisierten in die Dörfer Suizid begeht, scheint nicht einmal jemand zu Tode zu kommen: „Die eilig aufgebrachten Soldaten, die der Architekt an den Rändern der Städte Sperrposten beziehen ließ, legten die Gewehre nieder und reihten sich in die Menschenströme ein“ (SuS 148).

Der von Kracht zur Darstellung gebrachte Vorgang der Dekolonisation entspricht mithin keineswegs den von Fanon spezifizierten Parametern: Er ist offenbar kein „Phänomen der Gewalt“, und schon gar nicht ein „historischer Prozess“, denn die Dekolonisation ereignet sich tatsächlich „über Nacht“ (SuS 148). Vielmehr gestaltet Kracht die Befreiung als „magische Operation“, als poetische Reise des offenbar zum Messias avancierten Protagonisten „zur Liebe hin“, „[u]nter einem brennend blauen Himmel“ (SuS 146-147). Dazu „tönt[]“ auf dem Schiff, mit dem der ‚character narrator’ nach „Somaliland“ reist, „blechern und wehmütig ein altes irisches Volkslied aus einer Stimm-Schrift-Maschine“ (SuS 146), womit wohl Danny Boy gemeint sein wird, das im Titel des Romans auch anzitiert wird. Zu den Klängen eines eher kitschigen Volkslieds also, das zwar eventuell ein irisches Emigrantenschicksal und damit auch das Schicksal eines Kolonisierten beschreibt, nicht aber die Dekolonisation, vollzieht sich die Befreiung Afrikas in Krachts Roman. Dieser beschreibt somit, man darf es so sagen, mit erstaunlicher Naivität oder Gleichgültigkeit eine vollkommen unrealistische Dekolonisation in einem romantisierten Afrika. Zwar modellierte Kracht augenscheinlich Teile von Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten gemäß Fanons Thesen, verfuhr dabei aber fahrlässig: So folgt der Befreiungsprozess strukturell dem Fanonschen Modell (die Unterdrückten machen sich auf, ihre genuin eigene Kultur wiederzubeleben), ist aber mirakulöserweise frei von allen Schwierigkeiten, die Fanon eben auch beschrieb. Deshalb geht der Darstellung der Dekolonisation in Krachts Roman jegliche Plausibilität und ethische Stringenz ab; die Gestaltung eines oberflächlich an Fanon geschulten, allerdings vollkommen gewalt- und reibungslosen Dekolonisationsvorgangs kann in ihrer Naivität durchaus anstößig wirken. Jedenfalls werden die Defizite von Krachts Aktualisierung des Conrad-Intertexts besonders deutlich, wenn man sich die rudimentäre Fanon-Rezeption in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten bewusst macht, denn gerade Conrad hatte offenbar – mehr als sechzig Jahre vor der Publikation von Fanons Text – ein feineres Gespür als Kracht für bestimmte Perversionen des Kolonialismus. So fragt Marlow nach seiner Ankunft in Kurtz’ Lager den verwirrten Russen, den er dort antrifft, warum die Eingeborenen kurz zuvor sein Boot attackiert hätten. „They don’t want [Kurtz] to go“ (Conrad 62), lautet die lakonische Antwort, obwohl oder eben gerade weil Kurtz sich von den Afrikanern als Gott verehren lässt und sie brutal knechtet. Wie schon in der oben erwähnten Hüttenszene vermag es Kracht also bei der Darstellung des Zusammenbruchs der Schweizer Kolonien in Afrika nicht, den von Conrad behandelten Themen auf den Grund zu gehen, obwohl ihm dazu ein ganzes Korpus an postkolonialer Reflexion zur Verfügung stünde.

Aber auch eine kritische Relektüre Conrads, die sich, wie oben erwähnt, im Zusammenhang mit dem Thema des Kolonialismus angeboten hätte, wird in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten versäumt. Der Fund des in englischer Sprache abgefassten Buches in der Hütte in Heart of Darkness lässt sich nämlich nicht nur gleichsam strukturalistisch als Element in einer komplexen Verrätselungsstruktur begreifen. Homi Bhabha hat die Szene auch einer postkolonialen und dekonstruktivistischen Lektüre unterzogen:

The discovery of the book installs the sign of appropriate representation: the word of God, truth, art creates the conditions for a beginning, a practice of history and narrative. […] The immediate vision of the book figures those ideological correlatives of the Western sign – empiricism, idealism […] – that sustain a tradition of English ‚national’ authority. […] Towson’s manual [das Buch, das Marlow findet, ist Towsons Inquiry into some Points of Seamanship, Anm. von J. R.] provides Marlow with a singleness of intention. It is the book of work that turns delirium into the discourse of civil address.“ (Bhabha 1169-1170)

Das Buch in der Hütte erscheint also, wenn man Heart of Darkness gegen den Strich liest, gerade nicht als erratisches Zeichen, das paradigmatisch für das semiotische und moralische Chaos des Dschungels steht. Vielmehr könnte man es mit Bhabha als ordnungsstiftende Metonymie für koloniale Macht interpretieren. Diese geriete so gleichsam durch die Hintertür in einen Text, der, wie gezeigt, dem Kolonialismus prima facie durchaus kritisch begegnet. Das gefundene Buch kreiert einen Haarriss in dieser kritischen Oberfläche und „allows the fraught text of late-nineteenth-century imperialism to implode within the practices of early modernism“, was zu „ideological ambivalences“ (Bhabha 1171) führt. Auch diese kritische Lesart hätte eine Gelegenheit für Kracht dargestellt, seinem Roman auf konkrete Weise Komplexität und moralische Tiefe zu verleihen, beispielsweise durch die Erwähnung eines für die Schweizer Kolonisten bedeutungsstiftenden Texts in der Hütte.

Für die postkoloniale Sensibilität, die Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten vermissen lässt, gäbe es im Übrigen ein Beispiel in Krachts früheren Schriften: Im Gelben Bleistift beschreibt Kracht „eine Bar, die sich“ – ausgerechnet – „Heart of Darkness nannte“ (GB 42). Dabei äußert Kracht durchaus luzide Kritik an der perversen „Freude am kitschigen Spiel mit der leichten Kriegs-Frisson der Touristen“, und die amerikanischen Gäste in der Bar, die „zu Sharky’s Bar fahren [wollten], zu den Fünf-Dollar-Nutten“ (GB 42), widern ihn offensichtlich an. Mit einem feinen Sensorium für die postkoloniale Problematik gelingt es Kracht hier, „[to] expose[] the milieu’s efforts to suture together codes originally concocted to paint an American imaginary of Vietnam after the Vietnam war“ und „[to] [u]nmask[] this orientalist simulation“ (Langston 59). Ebendieses Sensorium, das in Krachts Frühwerk in fast schon penetranter Weise präsent ist, sucht man in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten vergeblich. Womöglich gibt es aber, wie zuvor beim ersten Verweis auf die Thesen Hayden Whites und Ansgar Nünnings angemerkt, ein anderes, subtileres Sensorium, das in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten wirksam ist – und das vielleicht eine ganz spezifische und abstraktere ethische Qualität aufweist.

Stefan Bronner stellt richtig fest, dass sich die ersten drei Romane Christian Krachts in eine „Poetik des Verschwindens“ einordnen lassen. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ist mithin als „Weiterführung des bereits in den zwei vorherigen Romanen Angedachten zu verstehen“: In Faserland ‚verschwindet’ der ‚character narrator’ nach seiner erfolglosen Identitätssuche, indem er sich „auf den Zürichsee hinaus[rudern]“ lässt, und in 1979 „löst sich das Ich im Arbeitslager auf“ (Bronner 104). Dieses Programm wird in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten fortgeführt: Auf der Reise des Protagonisten nach Afrika befreit er sich sukzessive von seinem ‚identity kit’[iv] und auf dem Schiff behandelt ihn die Crew „als sei [er] unsichtbar“ (SuS 146). Bronner bemerkt nicht zu Unrecht, dass es dieses postmodernen „Verschwindens des Subjekts und der damit verbundenen Vorstellungen von Einheit, Sinn und Ordnung“ bedarf, „[u]m dem Phänomen ‚Wirklichkeit’ in der Literatur gerechter zu werden“ (Bronner 106). Jedoch scheint ihm zu entgehen, dass Krachts Poetik des Verschwindens in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten auf ganz andere Weise aktualisiert wird als in den früheren Romanen. Wenn man nämlich Bronners These von der „Poetik des Verschwindens“ mit den Ansätzen von Lettow und Langston kombiniert, wird deutlich, dass sich das Verschwinden des Subjekts in Faserland und 1979 vor dem Hintergrund einer mit kritischem Blick geschilderten Wirklichkeit abspielt, deren „[V]erkommen[heit]“ (FL 30) und deren „leeres Zentrum“ (1979 98) entlarvt werden. Damit entfaltet das „Verschwinden“ in Faserland und 1979 ethisches und kritisches Potenzial und stiftet auch Kohärenz zwischen den beiden Romanen: In ihnen wird „the topos of […] space“, der sich im Titel Faserland ankündigt, mit dem „topos of temporality“ in 1979 „cross-fertilize[d]“ (Langston 53).

Kracht konstruiert in seinen ersten beiden Romanen mithin eine Art Raum-Zeit-Achse kritisch-moralisierender postmoderner Reflexion, in die sich Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten prima facie nicht einfügen lässt. Denn im Gegensatz zu Faserland und 1979 spielt sich das Verschwinden des erzählenden Subjekts in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten ja gerade nicht vor dem Hintergrund einer als defizitär empfundenen und kritisch analysierten postmodernen Wirklichkeit ab, sondern vor der Kulisse einer durchaus unterhaltsamen und aufwendig gestalteten, aber fiktiven Alternativwelt. Der Topos des ‚Verschwindens’ ist somit zwar in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten präsent, aber anders geartet als in Krachts älteren Romanen, in denen dieses ‚Verschwinden’ immer mit moralischer Reflexion verschaltet war. In Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten fehlt diese explizite moralische Komponente. Wenn der Topos des ‚Verschwindens’ dennoch aktualisiert wird, so ist er jedenfalls nicht unmittelbar mit der in dieser Arbeit skizzierten Form postmoderner moralischer Reflexion erklärbar, welche Faserland und 1979 innewohnt. Einmal mehr wird deutlich, dass Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten im Werkkontext des Autors eine irritierende und erratische Position einzunehmen scheint.

Auf dieser Basis, aber auch aufgrund der diskutierten‚ defizitären Intertextualität’ des Werks und seines fragwürdigen Umgangs mit dem Thema der Dekolonisation, könnte man leicht zu einem negativen Urteil über Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten kommen. Das wäre aber voreilig, denn Krachts Interesse an ethischen Fragestellungen fällt in diesem Roman nicht einfach weg. Vielmehr wird es in andere Bahnen gelenkt, und zwar in einer Weise, die durchaus mit der „Poetik des Verschwindens“ kompatibel ist, aber, anders als Bronner zu glauben scheint, nicht einfach nahtlos an den Topos des ‚Verschwindens’ im Frühwerk anschließt. Denn im vorliegenden Text wird gerade nicht das „Verschwinden[] […] des Subjekts“ (Bronner 105) gestaltet; schließlich eignen dem „disappearing act[]“ (Langston 50) des Erzählers keine offensichtlichen kritischen und moralisierenden Weiterungen im Stil der früheren Romane. Was in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten indes tatsächlich zum Verschwinden gebracht und damit thematisch gemacht wird, und zwar mit einiger erkenntnisstiftender Konsequenz, ist die Geschichte, also „Historiographie“ als „Tiefenstruktur der historischen Einbildungskraft“ (Schössler 101) im Sinne des zuvor erwähnten Hayden White.

Zur Rekapitulation: White geht davon aus, dass „jeder Zugriff auf die Wirklichkeit […] tropologisch verfasst ist, das heißt mit Sprachfiguren arbeitet, die das Unbekannte bekannt werden lassen“ (Schössler 104). Ausgehend von einer solchen Homologie zwischen literarischen Tropen und den narrativen Mustern der Geschichtsschreibung liest – oder demaskiert – er „historische[] Erzählungen“ (Schössler 101) als „sprachliche Fiktionen [verbal fictions], deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften“ (White 124-125). Nun soll nicht behauptet werden, dass Kracht in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten Whites Thesen tatsächlich umsetzt oder anwendet: White spricht ja von einem ‚emplotment’ tatsächlicher Ereignisse, das durch Historiker vorgenommen wird und mit den Modi fiktionalen literarischen Erzählens vergleichbar ist, während Kracht die Geschichte des 20. Jahrhunderts kurzerhand und in fast schon gewalttätiger Manier umbiegt. Dennoch zeigt der Verweis auf White, dass sich Krachts kontrafaktischer Roman nicht auf seine auffälligen Blindstellen reduzieren lässt. Obwohl nämlich in Krachts Text nicht ‚Geschichtsschreibung’ im Whiteschen Sinne betrieben, sondern kontrafaktisch fabuliert wird und somit ‚Geschichte’ – ganz im Sinne der „Poetik des Verschwindens“ – tatsächlich ‚verschwindet’, ist in ihm doch derselbe Impetus wirksam, den White beschreibt: Kracht erkundet die tendenzielle Artifizialität und Poetizität von Geschichtsschreibung. Diese Reflexionen sind konsequenterweise autoreferenziell grundiert. So macht zum Beispiel die Theaterisotopie am Anfang des Romans deutlich, dass Geschichte in dieser kontrafaktischen Kriegschronik inszeniert wird, dass Geschichte vielleicht immer eine Inszenierung ist: „Der Weg zum Bahnhof“ erscheint dem ‚character narrator’ „jeden Morgen wie eine Theaterkulisse“; „immer wieder schwarze Vögel, die gerade so aufflatterten, als ziehe sie ein unsichtbarer Bühnenmeister an einem Bindfaden durch die Szenerie“ (SuS 13). Später kommt es ihm „erneut“ vor, „als seien diese ruinierten Häuser Theaterkulissen“, und in einer Art Vision eines wiederaufgebauten Neu-Bern schweben ihm bezeichnenderweise zuallererst „Theatergebäude“ vor – diese werden noch vor dem „Sowjetrat“, vor den „Fabriken“ (SuS 26) genannt.

Die Theatermetapher greift Whites Begriffsschatz auf: White übernahm nämlich aus Northrop Fryes Analyse der Literaturkritik „vier Kategorien“ – Tragödie, Komödie, Romanze und Satire –, die er seinem „Geschichtsent[wurf] als metageschichtliches Fundament zugrunde [legt]“ (Schössler 101), und gleich zwei dieser Kategorien sind Bühnenkünste. Die Emphase des in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten gültigen Geschichtsbegriffs liegt somit durchaus auf dem von White beschriebenen Komplex, auf der Produktivität einer historischen Einbildungskraft, welcher mit den formalen Mitteln der Dichtung Form gegeben werden kann. Dabei wird die Whitesche Konzeption von Geschichtsschreibung in radikalisierter Form aktualisiert: Bei Kracht ist die Poetizität der Geschichtsschreibung so ausgeprägt, dass das erzählte Geschehen letztlich nur noch wenig mit ‚Geschichte’ zu tun hat – dass ‚Geschichte’ in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten mithin nur noch als ‚Gegengeschichte’ figuriert und ‚Geschichte’ als Kategorie faktual grundierten Berichtens über vergangene Ereignisse, eben, zum ‚Verschwinden’ gebracht wird.

Diese Gestaltung ist wiederum konsistent mit den Merkmalen, die Nünning dem revisionistischen historischen Roman zuschreibt. Faktualität und Fiktionalität werden durch die Erzählung einer „Gegengeschichte“ suspendiert, und die „Geschichtsdarstellung“, die bei Kracht im Zeichen einer Theatermetapher steht, ist „fiktional[] und innovativ“ (Nünning 28). Allerdings ist zu konstatieren, dass Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten auch Merkmale einer anderen Kategorie des historischen Romans aufweist, die Nünning skizziert, namentlich der „historiographic metafiction“ (Nünning 28). Denn Krachts Werk ist durchaus bemüht, grundsätzlich „die Erkennbarkeit und Rekonstruktion von Geschichte […] in Zweifel [zu] ziehen“ (Nünning 28) beziehungsweise „geschichtliche Themen“ nicht zuletzt „im Dienst der theoretischen Reflexion über Probleme der Geschichtsschreibung einzuführen“ und damit den „Akzent von der Geschichtsdarstellung auf die Reflexion über die Rekonstruktion von geschichtlichen Zusammenhängen und die Thematisierung geschichtstheoretischer Fragen zu legen“ (Nünning 30-31). Damit ließe sich Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten gleichsam als Hybridform der beiden prominentesten Ausprägungen des postmodernen historischen Romans charakterisieren: des revisionistischen und des metafiktionalen historischen Romans.

Wenn Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten auch die ethisch instruktive Komponente von Krachts Frühwerk vermissen lässt, so wird diese doch durch ein übergeordnetes Interesse an Geschichte, Geschichtsschreibung und der Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit vermeintlicher historischer Tatsachen ersetzt. Dieses Interesse ist in statu nascendi bereits in 1979 anzutreffen und wird im dritten Roman klarer konturiert: Krachts literarisches Interesse an Historiographie kann nicht nur im Rückgriff auf die einschlägigen Thesen Hayden Whites verständlich gemacht werden, sondern ist zudem an Ansgar Nünnings Typologie des historischen Romans zurückzubinden. So scheint mir 1979 eher dem traditionellen Modell des realistischen historischen Romans verpflichtet, während Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten als Mischform des revisionistischen und des metafiktionalen historischen Romans lesbar ist. Die „ethische Komponente“, welche Lettow in Krachts Frühwerk feststellt, bleibt damit in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten wider Erwarten erhalten, denn die von Kracht unternommene Problematisierung von Geschichtsschreibung als potenziell fiktional vorgeformt hat ihrerseits eine signifikante ethische Qualität: Nünning attestiert sowohl dem revisionistischen als auch dem metafiktionalen historischen Roman großes kritisches Potenzial – durch das „Erzählen von Gegengeschichten“ beispielsweise würden „vergessene oder unterdrückte Aspekte der Vergangenheit“ thematisiert, aber auch „gegenwärtige Verhältnisse, überkommene Traditionen und etablierte Deutungsmuster in Frage“ gestellt; „insgesamt“ werde im revisionistischen historischen Roman „eine Überprüfung, Zurückweisung und Veränderung vorherrschender Geschichtsbilder und Kontinuitätsvorstellungen“ vorgenommen (Nünning 34). Diese Beschreibung passt zweifellos auf Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, dessen „Gegengeschichte“ ja bei allen Schwächen der Fanon-Rezeption beispielsweise einen interessanten Kontrast zwischen „überkommene[n]“ Schweiz- und Afrika-Bildern aufbaut.

Weil sich Krachts Text aber eben auch auf einer Meta-Ebene mit Geschichtsschreibung und Geschichte befasst, eignet ihm zudem eine „didaktische Tendenz“: Durch seine „metahistoriographischen Reflexionen“ schärft er „das Bewusstsein dafür, dass die geschichtliche Welt dem Historiker nicht direkt zugänglich ist […], dass auch historiographische Werke sprachliche Konstrukte sind, die narrative Darstellungsmuster verwenden“ (Nünning 37). Die in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten zu konstatierende literarische Anfechtung des „Anspruch[s] der Historiographie auf Objektivität, Totalität und Wahrheit“ (Nünning 39) birgt einen klaren ethischen Impetus, der in ähnlicher Form eine lange Tradition in der deutschsprachigen Literatur hat[v]. Der Verdacht auf ein ‚ethisches Vakuum’ in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten bewahrheitet sich somit entgegen ersten Erwartungen und Lektüren nicht. Der Text lässt sich zwar nicht direkt in den erstaunlich kohärenten raum-zeitlichen Komplex von Faserland und 1979 eingliedern, zeugt aber von einem Engagement mit neuen, über das frühere Romanwerk hinausweisenden Fragestellungen.

 


Endnoten
[i] Der Terminus ‚Ich-Erzähler’ – ist doch jeder Ich-Erzähler zugleich ein ‚Er-’ oder ‚Sie-Erzähler’, ganz zu schweigen vom gendering des Begriffs – wird hier durch James Phelans Begriff des „character narrator“ ersetzt (Phelan 210). Ein „character narrator“ ist laut Phelan ein (geschlechtlich nicht spezifizierter) homodiegetischer Erzähler, der sowohl sogenannte „character functions“ als auch „telling functions“ erfüllt (Phelan 210, Hervorhebung im Original). Character functions bezeichnen „the ways in which the ‚I’ functions as an actor in the events of the narrative“, während die telling functions „the ways in which the ‚I’ functions as a teller of the narrative“ näher bestimmen (Phelan 210). Die telling functions zerfallen ihrerseits in die „narrator functions“ und die „disclosure functions“ (Phelan 210). Erstere betreffen „the narrator’s communication to the narratee“, zweitere „the narrator’s unwitting but inevitable and crucial communication to the authorial audience“ (Phelan 210). Der Begriff der „authorial audience“ stammt von Peter J. Rabinowitz und meint ungefähr dasselbe wie ‚intendierter Leser’: „the […] concept of the […] authorial audience […] has substantially different implications. The intended reader [d. h. die ‚authorial audience’, Anm. v. J. R.] – the hypothetical person who the author hoped or expected would pick up the text – may not be marked by or ‚present in’ the text at all but may rather be silently presupposed by it. The intended reader, therefore, is not reducible to textual features but can be determined only by an examination of the interrelation between the text and the context in which the work was produced“ (Rabinowitz 85).

[ii] Das „Archivieren“ ist für Moritz Bassler das Hauptmerkmal der Popliteratur: „Die neuen Archivisten, besser bekannt als Pop-Literaten […][,] archivieren [in] ihre[n] Büchern in geradezu positivistischer Weise Gegenwartskultur […]“. (Bassler 184).

[iii] Vgl. das Interview mit Christian Kracht in der Welt vom 13.10.2008 (http://www.welt.de/kultur/article2559767/Christian-Kracht-und-die-nackte-Angst.html, Zugriff am 22.12.2012).

[iv] „Ich warf meinen schweren Soldatenmantel und Brazhinskys kranke Lektionen weg“; „Ich tauschte bei einem Reisbauern die Stiefel gegen einfache Schuhe aus Bast“ (SuS 138, 143).

[v] So verfasste Theodor Fontane mit Vor dem Sturm einen Zyklus historischer Romane, die bewusst die Erwartungen des Publikums enttäuschten, indem sie beispielsweise auf die Inszenierung von Geschichte als Teleologie im Sinne des deutschen Nationalismus verzichteten (die Proklamierung eines derartigen Geschichtsbilds mit den Mitteln des historischen Romans war gewiss mit ein Grund für die enorme Popularität eines anderen, fast zeitgleich entstandenen historischen Romanzyklus: Gustav Freytags Ahnen).

 

Verwendete Abkürzungen

1979: Kracht, Christian. 1979. München: dtv, 2008.

GB: Ders. Der gelbe Bleistift. Reisegeschichten aus Asien. München: dtv, 2008.

FL: Ders. Faserland. München: dtv, 2009.

SuS: Ders. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2008.

 

Bibliographie

Bassler, Moritz. Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München: C. H. Beck, 2005.

Bhabha, Homi K. „Signs taken for Wonders.“ Literary Theory: An Anthology. Second Edition. Ed. Julia Rivkin und Michael Ryan. Malden, Oxford, Victoria: Blackwell, 2004.

Bronner, Stefan. „Das offene Buch – Zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit in Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten.“ Deutsche Bücher 39.2 (2009): 103-111.

Conrad, Joseph. Heart of Darkness. London: Hesperus, 2002.

Fanon, Frantz. Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981.

Fontane, Theodor. Werke, Schriften und Briefe. Ed. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. München: Carl Hanser Verlag, 31990 (= Werke, Schriften und Briefe I, Bd. 3).

Langston, Richard. „Escape from Germany. Disappearing Bodies and Postmodern Space in Christian Kracht’s Prose.“ The German Quarterly 79.1 (2006): 50-70.

Lettow, Fabian. „Der postmoderne Dandy – die Figur Christian Kracht zwischen ästhetischer Selbststilisierung und aufklärerischem Sendungsbewusstsein.“ Selbstpoetik 1800 – 2000. Ich-Identität als literarisches Zeichenrecycling. Ed. Ralph Köhnen. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2001.

Nünning, Ansgar: „Beyond the Great Story. Der postmoderne historische Roman als Medium revisionistischer Geschichtsdarstellung, kultureller Erinnerung und metahistoriographischer Reflexion.“ Anglia 117.1 (1999): 15-48.

Phelan, James. „Redundant Telling, Preserving the Mimetic, and the Functions of Character Narration“. Narrative 9.2 (2001): 210-216.

Rabinowitz, Peter J. „Whirl Without End. Audience-Oriented Criticism“. Contemporary Literary Theory. Ed. G. Douglas Atkins und Laura Morrow. Amherst: The University of Massachusetts Press, 1989.

Rohloff, Joachim. „Jüngstes Deutschland. Sentimentale Befürfnisse nach einer heilen deutschen Nation. Zum Geschichtsbild der sogenannten Generation Golf.“ literatur konkret 26 (2001-2002): 4-5.

Schössler, Franziska. Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Tübingen: Narr Franke Attempto, 2006.

White, Hayden. „Der historische Text als literarisches Kunstwerk.“ Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Ed. Christoph Conrad und Martina Kessel. Stuttgart: Reclam, 1994.

 

 

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Nov 07 2013

Gabriele Eckart

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“To blur the Sign”: Miguel de Cervantes’s and E.T.A. Hoffmann’s Speaking Dogs in Zsuzsanna Gahse’s Novel Berganza (1984)

Besides Don Quixote, also the theme of the speaking dog that Cervantes introduced with The Conversation of the Dogs (Coloquio de los Perros) into world literature in 1613 has become an active ingredient in the literary life of German speaking countries in the 20th century.  While Fries adapted this text in the context of the downfall of the GDR for political reasons (see Eckart, Glossen 31), Zsuzsanna Gahse re-interpreted it from the perspective of linguistic skepticism.  As a member of a Hungarian family that fled to the West during the Hungarian Revolution in 1956, Gahse started to learn German when she was twelve.  According to Gert Ueding, this late age of German language acquisition enabled her to develop a critical awareness for those “exotic sounding words” (“exotisch klingenden Wörter”) and to use them as “objects of play in quite wanton, flowing, and linguistic conventions ignoring combinations” (“Gegenstände eines Spiels durchaus mutwilliger, fließender, die Sprachkonventionen mißachtender Zusammenstellungen”; Ueding 48).  Since Cervantes’s dog Berganza learned to speak a human language as a tongue foreign to him, Gahse seems to be predestined to pick up the Spanish canine protagonist and have him perform in a German-speaking context.

Gahse’s short novel Berganza is an eccentric piece of prose that contains intertextual references to both Cervantes’s story The Conversation of the Dogs (1613) and E.T.A. Hoffmann’s continuation of this text in News from the latest Destinies of the Dog Berganza (Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza) (1814).  The first-person narrator, a German high school teacher, was told by a friend about the two world-famous Berganza-texts; she read them; nevertheless, when it turns out that the big black dog she finds at a gas station in a Southern German town is Berganza, she is very surprised.

It makes Gahse’s adaptation unique that Berganza performs as a language philosopher.  While he tells the story of his life to the female narrator, he takes the time to reflect critically on relations between perception, thought, and speech.  Berganza’s hybrid identity – neither a dog, nor a man, but something in-between – enables him to observe keenly the processes of language acquisition, thinking, and speaking and to become aware of their shortcomings.  The result of this observation is a new contribution to the literary tradition of a writer’s preoccupation with a crisis of language.  To give an example, Berganza becomes aware of the fact that perceiving us by means of language results in misjudging us:

With every sentence in which I perceive myself I fall into a pose and misjudge myself.  With every sentence in which I think to record myself I fall into a role and distance myself from me.  With every description, especially in regard to the exact descriptions, my pen slips.  Just as well, I could put on a mask and laugh.

(Mit jedem Satz, mit dem ich mich erkenne, falle ich in eine Pose und verkenne mich.  Mit jedem Satz, mit dem ich mich zu fixieren wähne, falle ich in eine Rolle und entferne mich von mir.  Mit jeder Beschreibung, besonders, was die exakten Beschreibungen anbelangt, verschreibe ich mich.  Ich könnte genausogut eine Maske aufsetzen und lachen; 1984, 92)

This example demonstrates that Gahse has a keen awareness of the inability of language to sufficiently express oneself.  In a special issue of the journal die horen on translation that she edited in 2005, she quoted José Ortega y Gasset who states that when man starts to speak he does it because he believes he could say what he thinks.  However, the Spanish philosopher goes on to say, that is an illusion: “But language doesn’t yield that much.  It says more or less a part of what we think and puts for the rest an insurmountable obstacle in the way” (“So viel leistet die Sprache nicht.  Sie gibt, mehr oder weniger, einen Teil von dem wieder, was wir denken, und setzt der Übermittlung des Restes einen unübersteiglichen Damm entgegen”; Ortega y Gasset 45-6).

Besides the fact that exile, although she “merely inherited it,” enriched her as a “chance to receive new artistic inspirations” (Zimmer 385), there is a second reason why Gahse was able to develop such a keen awareness of the problematic nature of language: her work as a translator.  Having translated Hungarian literature into German for years, it became evident for Gahse that, as Friedrich Nietzsche put it in his famous essay “On Truth and Lie in an Extra-Moral Sense”: “a juxtaposition of the different languages shows that what matters about words is never the truth, never an adequate expression; otherwise there would not be so many languages” (256).  In Gahse’s narrative Berganza, there are plenty of indications that language is something not to be taken for granted as a tool, for instance, when the narrator states: “I am writing this narrative already for the third time” (“Ich schreibe diese Geschichte schon zum dritten Mal”; 1984, 22).  For depicting her surprise that the dog she brought home suddenly spoke to her, she would need to use the expression “Oh” (1984, 22).  However, she feels remorse using this word because it comes with an “inner motion” (“innere Bewegung”; 1984, 22) that “contains something old-fashioned, almost inopportune” (“beinhaltet etwas Unzeitgemäßes, beinahe schon etwas Ungehöriges”; 1984, 23).  Afterwards, she tries out different beginnings of the text; one of them stresses the “uniqueness” (“Einmaligkeit”; 1984, 24) of having found a speaking dog; she feels that pointing out this uniqueness should have center-stage.  However, she wonders, who would be interested in such a story right now – during this time of the military “maneuvers of autumn” (“Herbstmanöver”; 1984, 24) the noise of which fills the land.  These maneuvers cause a specific “image of mood” (“Stimmungsbild”; 1984, 24) that influences people’s mind in such a way that the narrator feels she cannot offer her readers a text about a speaking dog.  But, not to write Berganza’s story is also impossible because, maneuvers or not, she feels that it just has to be written.  Finally, the narrator starts writing the story that constantly questions its own narrative technique.

In addition to exploring the inability of language to represent truth, Berganza reflects on the connection between language and feelings of guilt.  In contrast to Cervantes’s Berganza who suddenly knew how to speak at the stroke of midnight, Gahse’s Berganza had to learn it step for step.  Remembering this very slow and strenuous process of language acquisition, he reflects on the transition “from being mute to listening and then to speaking” (“hinüber vom Stummsein ins Hören und dann weiter zum Reden”; 1984, 80) – a transition the painfulness of which he could feel in his body: “a little puffiness, pimples, swellings, little hills of misery and small amounts of glory under the skin as a transition to the bursting of talents” (“Plusterchen, Quellungen, Schwellungen, vorbereitete Häufchen Elend und kleine Herrlichkeiten, unter der Haut, als Übergang, bevor die Talente barsten”; 1984, 80).  However, there is not much time to celebrate this new ability to understand and to speak, because, “when I, for instance, suddenly understood what specific words meant […] I felt mainly threatened” (“als ich zum Beispiel plötzlich verstand, was einzelne Wörter sagten […] fühlte ich mich in erster Linie bedroht”; 80).  Having progressed from listening to understanding and speaking, Berganza feels threatened because he suddenly becomes aware of the human game of blaming:

Everywhere I had made a mess, supposedly all the time.  For everything that came apart at the seams I was guilty, of course that was my fault, I thought.  A glass fell from the table and shattered in front of my feet, I put my ears back.  I jumped over the fence, tore my hind legs open and bleeding, I disappeared into a corner, full of remorse.  For every rattle, every time that there was a noise, when people were arguing, I was the guilty one.

(Überall hatte ich etwas angerichtet, vermeintlich immerzu.  Alles, was aus den Fugen geraten war, war meine Schuld, selbstverständlich, dachte ich.  Ein Glas flog vom Tisch und zersprang vor meinen Füßen, ich legte die Ohren zurück.  Ich sprang über den Zaun, riß die eigenen Hinterbeine auf, und blutend verzog ich mich in eine Ecke, voller Reue, ich.  Bei jedem Klirren, wenn Lärm entstand, wenn sich Leute stritten, war ich der Schuldige; 1984, 80-1).

In other words, Berganza feels guilty even for damage he has not caused – a feeling of which he had been ignorant before he could understand human language.  In contrast to Cervantes’s dog  “who feels like hugging himself from joy that he could speak” (“der sich am liebsten selbst umhalsen möchte, vor Freude, weil er sprechen kann”; Gahse 1984, 17), Gahse’s Berganza is not happy at all about the gift of speech.

Like Cervantes’s canine protagonist, Gahse’s Berganza serves different masters.  Earlier masters were, for instance, a student who went to Great Britain to study English and a scientist who studied animal behavior.  This later master used Berganza as an object of observation leading to ridiculous results: “In this undertaking, he one time distinguished between me and human beings; another time, he compared me to them by transferring my qualities on them; in whatever ideas he was involved he always ignored who actually was standing in front of him.” (“Dabei unterschied er mich mal von Menschen, und mal verglich er mich mit ihnen, übertrug meine Eigenschaften auf sie; ganz gleich, welche Ideen er hatte, er war immer in der Lage zu übersehen, wer da eigentlich vor ihm stand”; 1984, 42).

While these experiences fill only a few pages, Berganza’s narrative about a later master, a woman called Anna, goes on and on.  After she has adopted him, he lives with her and her family, including a husband called Rupp and their three children.  Since Berganza accompanies Anna all the time and can read her thoughts and feelings, he is able to observe her inner turmoil caused by the fact that she loves another man, called Justin, who is married to another woman.  Anna’s inability to communicate with her husband (she is unable to tell him that she would like to leave him and start a new life with Justin) is an occasion for Berganza to draw skeptical conclusions about the correspondence between feelings, thoughts, and words.  After the secret lovers, Anna and Justin, decided to leave their families for a three-day vacation, Anna says to Rupp only that she feels like traveling and would like to leave for a few days.  Rupp answers that he feels the same.  Immediately, he makes plans to take the family on a camping trip to the French Alps.  During this trip, while Anna constantly postpones saying the decisive sentence that is waiting on her tongue “I can’t any more and I don’t want any more” (“Ich kann nicht mehr und ich will nicht mehr”; 1984, 98), she utters other words instead.  For instance, when Anna’s husband begs her to sit down and eat with him, she declines the invitation describing a stomachache while Berganza thinks: “this didn’t seem to lead to the description of an illness, but to conciliatory speeches” (“Das schien nicht auf die Beschreibung eines Krankheitsbildes hinauszulaufen, sondern auf versöhnliche Reden”; 1984, 98).  The following statement of Ortega y Gasset that Gahse refers to in her special edition of die horen corresponds with Berganza’s observation of the failed attempt to communicate between Anna and Rupp:

Stuck to the deep-seated prejudice that we communicate by means of speaking, we talk and listen in such good faith that in the end we misunderstand each other much more as if we had silently attempted to guess our thoughts.

(Entsprechend dem eingewurzelten Vorurteil, daß wir uns durch Sprechen verständigen, reden wir und hören in so gutem Glauben zu, daß wir uns schließlich mehr mißverstehen, als wenn wir stumm wären und uns bemühten, uns zu erraten; Ortega y Gasset 47).

No doubt, if Anna were mute, Rupp would know from reading her face and gestures that the happiness in their marriage was over.  Also, when Anna talks to Berganza, the communication fails because, as Berganza notices, she is addressing not him, but rather Justin, her lover, and even more:  “She is not just speaking to me, but she also comes up with my answers” (“Sie spricht mich nicht nur an, sondern denkt auch Antworten für mich aus”; 53).  To Berganza’s surprise, this ritual of miscommunication seems to give relief to Anna’s lovesick heart.

At one point in the narrative, it occurs to Anna that one should better experience everything, also the event of an “sickening conversation” (“kränkenden Unterhaltung”; 65) as if it were filmed.  Language would disappear with the result that “the hardly noticeable in the mimicry would become the actual event” (“das beinahe Unmerkliche in der Mimik wird wohl das eigentliche Geschehen sein”; 1984, 65).

While Anna goes on talking to her husband Rupp about this and that, avoiding telling him the truth, Berganza’s resulting presentiment about Anna’s future is so negative that he decides to leave her.  He runs away to look for a new master – who finally will be the first-person narrator of Gahse’s text, the high school-teacher whose friend had loaned her Cervantes’s and E. T. A. Hoffmann’s texts on Berganza; at this point, the frame of the narrative closes.

As it was said before, exploring the arbitrariness of language and its consequences from the point of view of Berganza, who on one hand is in a dog’s position and on the other hand is able to reflect philosophically, is Gahse’s important contribution to the literary theme of the speaking dog, which Cervantes had started in 1613.  As Dorota Sośnicka pointed out, Berganza sometimes puts his snout on the first-person-narrator’s shoulder, resulting in a sound of his voice that resembles her own.  From this detail it could be concluded that Berganza is the narrator’s – and very likely the author’s – alter ego.   Therefore, Berganza’s skeptical statements as, for instance, the following about the fact that speaking does not lead to happiness, can be read as a description of Gahse’s own experiences with being a foreigner in a German-speaking context: “You can learn everything, every language, even its refinements, as you also can learn, with some concentration, good taste – a joyless enrichment and I would prefer to withdraw into resignation” (“Alles ist erlernbar, jede Sprache, selbst ihre Feinheiten, wie bei einiger Konzentration auch der gute Geschmack zu erlernen ist.  Eine freudlose Bereicherung, und lieber will ich mich blindlings in das Verzichten einigeln”; 1984, 60).

Interestingly, Berganza’s negative feelings about language correspond with his discomfort in the city.  While he accompanies Anna to the city where she sells the pottery she has made, he complains bitterly.  One of his complaints is that everything is “assigned” (“vergeben”; 1984, 57) in urban space; the major culprit seems to be the line:

Everywhere are lines; the new thing are the lines. They force my eyes to a specific point; I don’t like that.  I don’t like to be cornered and I have objections to these lines above, underneath, and diagonal to my horizon.

([Ü]berall sind Linien, das Neue sind die Linien. Sie zwingen meinen Blick auf einen ausgesparten Punkt, was ich beklagen möchte.  Ich mag es nicht eingezwängt zu sein und habe Bedenken vor diesen Linien oberhalb, unterhalb und diagonal zu meinem Blickfeld; 1984, 57)

With its regime of lines, the city attempts to channel, correct, and control Berganza’s perception.  However, since he, as a dog, is a part of nature, he can feel clearly that, as Nietzsche put it, “correct perception – which would mean the adequate expression of an object in the subject – seems […] a self-contradictory absurdity”; 260). Giving the reason for this absurdity, Nietzsche states boldly: “between two absolutely different spheres, as between subject and object, there is no causality, no correctness, no expression, but at most an aesthetic attitude” (260). With this attitude, Nietzsche means “an illusive transference, a halting translation into an entirely foreign language, which in any case demands a freely creative and freely inventive […] mediating force” (260).  In regard to Gahse’s linguistic skepticism, it is important to point out that the concept of the line Berganza has an issue with appears also in the description of Gahse’s discomfort with language, for instance, as a part of the word “line to remember” (“Merklinie”; 1984, 66).  Her protagonist Anna notes:

Even for that choppiness that Anna imagined as her approximate future, there were always sentences, not only movements and temperatures; and especially

the sentences had a weight that wanted to eliminate everything that existed at random.  She basically thought in statements, assurances, declarations, reassurances, almost in laws, exclusions, lines to remember.  Hardly in anything that would apply to flitting images, speechless, with many visual appearances.

(Sogar für jene Bewegtheit, die sich Anna als ungefähre Zukunft vorstellte, waren immer Sätze vorhanden, nicht nur Bewegungen und Temperaturen, und gerade die Sätze hatten eine Schwere, die alles Beiläufige verschlucken wollte.  Im Grunde dachte sie in Aussagen, Sicherungen, Leitgedanken, Beruhigungen, beinahe schon in Gesetzen, Ausnahmesätzen, Merklinien.  Kaum einmal etwas, was nur vorbeihuschende Bilder betroffen hätte, wortlos, mit viel Optik; 1984, 66, italics added).

In other words, what language threatens to eliminate with such instruments as the “lines to remember” are the incidental and fleeting images.

In contrast to the city, Berganza feels good in a more natural space.  Although the park in which he runs around one day had once been designed geometrically, now, there “trees are growing exuberantly blurring the sign by means of their irregularity” (“wuchern die Bäume, wobei sie mir ihrer Unregelmäßigkeit das Zeichen verwischen”;  81-2).  This expression, “to blur the sign,” could be used to characterize Gahse’s aesthetic program.  In the list of writers who inspired her, she names Peter Handke (see Segebrecht 55).  Although she does not give a specific reason for her attraction to Handke’s work, from reading her oeuvre it can be assumed that what attracts her above all is his obsession with exploring the “spaces-in-between” (“Zwischenräume”; Handke, see title of book Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen).  In Gahse’s poetic universe, such “Zwischenräume” are, for instance, the already mentioned things that are only incidental or just fleeting by very quickly – things that on first glance hardly exist at all.  Since in the linear world of the city where stone sits on stone, such spaces-in-between are very narrow, there is not much to explore for Berganza; this causes his frustration, but he does not give up, using his senses of taste and smell.  Examining for instance the different smells of things and people, he discovers that he has the astonishing ability to create new forms of expression out of smell:  “from these stinging and smooth or stubborn notes of smell, I am creating a composition that reminds me of music” (“aus diesen stechenden und glatten oder widerborstigen Duftnoten bereite ich eine Komposition, die mich an Musik erinnert”; 1984, 44).  Composing music-like expressions from different notes of smell reminds us of the romantic ideal of synaesthesia by the means of which one can transcend one’s quotidian experience.  Also Berganza’s preference of words that have a certain color, as for instance the word “tipsiness” (“Schwips”; 1984, 95), testifies to his synaesthetic abilities.

In terms of Gahse’s aesthetic, Berganza’s insistence on expressing himself by means of a combination of linguistic and artistic means could be interpreted the following way: Although Gahse feels frustrated due to the fact that in language everything is already “assigned” in a strict, but arbitrary order of signifiers and signified, silence is not an option for her.  Wisely, Berganza states: “Not to talk is the same as to talk about everything” (“Nicht zu reden ist ähnlich wie alles bereden”; 1984, 94).  Therefore, one must express oneself!  A possible option to resolve the issue of language crisis would be to explore the so-called “in-between” of things and senses, as difficult as this exploration might be because there are no words for it.  In this aesthetic effort, Gahse is clearly inspired by Handke as it was mentioned before – an author who, in turn, was deeply inspired by Nietzsche’s attitude towards language.  As Andrea Gogröf-Voorhees points out, for both Nietzsche and Handke language is the only medium for expressing the relationship between the self and the world; nevertheless, the critic goes on to say, both writers share the same caution with language that “is ambivalent, constructive and destructive, creating meaning and identity as well as distorting them” (330).  As Handke states:

It is so hard to speak: the pure concrete does not lead to truth; and the abstract seduces you so easily to swing merely around given concepts.  To find into-between them – that is what inspires me to speak, but where you seldom proceed with precision.

(Es ist so schwer zu sprechen: das pur Konkrete ist so erkenntnislos, und das Abstrakte, da ist man so leicht in Gefahr, die vorhandenen Begriffe einfach so herumzuschaukeln.  Und dazwischenzufinden, das ist für mich immer… das ist es, was mich eigentlich antreibt zu reden, wo man aber selten genau arbeitet; 54).

The methods of exploring this in-between are different in Handke’s and Gahse’s texts.  While the first author attempts to describe this narrow space in as much detail as possible, Gahse experiments with language, breaking it apart and joining it in new ways.  Ueding describes her methods to undermine the conventional view of language and to change it for the purpose of finding new forms as highly artificial.  Some examples are Gahse’s “forced shortening, reduction to a single word, pulling together und somehow cubistic creation of space” (“gewaltsame Verkürzung, Reduktion aufs Einzelwort, Zusammenziehung und gleichsam kubistische Verräumlichung”; Ueding 49).  Nevertheless, the critic goes on to say, there is “a lot of play, joke, irony, and unconcerned fun with words that makes these texts so much livelier than some other poetic language experiments in modern poetry are” (“viel Spiel, Witz, Ironie und unbekümmerte Sprachfreude darin, die diese Texte so viel lebendiger machen, als es manche lyrische Sprach-exerzitien in der modernen Poesie sonst sind”; 49).

As it was said before, in Gahse’s narrative Berganza, it is the dog that playfully designs this avant-garde program.  At first, he notices that when he speaks there is something missing in what he is saying: “I feel as if I have to throw myself into the speech at the end of all my sentences” (“mir ist, als müßte ich hinter allen meinen Sätzen mich selbst in den Redefluß werfen”; 1984, 52).  He is missing himself, his personality; but how to include such a thing in speech?  He experiments with different types of sentences, shorter and longer ones, until he feels that “the sentence fascinates [him] more than an orderly or also not-orderly description” (“[ihn] der Satz mehr fesselt als eine ordentliche oder auch ordnungsfreie Beschreibung”; 1984, 53).  In Saussure’s terms, this means that the signifier has become more fascinating for Berganza than the signified.  He continues to state:

I want to have patterns, speech patterns with exuberant ornaments […]; then, I have to laugh about this idea and notice that I actually prefer the coarse features, casually jotted sentences along the long strand of which sometimes robust buttons are lighting up; sketches, more is not due to a story.

(Ich will Muster haben, Sprechmuster mit üppigen Ornamenten […] bis ich über diesen Einfall lachen muß und merke, daß ich eigentlich die groben Züge mag, lässig hingeworfene Sätze, an deren langem Strang manchmal widerstandsfähige Körner aufleuchten. Skizzen, mehr steht keiner Geschichte zu; 1984, 53).

During his experiments with different types of sentences, Berganza also notices that language, above all, is a “Stimmung” (possible translations would be: mood, disposition, humor, or ambience):

Probably I could fill myself with every language like with a mood.  That sounds as if I would claim a language is only a mood.  Conversely, it is certainly less correct that not every mood is a language; a mood does not even require a clear expression.  Nevertheless, I must swing myself into a specific mood; I must painfully climb into this mood when I wish to speak in a foreign tongue.  It remains alien to me.  I like it, but I cannot grow together with it.

(Wahrscheinlich könnte ich mich mit jeder Sprache auffüllen wie mit einer Stimmung.  Das hört sich an, als würde ich behaupten, ein Idiom sei nur eine Stimmung.  Umgekehrt ist es natürlich noch weniger richtig, also nicht jede Stimmung ist gleich eine Sprache, nicht einmal einen deutlichen Ausdruck muß eine Stimmung haben.  Und doch muss ich mich in eine ganz bestimmte Laune schwingen, muß in die Laune umständlich hineinsteigen, wenn ich in einer fremden Sprache sprechen will.  Sie bleibt mir fremd.  Ich mag sie, kann mit ihr trotzdem nicht verwachsen; 1984, 39).

In her essay “Main and Secondary Meanings of Language” (“Haupt- und Nebenbedeutungen der Sprache”; 2005), Gahse examines the connection between the different fields of mood and the historic roots of languages.  Her thoughts on this matter reflect once more her reading of Ortega y Gasset, who sees the incongruity of languages based on the fact that they developed in different landscapes and under the influence of different conditions and experiences of life.  He argues that it would be wrong to assume, for instance, “that what the Spaniard calls bosque would be the same as that which the German calls Wald” (“daß das, was der Spanier bosque nennt, das gleiche sei, was der Deutsche Wald heißt”; Ortega y Gasset 21) although the dictionary claims that “Wald” means “bosque.” Gahse states with resignation that in translation this specific field of mood that belongs to a language gets lost.  In Berganza’s case, this loss means that although he is able to listen and to speak, the exact mood of a people’s language is not accessible to him.

Exhausted after his difficult experiences with language, Berganza considers returning to barking – a language with which he could completely identify.  However, he has learned to think about language critically and barking is a kind of language about which he states: “I am too blind in it” (“ich bin in ihr zu blind”; 1984, 40).  To be blind towards language means he is not able to reflect on his original language critically for a lack of distance.  As a translator and writer, Gahse probably feels that she cannot question her native Hungarian language as radically as she is able to question German.

In Ortega y Gasset’s exploration of the forces that generate language change, the Spaniard distinguishes between to speak and to sayTo speak is to use a language “as constituted and as our social environment imposes it on us” (Gabriel-Stheeman 144); to say means “to invent new modes of the language … because those that exist and that it already possesses do not […] suffice to say what needs to be said” (Gabriel-Stheeman 144).  The dynamics between the two, as Ortega shows, create change in a language – these thoughts clearly reverberate in Gahse’s narrative Berganza.  In her questioning of German sentence structure and vocabulary, as, for instance, the word “eternal” (“ewig”; 103) as well as in her criticism of the instrumentalized use of language in everyday conversation, she criticizes what Ortega y Gassett calls to speak.  Her playful testing what kind of images and sounds a word yields and her creation of new forms of language as Ueding has described it, contributes to the dimension of to say.  By undermining the dichotomy between that which is and that which appears,  Zsuzsanna Gahse also undermines the traditional notion of language.

Regarding Gahse’s reception of E. T. A. Hoffmann’s romanticist Berganza-adaptation, Dorota Sośnicka noted correctly that the story of Anna, Rupp, and Anna’s lover Justin is told “before the background of E. T. A. Hoffmann’s unhappy love story with his married voice student, Julia” (“vor dem Hintergrund der unglücklichen Liebesgeschichte E. T. A. Hoffmanns zu seiner verheirateten Gesangschülerin Julia” 432).  While Berganza in Hoffmann’s story does not understand why the sixteenth-year-old Julia who represents the romantic ideal, gives her consent for the “unfitting marriage” (“unpassende Heirat”; Gahse 1984, 19) with Graepel, a rich, but stupid merchant, in Gahse’s story Berganza does not understand why Anna does not leave her husband for Justin, whom she truly loves.  Besides quoting from Hoffmann’s story frequently, as for instance the famous sentence, “Have you never seen a dog cry (“Hast du denn noch nie einen Hund weinen gesehen”; Hoffmann 154), Gahse’s narrator criticizes Hoffmann from a feminist point of view stating that his statement that “womens’ blooming time is their actual life” (“die Blütezeit der Frauenzimmer [sei] ihr eigentliches Leben” 1984, 34) is wrong.  According to Gahse’s first-person-narrator who is a woman beyond that “sweet stage of bloom and raisins” (“süßen Blüte und Rosinenzeit”; 1984, 35), it would be wrong “to underestimate the previous and following stages of life” (“die vorhergehenden und nachfolgenden Zeiten zu unterschätzen” 1984, 35) due to the fact that they have their own beauty.  Also, while Hoffmann’s story is mainly concerned with the position of the artist in bourgeois society and the contrast between devotion to art and dilettantism, Gahse’s text is more concerned with the contrast between lines and nature, signified and signifier, i.e. the issue of language.

Gahse’s intertextual references to Cervantes’s narrative The Conversation of the Dogs that humorously satirized seventeenth-century Spain are mainly focused on the friendship between the dogs Berganza and Scipio as well as on the figure of the witch, Cañizares.  Since Anna is actually talking to Justin when she talks to Berganza, Berganza is unable to communicate with her; he misses Scipio with whom he had discovered the ability to speak and was able to have a true conversation.  Cañizares, on the other hand, appears in Gahse’s narrative for the purpose of delivering a kind of feminist manifesto.  In the most important, almost seven-pages-long reference to Cañizares, Berganza sees her in a dream dancing with Anna: “Resolutely, they held each other at the hips and circled through the room” (“Entschlossen hielten sie einander an den Hüften und kreisten durch den Raum”; 1984, 107).  While they are dancing a waltz together – the witch many-centuries-old and dried out, Anna young and fresh – they talk; it seems that Cañizares attempts to disillusion Anna in regard to her euphoria about Justin by trying to wake her up to the fact that he does not deserve her.  Also in this conversation the issue of language plays an important role.  Whatever Justin says and does – for instance, “how he is dangling from many thoughts and thinks he would be in control of them” (“wie er an vielen Gedanken baumelt und meint, er hätte sie fest im Griff”; 1984, 110) – it makes Anna happy.  In other words, Anna’s concern of whether we really think something or language is thinking us (i.e., by using a language we are being manipulated by its structures) that otherwise would trouble her, in Justin’s case, she finds it not to be an issue.  Because she is in love with him, she is able to smile about such uncertainties of the human condition that otherwise would trouble her.  Cañizares does not like at all this uncritical attitude but, in the end, she fails to disillusion Anna about the man.

To summarize, Gahse adopted the canine characters of Miguel de Cervantes’s and E. T. A. Hoffmann’s texts Conversation of the Dogs (1613) and News from The latest Destinies of the Dog Berganza (1814) mainly in order to examine the issue of language.  While Cervantes uses the speaking dog to satirize the corruption in the Spanish society at the beginning of the seventeenth century and Hoffmann the deplorable position of the artist in Germany two hundred years later, Gahse has Berganza explore critically the ways in which people speak and their consequences.  Simultaneously, she suggests changes to our use of language that point in the direction of an avant-garde program.

 

Works Consulted

 

Cervantes Saavedra, Miguel de. “Novela y Coloquio que pasó entre Cipión y Berganza.”  Miguel de Cervantes.  Novelas Ejemplares.  Vol. II, Madrid: Espasa-Calpe, 1969, 209-340.

Eckart, Gabriele.  “The Reception of Cervantes’s Don Quixote and The Conversation of the Dogs in Post-Reunification German Literature.” Glossen 31 (2011).

Fries, Fritz Rudolf.  Die Hunde von Mexico Stadt.  Warmbronn: Ulrich Keicher, 1997.  Print.

Gabriel-Stheeman, Luis.  “A nobleman grabs the broom: Ortega y Gasset’s verbal hygiene.” José del Valle and Luis Gabriel-Stheeman.  (Eds.) The Battle over Spanish between 1800 and 2000.  London: Routledge, 2002, 134-66.  Print.

Gahse, Zsuzsanna.  Berganza: Erzählung.  München: List, 1984.  Print.

———-. “Haupt- und Nebenbedeutungen der Sprache.” Die horen 50, 2 (2005): 6-9.  Print.

Gogröf-Voorhees, Andrea.  “Language, Life, and Art: Handke and/on Nietzsche.” David N. Coury.  Frank Pilipp.  The Works of Peter Handke: International Perspectives.  Riverside: Ariadne P, 2005, 310-335.  Print.

Handke, Peter.  Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen: Ein Gespräch, geführt von Herbert Gamper.  Zürich: Amman, 1987.  Print.

E. T. A. Hoffmann. Poetische Werke in sechs Bänden.  Berlin: Aufbau, 1963. Vol. 1, 147-226.  Print.

Nietzsche, Friedrich. “On Truth and Lie in an Extra-Moral Sense.” Friedrich Nietzsche.  Writings from the Early Notebooks.  Cambridge: Cambridge UP, 2009: 253-64.  Print.

Ortega y Gasset, José.  Elend und Glanz der Übersetzung.  Ebenhausen: Langewiesche-Brandt, 1956.  Print.

Segebrecht, Wulf.  Auskünfte von und über Zsuzsanna Gahse.  Bamberg: Univ. Bamberg, 1996.  Print.

Sośnicka, Dorota.  Den Rhythmus der Zeit einfangen: Erzählexperimente in der Deutschschweizer Gegenwartsliteratur.  Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008.  Print.

Ueding, Gert.  “An der Spitze der europäischen Avantgarde: Porträt der Schriftstellerin Zsuzsanna Gahse.”  Segebrecht, Wulf.  Auskünfte von und über Zsuzsanna Gahse.  Bamberg: Univ. Bamberg, 1996:  46-50.  Print.

Zimmer, David.  “Ungarinnen im Schweizer Exil: Drei Annäherungen.” Arcadia 42,2 (2007): 385-397.  Print.

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Nov 07 2013

Kyle Frackman

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Coming Out of the Iron Closet: Contradiction in East German Gay History and Film

In this essay, I will be focusing on experiences and portrayals of outsiders, in this case of gayness, within the former German Democratic Republic (GDR).[1] As my main cultural product of analysis I have chosen the 1989 East German film Coming Out, directed by Heiner Carow (1929-1997).[2] I will situate Carow’s film within the historical and social context of the development of gay rights within the GDR. What I aim to show in this essay is the trajectory of duality in the GDR’s treatment of outsiders—in this case, of gay outsiders. I argue that GDR functionaries’ understanding of their role vis-à-vis the country’s differently sexualized citizens is one further example of the nation’s complex relationship with contradiction. We will recognize the presentation of this duality in Carow’s film, which uses sound, music, and image to deliver a narrative of contradiction. In what follows, I will briefly trace some historical and legal developments that are relevant for this topic before proceeding to an examination of Carow’s film itself, and particularly examples of its use of sound and music.

History: Nietzsche and Foucault

In an essay in which he explains his approach to excavating history, Michel Foucault writes:

[Genealogy] must record the singularity of events outside of any monotonous finality; it must seek them in the most unpromising places, in what we tend to feel is without history—in sentiments, love, conscience, instincts; it must be sensitive to their recurrence, not in order to trace the gradual curve of their evolution, but to isolate the different scenes where they engaged in different roles. (“Nietzsche, Genealogy, History” 76)

In this essay, I will take a semi-archaeological or -genealogical approach in the manner of Foucault (inspired as he was by Nietzsche), in order to look briefly at how specifically gay men—not lesbians (for reasons that will become clear)—came out of what Foucault calls “the long baking process of history” (“Nietzsche, Genealogy, History” 79). What we will see are the shortcomings, the advances, the trips and falls, and accidents that contribute to the narrative presented here (cf. Michel Foucault, “Nietzsche, Genealogy, History” 81).

Genealogy, in this theoretical sense, reveals the historical construction and, to use the Nietzschean and Foucauldian metaphor, the inscription or written composition of bodies. “For Foucault,” theorist Judith Butler writes, “the cultural construction of the body is effected through the figuration of ‘history’ as a writing instrument that produces cultural significations […] through the disfiguration and distortion of the body, where the body is figured as a ready surface or blank page available for inscription […] of history itself” (“Foucault and the Paradox of Bodily Inscriptions” 603). Nietzsche, in Die fröhliche Wissenschaft (1882) and Zur Genealogie der Moral (1887), produces and develops the concept that inspires Foucault: namely, Herkunft or “descent.” Nietzsche tries to show how this Herkunft can manifest on or in bodies. As Nietzsche writes in Die fröhliche Wissenschaft (1882),

Der Gelehrte wächst in Europa aus aller Art Stand und gesellschaftlicher Bedingung heraus, als eine Pflanze, die keines spezifischen Erdreichs bedarf: darum gehört er, wesentlich und unfreiwillig, zu den Trägern des demokratischen Gedankens. Aber diese Herkunft verräth sich. Hat man seinen Blick etwas dafür eingeschult, an einem gelehrten Buche, einer wissenschaftlichen Abhandlung die intellektuelle Idiosynkrasie des Gelehrten […] herauszuerkennen und auf der That zu ertappen, so wird man fast immer hinter ihr die “Vorgeschichte” des Gelehrten, der Familie, in Sonderheit deren Berufsarten und Handwerke zu Gesicht bekommen. (583, original emphasis)

One’s history or Herkunft begins to comprise not only genealogical (and, from a modern perspective, genetic) linkages, but rather also occupations—in the widest senses of profession, time, pre-occupations—and activities. Through involuntary and voluntary corporeal reactions, Herkunft contributes to the construction and development of bodies and certainly personalities. Individual traits manifest themselves that could be, with archaeological effort, connected to past tendencies and occupations.

Building on this, Foucault takes us to task for customarily accepting that bodies are subject to only biology and physiology and the like. Instead, bodies show the evidence of this historical development and descent, in the sense of Herkunft: “The body is molded by a great many distinct regimes; it is broken down by the rhythms of work, rest, and holidays; it is poisoned by food or values, through eating habits or moral laws; it constructs resistances” (“Nietzsche, Genealogy, History” 87). One could supplement or expand upon this by adding that bodies are subject more abstractly to functions of power and external regulation, as one can see in many of Foucault’s other works (e.g., Discipline and Punish and The Birth of the Clinic). According to both Nietzsche and Foucault, then, one can observe that bodies are affected and effected by such various interactions with environment, law, society, and so on, and can also respond with resistances, whether implicit or explicit, in public or in private.[3]

GDR: Legal and Social Connections

I would like to shift to offer some details about the legal context of gayness in the GDR, which contributes to the cultural foundation on which Carow’s film was based and appeared in 1989. Relatively little has been written about the film Coming Out, despite Carow’s importance in the canon of DEFA directors; it is usually mentioned in passing as one of the late films produced by the DEFA Studios. Somewhat more has been written about the experiences of lesbians and gay men in the GDR, although mostly, with few exceptions, in German. Many scholars have an ambivalent relationship with the former East Germany, and this topic tends to throw that ambivalence into relief, at least for some. The narrative of the collapse of the Berlin Wall and the end of the Cold War tends to be characterized as the “victory of capitalism” and the victory of “us” over “them” or even, dramatically, “the end of history” (Rossbacher 164; Dietrich 4547; Lepenies 924). The country’s authoritarianism often overshadows—perhaps rightly—any policy priorities that moved toward eliminating social inequities. With the GDR’s resurgence in recent years in popular films like Good-Bye Lenin! (2003) and Das Leben der Anderen (2006), this topic connects to a reassessment of the make-up of the GDR and the place of numerous elements within East German society, some of which—like historical accuracy, human rights, aesthetic or formal value of East German cultural works and their placement in categories of “German” works—have been and continue to be discussed in German Studies scholarship (Carson; Creech; Horn; Schmeidl). Additionally, mentions of Coming Out tend to overlook many aspects of the film, as they are overshadowed by plot devices, the film’s chronology, and the film’s placement among artistic and cultural depictions of minorities.

The legal developments in the area of German sexual criminalization—as in other areas—are tortuous and often hard to follow. It is noteworthy that the GDR, which had been characterized, according to Denis Sweet, as “the most boring, predictable country in the world,” was in this social area a contrast to other East Bloc countries (“A Literature of ‘Truth’” 205). Skimming over some of the unnecessary details of the meandering changes of the German criminalization of same-sex affections, the most salient points are as follows.  The relevant laws stemmed from an 1851 Prussian law that was codified in the German Empire in 1871 and altered and intensified under the National Socialists (1935); this law lived on in West Germany. East Germany took a different route, effectively decriminalizing non-coercive homosexual acts in 1967/68—a move that some cynically considered to be merely or at least primarily a “propaganda move” vis-à-vis the West (Lemke, “Gay and Lesbian Life in East German Society” 35). In 1987, the GDR completely decriminalized same-sex acts; this East German law was held as the status quo for the unified German state’s laws. It should be noted that, except for a GDR decision that affected all non-consensual sex, all German legal provisions applied only to male-male sexual acts; lesbians were excluded by omission. Speaking to this in 1990, activists and writers Christina Schenk and Marina Körzendörfer wrote, “Lesben waren also einer doppelten Mißachtung ausgesetzt – sie wurden als Frauen nicht ernstgenommen und als homosexuelle Menschen nicht erkannt”; “Das […] gewonnene Wissen über Schwule hilft hier nicht weiter. Lesben sind Frauen, also anders sozialisiert als Männer. […] Kurz: Frauen sind sozialpsychologisch anders als Männer” (Schenk and Körzendörfer 78–80). As the National Socialists and earlier referees of sexual behaviors had done, the GDR thus indicated that the primary concern with respect to same-sex affection was based on men.

Considered to be a sign of a decadent, bourgeois, capitalist lifestyle, gayness was often disavowed by the political machine in the GDR and considered to be antithetical to communism and the worker’s movement (cf. Lemke, “Gay and Lesbian Life in East German Society” 32–33; Evans). Thus, the fact of the incremental decriminalization of gayness in the GDR—starting with the 1950 criminalization of only “coercive” acts—did little to satisfy gay men, lesbians, and would-be activists who expected policy changes, like the easing of censorship, to accompany the country’s legal stance. Prominent GDR agitators for gay rights both before and after the Fall of the Wall, like Jürgen Lemke and Charlotte von Mahlsdorf (who appears in Coming Out), maintained that the state, for the most part, publicly denied the existence of any sexual minority (Lemke, “Gay and Lesbian Life in East German Society” 32; Mahlsdorf 173). After East Germany signed the 1974 Helsinki Accords, however, which guaranteed the human right of applying to emigrate, “homosexuality” was secretly an acceptable reason for the approval of applications to emigrate to West Germany (Sweet, “The Church, the Stasi, and Socialist Integration” 353; cf. Pieper 65).[4] The idea of gays as health and security risks only fueled the fire of the East German government’s competing motivations of compassion and suspicion (Sweet, “Bodies for Germany, Bodies for Socialism” 259).

Starting in the 1970s, the East German establishment’s interpretation of individuality shifted. After the transition of power between General Secretaries Walter Ulbricht and Erich Honecker, a form of “consumer socialism” developed in the GDR (Fulbrook 5). While the Socialist Unity Party (SED), had previously dismissed the importance of Western-style fulfillment, understood to be a source of inequity, the Party began in the ’70s to make allowances for individual development and self-realization beyond labor as long as Marxist economics was taken into account (Hillhouse 585–86). In the era of proclamations like Honecker’s that there were no taboos in socialism (Fulbrook 145), gayness became, in varying forms, more visible if not necessarily more acceptable. For instance, the Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin was founded in 1974, although it faced some state opposition and later that year had to start meeting in Charlotte von Mahlsdorf’s Gründerzeitmuseum (Thinius, Aufbruch aus dem grauen Versteck 22–23). The topic gradually appeared in venues like the “Unter vier Augen” column of the Freie Deutsche Jugend daily Junge Welt and the magazine Für Dich (Pieper 55). By the 1980s, sexual identity was starting to be seen as one of the ways in which citizens in a socialist society could label themselves.

Many lesbians and gay men found a workable solution by meeting semi-publicly in the Evangelical Church, starting in the early 1980s. Previous attempts to organize in secular locales, particularly in the 1970s, had met with concerted state opposition from the ruling Party; meetings in churches then took advantage of the one place beyond immediate secular or state control (Sweet, “A Literature of ‘Truth’” 206). Energy toward further discussion sparked the creation of so-called working groups affiliated with churches in Leipzig and Berlin, followed by churches in other GDR cities (Sweet, “The Church, the Stasi, and Socialist Integration” 355). As the working groups continued working, however, they also caught the attention of the state police, the Stasi (Sweet, “The Church, the Stasi, and Socialist Integration” 355–56). Because of the potential for organization and activism, these groups were considered a threat to the socialist order and were correspondingly monitored, infiltrated, and sabotaged (Sweet, “The Church, the Stasi, and Socialist Integration” 356–58).

Despite or perhaps because of increased visibility, authorities were concerned as lesbians and gay men increasingly wanted to meet publicly, arousing suspicion. This resulted, according to one account, because “Westkontakte bestanden und weil Homosexuelle einen hohen Anteil der Ausreisewilligen stellten” (qtd. in Thinius, “Aufbruch aus dem grauen Versteck” 24). In reaction to the supposed connection between homosexuals and the West, the Stasi began operations based on their concern about the likelihood that “homosexuell veranlagte Personen,” newly visible and experiencing more social acceptance, could be politically abused. The secret police force was on the case. Indeed, a Stasi directive of the early 1980s clarified goals: “Erarbeitung konkreter Hinweise zu homosexuell veranlagten Personen unter Nutzung von Kontakten zur Kripo, aber auch zu Ärzten, Psychologen, Ehe- und Sexualberatern; Gewinnung von Schwulen und Lesben als inoffizielle Mitarbeiter; Nutzung vorhandener IMs (v. a. D. im kirchlichen Bereich), um den innerkirchlichen Widerstand gegen die homosexuellen Gruppen zu stärken; […]” (Thinius, Aufbruch aus dem grauen Versteck 16).

In addition to demonstrating the continued paranoia and conflicts or contradictions of the state, the commissioning in 1983 of a Stasi-supported dissertation written at the Humboldt University by Gerhard Fehr provides us with some tragically humorous examples of how the official concern could manifest itself. The author of the analysis gives reasons for suspecting homosexuals: “Sie sind oft wegen ihrer Hilfsbereitschaft beliebt und verstehen es besonders gut, mit weiblichen Arbeitskollegen zusammenzuarbeiten” (qtd. in Thinius, “Aufbruch aus dem grauen Versteck” 23). He continues at length:

Eine der sozialistischen Lebensweise diametral entgegengesetzte Tatsache ist es, daß sich Homosexuelle im Arbeitsbereich begünstigen und gegenseitig bevorteilen. Wenn dieser Umstand auch nicht immer zu erkennen ist und nicht täglich vorkommt, so besteht er trotzdem generell. Es konnte mehrfach beobachtet werden, daß […] besonders im Gaststättewesen, ein Homosexueller den anderen nachzieht.  […] Es kommt nicht selten vor, daß eine für den Homosexuellen interessante Person gleichzeitig von mehreren homosexuellen Kellnern umworben wird. Dabei kann es dazu kommen, daß andere Gäste vernachlässigt werden und daß dem ‘interessanten’ Gast’ mehrfach kostenlos Getränke serviert werden und schon im Lokal eine Zusammenkunft verabredet wird. (qtd. in Thinius, “Aufbruch aus dem grauen Versteck” 23–24)

Clearly, homosexuals (i.e., especially or exclusively gay men) presented a clear and present danger to the socialist order, calling into question their presence there at all.

Also in 1982 and 1983, lesbians and gay men coalesce in groups in Leipzig, Erfurt, Eisleben, Halle, Magdeburg, and Berlin. Members in Leipzig write, “Wir wollen nicht gegen, sondern im Staat leben, verstehen uns selbst als Teil Sozialismus-Realisation. In diesem Sinne wollen wir unsere Unzufriedenheit produktiv machen” (SCHWULE IN DER KIRCHE 1). Party leaders discovered that the state’s dearth of social services for lesbians and gay men and its lack of awareness of these citizens’ needs were, first, encouraging these citizens to seek out the community and assistance of the Church and, second, contributing to the already significant problem of attempted legal emigration (Hillhouse 589–93). The Protestant Church, which—because of East Germans’ inability to organize elsewhere—had been an incubator for social movements, did not gain new flocks of the faithful, though, as approximately 10% of these organization members identified as Christian (Hillhouse 594). In order to combat the success of the Church, the Central Committee of the SED advocated increasing homosexual integration into the socialist order, which could be achieved, for example, through changes to existing laws, continued deliberation, increased availability and visibility of organizations for lesbians and gay men, and publicity campaigns to reduce social prejudices (Hillhouse 590). In 1987, the Sonntags-Club, the GDR’s first gay club, is recognized and begins meeting in Berlin. In 1989, the Deutsches Hygiene-Museum releases a (slightly depressing) homosexual-themed documentary entitled Die andere Liebe. Individual subjects are also important in this discussion, and these are often most clearly heard and seen in memoir narratives and interviews from this period (e.g., Gutsche; Lemke, Ganz normal anders). Carow’s film represents one more—but not final—confrontation between homosexuality and socialism (cf. Sieg). I have gone through this preceding examination to illustrate some of the contradictions in the GDR at this time, that is, especially after 1976.[5]

Interlude

This essay began with an aim toward excavating and connecting some of the monuments in GDR culture. Foucault’s appreciation for the interconnectedness and unpredictability of social and cultural actions and reactions allows us, as we saw in his understanding of Herkunft, to note the corporeal effects of the kinds of legal, social, and political ballet described above. Every day, the individuals in this context—who are or inhabit Nietzschean or Foucauldian bodies—are restricted and funneled in different directions. Laws are codified, ignored, changed, and repealed. State action becomes complicit in resistance and occasionally co-opts it. Meeting places are eventually discovered and closed down, directing those attending toward new locations, like clubs and bars, including ones that would eventually be shown in Carow’s film, as living exhibits or monuments of resistance and change. Resistance can be found in both active and passive action, in motion as well as in stillness, in sound as well as in silence. Following Judith Butler, we can see that “material environments” will always become part of the action or reaction, since all human action is supported in some way, whether it is by roads or shoes or something else (Butler, “Bodies in Alliance and the Politics of the Street”). Carow’s film thus becomes a kind of cultural and historical, if not legal, bookend in its status as the first feature film to treat this topic, an extension of the social developments and activist organization in the 1970s and ’80s.

Coming Out

The film Coming Out was the result of another kind of action, the director’s seven-year-long struggle to make the film, and premiered on the fateful night of 9 November 1989. In a consideration of the film’s context, in what can retrospectively be seen as the twilight years of the GDR, it is useful to see the 1976 expatriation of the singer Wolf Biermann as the turning point that it in many ways was. The late 1970s and early ’80s saw a “brain drain” of emigrating talent from the GDR, including actors Manfred Krug, Angelica Domröse, and Armin Müller-Stahl (Allan 15). Moreover, this period saw the expansion of a theme in several DEFA films, namely what Seán Allan has called “the alienation of the individual,” which served to provide a kind of criticism of GDR society (16).

In the final decade of East German cinema, social and political developments in the GDR and beyond continued to inflect the production and reception of DEFA films. Increasing unrest in Eastern Europe—in Poland, for example—connected to a decrease in the import of Polish and Hungarian feature films into the GDR (Allan 16–17). Censorship was erratic but usually definitive (Allan 17). After Gorbachev’s rise to power in 1985, the movements toward glasnost and perestroika began—albeit slowly, given the Party’s resistance—to affect cultural policy in the GDR. These years saw the production of a number of films on topics previously untouched or equivocally managed and delayed, Carow’s Coming Out among them.[6] In 1989, a number of monumental political, cultural, and social events cascaded toward November 9, when Coming Out, was screened and lost in the fray, although it was mostly positively received, arguably for a wide variety of reasons.

Carow’s film was viewed favorably in East Germany, considered to be a box office hit. It has been argued that East Germans’ positive reaction had little or nothing to do with the film’s treatment of gayness per se. Instead, Coming Out’s most successful thematic undercurrent was its advocacy of the importance of recognizing “outsiders”; or, as Denis Sweet has described it, “the courage to stand up and be counted for what one really was. . . .,” “the struggles of the East Germans as they sought to cast off repression and free themselves” (Sweet, “Bodies for Germany, Bodies for Socialism” 250). On the other side of the divide, West Germans lauded the film’s fortitude, the film’s background, as it were—not the film itself. For the West Germans, Sweet writes, “Coming Out was an embarrassment that hearkened back to an earlier, more naïve stage of development of gay liberation long since left behind in the dust of Western history. . . .,” “an underdeveloped homosexuality from an underdeveloped place” (Sweet, “Bodies for Germany, Bodies for Socialism” 250). The film’s didactic nature led one East German critic even to write that the film’s portrayal could be seen as forced: “[Ich sehe] in dieser intensiven Ausführlichkeit eine Spur von missionarischem Eifer, von Überreden- und Überzeugenwollen. . . .” (Peter Ahrens qtd. in Habel 101). Nonetheless, for whatever reason, Carow’s film won the Silver Bear at the 1990 Berlin Film Festival.

The film opens with the aftermath of a suicide attempt by one of the main characters, Matthias (played by Dirk Kummer). His stomach is pumped, after which he reveals to the doctor that he took the pills because he’s gay. (This event is never taken up explicitly in the rest of the film.) Philipp (Matthias Freihof), a new and young high-school teacher, gets to know another teacher, Tanja (Dagmar Manzel), and they start a relationship. An old friend of Tanja’s, Jakob (Axel Wandtke), is revealed to be a former love interest of Philipp’s. The encounter causes an emotional crisis for Philipp, whom we soon see inside a gay bar, where he drinks too much and is taken home by Matthias and Walter (Joachim Pape), an older man, who had been in a concentration camp on account of his gay behavior. Philipp visits Jakob, and we learn about Philipp’s parents’ intervention in their youthful relationship. Philipp and Matthias meet again, as Philipp stands in line overnight for concert tickets, a birthday present for Tanja. Becoming more disturbed, Philipp separates from Tanja, after which we see Philipp attending Matthias’ 19th birthday party. That night, Philipp and Matthias sleep together. After Tanja, Philipp, and Matthias are unexpectedly at the concert for which Matthias had obtained the tickets, Philipp is forced to come out to Tanja. Emotionally troubled, Philipp goes to the bar where he met Matthias and causes a large disruption, prompting Walter, the gay concentration camp victim, to tell of his experience under the Nazis and how communism helped him. In the penultimate scene of the film, Philipp’s classroom is visited by teachers who are there to observe his class to see whether he is still fit to teach. The film ends as Philipp leaves his apartment and bicycles out onto a Berlin street. There are two main types of duality or ambiguity that I want to present, both of which revolve around the film’s use of music.  The three sequences I have chosen to discuss either form a counterpoint with a rising or falling part of the narrative or provide ironic commentary.  I will present these in the order in which they occur in the film.

Sound and Music in “Coming Out”

Already at the very start of the film, as an ambulance rushes through numerous shots carrying Matthias to the hospital following his suicide attempt, the camera lingers on shots of Berlin in which New Year’s fireworks light up the sky—unwittingly now evoking the celebratory atmosphere that would follow on the day of the film’s premiere and in the next year with German Reunification. The low-pitched sound of the fireworks, traffic, and a train provide a juxtaposition to the piercing siren, ground the film’s setting, and link to later uses of sound. Matthias’ act, a bodily expression of discontent and revulsion at the heterosexism of GDR society, places him directly in contact, literally, with the hand of the state (cf. Sieg 286). The recorded ambient “noise,” equally privileging the ambulance’s siren and the echoes of the fireworks, helps to place us in Berlin and makes us co-sufferers and/or retrospectively part of a resistance or expression of dissatisfied existence through our involvement in the film’s diegesis.

The next scene extends this. Matthias is wheeled into a hospital trauma room, all the while being slapped on the face by attendants and nurses. In an uncomfortable and eventually a literally gut-wrenching scene, Matthias is continuously addressed by shrill voices, which tell him to open his eyes, lean his head forward, and swallow the tube that is being guided down his throat to allow for the pumping of his stomach (see fig. 1). Matthias repeatedly coughs and gags, as the professionals tell him not to forget to breathe. Liquid is poured into a canister connected to the tube, which now leads down Matthias’ throat. After the procedure, we see Matthias on a hospital bed, alone in a drab hallway, illuminated by flickering fluorescent lights. A microphone close to Dirk Kummer, playing Matthias, records his crying and the rustling of his hospital gown. It is at this point, when a female doctor approaches and asks Matthias why he did this, that we discover what will of course be the film’s main premise, namely the position of gay people in (GDR) society. This is firmly established by a cut to a shot of a city intersection on a gloomy, grey Berlin day. Trabants flow through the intersection and an unadorned sans serif font announces the film’s title, in English and all uppercase letters: “COMING OUT.” Loud noises of car engines and horns provide a stark contrast to the intimate and uncomfortable previous scene with Matthias in the hospital (see fig. 1).[7] This unpleasant hospital scene reminds us of the conflicted and contradictory supporting hand of socialism. Saved by state and institutional medicine, Matthias survives and remains an anomaly within socialist society. Tucked away in the quiet hospital, Matthias’ nonetheless disquieting scene and situation are enveloped by the subsequent noise and the dreary light of the next day.[8]

These scenes, without musical accompaniment, differ from the second scene I would like to discuss. After running into Tanja (literally) and giving her a bloody nose, Philipp and Tanja have slept together and started a relationship.  An intermediate scene shows Philipp’s unconventional teaching methods, which are unexpectedly observed by the school’s head teacher.  In the next scene, Philipp is exiting his apartment building with belongings in his arms, which he proceeds to load into a cart and move to Tanja’s place.  As he pushes the cart across the street against a red light, music enters and overlaps into the next scene, a performance of Mozart’s 1791 opera Die Zauberflöte in the Komische Oper.  An allegory of a journey toward enlightenment with allusions to Masonic philosophy, the opera treats themes of brotherly love, the triumph of “virtue and justice,” and the goal of enlightenment.

The insertion in Coming Out shows us one of the most famous selections from the work: the duet between Papageno and Papagena, which takes place almost at the end of the opera.  Papageno, a bird-catcher, who had been longing for a wife since the beginning of the story, like the heroic prince Tamino, must endure trials multiple times in the opera (e.g., avoiding the temptation of women) to prove his worth and virtue.  At the point of the duet, Papageno had despaired at not having Papagena, his love whom he had recently found, and prepared to hang himself.  The opera’s libretto calls for a set consisting of a hall with two doors through which one will find trials by fire and water.  Tamino and his love, Pamina, pass through these tests unscathed.  Papageno uses another way to summon Papagena and she appears.  They sing their duet about being married, being happy, and having many children.[9]  The opera set that we see here, however, consists of a rundown grey building, much like many that one can see in the East Berlin in the film, indeed, like the ones past which Philipp was just pushing his cart (see figs. 2 and 3).

As Papageno and Papagena sing, Philipp, surrounded by his students, appears to enjoy the music.  (It isn’t clear whether he is emotionally moved or just has a runny nose, prompting his student to give him a tissue.)  The two singers repeatedly sound out their happiness about their future children (i.e., “Erst einen kleinen Papageno!”, “Dann eine kleine Papagena!”, etc.).  As the future parents’ rhythmic lines repeat and pulse after each other, a female student of Philipp’s who is sitting next to him, puts her hand on his leg.  He looks at the student, and she appears amused.  This is prior to Philipp’s meeting Tanja’s friend, Jakob, who was his former love interest.  Papageno and Papagena’s duet, a romantic dialogue between a man and woman who plan for their marriage and children, ironically and somewhat didactically foreshadows Philipp’s newfound recognition of his gayness and the odd interaction between Philipp and his student.  The duet simultaneously invokes, however, the opera’s eighteenth-century ideals of brotherly love and judgment on the basis of actual accomplishments and not perceived qualities.

Musicologist Susan McClary has written that “Music enters through the ear –- the most vulnerable sense organ. It cannot be closed or used selectively: one can avert one’s eyes from the decor of an elevator but not one’s ears from its Muzak” (18). I mention this, because film analysis usually privileges seeing over hearing. Indeed, sound can sometimes be seen as “other” within the world of film (Mary Ann Doane in Flinn 6). Moreover, music helps to create the impossible or the improbable (Walter 212). Although Theodor Adorno argued that classical music is (negatively) transformed by its non-live presentation (cf. Flinn 81–82), this film’s presentation of music by Johann Sebastian Bach altered not in the manner that Adorno described, but by Bach himself, can contribute to our understanding of the ambiguity of lesbians’ and gay men’s positions in GDR society.

Much later in the film, after Philipp has slept with Matthias, we discover that there is a possibility that Tanja is pregnant. After she and Philipp have a fight, the next scene, the third and final sequence I discuss here, shows Matthias arriving at Philipp’s door with flowers. When he doesn’t find Philipp at home, Matthias goes looking for him. As Matthias leaves and heads to a carnival, we hear J.S. Bach’s 1734 “Weihnachtsoratorium” (BWV 248), at first with the sounds of traffic and the carnival attendees before it cuts out the other sound—one of the film’s mixtures of diegetic and non-diegetic music, which blend into each other. The choir ironically declares, “Jauchzet, frohlocket! Auf, preiset die Tage!” as Matthias forlornly hands his flower bouquet to a woman working at a carnival stand.[10] The choir continues to cheer Matthias on as he walks around. We cut to a medium close-up shot of Philipp and Tanja at a concert performance of this piece. This is immediately before Matthias’ presence at the concert hall at intermission provokes Philipp’s coming out to Tanja in the following scene.

Especially since the Bach Revival, which Felix Mendelssohn sparked in 1829, Bach has been frequently re-appropriated and mobilized to make points about cultural authenticity. As musicologist McClary (cited earlier) has written, repeated groups have “kidnap[ped] Bach” from the previous mobilizations in order to make use of him for their own purposes (63–64). McClary advances a compelling argument about Bach’s music’s ability to deliver contradictory—and even revolutionary—musical material. Often considered the beginning of the ancestral line of canonical German(-speaking) composers, Bach presented a style of composition and cultural presentation or production which was a successful combination of musical and religious styles, his own unique synthesis of his German take on Italian and French forms as well as Lutheran and Pietist devotion (McClary 21–22, 24).

The “Weihnachtsoratorium”, which we hear in this scene, was finished and performed in the Christmas season of 1734, and has its genesis in a secular piece that Bach composed the previous year: “Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!” (BWV 214).[11] The night of 7 December 1733, Bach frantically completed this secular cantata for a performance the next morning. This work, meant to celebrate the birthday of Queen Maria Josepha (1699-1757), the consort of Augustus III, Prince Elector of Saxony and King of Poland, was to be part of the ambitious Bach’s application package to become Court Composer in Dresden. The next year this music praised the birth of Jesus. In what in musicology is called a “parody,” Bach lifted much of the music from this earlier work to use in the “Weihnachtsoratorium” the following year. While the use of parody was not unheard of in pre-19th-century composition, including in Bach’s work, this replacement adds another dimension to the pattern already present in Carow’s film.

Hiding behind the “Weihnachtsorator” is this secular cantata, which has its own curious gender-sexual play. Two of the cantata’s four numbers become hermaphroditic in their presentation of male soloists singing female characters. Irene, the Greek goddess of peace, in a recitative sung by a tenor, delights in her olive tree, which is lush and rich and runs with sap. Fama, the goddess of fame and rumor, in a recitative sung by a bass, declares that her/his voice will penetrate the Earth and sing the queen’s praises (cf. Young 263–64; Whittaker 640–41). The composition further thwarts expectations by upending and reversing the “orthodox” order of recitative-aria (Whittaker 640–41).

This somewhat odd—or queer—collection of performance, structural, and textual material (the libretto was written by Bach himself) is sanitized for the next year’s composition, the literal creation of a compound of multiple works (cf. Mann 124). The hybrid, then, with its accompanying baggage, appears to us also in a synthetic form: visually and aurally. The joyous and parodic musical work, whether in its sacred or original secular form, reinforces the melancholic tone of the film, adding to the irony and inverting the music.

Conclusion

Resistance, here in a sometimes dual and/or ambiguous mode, reveals the otherwise invisible boundaries of power relations, but is still a part of those power relations in multiple forms. As Foucault writes in The History of Sexuality, “Where there is power, there is resistance, and yet, or rather consequently, this resistance is never in a position of exteriority in relation to power. […] [Power relationships’] existence depends on a multiplicity of points of resistance: these play the role of adversary, target, support, or handle” (The History of Sexuality 95).

The bodily inscription or formation that I discussed above has been visible here in the real world and the filmic world. What we see in the development of the GDR—and in other societies and contexts is the re-appropriation or re-instrumentalization of minority groups, and especially in this case, gay men (and lesbians, although in a different way). In my examination, I have shown some of the apparent contradictions in GDR society and its presentation in the narrative of Carow’s film. The film’s treatment of gayness is certainly of a particular time and place, although one can often see that we have not progressed as far as we may think (e.g., Neumaier). The evolution of East German social policy precluded or subverted related questions of patriarchy, constellations of family life, and compulsory heterosexuality (Sweet, “The Church, the Stasi, and Socialist Integration” 361–62). What we see in the film, then, is partly the result of a struggle of resistance that is projecting itself toward a version of freedom.

Works Cited

Allan, Seán. “DEFA: An Historical Overview.” DEFA: East German Cinema, 1946-1992. Ed. Seán Allan & John Sandford. NY: Berghahn Books, 1999. 1–21. Print.

Butler, Judith. “Bodies in Alliance and the Politics of the Street.” European Institute for Progressive Cultural Policies. Sept. 2011. Web. 9 July 2013.

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Fig. 1. Matthias’ stomach is pumped in the hospital. © DEFA-Stiftung / Martin Schlesinger.

Fig. 1. Matthias’ stomach is pumped in the hospital. © DEFA-Stiftung / Martin Schlesinger.

 

Fig. 2. Philipp takes his belongings to Tanja’s. © DEFA-Stiftung / Martin Schlesinger

Fig. 2. Philipp takes his belongings to Tanja’s. © DEFA-Stiftung / Martin Schlesinger

 

Fig. 3. Papageno and Papagena begin their duet. © DEFA-Stiftung / Martin Schlesinger.
Fig. 3. Papageno and Papagena begin their duet. © DEFA-Stiftung / Martin Schlesinger.

 

 


Notes

[1] I would like to thank the DEFA-Stiftung for the permission to reproduce the included images from Carow’s film and Konstanze Schiller of the DEFA-Stiftung for her assistance with the images. Hiltrud Schulz of the DEFA Film Library at the University of Massachusetts Amherst was a generous source of assistance with this and other projects. I thank Larson Powell for his feedback on an earlier draft of this essay.

[3] Foucault has also advanced the idea of “convulsive flesh,” that is, individual bodies’ resistance efforts (“26 February 1975” 213).

[4] Rüdiger Pieper wrote in 1987 that “it has been rumored in the West that homosexuals are given preferential treatment in the granting of exit visas to the West” (65). Indeed, “[i]n its article ‘Gestaffelte Abwehr’ (15 September 1986, p. 148), Der Spiegel maintained that 10,000 emigration permits had been granted to homosexuals during the 1984 Ausreisewelle – a position from which it has since distanced itself (“Versteckspiel um Infizierte in der DDR,’ Der Spiegel, 16 February 1987, p. 148)” (Pieper 65n).

[5] The experiences of some gay men in the GDR are explored in the recent documentary, Unter Männern – Schwul in der DDR (2012) (dir. Rösener and Stein).

[6] Allan also includes among these, for example, Lothar Warneke’s Einer trage des anderen Last (1988), Karl Heinz Lotz’s Rückwärts laufen kann ich auch (1990), Jörg Foth’s Biologie (1990), Peter Kahane’s Die Architekten (1990), Evelyn Schmidt’s Der Hut (1990), and Andreas Höntsch’s Der Straß (1991) (18).

[8] Carow’s technique here can also be read as an example of melodrama, a genre and approach of which he was fond (see, e.g., Powell).

[9] Another performance of the Papageno-Papagena duet: https://www.youtube.com/watch?v=OL7YF0Djruk

[10] The opening of Bach’s Weihnachtsoratorium: https://www.youtube.com/watch?v=ggm0SZCWKZo

[11] Performance of Tönet, ihr Pauken!: https://www.youtube.com/watch?v=pMWSmmoLxZo

 

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Nov 07 2013

Christine Cosentino

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Christoph Heins Roman Weiskerns Nachlass : Angsttraum, Wunschtraum oder beides?

Im Jahre 2011 veröffentlichte Christoph Hein seinen Gesellschaftsroman – so der Klappentext – Weiskerns Nachlass[1], einen Roman über einen in eine Sackgasse geratenen Akademiker an der Leipziger Universität. Ein Jahr später erhielt er für dieses Werk den Uwe-Johnson-Preis. Die Jury begründete die Verleihung an den Autor mit seinem gesellschaftskritischen Anspruch von Literatur. Der Roman spiele konsequent durch, wie trügerisch soziale Sicherheit in der Gegenwart sein könne. Dabei schildere der Autor den Abstieg nicht in den Grenzbereichen der Gesellschaft, sondern in ihrer Mitte. Wie bei Uwe Johnson werde in diesem Roman offenbar, “auf welche Weise der Einzelne in die gesellschaftlichen Zeitläufe hinein gerät und zu ihrem Spielball wird.”[2] Der Leser erwartet – sollte er mit der Einschätzung der Jury vertraut sein – einen auf negativen Tonlagen konzipierten Gesellschaftsroman. Die Kritik, durchaus berechtigt, sah es entsprechend. Von einem “zutiefst pessimistischen Roman”[3] war u.a. die Rede, von “scharfer Gesellschaftskritik”[4], “von einem hervorragend recherchierten, bitterbösen Zustandsbericht”[5], einem “zutiefst pessimistischen Porträt der Zeit”[6] oder “einem pessimistischen Buch. Es verschließt sich jeder Lösung.”[7] Allerdings meldeten sich auch Stimmen, die auf die für Hein typische Struktur der Offenheit verwiesen, auf verdeckte Sinnebenen, die dem Leser intensive Bedeutungsprojektionen abverlangen. So hieß es u.a.: “Dem Leser ist es überlassen, sich auf das offene Ende des Romans seinen Reim zu machen”[8], also einen/keinen optimistischen Akzent zu setzen.
In Diskussionen über die Vieldimensionalität und Offenheit von Heins Texten bzw. Stil gehen Kritiker vorrangig von dem Gespräch aus, das er im Jahre 1986 mit Krzysztof Jachimszak führte[9]. Hier lehnte er jegliche moralische Instanz ab und hob hervor, “er sei kein Moralist, sondern ein Chronist […], der ohne Hass und Eifer darüber berichtet, was er zu sehen bekommt. [Er erzähle immer] sehr distanziert, oft im Protokollton, mit ganz lapidaren Sätzen, die meistens Feststellungen sind.”(51) Im Jahre 2011, in Bezug auf sein bis dato letztes Werk, Weiskerns Nachlass, wiederholte Hein noch einmal, dass sich an seiner Poetik seismographischen Aufzeigens, aber nicht Eingreifens nichts geändert habe: “Ich kann nur registrieren und so genau als möglich beschreiben.”[10] Hein distanziert sich vom Text und lässt diesen für sich selbst sprechen. Er forderte allerdings emphatisch einen “aktiven Leser, der die Dinge, wo ich aufhöre zu sprechen oder nur wenig mitteile, um ihm einen Freiraum zu lassen, für seine Erfahrungen, auch zu Ende führen kann […] Jeder Leser liest anders […] Man liest gemäß seiner Erfahrung.”[11] Die vielen Leerstellen, das Ungesagte, der Untertext, der nicht zu Ende geführte Gedanke sowie umfangreiche wie mehrdeutige Symbole sind die Grundpfeiler einer Poetik des dialogischen Sprechens. Auch für das neue Werk Weiskerns Nachlass gilt das dialogische Prinzip. Hierzu der Kommentar eines Kritikers, der die unterschiedlichen Erfahrungsbereiche des Lesers hervorhebt: “Es gehört zu den großen Stärken des Romans von Christoph Hein, dass man nicht sagen kann, ob das [Ende] eher deprimierend oder tröstlich ist.”[12] Aus welchen Assoziationsbereichen sich allerdings diese schwankenden Interpretationsebenen ableiten lassen, wurde nicht näher erwähnt. Zu untersuchen wären folglich die Textstrategien, in denen Ambivalenzen oder Mehrdeutigkeiten angelegt sind.
Der vorrangig im Präsens geschriebene Roman besteht aus 21 Kapiteln, von denen das erste und das letzte zyklisch ineinandergleiten. Im ersten Kapitel befindet sich der Dozent Rüdiger Stolzenburg im Flugzeug auf einer Reise nach Basel, wo er einen Vortrag halten soll. Aus dem Fenster blickend, gerät er in Panik, denn er glaubt zu sehen, dass die Propeller des Flugzeugs ausfallen. Dieselbe Paniksituation wiederholt sich am Ende der Handlung, jedenfalls auf den ersten Blick, bis der Leser beim zweiten Lesen subtile Unterschiede entdeckt. Treffend formuliert es der Kritiker Christian Metz: “Was wie eine unscheinbare Flugzeugepisode wirkt, enthält in Wahrheit, wie durch ein Brennglas gebündelt, die gesamte Welt und die Poetik des Romans” (Metz). Warum Angst und Absturzpanik? Stolzenburg ist Dozent mit halber Stelle, und auch ansonsten ist sein Leben nichts Halbes und nichts Ganzes. In den beiden Flugzeugepisoden finden sich Motive und Symbole, die den Roman leitmotivisch durchdringen, die Akzente setzen und auf Gefahrenzonen weisen. Dominierend ist das Motiv des Kreises, das im mythologischen Apparat eine gebrochene Symbolik aufweist. Es ist einmal Sinnbild für eine ideale Ordnung, für Ganzheit, für Gleichgewicht, Harmonie und Ausgewogenheit[13]; zum anderen weist ein Kreis “auf die eintönige Wiederkehr derselben Situation […]”, auf “die Einkreisung des Menschen durch das gesellschaftliche Milieu […]”[14], d.h. auf den Verlust der Entscheidungsfreiheit des Handlungsträgers. Eingebunden in dieses Bildfeld sind rotierende Flügel, Propeller, Windräder, zyklisch immer wieder neu durchgekaute Wiederholungen im Berufsleben. Weiterhin fällt neben der Kreissymbolik ein um Halbheiten kreisendes Assoziationsfeld auf, und da Stolzenburg ständig Gefahr läuft, in einem scheinbar nie enden wollenden Auf und Ab den festen Boden unter den Füßen zu verlieren, ist die Absturzangst in seinem Leben immer präsent; es fehlt daher nicht an Fall- und Sturzhelmmotivik. Eingebettet in die beiden Schlüsselkapitel, ins erste und letzte, ist die eigentliche Handlung, d.h. die Reflexionen des Rüdiger Stolzenburg über sein verfehltes “halbes Leben” im Prekariat der Universität Leipzig. Zu untersuchen wäre, ob oder auf welche Weise der gebeutelte Dozent sich in den gesellschaftlichen Zeitläufen verstrickt und zu ihrem Spielball wird, ob er den Verlockungen im Sumpf von Geld und Sex erliegt, Moral und Selbstrespekt verliert und zum verachtungswürdigen “kleinen Dozentenferkel” (W 318) wird.
An seinem 59. Geburtstag, also nach mehr als der Hälfte seines Lebens, erfährt Rüdiger Stolzenburg, der seit fünfzehn Jahren Dozent mit halber Stelle ist, dass ihm eine Beförderung zum akademischen Rat mit voller Stelle für immer versagt ist. Er hat ein lächerlich geringes Gehalt, “das kein Automechaniker akzeptieren würde,” (W 93) und verdient sich nebenbei mit Vorträgen oder Rezensionen noch etwas dazu, um sich über Wasser zu halten. Trotzdem hat er anfangs noch Illusionen, und einem ganz auf Profit getrimmten Finanzberater, der jeden Morgen um halb drei die Börsen Südostasiens prüft und damit bereits einen halben Arbeitstag hinter sich hat, erklärt er einmal: “Es macht mir Spaß, und meine Arbeit erscheint mir sinnvoll, gibt meinem Leben einen Sinn […] Ich würde gern mehr Geld verdienen, aber ich würde nie arbeiten, nur um Geld zu verdienen. Das wäre für mich die schiere Vergeudung von Lebenszeit” (W 100). Doch die Illusionen schleifen sich ab. Wird er Verführungen gegenüber anfällig, was ihm das Leben an der Universität leichter machen würde? Wird er korrupt? Der Roman beleuchtet die Existenzängste des alternden Mannes, für den mit den entschwindenden sozialen Sicherheiten Frauen und nichts sagende, unverbindliche Verhältnisse immer wichtiger werden. Christoph Hein selbst kommentiert in einem Interview: “Auch in seinem Leben hat er [Stolzenburg] irgendwie nur eine halbe Stelle. Und er ahnt etwas vom Ende”[15], hat eine uneingestandene Angst vor dem Ende. Man kann das Thema auf eine Kurzformel bringen: “halbe Stelle, halbes Leben”; kurz: ein “Mann im Halbschatten”[16], oder, wie Christian Metz kommentiert: “Stolzenburg lebt in einer Welt des halbvollen Glases, ohne Aussicht auf Besserung” (Metz).
Als Kulturwissenschaftler an der Leipziger Universität wird Stolzenburg nicht gebraucht. Sein Fachgebiet bringt – so sein Institutsleiter – “kein Geld, wir haben keine Sponsoren, treiben viel zu wenig Drittmittel auf, wir gelten als Belastung” (W 19) bzw. als “Exoten, als ein Orchideenfach” (W 20). Stolzenburg lehrt desinteressierte, mit Halbheiten und Mittelmaß durchaus zufriedene Studenten, die nach Vollendung des Studiums selbst in die Arbeitslosigkeit oder ins Prekariat entlassen werden, sollten sie nicht aus bemittelten Familien kommen, die ihren studierenden Kindern weitaus mehr Finanzen zur Verfügung stellen, als Stolzenburg je zu träumen wagt. Die Leistungen der Studierenden sind generell miserabel, wie im Falle des reichen Studenten Hollerer, der abschreibt, kopiert, “ohne etwas zu begreifen und […] nur halbwegs passende Bausteine zu einem Thema zusammenstellt” (W 23). Stolzenburg reagiert illusionslos und zynisch, wartet in seinen Vorlesungen nun selbst in zyklenhafter Folge mit Wiederholungen des Immergleichen, mit “unendlich oft durchgekauten Gedanken auf, […] mit Wiederholungen, den Abklatsch von geistiger Arbeit, […] Duplikaten des Denkens” (W 31).
Doch Stolzenburg kompensiert. Als er im Wahn im Flugzeug glaubt, dass die kreisenden Propeller ausgesetzt haben, die Maschine aber nicht abstürzt, sinniert er: “Die Maschine muss über eine unglaubliche Kompensationsfähigkeit verfügen, die den einseitig vollständigen Ausfall aufzuheben oder auszugleichen vermag” (W 11). Ergo, er nimmt seine Gesundheit sehr ernst und entwickelt im täglichen Leben seine eigene Überlebenstaktik, z.B. immer einen Fahrradhelm zu tragen, da er in einem Alter ist, “in dem man selbst den kleinsten Sturz nicht folgenlos übersteht.” (W 15). Und so wird dann der schützende Sturzhelm leitmotivisch zum Zeichen seiner Ängste im Auf and Ab seines unsteten Lebens. Christian Metz fasst es überzeugend: “Der Helm, als Pendant zum Sicherheitsgurt im Flugzeug, avanciert in Heins Roman zum Symbol aller ängstlichen Bewahrungsstrategien” (Metz).
Was ihm im akademischen Bereich nicht vergönnt ist, kompensiert er im Privatleben außerhalb der Universität mit der Eroberung von Frauen. Doch Liebe empfindet er nicht, seine Freundinnen sind Sexobjekte, verlässliche Partnerinnen für die Bewältigung von immer wieder neuem Frust in seiner prekären Lage. Seine Beziehungen sind “halbe” Beziehungen: “Ein paar Freundlichkeiten, ein angenehmes Beisammensein, etwas Sex, Nähe auf Verlangen und stets ein Anrecht auf ausreichende Distanz” (W 43-44), oder – so seine Lebensphilosophie – “eine Beziehung ist eine Freundschaft mit Bettlaken, nicht mehr, allerdings auch nicht weniger” (W 44). Hier hat er ebenfalls Strategien entwickelt: er genießt die Befriedigung, sich noch “im Halbschlaf” gleich an den richtigen Namen der Bettpartnerin zu erinnern. Und auch im akademischen Bereich fehlt es nicht an Verlockendem, was den Sex anbetrifft. Die “Fleischbeschau” der Studentinnen des ersten Semesters hat es ihm angetan, und es fehlt nicht an verliebten Frauen in seinen Seminaren, auch nicht an kalkulierenden Angeboten, für akademische Hilfe, etwa für die Anfertigung einer Magisterarbeit, als Bezahlung Sex anzubieten, Angebote, die ihm ein Gefühl moralischer Überlegenheit geben, weil er sie noch nicht akzeptiert hat. Stolzenburg könnte man – wie Lothar Müller es einschätzt – als eingefleischten Junggesellen, als “Hagestolz mit Absturzangst”[17] bezeichnen, wäre da nicht Henriette, eine Frau mit moralischen Ansprüchen, die ihn interessiert, die es aber durchaus nicht eilig hat, sich mit ihm zu liieren. Sein “halbes Leben” mit Frauen entspricht nicht ihren Vorstellungen einer sinnvollen Beziehung.
Absturzangst und Unruhe in seinem prekären Leben sind immer präsent, und es gibt Warnsymbole. Bereits im Flugzeug, will man es so deuten, suggerierten “die schwirrenden Kreise, die rotierenden Flügel der Propeller ” (W 8), die Wiederholung immer wieder neuer Misslichkeiten. Ein schreiendes Kind auf der Straße verliert ein Windrad, und Stolzenburg nimmt diesen symbolträchtigen Gegenstand an sich und befestigt ihn auf seinem Balkon: “Das Plastikkreuz mit den bunten Streifen dreht sich langsam im Wind, die Farbstreifen zeichnen sich nun als rotierende, regenbogenfarbene und ineinander verlaufende Kreise ab” (W 74). Das Unglück lässt nicht auf sich warten. Er bekommt einen Brief vom Finanzamt mit einer lächerlich hohen Steuernachforderung, weil vermutet wird, dass er Zusatzverdienste verschwiegen hat. Wegen eines früheren Berechnungsfehlers von Seiten des Finanzamtes schuldet Stolzenburg nun absurderweise dem Staat 11.440 Euros und 74 Cents. Ein gewiefter Steuerberater hilft ihm, die Steuerschuld zu halbieren. Stolzenburg, der keine Rücklagen hat, muss irgendwie “weiterwursteln” (von Sternburg). Doch die Misslichkeiten enden nicht. Eine Bande etwa zwölfjähriger Mädchen greift ihn an. Die Kinder umzingeln ihn, und “als er das Fahrrad aus dem Kreis schiebt” (W 114), schlägt ihn die Anführerin mit einer Eisenkette brutal zusammen; er stürzt und verletzt sich am Kopf. Das Windrad auf dem Balkon, ein schlechtes Omen, greift überschattend erneut in die Handlung, denn die aktuelle Freundin entdeckt es und reagiert mit Eifersucht.
Stolzenburgs “halbes” Leben wäre unerträglich, gäbe es nicht eine große Leidenschaft in seinem Leben: sein Forschungsprojekt über den im 18. Jahrhundert in Wien lebenden Kartographen, Schauspieler, Schriftsteller und Librettisten Mozarts, Friedrich Wilhelm Weiskern (1711-1768). Den Nachlass Weiskerns in einer Gesamtausgabe zu veröffentlichen, ist sein Traum, ein hoffnungsloses, aussichtsloses Unterfangen, weil die Universitäten und Verlage unter Spardruck leiden. Christoph Hein äußert sich über seine Wahl dieser entlegenen literarischen Figur:

Als ich an meinem Roman saß und mir klar wurde, dass
Stolzenburg einen Forschungsgegenstand braucht, habe
ich eine etwas entlegene Figur gesucht, die zu ihrer Zeit
wichtig war und heute vergessen ist. Ich bin auf drei, vier
Namen gestoßen, Friedrich Wilhelm Weiskern ist übrig
geblieben […] Ein sächsischer Komödiant, der in Wien
das Burgtheater erfindet, das gefiel mir. Weiskern war zu
seiner Zeit ein sehr erfolgreicher Schauspieler und
Stegreifautor, Maria Theresia schätzte seine kleinen,
unterhaltenden Sketche. Er schrieb für den jungen Mozart
das Libretto zu “Bastien und Bastienne”. Die anderen Arbeiten
sind nicht sehr originär (Grossmann und Kasselt).

Weiskern und sein Nachlass sind nicht vermarktbar im akademischen Prekariat, er ist kein “Leuchtturm” in der Kulturwissenschaft, für den es sich lohnte, Geld zu investieren. Stolzenburgs Versuche, einen Verleger für sein Forschungsprojekt zu finden, schlagen fehl, und fast geht er einem Fälscher in die Falle, der bisher unbekanntes Material, unentdeckte Autographen aus dem Nachlass seines verehrten Autors zum Verkauf anbietet. Ein teuflisch verlockendes Angebot wird als Schwindel entlarvt; doch damit ist der Teufel nicht gebannt. Der reiche Onkel eines Studenten, der über eine echte Weiskernsche Handschriftensammlung verfügt, ist willens, Stolzenburg diese zur Verfügung zu stellen, allerdings über eine Drittperson, den korrupten Studenten Hollerer, der als Gegenleistung das Anfertigen der Diplomarbeit anfordert. Stolzenburg ist empört, doch die lockende Autographensammlung, die zu einer Veröffentlichung führen könnte, spukt ihm im Kopf. Bestechung und Korruption nun auch in Stolzenburgs eigener Karriere? Er sieht ein Warnsignal: Als er abends nach Hause kommt, liegt “direkt neben dem Auto der kleine Kunststoffpropeller, der in seinem Blumenkasten steckte, er ist schmutzig und zerrissen” (W 292) wie Stolzenburg selbst, der nicht weiß, ob er den teuflischen Verlockungen widerstehen wird oder zum betrogenen Betrüger mutiert.
Ist Stolzenburg als Opfer einer prekären Situation zu betrachten? Er ist – so meint Carsten Germis – “ein prototypisches Mitglied des akademischen Prekariats.”[18] Seine erniedrigende Situation macht ihn verbittert, lustlos und illusionslos, doch er empört sich nicht, ist passiv und sucht unter Kollegen keine Solidarisierung. In seinem unmittelbaren Universitätsbereich leben die meisten so. Christoph Hein, befragt, ob das Präkariat ein deutsches Phänomen sei, fasst es lakonisch:

Ich habe es vor dreißig Jahren zum ersten Mal in den USA
erlebt, ein Fach als “Orchideenkunde” einfach streichen,
weil es nicht genügend Bewerber gibt und kein Geld bringt.
Inzwischen sind wir selbst ohne Weiteres bereit, Unverzichtbares
abzuwickeln (Grossmann und Kasselt).

Statt Stolzenburg einseitig als Opfer darzustellen, geht Hein auf Distanz und präsentiert eine komplexe Figur mit Widersprüchen, die er beobachtet, darstellt, aber nicht wertet. Betrug findet nicht nur an Stolzenburg statt, in seiner Sehnsucht nach Sicherheit flirtet er selbst mit unsauberen Machenschaften, Täuschungen und Betrügereien. Ist er ein “Antiheld” (von Alemann), ein “Jedermann” (von Sternburg), ein “Held mit Skrupeln, Scharfsinn und Rückrat, [der] zur Lichtgestalt im Strudel unserer Zeit” (Schreier) wird, oder ist er gar ein “Widerling” (Metz)? Charakterbildende Elemente aus allen vier Bereichen sind durchweg zu erkennen. Stolzenburg ist, wie Hein selbst definiert, “ein gebrochener Held mit sympathischen und unsympathischen Zügen” (Grossmann und Kasselt). Die Frage ist, ob sich von den Belastungen seiner existenziellen Situation so völlig erdrückt fühlt, dass er in seiner Verzweiflung den finanziellen Versuchungen nicht mehr trotzen kann und von seinen moralischen Prinzipien tatsächlich abrückt. Wie tief kann ein Mensch sinken, der einerseits von Skrupeln und Scham gequält wird, andererseits jedoch zur Überheblichkeit und Verachtung neigt? Hält er sein moralisches Gleichgewicht? Die Antwort ist dem Leser überlassen.
Die die Handlung einrahmenden, kunstvoll miteinander verquickten Flugzeugepisoden könnten Aufschluss geben in diesem “Roman ohne Anfang und Ende, der sich im Kreis dreht wie das Hamsterrad im Leben seines Protagonisten. Oder wie das Windrädchen, das ihm – sinnigerweise – ein brüllendes Kleinkind vor die Nase wirft” (von Alemann).
Zu erinnern ist an die Bemerkungen, die zu Anfang dieses Artikels über die Kreis-Symbolik gemacht wurden. Der Kreis, so hieß es, fungiert einmal im Sinne von unendlich scheinender Wiederholung von Misslichkeiten, andererseits symbolisiert er ein breites Bedeutungsfeld positiver Werte, darunter Gleichgewicht, Harmonie und Ausgewogenheit. Die beiden Flugzeugepisoden sind dieselben, aber sie werden, sieht man genau hin, anders beschrieben und unterscheiden sich in der Länge: die erste Episode ist vier und eine halbe Seite lang, die letzte dreizehn Seiten. Am Anfang sitzt Stolzenburg in einem Billigflieger nach Basel, um dort einen schlecht bezahlten Vortrag zu halten. Beim Start sieht er aus dem Fenster und denkt an die Studentin Lilly, dann an Henriette, die noch nicht zu den Eroberungen des routinierten Liebhabers gehört. Er denkt an sein Geldinstitut und einen Überbrückungskredit, dann an den Verleger, der sich bisher geweigert hat, sein Weiskern-Forschungsprojekt zu veröffentlichen. Für seine Konfliktsituation scheint es keine Lösung zu geben. Die Chancen stehen generell schlecht. Er erstarrt. Derealisierungsgefühle setzen ein: er hat einen Angstanfall und sieht sein eigenes Psychogramm im Stillstand der kreisenden Propeller gespiegelt. Mit wenigen Worten beschreibt Hein die klinischen Symptome einer Panikattacke[19], vorrangig Starre, Atemnot, Disassoziation, Mund- und Halstrockenheit, Todesangst. Stolzenburg hat in diesem Alptraum die Kontrolle über sein Leben verloren. Er bleibt in der Bewegungslosigkeit, im Angsttraum stecken. Anders die letzte Szene.
Auch in dieser letzten Flugzeugepisode schaut Stolzenburg aus dem Fenster, denkt an Frauen, dann an Weiskerns Nachlass, sein Lebenswerk. Langsam gleitet er dann in einen angenehmen Wachtraum, in dem es keine unüberwindlichen Hürden mehr gibt. Sein Forschungsprojekt ist durchaus vermarktbar, würde auf der Buchmesse und in den Zeitungen Aufsehen erregen. Doch dann erstarrt er, sieht, dass einer der Propeller aussetzt, und sein Wachtraum wird zum Alptraum: “Ihn erfasst Panik, Todesangst. Sein Mund ist wie ausgetrocknet. Er atmet heftig, er schwitzt. Das könnte das Ende sein, sagt er sich, das ist das Ende. Er will schreien, er öffnet den Mund, aber er bringt keinen Ton heraus” (W 312). Dann erstarrt er erneut, denn beim zweiten Blick auf die Propeller sieht er, dass alles eine optische Täuschung war, “eine Fantasie seines überanspruchten Gehirns” (W 312). Er lässt sich ein Glas Wein bringen und seine Gedanken umkreisen, wie in der ersten Episode, die Konfliktzonen in seinem Leben. Doch er reagiert gelassener, nüchterner, aber auch zynischer als in der ersten Szene; er spekuliert, wie er den verschiedenen Versuchungen in seinem “halben Leben” begegnen könnte. Wird er schmutzige Geschäfte mit dem Studenten Hollerer machen, um an die Autographensammlung heranzukommen? “Er hat es bisher geschafft, einigermaßen sauber durch die Welt zu kommen, er will nicht auf seine alten Tage eine dubiose Geschichte anfangen” (W 317) Und so schwankt er hin und her zwischen den Polen “einerseits” und “andererseits”, erwägt Optionen und kommt zu keiner Lösung. Und doch zielen seine Gedanken in dieser Situation der Haltlosigkeit am Ende der Flugzeugepisode auf einen festen Punkt in einem Bereich des Gleichgewichts, der Ausgewogenheit und der Stabilisierung, einem privaten Bereich, in dem es keine demoralisierenden Konzessionen gibt:

Die Billardrunde wird er nicht aufgeben, mit diesen Freunden
ist er bereits eine Ewigkeit zusammen, die Runde hat länger
gehalten als seine Ehe, er gehörte dazu, noch bevor er an der
Uni anfing, und dort hat er keine halbe Stellung, dort zählt er
zu den alten Hasen, die jeden neuen Bewerber misstrauisch
und genau prüfen (W 319).

Stolzenburgs Lebensperspektive muss letztlich in prekärer Offenheit bleiben. Hein präsentiert einen Ausschnitt aus der Gesellschaft, der nicht den Randzonen entnommen ist, trotzdem aber demonstriert, wie trügerisch soziale Sicherheiten in prekären Arbeitsverhältnissen generell sind. Die Ökonomisierung der Gesellschaft hat längst auch die Universitäten ergriffen. Ob dieser Gesellschaftsausschnitt in der Tat völlig der deutschen Wirklichkeit entspricht oder eher als warnender Zerrspiegel zu begreifen ist, bleibt der Meinung des Lesers überlassen. Hein selbst bekundet im Zeitalter des Prekariats gedämpften Optimismus: “Stolzenburg hat einen Angsttraum und einen Wunschtraum. Ich will dem Mann eine Chance geben” (Grossmann und Kasselt). In einem anderen Interview fasst er es vorsichtiger:

Ich bin Humanist und ein bodenloser Optimist. Die Katastrophe,
die auf Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen lauert, wenn
sie in die Rente kommen, spare ich aus. Das Leben für Stolzenburg
wird noch viel härter werden. Aber da sehen Sie meinen optimistischen
Blick auf die Welt, dass ich rechtzeitig den Vorhang schließe (Reif).

Christine Cosentino


Endnoten

1 Christoph Hein, Weiskerns Nachlass. Roman (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2011). Abgekürzt mit der Sigle W für Zitate aus diesem Roman.
2 News vom Freitag, 20. Juli 2012; www.3sat.de › Sendungen A-Z
3 Judith von Sternburg, “Wir Weiterwurstler. Böse Aussichten: Christoph Heins Geisteswissenschaftler-Roman ‘Weiskerns Nachlass”, Frankfurter Rundschau 20/21. August 2011.
4 Christian Metz, “Das Leben ist ein Billigflug”, Frankfurter Allgemeine 28.August, 2011.
5 Katrin Hillgruber, “Das Verwelken der Nelken”, Tagesspiegel 23. August 2011.
6 news.de/dpa 23. August 2011.
7 Adelbert Reif, “Halbe Stelle, halbes Leben. Interview”, der Standard.at 19. August 2011.
8 Irmtraud Gutschke, “In prekärer Lage, ” Neues Deutschland 22. August 2011.
9 Christoph Hein, “’Wir werden es lernen müssen, mit unserer Vergangenheit zu leben’. Gespräch mit Krzysztof Jachimczak”, in: Texte, Daten, Bilder. Hrsg. v. Lothar Baier (Frankfurt/M.: Sammlung Luchterhand 1990). Seitenzahlen im Text.
10 Karin Grossmann und Rainer Kasselt: “Gespräch mit Christoph Hein. Es ist netter, wenn man hört: Das wird schon wieder.” Sächsische Zeitung 17./18. September 2011.
11 Hein, “Wir werden es lernen müssen…”, 54.
12 “Elend und Kompensation”, Freitag 12. Oktober 2012.
13 “Online Magazin Psychologie Persönlich”, http://www.ppt.dtpnet.de/mandala/kreis.htm
14 Horst S. und Ingrid Daemmrich, Themen und Motive in der Literatur (Tübingen: Francke Verlag, 1987). Stichwort “Weg”, S. 343.
15 Adelbert Reif, “Halbe Stelle, halbes Leben. Interview ”, Der Standard.at 19. August 2011.
16 Wolfgang Schreyer, “Held im Halbschatten”, Ossietzky Zeitwochenschrift für Politik, Kultur, Wirtschaft 5 (3. März 2012).
17 Lothar Müller, “Hagestolz mit Absturzangst”, Süddeutsche Zeitung 25. August 2011.
18 Carsten Germis, “Weisskerns Nachlass. Christoph Hein,” Belletristik-Couch.de Oktober 2011.
19 Stichwort “Panikattacke Symptome”, Wikipedia.

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Nov 07 2013

Thomas Ferdinand

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 “Pass gut auf Mutti auf!”

Auf dem langen Flur klingelte es schrill. Endlich war Mathe vorbei. Peter, Kalle und Atze rutschten schon unruhig auf ihrer Bank hin und her. Auch die anderen wurden unruhig. Doch Frau Herrlich ließ sich Zeit. “Wann kriegt die endlich ihren dicken Arsch vom Lehrerstuhl hoch?”, flüsterte mir Gerd zu.  “Die Pause hatte doch schon begonnen.”  Endlich stand sie, sich mühsam auf dem Tisch abstützend, auf, verstaute das Klassenbuch in ihrer großen Handtasche und watschelte zur Tür. Als sie nicht mehr in Sicht war, rief Janno: “He, Atze, mach mal die Klassentür zu, aber von außen, und sag Bescheid, wenn Kühn kommt.”

Herr Kühn war unser Klassenlehrer und unterrichtete Deutsch und Geographie. Meist kam er ein, zwei Minuten zu spät zum Unterricht, z. B. morgens in der ersten Stunde oder wenn er noch schnell ein paar Landkarten in unser Klassenzimmer bringen wollte und nicht mehr die Zeit gehabt hatte, ein oder zwei von den Jungs zu bitten, ihm zu helfen. Dabei hätte er es eigentlich auch allein schaffen können, denn es war gar nicht weit von seinem “Kartenzimmer”, wie er es nannte, zu uns.

Sein Kartenzimmer, wohin er sich in den Pausen flüchtete, wenn er keinen Ordnungsdienst auf dem Flur oder Hof hatte, sah eigentlich eher wie eine Rumpelkammer aus. Auf dem Tisch stand ein großes rundes Tintenfass, neben dem ein paar von diesen altmodischen Federhaltern und ein paar angespitzte Bleistifte lagen. In der rechten Ecke der dunklen Schreibtischplatte, in der die Schülerweisheiten verschiedener Generationen eingeschnitzt waren, lag eine offene Brotbüchse aus Aluminium, in der sich fast immer eine große Leberwurststulle und ein paar geschälte Apfelstückchen befanden. Neben dem Fenster hatte er seinen Garderobenständer postiert, an den er, auch wenn es schon seit Wochen nicht mehr geregnet hatte, gewöhnlich seinen hellen Trenchcoat, seine dunkelblaue Baskenmütze und seinen hellbraunen Seidenschal hängte. Auf dem Fensterbrett stand ein Kaktus und manchmal sogar eine Blumenvase mit irgendwelchem Grünzeug.

An der Wand dem Fenster gegenüber stand Max, das Skelett, dem Herr Kühn einen grünen Schal umgebunden hatte. Wahrscheinlich hatte den mal einer seiner Schüler vergessen.  Außerdem hatte er Max eine Pfeife zwischen die Zähne geschoben. Die musste noch von seinem Vorgänger stammen, denn Herr Kühn war Nichtraucher. Ich habe mich oft gefragt, ob er das lustig fand. Ich meine Max mit der Pfeife zwischen den Zähnen; ich jedenfalls nicht. Vielleicht hatte er das gemerkt und lud mich deshalb nicht so oft in seine Rumpelkammer ein. Vielleicht gehörte ich auch nicht zu seinen Lieblingsschülern.

Wenn kein Lehrer in der 8c war, hatte Janno das Sagen. Er trainierte schon seit einem halben Jahr Boxen bei FC Dynamo, dem Polizeiverein, erzählte er uns jedenfalls ganz stolz. Fast noch beeindruckender war seine Ente, die er mit Wasser und ein bisschen “Glätt” bis Mittag in Form hielt. Heidi und Monika fanden sogar, dass er mit diesem Haarschnitt, wenigstens von hinten, aussah wie Elvis. Das hatte ich von Brigitte, meiner Banknachbarin, die mit der großen Brille und dem langen Pferdeschwanz.

Gerd, Bernd und manchmal auch Janno gingen öfter in Kühns Kartenzimmer. Ich glaube, sie empfanden es als eine Art Auszeichnung, wenn er sie “hinbeorderte”, mal wieder die aufgerollten Karten zu sortieren. Übrigens keine schwere Aufgabe, denn die erwünschte Reihenfolge war allen bekannt, die Kühn im Laufe des Schuljahrs in sein Kartenzimmer beordert  hatte, auch mir. Ganz rechts stand China mit dem großen Führer des Proletariats, Mao Tse-Tung. Daneben gleich das Vaterland des Proletariats, die Sowjetunion mit ihren 12, oder waren es sogar 14 Zeitzonen?, und natürlich mit Stalin, der sogar der Hirse das Wachsen beigebracht hatte, wie Herr Kühn sagte. Das hatte er von einem berühmten Dichter, den er aber wohl nicht so mochte. Man sah’s an seinen heruntergezogenen Mundwinkeln, wenn er dessen Namen erwähnte. Aber vielleicht mochte er auch nur keine Hirse. Ich übrigens auch nicht. Oma Martha, die in unserer Wohnung ein halbes Zimmer bewohnte,  machte sie manchmal für sich, wenn nichts weiter da war. Sie wollte mir dann auch immer etwas abgeben, um mir etwas Gutes zu tun, wie sie sagte. Ich nahm aber nichts, was sie mit einem resignierten Blick quittierte. Nach der großen Sowjetunion kam schon die Deutschlandkarte mit Rügen und Rhein und Bonn, wo sich die Bonner Ultras eingenistet hatten. Ganz links kamen dann die USA, mit den unterdrückten Negern, Kriegstreibern, Indianern, Cowboys und natürlich Elvis. Noch weiter links standen ein paar Landkarten, die er uns nie gezeigt hat. Sie sahen brüchig und verstaubt aus. Auf einer konnte ich ganz oben rechts noch “hland 1914” sehen. Obwohl ich gern gewusst hätte, was das für Karten waren, habe ich sie nie aufgerollt, selbst wenn ich allein im Kartenzimmer gewesen bin.

Nachdem Frau Herrlich auch im Flur nicht mehr zu sehen war, hing so etwas wie ein Summen im Klassenzimmer. Einige Jungs und auch ein paar Mädchen liefen in den Gängen zwischen den Bankreihen herum, hüpften von links nach rechts oder umgekehrt über ihre Bänke und eckten einander an.  Atze war am schlimmsten. Er rannte Monika hinter her. Die anderen kramten nach Bleistiften, Heftern, Radiergummis, oder was auch immer, wie unbeteiligt in ihren Schultaschen oder sahen angestrengt aus dem Fenster. Janno sah sich die ganze Szene wie unbeteiligt von seiner Bank aus an. Da fuhr wie jeden Tag die Neun-Uhr-Fünfer vorbei. Man konnte sie zwar nicht sehen, aber gut hören, weil unsere Schule gleich neben der Straßenbahnhaltestelle lag. 9:05, 9:15, 9:25. Bis 9:50 hielt alle 10 Minuten eine, dann nur noch alle 20 Minuten. So konnten wir uns wenigstens über die langweiligsten Stunden hinweg zeitlich orientieren. Wie z. B. in Mathe. Manchmal wetteten wir, ob die 9:45iger zu spät kommen und genau dann quietschend anhalten würde, wenn um 10 vor zehn die Klingel im Flur laut den Beginn der Pause ankündigte. Die Gewinner bekamen dann von den anderen je eine Zigarette, die sie entweder auf der Toilette oder während der Mittagspause auf dem Schulhof pafften, was natürlich nicht erlaubt, aber sehr beliebt war.

Rechts hinter mir redeten Kalle und Gerd mit gepressten Stimmen auf einander ein. Es musste ein wichtiges Thema sein. Warum redeten die eigentlich nicht auch mit mir? Ich drehte mich aber trotzdem zu ihnen um. Ihre Wangen waren ganz rot, und auf Gerds Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen. Leider verstand ich nicht genau, was sie sagten, weil zu Viele in der Klasse quatschten oder sonst wie laut waren. Gerd machte mit seiner rechten Hand eine Art offene Faust, die sich rhythmisch von oben nach unten bewegte, wobei er Kalle ein wenig prahlerisch ansah. Und dann hörte ich ihn sagen, dass da, wobei er auf seinen Sack zeigte, so eine dicke weiße Flüssigkeit rauskäme. Was für eine Flüssigkeit, wo raus? Wenn man pinkeln geht, kommt doch nichts Weißes raus, dachte ich, drehte mich wieder um und holte mein Deutschbuch aus der Schultasche. Irgendwie schämte ich mich für sie. Nur gut, dass Gitta diese Gesprächsfetzen nicht mitbekommen hatte.  Gitta war nämlich ganz anders als die anderen Mädchen, viel netter und zarter, fand ich. Sie hatte meist einen dunkelblauen Rock an, den sie zu ihrer weißen Pionierbluse und dem blauen Halstuch trug. Seit Anfang der 8. zog sie auch öfter einen schwarzen oder rosa Pullover über ihre Bluse. Das blaue Halstuch, selbst wenn sie eins anhatte, war dann natürlich nicht zu sehen. Gitta mochte mich auch, bildete ich mir ein. Warum würde sie sonst freiwillig neben mir sitzen.  Manchmal ließ sie mich sogar abschreiben, obwohl das eigentlich gegen ihre Ehre als Thälmannpionierin ging.

Fast noch schlimmer als Mathe war Deutsch für mich, jedenfalls heute, denn eigentlich las ich Geschichten und Romane sehr gern, besonders wenn sie spannend waren. Aber bis heute hätten wir drei Kapitel aus einem russischen Roman, lesen sollen. Wie der Stahl gehärtet wurde, hieß er. Mir fehlten aber noch immer die letzten Seiten, weil ich gestern einfach nicht zum Lesen gekommen war. Mir war deshalb mulmig zu Mute, weil Kühn mich oft aufrief.  Zum Beispiel, wenn niemand auf seine Fragen reagierte, zeigte er mit seinem langen schlanken Zeigefinger meist auf mich und fragte ironisch: “Na, hat unser Literaturspezialist dazu eine Meinung?”  Meist konnte ich etwas sagen, nicht, dass ich damit bei den anderen beliebt geworden wäre, aber heute? Ich hätte wie dumm dagestanden.  Wenn ich nur gewusst hätte, wie das mit Pawel und Rita in dem überfüllten Zug ausgegangen war.

Die Sorge hatte Atze offenbar nicht. Der lief noch immer hinter Monika her.  Aber die war schneller, lachte, sprang über den Sitz der Bank vorne links, lief um die nächste herum und dann rechts um die Ecke. Doch dann verfing sie sich mit ihrem Rocksaum an einer scharfen Kante und fiel mit ihrem Rücken auf den Sitz der nächsten Sitzbank. Atze landete wie aus Versehen genau auf ihr und wollte sie küssen. Aber Monika schupste ihn lachend zur Seite. Schnell sammelte sich eine kleine Gruppe um die beiden. Irgendwie hatte sich Monikas Rock nach oben verschoben, so dass der Saum ihres grünen Schlüpfers zu sehen war.  Atze versuchte es mit dem Küssen noch einmal, was Monika erneut zum Lachen brachte. Schließlich bewegte er sich rhythmisch auf ihrem Bauch hin und her, und nun hörte Monika mit ihrem Lachen auf, denn die Bank unter ihrem Rücken war sicher ganz schön hart. Neben mir stand auf einmal Gitta. Unwillkürlich nahm ich behutsam ihre Hand in meine. Sie bekam einen ganz roten Kopf, zog ihre Hand langsam zurück, blieb aber neben mir stehen.

Janno wurde Atzes hin und her rutschen auf der Bank offenbar zu viel. “He, ich hatte dir doch gesagt, du sollst an die Tür”, schrie er ihn an.  Atze wagte nicht zu widersprechen. Gehorsam ging er zur Tür, während sich Monika aufrappelte und sich lässig auf ihre Bank zurückzog. Dann kramte sie einen Lippenstift aus ihrer Schultasche und begann, sich ihre Lippen zu bemalen, wobei sie ab und zu auf ihren rot gerahmten Taschenspiegel sah.

“Wo hast Du denn den Lippenstift her?”, fragte Heidi.

“Na von wo schon, von Wertheim!”

“Und das Westgeld dafür?”

“Brauchst de da nicht. Du lässt Dir ‘n paar zeigen, und einer verschwindet dann einfach in Deiner Tasche.”

Heidi kuckte sie bewundernd an.

“Wirklich? Und wenn sie Dich nun kriegen?”

“Passiert nicht viel. Wenn die merken, dass Du aus’m Osten bist, schmeißen sie Dich einfach raus. Und das isses dann. Viel können se ja sowieso nicht machen. Einmal hat mir ‘ne Verkäuferin sogar einen geschenkt. Der war zwar schon leicht gebraucht, hab ihn aber trotzdem behalten, weil er ‘ne ganz tolle, hellrote Farbe hatte und nicht so schmierte.”

“Und an der Grenze?”

“Ach die Vopos. Für die bin ich doch total uninteressant.  Die sind jetzt viel zu beschäftigt mit Leuten, die mit Rucksäcken in den Westen nach Mariendorf fahren. Wahrscheinlich ‘n paar idiotische Zonenbauern, die abhauen wollen.  Dass die sich nicht denken können,  dass man, wenn man abhauen will, nicht mit Rucksäcken in den Westen fährt.”

Jetzt rannte Janno Heidi hinterher. Von der wollte er schon lange was, das war allen klar. Sie hatte den größten Busen in der 8c. Gerd lief ihr von der anderen Seite entgegen. Heidi rannte so schnell sie konnte um die mittlere Bankreihe herum. Doch die zwei stellten sie in der Mitte. Gerd hielt sie fest.  Janno schob seine Hand unter ihre Bluse. Gerd machte sich unter ihrem Rock zu schaffen. Anfangs wehrte sie sich und versuchte, die beiden von sich zu stoßen. Einmal gelang es ihr sogar, Gerd mit ihren Fingernägeln das Gesicht so zu zerkratzen, dass er anfing zu bluten.  Doch das schien ihn nicht zu stören. Schließlich hielt sie wie ein ermüdetes Tier inne, sich zu wehren und sackte auf dem Boden zusammen. Niemand, der um sie Herumstehenden sagte ein einziges Wort. Auch Heidi blieb eine scheinbare Ewigkeit stumm. Langsam lief ihre schwarze Augenschminke von den Wimpern aus über ihre Wangen, und ihre Schultern begannen zu zucken, während sie sich mit beiden Armen auf dem braunen Linoleumfußboden abstützte. Schweigend ließen Janno und Gerd von ihr ab und gingen zu ihren Bänken. Gitta und ich standen mit ein paar anderen weiter hinten und taten so, als hätten wir nichts bemerkt. Gittas braune Augen hinter ihrer Brille füllten sich mit Tränen. Sie drehte sich von mir weg und ging auf ihren Platz. Ich musste unwillkürlich schlucken.

Auf einmal rief Atze: “Kühn kommt, Kühn kommt”, und dann schrillte auch schon die Klingel. Herr Kühn kam herein. Wir sprangen auf und stellten uns neben unsere Bänke.

“Guten Morgen”,  grüßte er.

“Guten Morgen, Herr Kühn”, erwiderten wir.

“Setzt euch!”

Herr Kühn setzte sich heute nicht auf seinen Stuhl, sondern auf den Lehrertisch.  Aus irgendeinem Grund war er wohl guter Laune. Man sah es an seinem ironischen Lächeln und an der roten Nelke im Revers seines hellen Sakkos. “Der war gestern wieder im Westen, am Kudamm”, flüsterte Monika ihrer Banknachbarin Petra zu. Die kuckte nur fragend.

“Na, der hat da doch ‘nen Freund.”

“Und woher weißt Du das?”

“Ich hab die mal gesehen”, antwortete Monika. Meine Güte, dachte ich, entweder weiß Monika wirklich alles oder die spinnt.

Herrn Kühns gute Laune brachte uns wieder Mal eine Sternstunde, denn nun konnten wir ihn ablenken, indem wir ihn dazu überredeten, uns etwas vorzusingen. Herr Kühn nahm nämlich Gesangsunterricht. Das fanden die meisten von uns ziemlich albern, Opernsänger wollte er eigentlich einmal werden. Was das schon war! Aber sein Gesang verkürzte die Unterrichtsstunde, und manchmal gefiel es uns auch, wie er sich in Pose warf und dann sein Lieblingslied sang. Darüber mussten wir natürlich lachen, doch er überging das dann immer und sang einfach weiter.

Katrin schnippte mit den Fingern. “Ja bitte, Katrin, was gibt’s denn?”

“Herr Kühn, Herr Kühn, könnten Sie uns nicht das Lied von der Forelle vorsingen? Bitte!”

“Na ja, eigentlich wollten wir ja über Pawel Kortschagin und Rita sprechen. Aber, na gut, weil heute das Wetter so schön ist”, lächelte er ironisch.

Herr Kühn stellte sich aufrecht vor den Lehrertisch, warf seinen Kopf nach hinten, Kinn nach oben, atmete tief durch und begann:

 

“In einem Bächlein helle,
Da schoss in froher Eil
Die launige Forelle
Vorüber wie ein Pfeil. […]”

 

Beim Wort Pfeil angelangt, fing er an, wiegend durch die Bankreihen zu gehen, wobei er sich bei den Reimwörtern in der dritten Strophe “Rute” und “kaltem Blute” besonders den Jungs zuwandte. Die meisten lachten an dieser Stelle, aber mir wurde traurig zu Mute. Am Ende klatschten wir natürlich alle und wollten ihn zu einer Wiederholung oder einem “da capo”, wie er es nannte, verlocken, aber jetzt ließ er nicht mehr mit sich reden.

“Nehmt bitte Eure Deutschbücher heraus. Bis heute solltet Ihr bis zu der Stelle lesen, an der Pawel und Rita im überfüllten Zug zu einer wichtigen Konferenz fahren müssen. Kann mir jemand erklären, worin die Bedeutung dieser Stelle liegt?”

Großes Schweigen. Niemand meldete sich. Auch sein Musterschüler für Literatur, Karsten, nicht. Also behalf er sich, glücklicherweise, indem er Janno bedeutete, er solle doch mal folgenden Abschnitt vorlesen. Und Janno las:

 

Für ihn war Rita unantastbar. Sie war seine Freundin, seine Genossin im Kampf, sein politischer Leiter. Dass sie auch eine Frau war, hatte er zum ersten Mal heute auf der Brücke empfunden, und deshalb erregte ihn diese Umarmung sehr. Pawel spürte ihre tiefen, gleichmäßigen Atemzüge, irgendwo ganz nahe waren ihre Lippen. Diese Nähe erweckte in ihm den unüberwindlichen Wunsch, ihre Lippen zu suchen, und nur mit äußerster Willensanstrengung konnte er sich bezwingen.

 

Herr Kühn wandte sich nun noch einmal an die Klasse. “Was will uns der Autor Ostrowski mit diesen Sätzen sagen. Und hier möchte ich besonders von den Herren der Schöpfung hören.” Fragend sahen wir einander an. Janno schien sogar bestürzt. Nur Atze konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Was wusste Kühn? Ich schaute Brigitte an, deren Gesicht schon wieder zu glühen schien. Da war der Zeigefinger, und der deutete direkt auf mich. “Herr Wegner, Sie wollten etwas sagen?”  Ich stand auf. Eigentlich nicht, dachte ich. In meinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Verzweifelt suchte ich nach einer Antwort. Was konnte ich nur antworten?  “Na ja, das war doch eine revolutionäre Situation”, fiel mir gerade noch ein. So ein Satz stimmte immer, dachte ich mir, “und Pawel und Rita mussten doch beide zu einer wichtigen Parteikonferenz fahren, und da kann man doch nicht, ich meine…” Was meinte ich nur? Weder wusste ich die Antwort, noch konnte ich genau verstehen, worum es eigentlich ging. Kühn musste meine Not bemerkt haben und lächelte mir aus den Augenwinkeln zu. Ich begann zu schwitzen. “Der Autor sagt doch, dass Rita eine Genossin, also eine Kommunistin, ist, da kann man doch, da kann man doch nicht an ihre Lippen, ich meine, da muss man doch an die gemeinsame Sache denken, fiel mir gerade noch ein.  “Sehr richtig, setzen Sie sich, Karsten”, beendete Kühn mein Gestammel. “Und die anderen, was meinen die anderen”, fuhr Kühn fort. Doch die anderen schwiegen weiter verlegen oder grinsend oder tuschelten mit ihren Banknachbarn. Da quietschte und kreischte es auf der Straße wie Metall auf Metall, und gleichzeitig klingelte es zur Pause. Die 9:Uhr 45ger. So ein Pech, dachte ich, gerade heute hatte ich nicht gewettet.

“Na gut”, sagte Herr Kühn, “die Pause muss man ehren. Dafür schreibt Ihr mir bis Donnerstag einen dreiseitigen Aufsatz zur Darstellung der Liebe in dem Buch Wie der Stahl gehärtet wurde.  Ach, und noch etwas, ich möchte Sie daran erinnern, dass am Sonntag um 14 Uhr  Ihre Jugendweihe im ‘Theater der Freundschaft’ an der Parkaue stattfindet. Bitte pünktlich erscheinen, wenn ich bitten darf.  Das ist ein wichtiger Wendepunkt in Ihrem Leben.”

Am 31. April 1961 war der Wendepunkt da. Ab heute morgen war ich ein Erwachsener.  Noch merkte ich aber nichts davon. Es war noch früh und ein Sonntag wie alle anderen Sonntage, langweilig.  Mutti und Vati ließen mich wie jeden Sonntag, etwas länger schlafen, d. h. eigentlich schlief ich nicht, sondern versuchte, mir auszumalen, wie mein Leben als Erwachsener sein würde. Auf jeden Fall mehr Verantwortung, hatte uns ein Herr Schmidt von der Jugendweihekommission in den Vorbereitungsstunden erklärt. Aber was bedeutete das?

Während ich noch darüber nachgrübelte, hörte ich Vati im Badezimmer ein paar Holzstücke und Kohlen in den kleinen Ofen unter den Wasserboiler legen. Normalerweise wurde ja immer Sonnabend gebadet. Erst Mutti, dann Vati, und dann kam ich dran. Wann hat eigentlich Oma gebadet, überlegte ich. Fiel mir aber nicht ein. Aber in dieser Woche war alles auf den Wendepunkt in meinem Leben verlegt worden, und heute ließ man mir deshalb auch den Vortritt.  Trotzdem musste ich nicht gleich aufstehen, denn ich hatte noch mindestens eine halbe Stunde Zeit. Solange dauerte es nämlich, bis das Wasser im Boiler heiß war. Also schnell noch mal die Bettdecke über den Kopf gezogen und an das Erwachsensein gedacht.  Doch schneller als erwartet rief Mutti mit ihrer süßesten Stimme, fast tirilierte sie: “Karsten, aufstehen, das Badewasser ist fertig.” Und dann stimmte auch Vati mit dunkler und kraftvoller Stimme ein: “Reise Reise!” Das “Reise, Reise” hatte er von seinem Vater, der Kapitän auf einem Küstensegler gewesen war. Vati liebte diese Seemannsausdrücke. Na gut, dachte ich, Reise, Reise, Aufsteh’n. Langsam ging ich ins Badezimmer, ließ die Hälfte des Wassers in die Wanne und drehte dann die Dusche auf.

“Mutti”, rief ich in Richtung Küche, “jemand muss mir mal den Rücken waschen. Das Badezimmer lag gleich neben der Küche. Mutti hatte mir immer den Rücken gewaschen. Nur in den letzten Monaten war sie oft verhindert gewesen. “Das kannst Du doch allein machen”, rief sie zurück. “Nö, ich komm da nich ran”, antwortete ich. Eigentlich war mir dieses Rückenwaschen schon seit einiger Zeit peinlich, weil ich beim Waschen öfter einen halben Steifen bekam. “”Nen Steifen haben” war was Peinliches. Aber nicht den Rücken gewaschen zu bekommen war unhygienisch. Munter rief ich: “Das Wasser wird kalt!”

Als sie ins Badezimmer kam, drehte ich mich vorsichtshalber mit dem Rücken zu ihr. Sie seifte den Schwamm ein und begann meinen Rücken zu schrubben, danach mein Genick und auch meine Achselhöhlen. “Aua, nicht so hart”, rief ich. Sie versuchte es etwas sanfter. Plötzlich sagte sie: “Mach mal allein weiter. Ich muss in die Küche, sonst brennen mir die Bratkartoffeln an.” Ich drehte mich halb zu ihr um und war erleichtert, sie aus dem Badezimmer gehen zu sehen. Außerdem waren Bratkartoffeln mit Speck und Ei mein Lieblingsfrühstück, und die sollten auf keinen Fall anbrennen. Schnell noch das Haar gewaschen, gespült und dann in mein Zimmer zum Anziehen. Der Tag fing eigentlich gut an.

Auf dem Bett lag mein neuer, blaugrauer Anzug. Mein erster. Dazu noch maßgeschneidert. Mutti kannte noch einen privaten Schneider — viele gab es ja davon nicht mehr –, der gleich um die Ecke wohnte. Neben dem Anzug lagen ein Paar neue Unterhosen,  ein weißes Hemd, eine rote Fliege, schwarze Socken und meine alten braunen Schuhe auf Hochglanz poliert. Da hatte Vati sicher eine halbe Stunde lang gewerkelt. Neue kaufen, wäre wahrscheinlich einfacher gewesen, aber die gab es jetzt kaum. Und wenn, dann waren sie zu teuer oder in einer falschen Größe. Die Hamsterer aus dem Westen, die im Osten alles billiger aufkauften, hatten wohl mal wieder zugeschlagen. Man konnte so etwas öfter in der BZ am Abend lesen.

Nach dem Frühstück ging Vati zum Wohnzimmerschrank, wo das gute Geschirr aufbewahrt wurde, und kam mit einer Flasche Adlershofer und zwei kleinen Gläsern zurück. Ich schaute ihn ungläubig an. Zu Sylvester heimlich Eierlikör aus den noch halbvollen Schnapsgläsern der Erwachsenen zu schlecken, war mir nicht fremd, aber Adlershofer mit Erlaubnis, das war schon etwas anderes. Vati füllte sie, aber nur für uns beide. “Na nimm schon”, drängte er, “heute ist doch ein wichtiger Tag für dich. Also auf den neuen Erwachsenen”, sagte er mit würdevoller Stimme.  Vorsichtig nahm ich das Glas und trank einen Schluck. “Na ex”, sagte Vati. Mann, wie das brannte!  Ich atmete tief ein. “Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern. Iss ein Stück Brot hinterher”, sagte Vati lächelnd.

Kurz vor zwei waren wir alle vor dem “Theater der Freundschaft”. Ich meine, wirklich alle. Oma und ihre Tochter, Tante Hete, mit ihrem Mann, Karl, die zusammen in der Britzer Fritz-Reuter-Allee wohnten, und Onkel Otto mit seiner Frau Anna aus Neukölln. Selbst Muttis Schwester Gretel war extra aus Düsseldorf gekommen. Von den Ostlern waren eigentlich nur Vatis Bruder Paul und seine Frau Trude da. Vatis und Muttis Freunde hatten sich entschuldigt, was für mich kein großer Verlust war, denn selbst wenn sie mal zu meinem Geburtstag bei uns waren, gab es keine Geschenke. Also wären auch heute keine zu erwarten gewesen.

Neben unserer Familiengruppe standen die Schüler der anderen achten Klassen mit ihren Verwandten. Wir Jungen trugen zum ersten Mal einen richtigen Anzug mit Schlips oder Fliege. Die Mädchen knickten mit ihren Stöckelschuhen um und trugen ihre ersten seidenen Strümpfe mit der Naht auf der Rückseite ihrer meist sehr dünnen Waden. Dazu lange Kleider oder weite Röcke, Pettycoats, wie sie gerade Mode waren und weiße Blusen. Einige Mädchen trugen noch ihren Pferdeschwanz, die meisten jedoch hatten ihre Haare mit Haarspray und Lockenwicklern hoch frisiert und kamen mir daher vor allem fremd vor.

Punkt zwei Uhr winkte uns Gerlach, der Direktor unserer Schule, in den Eingang des “Theaters der Freundschaft”, geleitete uns in den Zuschauerraum und wies uns in unsere Bankreihen ein. Die Jungs aus der 8c mussten dabei lachen. Wir erinnerten uns noch gut an die Anweisung von Herrn Kühn, der uns beschworen hatte, an den schon Sitzenden mit dem Gesicht zugewandt vorbeizugehen, denn wenn man ihnen den Rücken zukehrte, könnte einem ja mal was Menschliches passieren, und das wäre dann furchtbar peinlich. Doch heute waren wir alle, ohne Peinlichkeiten zu verursachen, an unsere Sitze gelangt. Alle Schüler setzten sich in die ersten Reihen, dann kamen die Lehrer und schließlich die Verwandten. Zuerst gab es eine Begrüßung durch einen Schulrat. Was der wohl mit uns zu tun hatte? Dann machte ein kleines Orchester Musik:  Geigen, Klavier, Cello, und, ich glaube sogar, ein paar Trommeln und eine Pauke. Schließlich kamen alle möglichen Leute auf die Bühne, gingen hinter das Rednerpult. Gerlach und Herr Kühn hielten etwas längere Reden. Besonders bei Gerlach ging es überwiegend um unsere Treue zum Arbeiter- und Bauernstaat, um die Verteidigung seiner Errungenschaften, vor allem aber um unsere Pflichten im Kampf für den Sieg des Sozialismus. Klar, dass dazu die Bonner Ultras in Schach gehalten werden mussten, damit sie nicht durch das Brandenburger Tor marschieren konnten, um unser sozialistisches Gesellschaftssystem zu beseitigen, unseren Genossenschaftsbauern das Land wegzunehmen und  es den Junkern zurück zu geben.  Am Schluss sprach Kühn. Ich glaube, er zitierte Schiller[T1]  oder Goethe, Klassiker eben, deren Erben wir sein sollten:

 

“Immer strebet zum Ganzen.

Und kannst Du nimmer ein Ganzes werden

Als dienendes Glied

Bind an ein Ganzes Dich an.“

 
Er zitierte nicht ohne Pathos, aber auch nicht ohne Ironie.  Merkwürdig.  Schließlich waren diese Goethe und Schiller doch schon lange tot, und ich dachte eigentlich, Pawel und Rita sollten unsere Vorbilder sein. Überhaupt, ich hasste dieses Wort Erbe, und das Wort Vorbild auch. Ständig wurden wir mit der Frage gelöchert, wer denn nun unser Vorbild war. Und jetzt sollten wir noch ein Ganzes werden oder uns wenigstens an das Ganze anbinden?  Waren Erbe, Vorbild und das Ganze identisch?  Vielleicht war das Ganze die “große gemeinsame Sache” oder die FDJ oder  die Partei. Vielleicht mussten wir uns ja wirklich irgendwo anbinden,  denn wie sollten wir so ganz allein zu einem Ganzen werden; das konnten nur Genossen wie Stalin oder Walter Ulbricht. Thälmann hatte es sicher auch zu einem Ganzen geschafft, aber wir?

Schließlich wurden wir alle auf die Bühne gerufen und mussten dann, wie schon bei der Aufnahme in den Verband  der Jungen Pioniere, etwas geloben. Es gab zehn Grundsätze, die wir unserem Direktor nachsprechen und mit einem „Ja, das geloben wir!“ bestätigen sollten. Was wir da auf der Bühne versprachen, ist mir leider entfallen. Was werden die Westberliner zu diesem Gelöbnis gesagt haben? Mir war das Ganze ihretwegen peinlich. Aber die Britzer und Neuköllner lächelten nur aufmunternd. Wahrscheinlich dachten sie sich ihren Teil. Gesagt haben sie mir zur sozialistischen Weihe jedenfalls nichts. Am Ende der Veranstaltung bekamen wir noch ein Buch geschenkt. Es hieß Weltall,  Erde, Mensch, ein Buch, das ich aber schon hatte, weil es mir Onkel Paul und Tante Trude schon zu Weihnachten geschenkt hatten, worüber ich mich noch heute ärgere. Die hätten mir ja auch mal was Ordentliches schenken können. Und wenn schon ein Buch, dann wenigstens einen Karl May, den ich noch nicht hatte. Haben sie aber nie.

Nach dem Festakt liefen wir alle zu unserer Dreieinhalb-Zimmer-Wohnung in der Ruschestraße, wo schon Oma Martha auf uns wartete, weil sie wegen ihrer geschwollenen Füße nicht zum “Festakt” mitgekommen war und stattdessen ein paar Schnitten für alle zubereitet und den Tisch gedeckt hatte. Als wir alle im Wohnzimmer standen, bat Vati alle mit einem Glas Wein auf mich anzustoßen.  Selbst ich war zu meiner Verwunderung in diese Aufforderungen einbezogen. Doch nun kam das Beste. Onkel Otto zog mich in mein kleines Zimmer und gab mir ein kleines Päckchen. “Na, mach schon auf”, ermutigte er mich. Es war ja ein bisschen klein für einen Wendepunkt in meinem Leben. Aber neugierig war ich natürlich doch. Ich packte also aus und brachte eine wunderschöne braune Lederbrieftasche zum Vorschein. Ich schaute sie mir an und betastete sie: ganz weich. Ich war glücklich. Ein Erwachsener brauchte eine Brieftasche. Und nun hatte ich  eine so weiche, lederne. “Nun mach die doch mal auf”, forderte mich Onkel Otto noch einmal auf. Inzwischen hatten sich schon andere Verwandte um uns gescharrt. Ich guckte mich um. “Mach auf, mach auf”, riefen die anderen.  Eigentlich wollte ich sie ja ganz alleine aufmachen, um ganz alleine meinen neuen Reichtum zu bestaunen, aber na ja, es ging eben  nicht. Also machte ich sie auf, und da lagen doch wirklich fünf neue Zehn-Mark-Scheine, Westmark, wohlgemerkt, in einem der Seitenfächer. Ich machte große Augen. Damit konnte man drüben beim KDW mindestens fünf Pfund Kaffee kaufen, vom Guten. Aber nun kamen ja noch die anderen, die Britzer, die meine Brieftasche weiter auffüllten. Am Ende muss ich fast 100 DM gehabt haben. Mutti staunte nicht schlecht. “Hundert Westmark, wenn ich die umtausche, kriege ich so viel wie das Monatsgehalt deines Vaters”, sagte sie bewundernd. Ich war stolz, ein Gefühl, in das sich sofort ein wenig Angst mischte. Sie wollte doch nicht etwa mein Westgeld umtauschen. Ich wollte ihr doch etwas Schönes vielleicht ein paar gute Stückchen Seife kaufen, die Westseife roch ja immer so gut.  Außerdem wollte ich mit Gitta noch drüben ins Kino gehen. Da wurde gerade Windjammer auf Breitwand im Europa Center gespielt. Janno,  Monika, Atze und Heidi hatten den Film schon gesehen und fanden ihn toll. “Mann, diese geblähten Segel, die hohen Atlantikwellen mit der weißen Gischt, und wie die Matrosen in den Mast kletterten. Das wär mal was,” meinte Janno.

Der Festakt ging dann mit Kaffee und Kuchen weiter. Später gab es die von Oma gemachten Schnitten, die sie mit Jagd- und Leberwurst belegt hatte. Danach gab es Likör für die “Damen” und für die Männer Bier und Adlershofer Wodka, den Onkel Otto Russenschnaps nannte, was ihm aber keiner übel nahm, weil er nämlich, so zu sagen als Entschuldigung noch Whisky und echten französischen Cognac aus seiner Aktentasche auspackte. Dieser Teil der Familienfeier dauerte lange, für mich viel zu lange.  Daraus wurde nämlich ein langes Besäufnis, das Tante Trude auf ihrer Klampfe mit Liedern aus der Wandervogelzeit begleitete. Die anderen fanden ihr Klimpern und ihren Gesang irgendwie aufmunternd, denn sie stimmten beim Nachfüllen der Gläser immer wieder mit ein, wenn auch nur in die Anfänge der ersten Strophen. Nur Tante Gretel hielt sich fern und setzte ihr vornehmes Gesicht auf. Als Düsseldorferin und Chefsekretärin war ihr diese Berliner Verwandtschaft zu proletarisch. Lange hielt es Tante Trude aber bei den “Drei Zigeunern” , der “Wahren Freundschaft” und in “In einem tiefen Wiesengrunde” nicht aus, weil Onkel Karl eine ganze Packung einzeln eingewickelter Zigarren mitgebracht hatte, deren blauer Qualm sie ständig zum Husten brachte. Tante Trude wollte mal Sängerin werden,, hatte Mutti mir einmal erzählt. Doch bei diesem Rauch klang ihre Stimme ein wenig dünn und krächzend.

Am interessantesten waren noch die Gespräche, obwohl es eigentlich auch immer die gleichen waren. Mutti erlebte ihren 21. Geburtstag wieder im großen Luftschutzkeller des  Flakturms am Friedrichshain, Hete und Vatis Mutter, die auch Hete hieß, und Onkel Karl wurden im Dezember 1943 am Wedding ausgebombt und konnten noch von der Straße aus sehen, wie eines ihrer Lieblingsgemälde, Opas selbstgemaltes Bild seines Küstenseglers, brennend von der Wohnzimmerwand fiel, Vati versteckte sich in den letzten Wochen des Krieges vor den Kettenhunden der Wehrmacht und der SS in einem Keller, und Onkel Paul zog mit einem Pferdefuhrwerk — wo er das nur her gehabt hatte? — kurz nach Kriegsende nach Berlin, bereit, jeden der ihm das Pferd klauen wollte, mit seiner 08 zu erschießen. Glücklicherweise wollte aber keiner. Nachdem sie das Thema  Krieg hinter sich gelassen hatten, ging es noch weiter rückwärts. Die Britzer und Neuköllner kamen nämlich aus der alten Vor-33iger-SPD, während Vati und Onkel Paul 1930 in die KPD eingetreten waren. “ Als der Reichstag brannte, hätten wir losschlagen sollen. Die Waffen hatten wir ja”, sagte Onkel Paul. “Die lagen nämlich in unseren Bootshäusern, zum Beispiel bei uns, im Ruderklub “Freiheit”. Wenn wir da entschlossen zugeschlagen hätten, hätten wir die ganze braune Scheiße nicht jekriegt.” “Ihr Idioten, dann hätten wir die rote jehabt”, schrien Karl und Otto. “Ihr Kommunisten habt doch die Republik verraten. Für Euch waren wir doch Feinde,  Sozialfaschisten, und beim BVG-Streik habt ihr mit den Nazis gemeinsame Sache gemacht, oder?”

Oh, oh, das konnte heiß werden, dachte ich.  Aber Tante Hete rettete die Situation, indem sie den Männern vorschlug, doch noch einen zu trinken, was die auch willig taten. Onkel Paul schlief kurz darauf ein, nicht ohne zu sagen, was er bei diesem Stand seines Besäufnisses mit weinerlicher Stimme bei Familienfeiern immer von sich gab: “Dass die Partei unseren Teddy nicht besser geschützt hat, das werde ich ihr nie vergessen.”

Vergessen jedoch waren ich und mein großer Wendepunkt. Daher verzog ich mich unbemerkt ins Bett. Doch mit Einschlafen war nicht viel.  Ich dachte an Gitta und nahm mir vor, irgendwann in den nächsten beiden Wochen mit ihr ins Europa Center zu gehen, um uns Windjammer anzusehen. Hinterher vielleicht Eis bei Kranzler, das ich ihr lässig mit dem Jugendweihegeld spendieren konnte. Und danach? Ich war mir nicht sicher, aber ich wollte mal bei Kalle nachfragen, wie man ein Mädchen küsst. Sicher wusste er das. Aber ob Gitta das wollte? Auf einmal kam dann dieses Geräusch. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass Tante Gretel auf einer Liege in Oma Marthas Zimmer schnarchte. Regelmäßig und sehr laut, so dass es durch zwei Türen bis zu mir vordrang. Ab und zu setzte es aber auch aus, und dann hörte ich etwas, was so klang, als würde sie sich verschlucken. Wenn sie sich nur mal richtig verschlucken würde, dachte ich, dann würde sie vielleicht aufhören, mit ihrem Nasenerker, — Nasenerker war auch ein Lieblingswort von Vati — solchen Krach zu machen. Aber auch aus dem Wohnzimmer kamen noch Geräusche, weil die Britzer, Neuköllner und Adlershofer nicht ohne Grund noch da waren. Denn erstens fuhren S- und U-Bahnen nicht mehr, und zweitens ging Onkel Paul sowieso immer erst, wenn auch die letzte Flasche leer war. Leider hatte aber, als ich ins Bett ging, noch eine halbe Adlershofer auf dem Tisch gestanden,  vom  Berliner Pilsner, das  Vati “nur für den Notfall” in der mit kaltem Wasser gefluteten Badewanne gelagert hatte, ganz zu schweigen.

Nach mehrmaligem Besingen des jungen Stiefels, der leider sterben musste, griff Tante Trude noch einmal zur Klampfe und versuchte, ihren Mann durch weiteres Singen wenigstens vom Wodka abzuhalten. Gleich am Anfang war diesmal “Hoch auf dem gelben Wagen” dran, in das selbst die Britzer noch einstimmten. Tante Trude wollte mit dem Lied natürlich an Abschied und Heimgehen erinnern. Immerhin war es inzwischen ja schon fast Morgen, aber Onkel Paul muss an anderes gedacht haben, denn mitten im Lied, als es hieß “statt der Peitsche die Hippe”, schien seine Stimme leiser zu werden. Doch dann verlangte er laut von seinem Bruder, er solle ihm sofort noch ein großes Glas Adlershofer rüberreichen. Irgendwann muss ich dann zwischen Singen und Schnarchen doch noch eingeschlafen sein.

Leider kam es zu meinem erträumten Kinobesuch nicht mehr.  Das lag an Gittas Eltern.  Am ersten Mai waren wir noch zusammen mit den Lehrern und Schülern unserer Schule über den Marx-Engels-Platz marschiert. Es war erster Mai, der Feiertag der Werktätigen.  Und mindestens eine Million Ostberliner und ihre Westberliner Genossen von der SED und KPD demonstrierten an der Ehrentribüne vorbei. Gitta hatte wieder ihren blauen Rock und ihr weißes Pionierhemd an. Ihr blaues Halstuch bewegte sich sachte im Wind, und ihr Pferdeschwanz, den sie mit einem bunten Gummi am Hinterkopf zusammengezogen hatte, wippte beim Marschieren hin und her. Aber diesmal hatte sie keine Brille auf, weil sie die ja nur zum Lesen brauchte, und heute brauchte man nicht lesen. Die vielen Transparente interessierten eigentlich niemanden, und außerdem waren überall Lautsprecher installiert, durch die ein sehr begeisterter Sprecher alles erklärte, was man sowieso um sich herum sah. Na ja, nicht alles,  wie z. B. die Planerfüllungen und die Ernteerfolge der Genossenschaftsbauern vom vergangenen Jahr, wie die Frühjahrssaat jetzt so viel schneller ging, da alle Bauern sich in LPGs organisierten; und wie immer klang die begeisterte Stimme aus den Lautsprechern auf einmal entrüstet und drohend, als sie das gefährliche Treiben der Bonner Ultras, der Saboteure  und der Agenten des Imperialismus verdammte.

Gitta ist einfach schön, dachte ich und konnte nicht aufhören, hoffentlich unbemerkt, sie von der Seite anzusehen. Sie sah so, mir fiel nicht gleich das richtige Wort ein, sie sah so frisch aus, so mit einem lächelnden, offenen Gesicht. Heute hatte sie keinen Pullover über ihre weiße Bluse gezogen. Es war ja auch schon warm. Ich stellte mir vor, wie sie in ein paar Tagen von Windjammer und Eis begeistert nur noch mich sehen würde. Aber wo würde ich sie küssen, und vor allem wie?  Kalle war doch keine richtige Hilfe gewesen. Der schwafelte nur was von französisch küssen, aber was das war, wusste er auch nicht.

Am Dienstag saß ich allein auf unserer gemeinsamen Schulbank. Vielleicht hatte Gitta verschlafen oder ist krank, vermutete ich.  Dumm war nur, dass ich diesmal mit den Mathehausarbeiten nicht fertig war. Ich hatte gehofft, dass sie mir noch vor Unterrichtsbeginn die Antworten für die letzten zehn Aufgaben geben würde.

Wie immer ging Herrlich am Anfang der Stunde die Anwesenheitsliste durch: “Janno?” “Hier!” “Heidi?” “Hier!” “Peter?” “Hier!” “Karsten?” “Hier!” “Horst?” “Hier!” “Gerd?” “Hier!” “Brigitte?” Keine Antwort. “Brigitte?”, rief Herrlich noch einmal. Als wieder keine Antwort kam, fragte sie mich: “Karsten, weißt Du, wo Brigitte ist?” “Nö, keine Ahnung”, antwortete ich, worauf Herrlich erwiderte: “Karsten, es heißt nicht ‘Nö’, sondern ‘Nein’. Sprechen Sie wenigstens im Unterricht ein anständiges Deutsch. Weiß sonst jemand, warum sie nicht hier ist?” “Ich glaube, sie hat eine Erkältung”, wagte Monika eine Erklärung. “Vielleicht hat sie sich auf der Demonstration erkältet.”  Herrlich schaute sie missbilligend an, las noch die anderen Namen vor; dann ging es mit diesen linearen Gleichungen los, unser neues Thema.  Glücklicherweise rief sie mich nicht auf, und so konnte ich mich auf die Straßenbahnen konzentrieren, wobei ich bemerkte, dass sie so genau, wie es auf dem Fahrplan stand, nun auch wieder nicht waren. Nur die letzte, die manchmal zu spät kam, war heute auf die Sekunde pünktlich. Als es dann endlich zur Pause klingelte, lief ich, ohne meine Hausarbeiten abzugeben, schnell am Lehrertisch vorbei auf die Toilette, und hoffte, dass Herrlich frühestens am Abend merken würde, dass mein Heft fehlte.

Auch am Mittwoch war Gitta nicht da. Und am Donnerstag sagte Herr Kühn, dass die Eltern von Brigitte umgezogen seien und dass unsere Mitschülerin deshalb in eine andere Schule kommen würde. Wieso das, fast am Ende der 8., dachte ich noch und merkte, wie sich etwas in meiner Brust zusammenzog. Hätte sie mir nicht etwas sagen können? Und was ist mit Windjammer und Eis bei Kranzler? Nach dem Unterricht kam Monika an meiner Bank vorbei und flüsterte mir zu, dass sie gehört hätte, die Eltern seien nach “drüben” gegangen. Außerdem hätte Gitta ihr noch gestern gesagt, sie solle mir einen Gruß bestellen. “Verstanden habe ich das gestern ja nicht”, vertraute sie mir an. “Könnte sie den, also dich, nicht selber grüßen”, habe ich gedacht. Aber jetzt isses mir natürlich klar.”

Sie nicht mehr in meiner Schule und neben mir auf der Bank zu haben, war eigentlich nicht vorstellbar. Ich war wie erstarrt. Aber dann tröstete ich mich und dachte, ich besuche sie einfach, und vielleicht klappt es mit Windjammer und Eis ja doch noch.

“Weißt du, wo sie jetzt wohnt”, fragte ich Monika.

“Nee, aber wahrscheinlich im Flüchtlingslager. Weiß nicht, wo das ist.”

Ich hatte mal eins in der Wochenschau im Ringbahnkino an der S-Bahnhaltestelle Frankfurter Allee gesehen. Da wurde über die menschenunwürdigen Lebensumstände in den Lagern  berichtet.  Verhärmte Leute mit Rucksäcken und weinenden Kindern an der Hand, und alle hinter einem Drahtzaun. Da sollte jetzt auch Gitta sein? Ich schwor mir, sie zu finden, sobald sie aus dem Lager raus war und mit ihren Eltern eine eigene Wohnung hatte. Der Gedanke beruhigte mich etwas.

Vier Wochen später bekamen wir in der Aula unsere Zeugnisse. Der Chor, an diesem besonderen Tag im Weiß und Blau der Jungen Pioniere, sang “Im Frühtau zu Berge” und “Unsere Heimat”. Heidi sagte ein Schillergedicht auf, irgend etwas über einen Taucher. Gerlach las ein paar feierliche Sätze über unsere Verantwortung für die Zukunft von einem Zettel ab. Und dann lag die Grundschulzeit hinter uns.

Die Schüler der 8c gingen unterschiedliche Wege; Kalle wurde Malerlehrling, Gerd, Atze und Monika kamen auf eine Mittelschule und Heidi, Katrin und ich wurden auf den naturwissenschaftlichen Zweig einer Erweiterten Polytechnischen Oberschule delegiert.  Wie das schon klang, “Polytechnische Oberschule”, und dann wurden wir sogar noch delegiert. Vati freute sich sehr über den Erfolg seines Sohnes. Ingenieur für Flugzeugbau sollte ich seiner Meinung nach werden, weil im Flugzeugbau die Zukunft läge. Ich war nicht so sicher, ob das Spaß machen würde. Außerdem hatte ich Angst vor Höhen.  Selbst vom Müggelturm auf den See zu schauen, ließ mich schwindlig werden. Aber für Vati war nun mal Ingenieur für Flugzeugbau das Größte, was man so erreichen konnte. Und wegen meiner mäßigen Mathekenntnisse, sagte Vati, sollte ich mir mal keine Sorgen machen. Ein richtiger Seemanns- und Arbeitersohn schaffe das. Na gut, dachte ich, vielleicht hat er recht.  Und auf eine Oberschule wollte ich auch gern gehen. Auf jeden Fall waren die nächsten vier Jahre erst einmal gesichert. Schmunzelnd sagte Mutti zu Vati: “ Das musst du gleich deiner Schwester und Mutter in Britz erzählen.  Der Enkel und Neffe auf der Oberschule, das ist doch ein Erfolg für die ganze Familie. Da können sie stolz sein und wir natürlich auch.”

Doch ganz hatten wir die 8. noch nicht hinter uns. Herr Kühn schlug am Ende des Schuljahres vor, dass wir noch eine Abschlussfahrt machen sollten. Er kenne da noch eine schöne Jugendherberge in Waren, direkt an der Müritz. Da könnte man wandern, mit dem Boot fahren und auch schwimmen. Außerdem wäre es nicht so weit von Berlin entfernt. Wir wunderten uns über den Vorschlag. Es wäre sicher einfacher für ihn gewesen, alleine irgendwo hin zu fahren. Aber wir waren begeistert. Nach Jugendweihe und Schulabschluss erschien uns diese Fahrt als eine letzte Möglichkeit, sich der uns  “anvertrauten” Verantwortung für ein paar Tage wieder zu entziehen. Was war dieses Erwachsenensein schon gegen ein paar Tage mit Freunden in einer Jugendherberge, die Hälfte davon Mädchen?  Oder Kahn fahren auf der Müritz, in den umliegenden Kiefernwäldern herum schweifen, zusammen in der Küche Frühstück machen und heimlich irgendwo Bier besorgen.  Endlich mal etwas nicht unter der Aufsicht der Eltern unternehmen. Kühn würde schon ein Auge zudrücken. Und doch mischte sich etwas Anderes, schwer Definierbares in die aufgekratzte Stimmung, die sich schon im D-Zugabteil beim Absingen der alten Ferienlagerlieder einstellte.

Da einige von uns schon im Juli zu Pionier-, FDJ- oder Betriebsferienlagern angemeldet waren, kam nur noch August in Frage. Der 12. August passte mehr oder weniger allen, und so zuckelte die 8c am Sonnabend mit dem D-Zug — Dampflokomotive, Holzbänke, — nach Waren, lag mit Pest vor Madagaskar, fühlte das regelmäßige Klank, Klank, wenn die stählernen Räder der grünen Waggons, die übrigens noch die abgerundete Form einer Postkutsche hatten, über die Lücken zwischen den Schienen hüpften,  hörten das gedehnte, sehnsüchtige Pfeifen der Dampflok, hatten Hunger, Hunger, Hunger und verlangten in bester Stimmung nach dem uns trotz unseres Erwachsenenseins noch verbotenem Bier.  Kühn saß abseits von uns weiter vorne im Gang. Als ich hinschaute, lächelte er nur und wandte sich wieder seinem Buch zu, bis wir in Waren ausstiegen.

Mann, war das ein trauriger Anblick. Das halbe Dach des Bahnhofsgebäudes fehlte, in einigen Ecken roch es nach Urin und die eigentlich roten Klinkersteine des kleinen Bahnhofs sahen verdreckt aus. Nur die ein, zwei Banner mit ihrer leuchtend roten Farbe, auf denen in Schwarz irgendetwas zur Landwirtschaft stand  — Unter der Führung der Partei Anpassung der Lebensbedingungen von Stadt und Land . Bauern, für eine bessere Zukunft, kommt in die LPG — gaben dem Bahnhof etwas Helles. Nicht, dass uns die Banner besonders interessierten. Wir wollten zur Jugendherberge.

Wie der Bahnhof, war auch die Jugendherberge erst einmal enttäuschend. Die Fassaden des Fachwerkbaus waren angegraut, und  an einigen Stellen fehlte sogar der Putz. Aber “unsere” Herberge lag dicht am Wasser und hatte neben der Badestelle auch einen Steg, an dem eine Reihe von alten Ruderkähnen angebunden war.  Von einigen blätterte schon die grüne Farbe ab, aber Wasser schwappte nicht drin. Also sinken würden sie nicht.  Das war schon mal gut, dachten wir.  Dann führte uns der Jugendherbergsleiter, ein schlanker etwa 35jähriger, für uns uralter, Mann mit welligem, blondem Haar, kurzen schwarzen Hosen und dem Blauhemd der FDJ durch das große Gebäude, zeigte uns Küche und Waschräume und erklärte uns eine Reihe von Regeln, die zumindest ich mir nicht alle merken konnte. Wichtig schien ihm das Fegen des Fußbodens, die Geschirrwäsche — “Am besten, ihr wählt sofort einen Küchendienst”, empfahl er uns eindringlich — und das Einhalten der Nachtruhe zu sein. “Um zehn Uhr ist Nachtruhe”, sagte er mit leicht drohender Stimme, und dass danach kein Junge mehr etwas im Schlafraum der Mädchen zu suchen hätte. “Das muss ein Irrtum sein”, flüsterte mir Gerd grinsend ins Ohr.  “Die Mädchen und Jungenschlafräume liegen doch sowieso dicht nebeneinander, da gehen wir doch nicht zur Nachtruhe raus, sondern rein.”

Platz in den zwei Schlafräumen war für zwanzig, aber bequem war es in unserem leider nicht. Auf dem Boden lagen mit Stroh gefüllte Säcke, die angenehm nach Heu rochen, aber selbst durch den blau karierten Bettbezug noch ganz schön piekten,  und dann keine Kissen, dafür nur zwei alte Decken; “Pferdedecken” nannte sie Janno verächtlich, weil sie so aussahen, als hätten sie schon bessere, oder richtiger, schlechtere Tage hinter sich. Außerdem fehlten genügend Schränke für unsere Sachen. Die vorhandenen waren schon von anderen Herbergsgästen mit Beschlag belegt worden, was aber außer Jürgen, unserem Sauberkeits- und Ordnungsfanatiker, eigentlich niemanden sonst besonders störte.

Die Waschräume waren gleich nebenan, daneben lag das Zimmer der Mädchen; das hatte auch Atze gleich herausbekommen. Dann zeigte der Herbergsleiter uns noch die Küche mit Geschirr und Herd und ermahnte uns, unser Geschirr gleich nach dem Essen abzuwaschen.  Kein Problem. Herr Kühn teilte sofort den Küchendienst ein. Jeweils vier von uns waren für Abendbrot, Frühstück und Abwasch verantwortlich. Morgen würden wir auf unserer Wanderung — verdammt, doch eine Wanderung, dachte ich — unterwegs essen, sagte er. Das hieß, der Küchendienst am Morgen war auch für die belegten Brote zuständig. Ich gehörte zur Frühstücksschicht.

Viel schliefen die meisten von uns Jungs nicht. Einige versuchten, durch den Waschraum ins Mädchenzimmer zu kommen. Doch ging das schlecht, weil die Mädchen ihre Tür abgeschlossen hatten. Atze und Janno klopften trotzdem an die Tür und baten: “Macht doch mal auf”, aber weit kamen sie damit nicht, weil die Mädchen einfach lachten und sich Herr Kühn, der mit den Jungs im gleichen Raum schlief, Ruhe ausbat, schließlich sei er sehr müde. Anfangs spielten einige Jungs noch Flak. Aus einem Bett schallte es aus dem Dunkeln: “Feindlicher Fliegerverband im Anflug Hannover/Braunschweig.”  Und dann rief Gerd:  “Fliegerverband in Planquadrat 3.”  Da wusste Atze, der schon fast eingeschlafen war, sofort , dass über seinem Strohsack eine oder ein paar Mücken ihre Runden zogen. Natürlich versuchte er dann, sie mit lautem Klatschen seiner Hände “abzuschießen”. Langsam wurde es dann jedoch stiller, bis wir schließlich alle schliefen.

Aus der Wanderung wurde, fast hätte ich gesagt, glücklicherweise, nichts. Wir wurden nämlich ziemlich früh von ein paar Herbergsbewohnern aus Thüringen oder Sachsen geweckt. Man hörte an ihrem Dialekt, dass sie irgendwo aus dem Süden kamen. “Wacht auf, habt ihr schon gehört, die bauen eine Mauer durch Berlin, da kommt keinen mehr raus”, rief uns einer zu. Zuerst dachte ich, die Thüringer oder Sachsen wollten uns verarschen, weil sie neidisch waren, dass sie nicht so einfach wie wir nach drüben zum KDW oder  ins Kino kamen.  Außerdem, wie konnte man eine ganze Stadt durchtrennen. Unmöglich. Da gab es so viele Verbindungen: Straßenbahn, U-Bahn, S-Bahn, Straßen, Brücken, Seen und außerdem ‘ne Menge Schleichwege durch alte Luftschutzkeller in Wohnhäusern und Ruinen. Das schaffen die nie, dachte ich. Alles Quatsch. Doch als dann Kalle sein Sternchen anstellte und wir die Nachrichtensprecher hörten, wurde uns klar, dass sie recht hatten.

Im Gesellschaftsraum der Jugendherberge lief im Ostfernsehen gerade die Sendung “Weil ich jung bin”,  ein musikalischer Bilderbogen mit Bärbel Wachholz. Wir aber hockten angespannt im Schlafraum um Kalles Kofferradio herum, wo es Nachrichten gab, damit wir ja alles mitkriegten, was da so lief. Auf dem einen Sender wurde gemeldet, dass die Regierung der Arbeiter und Bauern, um einen neuen Weltkrieg zu vermeiden, seit heute früh drei Uhr mit Unterstützung der sozialistischen Bruderländer einen antifaschistischen, demokratischen Schutzwall um die Frontstadt Westberlin errichte, damit wir von den Imperialisten und Junkern und ewig Gestrigen nicht mehr ausgeplündert werden könnten;  und von einem anderen hörten wir, dass das Ulbrichtsche Unrechtsregime seine Bürger einsperren würde und sich der Eiserne Vorhang, entgegen dem Abkommen der Alliierten, unrechtmäßig auch über Berlin senken würde. “Scheiße”, dachte ich, “Scheiße”, sagte Janno. “Scheiße”, sagte Kalle, und “Scheiße”, sagte auch der sonst immer so ruhige Herr Kühn und fügte hinzu: “Die sagen immer, dass die Amis Schuld sind. Dieser sogenannte antifaschistische, demokratische Schutzwall, das waren die Russen. “Tut uns wirklich leid”, sagten die Thüringer oder Sachsen mit besorgten Gesichtern und meinten es ganz ehrlich.

Dieses Mitleid tat irgendwie gut, auch weil wir auf einmal zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller Herbergsbewohner geworden waren, was uns Berliner irgendwie stolz machte. Trotzdem war ich mehr wütend als stolz, und in die Wut mischte sich Traurigkeit. In meinem Kopf herrschte auf einmal ein einziger Gedankenwirrwarr. Was wird mit den Britzern und Neuköllnern, was wird mit Oma und Tante Hete, Anna und Onkel Otto?  Was mache ich jetzt noch mit dem Westgeld in der schönen braunen Brieftasche? Und Gitta, der Film im Europa Center, der Kuss? Monika hatte mir noch vor der Klassenfahrt gesagt, dass Gittas Eltern aus dem Lager raus wären und eine kleine Wohnung in der Westberliner Fennstraße bekommen hätten. Ich hätte sie also besuchen können.

Aus irgendeinem Grund bekam auf einmal Kalles Sternchen keinen Westberliner Sender mehr rein. Stattdessen nur noch Berliner Rundfunk und Deutschlandsender, die Interviews mit Arbeitern und anderen, offenbar bekannten Leuten brachten, die sich freuten, dass die Bonner Ultras und die Junker, mit den amerikanischen Imperialisten im Hintergrund, unserer DDR nichts mehr anhaben konnten, weil wir ja nun einen Schutzwall bauten. Dazwischen liefen ständig die uns vertrauten Kampflieder wie z. B. “Spaniens Himmel”, “Die Internationale”, “Mit Walter Ulbricht kämpft es sich gut” oder “Ich trage eine Fahne”. War es schon an diesem Sonntag, dass wir das Lied von Kahlau und Werzlau hörten?

[…]

Geht mit den Gewehren

Und haltet gute Wacht.

Wenn wir nicht kräftig wären,

Dann kämen sie mit Heeren.

Gebt auf die Grenzen acht.

[…]

 

Auf jeden Fall musste Herr Kühn nach der Sternchenmusik ganz plötzlich auf die Toilette. Nach dem Spülen hörten wir ihn auf einmal eine Strophe aus der “Forelle” singen:

 

[…]

Doch endlich ward dem Diebe die Zeit zu lang. Er macht

Das Bächlein tückisch trübe, und eh ich es gedacht,

So zuckte seine Rute, das Fischlein zappelt dran,

Und ich mit regem Blute sah die Betrogene an.

[…]

 

Still kam Herr Kühn ins Schlafzimmer zurück, schaute uns, die wir noch immer um das Sternchen herumsaßen, an und sagte dann sehr ruhig: “Ich geh mal kurz zum Bahnhof und kucke mir den Fahrplan an. Wir müssen nach Berlin zurück. Eure Eltern werden sich Sorgen machen.”

Als ich Montag zu Hause ankam, war Vati weg. Mutti umarmte mich und sagte mir unter Tränen, dass er als Mitglied der Kampfgruppe seines Betriebes in der Nähe des Brandenburger Tores stationiert worden sei. Sie wüsste zwar den Namen der Straße, aber nicht die Hausnummer.  Auf jeden Fall wären er und seine Gruppe in Alarmbereitschaft und dürften nicht nach Hause. “Sonntag früh ist er mit einem Lastwagen abgeholt worden. Er hatte nicht mal Zeit, sich sein Rasierzeug einzupacken, und ich konnte ihm nicht mal ‘ne Stulle machen. Wer weiß, wann es bei solcher Aufregung mal was zu essen gibt. Hoffentlich kommt kein Krieg”, rief sie noch verzweifelt. “Wir haben ja gerade erst einen hinter uns gebracht. So etwas Schreckliches jetzt nicht noch einmal. Das darf einfach nicht sein.” Ihr Ausruf erinnerte mich sofort an die großen Anschauungsbilder an der Wand des Esszimmers in meinem Kindergarten in der Möllendorffstraße, in den mich Mutti als Kleinkind gesteckt hatte. Auf einem war eine Atomexplosion zu sehen war. Darunter stand dann — das lasen uns die Helferinnen vor — dass wir uns mit den Füßen dem Atompilz zugewandt, die Arme und Hände über dem Kopf, auf den Boden legen sollten, wenn die Amis ihre Atombomben abwerfen würden.  Na das kann ja heiter werden, dachte ich.

Am Abend beschloss Mutti, morgen Vati mit mir zu besuchen. Sie wollte ihm wenigstens ein paar Butterstullen bringen. Außerdem hatte sie noch zwei Koteletts von Sonnabend und ein bisschen Sülze. Vati mochte Sülze besonders gern. Auch ein Paar dicke Socken, die er in den Stiefeln tragen konnte und noch etwas Unterwäsche könnte er sicher gut gebrauchen, fand sie. Dienstag früh fuhren dann wir mit der noch funktionierenden U-Bahn,  bis zur Friedrichstraße und liefen dann in Richtung Scharnhorststraße. Mutti kannte die Gegend ziemlich gut, weil sie nahe der Invalidenstraße, also gar nicht weit weg, aufgewachsen war. An einem der alten Mietshäuser wurden wir von einem Mann in Stiefeln, grauem Kampfanzug mit der roten Fahne am linken Ärmel, grauem Tornister und lässig umgehangener russischer MPi angehalten. “Halt, wo wollen Sie hin?”, fragte er in scharfem Ton. Muttis Hand verkrampfte sich in meiner. “Ich will zu meinem Mann.  Der ist bei der Kampfgruppe”, rief sie schluchzend. “Zeigen Sie mal Ihren Personalausweis!”, antwortete der Mann. Mutti kramte ihren Ausweis aus der Handtasche. “Wie heißt denn ihr Mann?”, fragte er etwas milder. “Gustl, Na Gustl.” “Gustl was?” “August Wegner. Ich will ihm doch nur ein paar Sachen bringen”, fügte sie hinzu. “Na ausnahmsweise”, antwortete er schon etwas milder.  “Gehen Sie mal durch diesen Torbogen und dann rechts. Da fragen sie dann noch mal.”

Auch am Eingang zum ersten Hinterhof stand eine Wache, ein älterer Mann mit gleicher Ausrüstung wie der weiter vorne.  Als ihm Mutti sagte, was sie wollte, schickte er sie noch einen Hinterhof weiter in den Eingang Seitenflügel rechts. Da gingen wir dann hin. Und als wir durch die Tür kamen, sahen wir schon eine Menge von grau Uniformierten rumstehen oder -sitzen. Mutti fragte laut nach Gustl Wegner  “Ja, gehen Sie mal durch die Tür da hinten, die führt in den Keller. Da liegt die Bereitschaft.”  Auf dem Weg nach unten war es ziemlich dunkel, weil nur zwei Glühbirnen brannten. Die anderen waren wohl kaputt. An der Wand war ein weiß leuchtender Pfeil mit einer Abkürzung, “Zum LSK” zu sehen. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete, wollte aber Mutti nicht fragen, weil sie gerade Vati in einem Kellerverschlag entdeckt hatte, wo er in voller Ausrüstung auf einem Strohsack lag. “Gustl, Gustl”, rief sie laut und lief auf ihn zu. Vati sprang von seinem Bett auf, und dann lagen sich die beiden in den Armen. Als Vati mich sah, hob er mich hoch, was mir etwas peinlich war, denn ich war ja nun ganz offiziell seit über drei Monaten wirklich kein Kind mehr, und drückte mich heftig. Mutti erzählte ihm, was sie ihm alles mitgebracht hatte, und Vati freute sich. Obwohl, ich hatte den Eindruck, dass er sich mehr über uns als über die Sülze, die dicken Socken und den anderen Esskram gefreut hat. Mutti fragte ihn dann, ob sie nicht zusammen rausgehen sollten, weil man ja hier nicht richtig mit einander sprechen könnte. Doch Vati meinte, dass das nicht ginge, weil sich niemand von der Truppe entfernen dürfe.

Da entdeckte ich seine MPi auf dem Strohsack. Ich hob sie auf und wollte mir das Ding mal etwas genauer ansehen, drehte es hin und her und fragte Vati, wie viele Kugeln denn in so ein Magazin reingehen. “Fünfzig”,  antwortete er und nahm mir die MP wieder aus der Hand. “Das ist kein Spielzeug”, sagte er mit sehr ernster Stimme. Als Mutti die MPi in Vatis Hand sah, fing sie an zu weinen. “Muss das wirklich sein?” “Ja, es muss wohl”, antwortete er resigniert. “Der Klassenfeind will uns unsere Errungenschaften wegnehmen.” “Und Deine Mutter und Deine Schwester in Britz?” Vati zuckte nur mit den Schultern. “Es wird schon nicht so schlimm werden. Wir können ja überhaupt nicht schießen, wir haben ja noch nicht einmal Munition bekommen, und in zwei drei Monaten wird sich alles wieder einrenken.”

Auf einmal tönte ein greller Pfiff durch den Keller. “Viertes Bataillon auf dem Hof antreten, Munitionsempfang”, kam von irgendwo im Keller der Befehl. Vati machte ein erschrockenes Gesicht, gab Mutti einen langen Kuss, legte seinen Arm um meine Schulter und sagte, während sein Nachbar ihm die MPi reichte, leise zu mir: “Pass gut auf Mutti auf, mein Sohn!”

 

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Nov 07 2013

Jay Rosellini

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Causa Fritzl = Causa Austria?  Anmerkungen zu einigen journalistischen und literarischen Interventionen 

Wer in unserer bewegten Zeit regelmäßig eine Tageszeitung liest, die Fernsehnachrichten einschaltet (oder sich mit den Mitteln des digitalen Universums informiert), stößt regelmäßig auf Meldungen über Naturkatastrophen oder Gräueltaten von diesem oder jenem Kriegsschauplatz. Dabei fällt es nicht wenigen sicher schwer, sich vorzustellen, was weit weg oder in großem Maßstab geschieht. Es verhält sich allerdings anders, wenn das Unbegreifliche sozusagen im Mikrokosmus passiert. Was einzelne Menschen anderen Menschen antun, übt eine besondere Faszination aus, vielleicht deshalb, weil wir alle über einschlägige Erfahrungen auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen verfügen. Im Folgenden soll untersucht werden, wie die „Causa Fritzl“ (außerhalb von Österreich der „Fall Fritzl“) dargestellt, interpretiert und manipuliert wird.

Zunächst einmal muss der Fall kurz skizziert werden. Der verheiratete österreichische Ingenieur Josef Fritzl (geb. 1935), Vater von sieben Kindern, betäubt seine jüngste Tochter Elisabeth (geb. 1966) Ende August 1984 und hält sie bis Ende April 2008 im umgebauten Keller seines Hauses in der Amstettener Ybbsstraße gefangen. Elisabeth wird immer wieder vergewaltigt und geschlagen. Sie gebärt sieben Kinder ohne ärztliche Hilfe im Keller (ein Baby stirbt kurz nach der Entbindung). Das Verschwinden der angeblich drogensüchtigen Tochter erklärt Fritzl als Flucht: Elisabeth sei einer abstrusen Sekte beigetreten. Drei der sog. „Kellerkinder“ werden von Fritzl und seiner Frau Rosemarie (die von den Zuständen im Keller nichts gewusst haben soll) als Pflegekinder großgezogen. Zur Befreiung kommt es, als die älteste Tochter im Keller erkrankt und fast im Sterben liegt. Josef Fritzl wird zu lebenslanger Haft in der Justizanstalt Stein (Krems/Niederösterreich) verurteilt. Nach Bekanntwerden des Falles ließen die ersten Reaktionen nicht lange auf sich warten. Neben den üblichen Sensationsmeldungen in der nationalen und internationalen Boulevardpresse[1] wurde man auf den Beitrag des britischen Germanisten Ritchie Robertson[2] aufmerksam. Aufgrund seiner langjährigen Studien konstruierte er für Fritzl eine literarische Ahnentafel, und zwar mit Bezug auf Autoren wie Adalbert Stifter („Turmalin“), Ferdinand Raimund (Der Alpenkönig und der Menschenfeind), Johann Nestroy (Eine Wohnung ist zu vermieten in der Stadt) und Elias Canetti (Die Blendung). Der Untertitel seines Essays ging jedoch weit über das Literarische hinaus und legte den Grundstein für eine Deutung, die den österreichischen ‚Nationalcharakter’ in den Mittelpunkt stellte: „Austrian politicians want to distance their country from the Fritzl case: literary historians find it harder.“ Er postulierte, die fiktiven Vorläufer verkörperten „some of the twisted energies at work in Austrian society”. Angesichts dessen war es nicht verwunderlich, dass er seine Bemerkungen mit einem Hinweis auf Elfriede Jelinek schloss, deren Roman Lust (1989) die Perversionen und Untaten eines ekelerregenden österreichischen Geschäftsmanns zum Thema hatte.

Am 1. Mai 2008 (nur wenige Tage nach der Befreiung also) erschien ein Essay mit dem Titel „Im Verlassenen“ auf Jelineks eigener Webseite (http://www.elfriedejelinek.com/). Der Anfang sollte verdeutlichen, dass der Fall Fritzl keine Aberration war: „Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält. Im noch viel kleineren Kellerverlies von Amstetten findet die Aufführung statt, täglich, nächtlich.“ Dieses Theater ist eine patriarchalische, diktatorische Hölle auf Erden, wo nur „das Wort des Vaters“ (bzw. im zumindest formell katholischen Österreich das Wort des „Heilige[n] Vater[s]“) Geltung habe.[3] Die Frau wird auf ihre Körperlichkeit reduziert; für sie gibt es nur die Opferrolle. (Dabei ist es bemerkenswert, dass das spezifische Opfer in diesem Fall, die Tochter Elisabeth, weder Mitleid noch Solidarität bekommt; sie fungiert in erster Linie als Indiz im Prozess gegen das Patriarchat.) Jelinek schreibt Österreich hier ein Attribut zu, das bei anderen Kommentatoren immer wieder vorkommen sollte, nämlich die Verdrängung und das Wegschauen („[…] es darf nichts hinausdringen, das ist das erste Gebot hier: Du sollst nicht merken.“). Die Fassade ist alles: „[…] Rufschädigung für Österreich, das wäre furchtbar.“ Auf diese Behauptung wird später zurückzukommen sein.

Bereits 2008 erschien ein Buch über den Fall Fritzl, und zwar in englischer Sprache. Der Autor Allan Hall, ein britischer Journalist und Buchautor, wählte den Titel Monster.[4] Dieser Titel scheint anzudeuten, dass die Psychopathie des Täters im Mittelpunkt stehen würde. Das ist aber nur teilweise der Fall. Im Einbandtext findet sich ein Hinweis auf „the extraordinary lengths he [Fritzl] went to in order to conceal his activities and the dark nature of his past in Nazi Austria“. Das ist nicht verwunderlich, da Hall nicht nur für Boulevardblätter wie Sun oder Daily Mirror[5] schreibt, sondern auch für die merkwürdige Internetzeitung The German Herald, auf dessen Homepage Folgendes steht: „This newspaper is a time machine, locked in around the time of two World Wars, one World Cup and a lost age when it was permissible to poke fun at Germans.”[6] Hall hatte schon im  Jahr 2007 ein Buch über die entführte und misshandelte Österreicherin Natascha Kampusch veröffentlicht.[7]

Die Leser von Monster (der Titel bezieht sich auf die Aussage Fritzls, er sei kein Monster) erfahren im „Foreword“, dass Fritzls Verbrechen eng mit dem sozio-kulturellen Kontext seines Heimatlandes zusammenhängen: Hall weist auf „grave flaws in the psyche of a people and its social and judicial structures“ hin und scheut sich nicht vor einem Gesamturteil:

„It has long been the Austrian habit to isolate unpleasantness, controversy, to compartmentalize it and file it away out of sight, while everyone gets back to the           comforting images of snow-capped mountains and apple strudel – the wholesome, positive images of a modern European Union state. But these days are gone: Josef Fritzl has ensured that there must be a reckoning with both past and present in Austria.” (xiv)

Hall verzichtet auf ein Quellenverzeichnis, aber dieses Urteil erinnert an die Bezeichnung “guilty victim.”[8] Wie zu erwarten, beginnt das Kapitel über Fritzls Kindheit und Jugend mit einer Aussage Hitlers zu seiner Bildungspolitik:  „[…] I want a brutal, domineering, fearless, cruel youth. […]“ (3)  Hall stellt sich allerdings nie die Frage, warum 99,9% der deutschen und österreichischen Männer des Jahrgangs 1935 keine brutalen Vergewaltiger ihrer Töchter wurden. Um seine These zu untermauern, stilisiert er die Kleinstadt Amstetten sogar zum „epicentre of […] Nazi tyranny,“ (13) und Fritzls Fähigkeit, sein finsteres Vorhaben durchzuführen, wird als „the triumph of Josef Fritzl’s will“ (49) beschrieben. Hall ist so darauf versessen, das Fortdauern des Nationalsozialismus zu geißeln, dass er die Aussagen seiner eigenen Zeugen ignoriert. Der Wiener Psychotherapeut Kurt Kletzer sagt zwar, „Fritzl’s youthful admiration for the Nazis stayed with him throughout his life, and […] and he may even have used it, in his own mind, as a justification for his actions”, aber er fügt (mit einem Hinweis auf Willy Brandt u.a.) hinzu: “Blaming the times is a way out of a manipulator, a man who refuses to take responsibility for his actions.” (84)[9] Solche Betrachtungen werden einfach beiseite gewischt, da es letzten Endes darum geht, ganz Österreich anzuklagen: “[…] Austria truly has never [meine Hervorhebung] had a reckoning with them [Nazis], and with its relationship to them.” (244) Niemand wird bestreiten, dass die Österreicher ziemlich spät mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit begannen, aber seit der Ära Vranitzky ist die Zeit des Schweigens vorbei.[10] Den politischen Beobachter Hall kann man allerspätestens dann nicht mehr ernst nehmen, wenn er zum Phänomen Jörg Haider behauptet: „Austrians never questioned him, but supported him in the face of world revulsion.“ (247) Außerhalb Kärntens macht man sich mit solchen Worten wahrhaftig keine Freunde.

Treten in Halls Monster mehrere Bösewichter auf, so gibt es auch eine Heldin, nämlich Elisabeth Fritzl. Während der langen Jahre des sexuellen Missbrauchs hat sie nicht nur für ihre Kinder gesorgt, sondern auch versucht, innerlich stark zu bleiben. Hall betont, dass sie das Schicksal von misshandelten Frauen auf der ganzen Welt teilte, wozu auch die Scham, die Selbstvorwürfe und das Schweigen gehörten.(68) Hier spricht der erfahrene Reporter, der sich für die Opfer sexueller Gewalt einsetzt. Leider kann er sich nicht darauf beschränken: Nachdem er beteuert hat, Österreich habe „no monopoly on horrific crimes“, kommt das große Aber: „Yet there is something special about Austria. It is a society wreathed in secrets and denial, especially in modern times. […] [T]here is something rotten at the heart of Austria.”(240) Das einzige ‘Lob’ (wenn man es so nennen will) aus der Feder Halls besteht darin, dass er zugibt, es gebe Österreicher, die sich gewisser problematischer „’psycho-cultural elements of their society’“ bewusst sind.(255) Nur einige Monate nach der Befreiung aus dem Amstettener Keller wurde bekannt, dass ein englischer Geschäftsmann fast drei Jahrzehnte lang seine beiden Töchter terrorisiert und vergewaltigt hatte. Der Richter im Sheffield Crown Court meinte: „Questions will inevitably be asked about what professionals, social and medical workers, have been doing for the last 20 years.”[11] Obwohl der Täter im Volksmund bald als “British Fritzl” galt, gab es keinen Vorschlag, die Mängel im ‘britischen Nationalcharakter’ zu untersuchen.[12]

Im Einbandtext zu I’m No Monster von den beiden Journalisten Stefanie Marsh und Bojan Pancevski[13] wird Österreich nur beiläufig erwähnt, aber die Einstellung dem Land gegenüber ist nicht weniger kritisch als bei Hall. Gleich am Anfang des „Foreword“ wird eine Breitseite auf das Land abgefeuert:

It is difficult to write a book on a subject as complex as Josef Fritzl. And certainly many Austrians would prefer that such a book not be published. In Austria there is little appetite to understand his crimes, and even less inclination to uncover the many factors that may have allowed them to happen. (vii)

Welche Faktoren sind damit gemeint? Obwohl die Autoren Fritzls Versuch, seine Taten als Produkt seiner Kindheit in der Nazi-Zeit zu erklären, als Ausrede abtun, fühlen sie sich dazu berechtigt, ganz Österreich an den Pranger zu stellen:

[…] still now, Austria itself has yet to face its past or analyse with an seriousness its impact on the present. As a result there continues to exist in Austria a culture of looking away, a squeamishness about examining in any depth the harsh truths about its society, and a distaste for self-analysis.” (ix)

Neben einer Kritik an der (Un-)Kultur des “Wegschauens” (s. Jelinek) kommt eine neue Dimension hinzu, die bei Hall keine Rolle spielte. Die Schönheit der österreichischen Landschaften und die Sauberkeit des Landes werden gepriesen, was an sich nicht neu ist. Zur Gegend um Amstetten heißt es z.B.: „The Mostviertel is still a very beautiful part of Europe.“ (3) Ähnliches liest man über das Salzkammergut, wo Fritzl ein Gasthaus besaß:

Like most of Austria’s countryside, the Salzkammergut is both litter-free and immaculately kept, the water of its smaller lakes still pure enough to drink. And the region owes it flawless appearance to the importance that the Austrians have   always attached to presentation, both as individuals and as a nation. (39)[14]

Der Bürgermeister von Amstetten wird verspottet, weil er seine Stadt nach dem Fritzl-Prozess als “this beautiful town” bezeichnet (231), und man erfährt, das Gefängnis Stein „is located where the Danube River meanders into the fertile Wachau Valley, a beautiful wine region and a protected natural resource“. (225) Mit anderen Worten: Die umweltbewussten Österreicher schützen die Natur, blicken aber nicht hin, wenn ihre Mitmenschen in Bedrängnis kommen. Damit man nicht umhin kann, die ‚finstere’ Seite des ökologischen Bewusstseins wahrzunehmen, stellen die Autoren das Ungeheuer Fritzl als eine Art Wiederverwertungsfanatiker dar: „Josef, never throwing anything out: recycling everything.“ (93) Dazu fällt einem unwillkürlich der alte Kalauer über die Terroristen ein: Sie lieben die Menschheit, hassen aber die Menschen. (Dass die Briten bei der Entwicklung der EU-Umweltpolitik meist als Blockierer auftreten, ist kein Geheimnis.)

Marsh und Pancevski urteilen hart, wenn nicht immer genau. Das unweit von Amstetten gelegene KZ Mauthausen (wo Fritzls Mutter eine Zeitlang interniert war) wird als „a hugely profitable death camp, the Nazi’s biggest“ (11) beschrieben, und ein jüdischer Überlebender wird zitiert, der meint, „one could almost say those [other] camps were paradises“ (12). Österreich sei „this still very conservative and patriarchial country“ (56)[15], aber Amstetten schafft es dabei irgendwie, eine „conservative Catholic enclave“ (134) zu bleiben. Die Amstettener veranstalten eine Lichterkette für die ‚Kellerkinder’ (192), aber die Enthüllungen über Fritzls Verbrechen „caused not a ripple of outrage in Austria“ (193). Wie will man das genau messen? Die Autoren können es nicht fassen, dass die Richterin im Fritzl-Prozess behaupten konnte: „[W]e are not prosecuting a town or a whole country.“ (219) Noch schlechter kommt die österreichische Justizministerin weg, die darauf bestand: „You can never really prevent these kinds of cases.“ (207) Was würden Marsh und Pancevski über den „Fall Castro“ schreiben?[16] Der Vergewaltiger von Cleveland, der 2013 verurteilt wurde, hielt seine weiblichen Opfer in einem ganz normalen Haus in einem dicht besiedelten Viertel gefangen. In dem Fall war das Wegschauen noch schwieriger, gelang aber zehn Jahre lang. Die Kommentatoren forderten danach keine tiefgreifende Analyse der US-amerikanischen Kultur und Gesellschaft.[17] (Dafür wurde der hilfreiche Nachbar Charles Ramsay als Held gefeiert.) Es ist unbestreitbar, dass Marsh und Pancevski auf der Seite von Elisabeth Fritzl stehen und sie bewundern („a heroic figure“ – viii), aber ihr Bemühen wird von einer mehr als fragwürdigen politischen Agenda zumindest teilweise entwertet. Jenseits der spezifischen Kulturen in einzelnen Nationalstaaten kann man in allen immer anonymer werdenden Massengesellschaften der gegenwärtigen Globalisierungsepoche schwere Störungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen vorfinden, und damit kann und muss man sich auseinandersetzen.[18]

Journalisten arbeiten immer unter Zeitdruck und werden dazu angehalten, so zu schreiben, dass ihr jeweiliges Medium möglichst viele Konsumenten erreicht. Im literarischen Bereich sollten andere Zustände vorherrschen. Da hat man Zeit, tiefer zu graben und Aspekte zu beleuchten, die oft übersehen werden. Man könnte erwarten, dass die Schriftsteller, die sich dem Fall Fritzl zuwenden, auch so verfahren. Das bisher bei weitem ambitionierteste Projekt in dieser Richtung (mit einem Umfang von 528 Seiten) ist der Roman Claustria des Franzosen Régis Jauffret.[19] Das Werk kann zwar kein historischer Roman sein, da die dargestellten Ereignisse aus den letzten Jahren stammen, aber es kann ein zeitgeschichtlicher Roman sein. Der Schutzumschlag der österreichischen Ausgabe bringt da keine Klarheit: Auf der Innenseite wird eine (ganz aus dem Zusammenhang gerissene) Passage aus dem Roman abgedruckt, worin die Österreicher als ‚Wahrheitshasser’ hingestellt werden.[20] Auf der Rückseite steht ein kleiner Text über Platons Höhlengleichnis und die Gefangenen, die nicht die Wirklichkeit, sondern nur Schatten sehen.[21] Dadurch sollte wohl der Eindruck entstehen, dass Jauffet eher einen philosophischen Roman vorlegen wollte. Darüber hinaus beteuert der Autor in einem kleinen Vorwort: „Dieses Buch ist eine Fiktion. Die Charakterisierungen der Personen sowie Worte, Verhalten, Gefühle, die ihnen zugeschrieben werden, entspringen der Fantasie des Autors und spiegeln mitnichten diejenigen lebender Menschen wieder.“ (7) Der Name Fritzl wird allerdings verwendet, auch wenn die Vornamen der Familienmitglieder geändert werden (Elisabeth=Angelika, z.B.). Jauffret spricht kein Deutsch (er reiste „en compagnie d’une traductrice“[22]), und er verbrachte nur kurze Zeit („une vingtaine de jours“[23]) in Österreich.

Zwischen den Weltkriegen propagierte der ungarische Literaturtheoretiker Georg Lukács an Hand der Werke von Walter Scott für die Gattung des historischen Romans die Erfindung eines „mittleren Helden“, einer fiktiven Gestalt, die sozusagen ohne Eigenprofil historische Ereignisse und die Taten der welthistorischen Individuen à la Hegel beobachten und kommentieren konnte.[24] Darauf hat Jauffret verzichtet; stattdessen wechseln sich ein allwissender Erzähler und der Autor selbst (dessen Name auf S. 67 des Textes auftaucht) ab. Statt einer chronologischen Rekapitulation wählte Jauffret auch eine Art Montagetechnik, wobei er alternierend Momentaufnahmen aus dem Kelleralltag, Berichte über seine eigenen Nachforschungen und Überlegungen zur Wahrnehmung der Realität bietet. Wie jeder Autor hat Jauffret das Recht, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen, und es wäre in der Tat unmöglich, die Jahre im Keller und deren Folgen in der Form einer nüchternen Reportage verständlich zu machen. Manche Leser werden aber nicht goutieren, was Jauffet erfindet. (Es ist übrigens auch nicht klar, wie viel er erfindet, da er seine Quellen nicht preisgibt.) Neben schrulligen Einfällen (so versucht sich der Häftling Fritzl nach fünf Jahren hinter Gittern „im Online-Trading“ – 124) gibt es Dinge, die – angesichts der Tatsache, dass alle Beteiligten noch leben – einfach abgeschmackt wirken.  Es wird prophezeit, dass fast alle Kinder vor dem 40. Geburtstag sterben, denn: „Die Luft der Freiheit hatte sie langsam umgebracht wie giftige Dämpfe.“ (9) Angelika erreicht dagegen das Alter von 79 Jahren und stirbt in der Schweiz. (40) Als Fritzl im Alter von 92 Jahren aus der Haft entlassen wird, arrangiert Sohn Roman ein Treffen mit Angelika. Diese will nicht mit Fritzl reden, aber wir kennen ihre Gedanken: „Sie sieht ihren Vater, ihren Liebhaber, ihren Mann an. Sie fragt sich, ob sie ihn aus lauter Verzweiflung nicht einmal geliebt hat.“ (37) Roman selbst denkt nach dem missglückten Wiedersehen: „Er fühlt sich schuldig, weil er im Keller so glücklich war. Und weil er seinen Vater liebt.“ (39)

Noch viel problematischer sind Jauffets Überlegungen zur Sexualität (die eine gewisse Nähe zu seinem Landsmann Michel Houellebecq vermuten lassen). Der Josef Fritzl des Romans ist, genau wie sein Urbild, ein Vergewaltiger, der mit seiner Tochter gern Szenen aus Pornofilmen ‚nachspielt’. Die Tochter selbst, die von allen Beobachtern als Heldin[25] und Opfer geschildert wird, macht im Roman eine ‚Entwicklung’ durch, wenn man es so nennen will. Die Leser sollen sich vorstellen, dass sie diesen Satz sagt: „Papa, ich hab’ Lust auf dich!“ (439) Vielleicht war sie manchmal aus rein taktischen Gründen „sanft und zuvorkommend wie eine Geisha“ (332), aber Jauffret  will uns weismachen, dass sie nach der allmählichen Auflösung aller Tabus den Vater begehrte:

Inzest, Vergewaltigung, dann der erwünschte Inzest, an den man immerzu denken muss, das fieberhafte Warten auf den einzigen Penis der Welt, der je in diesen Keller eindringen wird. Ein Penis, auf den man nur hoffen kann – tage-, wochenlang lässt er sich nicht blicken […] Das klebrige Morphium des Koitus perlt am Ende des Harnleiters, bevor es herausfließt, Angelika tränkt und sie glücklich macht wie ein Mohnfeld […] (83)

Die „Erinnerung an die Orgasmen“ ist für sie „erschütternd“. (413) Solche Stellen sind angesichts von Elisabeths wirklichen Qualen schlicht und einfach entwürdigend.[26] Hinzu kommt, dass Fritzl selbst bis zu einem gewissen Grad als Opfer seiner Triebe dargestellt wird: Er hat sadomasochistische Wahnvorstellungen („[…] die Fantasie […], von Angelika so getreten zu werden, dass er weinte und zum Höhepunkt kam“ – 218) und scheint unter einer absoluten Frauenfixierung zu leiden:

„Die schlagende Mutter, die begehrte Mutter, die geschlagene, missbrauchte Tochter. In seinem Kopf waren die Personen vertauschbar wie bei einem Vexierbild. In seiner Fantasie war er manchmal Angelikas Sohn und seine Mutter seine Tochter. Das chronologische Paradoxon scherte ihn wenig. (218)

Dass solche Komplexe existieren, lässt sich nicht leugnen. Es ist der Bezug zu lebenden Personen (trotz aller Hinweise des Autors auf die Fiktionalität), der eine unentschuldbare Grenzüberschreitung ausmacht. Jenseits der Sexualität gibt es andere Passagen, die die Konturen von Jauffrets Frauenbild hervortreten lassen. Seine Angelika beginnt „zu bocken wie eine richtige Ehefrau“ (137) und: „Wie eine richtige Ehefrau, die ihrem geizigen Mann Geld abringen will, versuchte Angelika, Fritzl mit ihrem Charme weichzukochen.“ (438) Sollte man etwa den (mit zwei ‚Ehefrauen’ ausgestatteten) Pantoffelhelden Fritzl bemitleiden?

Das Thema Wirklichkeitsverlust/Wahrnehmungsstörungen kommt in allen Beiträgen zum Fall Fritzl vor, sowohl den journalistischen als auch den literarischen. Jauffret ist da keine Ausnahme. Dabei steht Angelika bzw. ihr Umgang mit den ‚Kellerkindern’ oft im Mittelpunkt. Sie muss selbst damit zurechtkommen, dass sie von der Welt völlig abgeschnitten wird. Sie hat aber zumindest Erinnerungen, auch wenn sie mit der Zeit verblassen. Ihre Kinder kennen aber nur die Welt da unten. Als Mutter muss sie sich entscheiden, wie sie diese unerhörte Situation erklären soll. Gibt es eine Realität jenseits des unterirdischen Gefängnisses? Fritzl fungiert als eine Art Bindeglied zwischen den Welten, da er nicht nur Kleider und Proviant, sondern auch Nachrichten aus der ‚anderen’ Welt liefert. Am Anfang gilt die Traumwelt als Alternative: „Sie hüpfte durch eine Parallelwelt […]“ (297) Das funktioniert eine Zeitlang als Therapie, doch bei den Kindern reicht es nicht aus. Um „den Kindern das Leben begreiflich zu machen(346) nimmt Angelika die Rolle der Lehrerin ein, aber sie erzählt auch von Gott, obwohl sie selbst „nicht sehr fromm“ (347) ist. Der Fernseher macht alles interessanter, aber auch komplizierter, da die Kinder wissen wollen, ob die Welt auf dem Bildschirm tatsächlich existiert. Angelika entschließt sich deshalb, ihn manchmal auszuschalten, damit die Kinder ihre eigene Fantasie entwickeln können. Der Keller soll „in ein klitzekleines Paradies“ (487) verwandelt werden. Angelika führt eine Art Tagebuch über die verschiedenen Versuche, und dazu heißt es: „Indem Angelika die Wirklichkeit erzählte, veränderte sie diese.“ (514) Das schien ihr auch zu genügen („Angelika hatte keinerlei Sehnsucht nach diesem weiten Raum.“ – 521), aber das erweist sich als eine Selbsttäuschung. Die Befreite nimmt wieder an der „Zivilisation auf dem Weg in den Untergang“ (526) teil, und der Erzähler prophezeit: „Ihre Geschichte wird bald ein böses Märchen sein, eine Legende, deren Ursprünge man anzweifeln wird.“ (527) Dieser Prozess ist (nicht erst seit den Meldungen aus Cleveland) schon in vollem Gang, und auch Jauffrets Roman wird allmählich in Vergessenheit geraten, obwohl er mittels seiner Angriffe auf das ‚braune’ Österreich versucht hat, die Sensation in die Länge zu ziehen. Aus seiner Sicht „träumte Fritzl von einem privaten Lager, dessen einzige Insassin Angelika wäre, er wäre Kapo, SS, der Führer“ (223), und die ‚Kellerkinder’ bildeten eine „Nachkommenschaft ohne einen Tropfen Mischblut“ (226)[27]

Dass es möglich ist, das Thema Realität(sverlust) in den Mittelpunkt zu stellen, ohne den Nationalsozialismus als Subtext zu gebrauchen, hat die irisch-kanadische Schriftstellerin Emma Donoghue vorgeführt. Sie veröffentlichte 2010 den Roman Room,[28] und die Schreibmotivation hing mit dem Fall Fritzl zusammen. Bei einem Interview hat sie erläutert, wie der Roman zustande kam:

“To say Room is based on the Fritzl case is too strong,” she says firmly. “I’d say it was triggered by it. The newspaper reports of Felix Fritzl [Elisabeth’s son], aged five, emerging into a world he didn’t know about, put the idea into my head. That notion of the wide-eyed child emerging into the world like a Martian coming to Earth: it seized me.”[29]

Die Handlung wird nach Nordamerika verlegt, und die sozio-kulturellen Bezüge sind alle US-amerikanisch. Die Erzählperspektive ist die eines Jungen namens Jack, der am Anfang des Romans seinen fünften Geburtstag feiert.[30] Seine Mutter (ausschließlich „Ma“ genannt) war längst eine Gefangene, als Jack geboren wurde. Dieser kennt also nur den Raum (so der Titels des Werkes), in dem er auf die Welt kam.

Gegenüber dem Fall Fritzl ändert Donoghue viele Details. Ma wird von einem Mann („Old Nick“) entführt, den sie nicht kennt. Dieser ist kein erfolgreicher Geschäftsmann und anerkannter Bürger, sondern ein ‚Loser’, der manchmal arbeitslos ist. Er träumt nicht von der Gründung einer zweiten Familie, und das Gefängnis ist kein Keller, sondern eine Art Geräteschuppen mit Dachfenster.[31] Wenn „Old Nick“ kommt, versteckt sich Jack im Kleiderschrank, also gibt es kaum Kontakt zwischen den beiden. Zur Zeit der Entführung ist „Ma“ eine neunzehnjährige Studentin aus der Mittelschicht mit einem ausgezeichneten Notendurchschnitt (210), also hat sie einen ganz anderen Bildungshintergrund als Elisabeth Fritzl. Zu Claustria gibt es zwei grundlegende Unterschiede in der Darstellung. Zum einen entwickelt sich überhaupt keine Beziehung zwischen „Ma“ und „Old Nick“. Sie hält ihn für ein Ungeheuer („He looks human, but there is nothing inside“ – 125), und sie träumt oft von der Befreiung (117). Zum anderen besteht etwa die Hälfte des Romans aus einer Auseinandersetzung mit den Anpassungsproblemen nach der Befreiung.

Insgesamt lässt sich behaupten, dass Donoghue bei aller Bewunderung für die tapfere Mutter und ihr blitzgescheites Kind („You were born with your eyes open.“ – 230) auf Sozialkritik aus ist. In der ersten Hälfte kommt das eher nebenbei zum Ausdruck. Jack bekennt z.B.: „I’d love to watch TV all the time, but it rots our brains.“ (12)[32] Die Mutter erzählt ihrem Sohn viele Geschichten, aber nicht nur Märchen: Jack kennt “Nelson [Mandela] on Robben Island” z.B. auswendig. Dem Kind bleibt auch das Wesen des Privateigentums schleierhaft.[33] Nach der abenteuerlichen Flucht wird das Leben viel komplizierter. Erzähltechnisch gelingt die Gratwanderung, die Donoghue unternehmen muss, auch nicht immer. Jacks ‚naive’ Betrachtungen sind eigentlich Bausteine einer scharfen Zivilisationskritik, und das beginnt mit der Rolle des Glaubens in der modernen Gesellschaft. Jack ist verwirrt, denn: „[…] when I say, ‚Thank you, Baby Jesus,’ people stare because I think they don’t know him in Outside.“ (214) Bei einem Fernsehinterview (“for Jack’s college fund” [!] – 258) widerspricht Ma der Journalistin dauernd, und sie will ihr eigenes Leiden auch nicht verabsolutieren: “[…] slavery’s not a new invention. And solitary confinement -– did you know, in America we’ve got more than twenty-five thousand prisoners in isolation cells?“ (264) Der erste Ausflug zu einem typischen Einkaufszentrum (Jack: “I didn’t know that inside could be as big as Outside […]“ – 272) gerät zu einer Katastrophe mit lauter verwöhnten Kindern. Ohne Genehmigung gelangen Fotos von Jack ins Internet („Everything gets leaked these days.“ – 314). Zum Entsetzen seiner Mutter entdeckt Jack in einer Telefonzelle Visitenkarten von Prostituierten (148). Bei einem letzten Besuch im ‚Gefängnis’ verabschiedet sich Jack etwas wehmütig von allen Teilen des Raumes (wie im klassischen Kinderbuch Goodnight Moon). Die Botschaft ist klar: Jack wird und soll in der realen Welt ‚funktionieren’, aber er soll weiterhin alles infrage stellen, was selbstverständlich erscheint (im Sinne des Hegel-Diktums aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes: „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“). Zum Schluss sollte ein Detail erwähnt werden, das in starkem Kontrast zum Diskurs über das österreichische ‚Wegschauen’ steht. Eine Polizistin weist darauf hin, dass eine hohe Hecke das ‚Gefängnis’ fast unsichtbar machte. Lakonisch bemerkt sie dazu: „[N]eighbors thought nothing of it. A man’s entitled to his privacy, et cetera.” (358) Der nächste Satz, den man nach der obigen Diskussion erwarten könnte, fehlt: „Etwas ist faul in den Vereinigten Staaten.“

Als letztes Beispiel soll hier ein Text aus Österreich herangezogen werden, und zwar Elfriede Jelineks Drama FaustIn and Out (2011).[34] Dessen Untertitel lautet „Sekundärdrama zu Urfaust“. Es handelt sich nicht um eine Parodie des Goetheschen Werkes (wie etwa Frank Wedekinds Franziska [1912]), sondern um eine Demontage des Klassikers mittels einer Dekonstruktion seines Hauptwerks. Ein Theaterkritiker hat das ziemlich krass formuliert: „Heinrich Faust ist Wolfgang Přiklopil. Faust ist Josef Fritzl.“[35] Ein anderer Kritiker, der einer Aufführung des Stückes in Frankfurt beiwohnte, glaubte anscheinend, Jelineks Schreibprogramm erläutern zu müssen:

Dass die Frau kein Subjekt, sondern eine Sache sei, über die Väter, Männer, Gesellschaft, Wirtschaft, Supermärkte (die jede Regaleinräumerin, die einen unverkäuflichen, abgelaufenen, für den Abfall vorgesehenen Pudding mitgehen lässt, entlassen) nach Gutdünken verfügen, das ist das ewige Behauptungs-Weh und -Ach der Frauenschriftstellerin Elfriede Jelinek.[36]

(Jelinek hat die Bezeichnung „Frauenschriftstellerin“ sicher nicht erfreut.) Wer kein Subjekt ist, kann nicht handeln, nur leiden und Opfer sein. Eine direkte Traditionslinie wird zwischen Goethes Gretchen und Elisabeth Fritzl (deren Vorname einmal erwähnt wird – S. 11) gezogen. Als Kritikerin des Patriarchats stellt Jelinek im Stück die berechtigte Frage: „Warum müssen die alle runter, das frage ich mich schon. Warum all die Mädels in den Kellern? Warum nur, warum?“ (12) Die Frage nach der Ursache der männlichen Allmachtfantasien wird nicht beantwortet, aber es wird verdeutlicht, dass sie schon immer im Raum stand: „Ich bin das Ebenbild Gottes, nur natürlich schlechter.“ (41) In diesem „Sekundärdrama“ ist die Frau das sekundäre Wesen schlechthin. Sie ist auch ein ausschließlich körperliches Wesen, eigentlich eher ein Körperteil (worauf der Titel des Stückes anspielt). Dies wird mal indirekt, mal sehr direkt bestätigt. Die Elisabeth-Figur sagt z.B. über ihren Vater: „[…] oben hat er alles, bei mir eher das Unten, das ihn anzieht, die Tiefe […]“ (50) An anderer Stelle heißt es: „[…] frohlockend sprangen die Kinder aus meiner Fotze, die Papa gehört wie alles […]“ (49)[37] Jelineks Anliegen ist ein ernstes, aber sie verfolgt es durch die Verwendung von Kalauern, Witzen und Wortspielen.[38] Im Bereich des rein Fiktionalen kann man ihre Methode als eine unter vielen analysieren, aber hinter FaustIn and Out steht der Fall Fritzl (und zum Teil der Fall Kampusch). Einem kann das Lachen vergehen, wenn man als Theaterzuschauer an Fritzls Taten denkt: „Was untersteht er sich, uns dort unten unterzustellen?“ (48); „Muss ja den Papa noch ficken, ficken und ficken lassen, das geht in einem Aufwaschen, vielleicht helfen die Kinder heute bei der Abwasch, dann geht’s schneller.“ (54); „Die Gesunden hier aufs Töpfchen, die Kranken hinauf. Ich glaube, die hatten Köpfchen, diejenigen, die krank geworden sind. Zuviel geschrien hier unten.“ (48); „Papa hat an alles gedacht, nur nicht daran, sich selbst zu dämmen. Der ist ungedämmt und ungehemmt. Der Keller: gedämmt.“ (49);   „[…] das ist sein freier Willi, sein frei in der Hose baumelnder Willi, allzeit bereit […]“ (9) Derartige Sprüche gibt es auch gegen Heideggers Philosophie und das erbarmungslose Finanzkapital. Was hier fehlt, ist jeglicher Hinweis auf Österreich.[39] Die Kritikerin des Patriarchats hat auf regionale Bezüge verzichtet, weil das Thema ein universales ist. Die „kleine Welt“ (vgl. oben) steht nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses. Das Erbe des Nationalsozialismus ist mit einer (problematischen) Ausnahme auch nicht mehr von Belang. Diese Ausnahme ist eine Hommage an Paul Celan und sein erschütterndes Gedicht „Todesfuge“. Mitten in der Beschreibung von Elisabeth Fritzls Kellerverlies tauchen Fragmente des Gedichts auf: „[…] das Kind und sein Meister, das Kind und sein neuer Herr […] ja, dein goldenes Haar, Margarete! […]“ Auf diese Weise wird das Schicksal der erniedrigten, entwürdigten Frauen mit dem Holocaust in Verbindung gebracht. Der Tod ist nun kein „Meister aus Deutschland“, sondern der Mann schlechthin.

Nach der Verurteilung Ariel Castros in Cleveland wurde beschlossen, das Haus, in dem er die drei Frauen gefangen hielt, abzureißen. Die Nachbarn sahen sich das an und klatschten dazu. In einem Bericht darüber wurde eine Frage gestellt: „But the question remains: How could the crimes go unnoticed so long in Castro’s blue-collar neighborhood?”[40] Man muss hier den Subtext heraushören, dass die Angehörigen der Arbeiterklasse (ein Begriff übrigens, den man in den USA nicht verwendet[41]) ansonsten noch ‘richtige Menschen’ sind, denen ihre Mitmenschen wichtiger sind als ihre Smartphones oder Derivate. Den Amstettenern hat man keinen solchen Bonus gegönnt.

Die Philippiken gegen Österreich nach dem Bekanntwerden vom Fall Fritzl hatten einen Nebeneffekt, der vielen nicht aufgefallen ist. In vielen Beiträgen wurde die Bundesrepublik Deutschland als leuchtendes Vorbild hingestellt. Anders als in der Alpenrepublik habe man statt des Verdrängens der furchtbaren Verbrechen der NS-Zeit den harten Weg durch die Vergangenheitsbewältigung gewählt. Dass dieser Weg eigentlich erst zur Zeit des Eichmann-Prozesses begann, wird dabei übersehen. ‚Randerscheinungen’ wie der NSU-Prozess werden auch nicht berücksichtigt.[42] Auf jeden Fall wird es wohl lange dauern, ehe ein ausländischer Beobachter–bei aller Kritik–ein Bild von Österreich entwirft, wie es ein britischer Historiker neulich für Deutschland getan hat:

This land is civilized, free, prosperous, law-abiding, moderate, and cautious. Its many virtues might be summarized as “the banality of the good.” […] An Israeli friend who has taken German citizenship describes Germany to me as “balanced” country, and that feels just right. The French leftist politician Jean-Luc Mélenchon caused a stir when he said that “amongst those who have a zest for life, no one wants to be a German.” In that case, there must be an awful lot of people who have no zest for life, because, according to a twenty-five-nation BBC poll, Germany is the most popular country in the world–ten points ahead of France.[43]

Was die Fritzls dieser Welt betrifft, so sollten sie eine aussterbende Spezies sein, aber damit kann man wohl nicht rechnen. Einzelfälle wird es wohl immer geben, aber diese Fälle sollten kriminalistisch behandelt (wenn nicht von vornherein unterbunden) und nicht als Vorwand für Ressentiments gegen die Heimatländer der Täter missbraucht werden.[44]

 

 


Anmerkungen

[1]  Vgl. dazu u.a. Cathrin Kahlweit, “Amstetten-Berichte. Auf dem Markt der Neugier,“ Süddeutsche Zeitung, 23.10.2008 und Nina Horaczek, „Amstetten. Hyänen am Horrorhaus,“ Die Zeit, 30.4.2008 (Nr. 19).

 

[2]  Ritchie Robertson, “Josef Fritzl’s Fictive Forebears”, Times Literary Supplement, 14. Mai 2008. Online: http://entertainment.timesonline.co.uk/tol/arts_and_entertainment/the_tls/article3930971.ece

Von österreichischer Seite kam Zustimmung: Vgl. Bert Rebhandl, „Späte Emanzipation vom Patriarchalen“, Der Standard, 17.3.2009.

 

[3]  Sibylle Hamann hat Ähnliches behauptet: “Josef Fritzl ist nicht das Gegenbild zur gesellschaftlichen Normalität in diesem Land, sondern dessen extreme Zuspitzung.“ Aus: „Fritzl – ein Kerl wie wir,“ Frankfurter Rundschau, 16.3.2009.

 

[4]  Allan Hall, Monster (London, Penguin Books, 2008).

 

[5]  Betritt die DFB-Auswahl englischen Boden, so werden Artikel über Fußball regelmäßig mit Nazirequisiten geschmückt.

 

[6]  Vgl. www.germanherald.com. Halls eigene Beiträge erscheinen manchmal unter der Rubrik “Krazy Krauts”.

 

[7]  Allan Hall und Michael Leidig, Girl in the Cellar. The Natascha Kampusch Story (New York City: Harper Collins, 2007). Die britische Erstausgabe erschien 2007  bei Hodder und Stoughton in London.

 

[8]  So der Titel von Hella Picks Studie (London: J.B. Tauris & Co, 2000). (Untertitel: Austria from the Holocaust to Haider). Picks Darstellung ist allerdings viel differenzierter: Bei aller (z.T. scharfen) Kritik an österreichischen Verdrängungspraktiken stellt die Autorin fest: „Austria has made great strides in coming to terms with its history […].“ (xv) Pick hofft darauf, Österreich werde seine „catharsis“ zu Ende führen können. (235)

 

[9]  Hall zitiert aus Fritzls Aussage vor Gericht: “I grew up in the Nazi times, and that meant there needed to be control and the respect for authority. I suppose I took some of these old values with me into later life, all subconsciously of course.” (226) Es gab natürlich “alte Werte” anderer Art, wie das Leben des österreichishchen Kriegsdienstverweigerers Franz Jägerstätter veranschaulicht.

 

[10]  Der Historiker Cornelius Lehnguth, der bei Österreich Aufarbeitungsdefizite konstatiert, leugnet nicht, dass man vorangekommen ist. Vgl. C.L., Waldheim und die Folgen. Der parteipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich (Frankfurt: Campus, 2013).

 

[11] “Rapist father given life sentence,” BBC News, 25.11.2008. Im Internet: http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/england/south_yorkshire/7747711.stm

 

[12]  Vgl. Sam Greenhill, Matthew Drake and David Wilkes,  “British Fritzl: The 150 missed chances to save the sisters made pregnant 19 times by their father,” Daily Mail,  27. November 2008. Online-Version:

http://www.dailymail.co.uk/news/article-1089753/British-Fritzl-The-150-missed-chances-save-sisters-pregnant-19-times-father.html

 

[13]  New York: Berkley Books, 2009. (Untertitel: The Horrifying True Story of Josef Fritzl.) Der Verlag gehört zur “Penguin Group”, also fragt man sich, warum zwei ähnliche Bücher zum gleichen Thema dort erschienen. I’m No Monster erschien nach Bekanntgabe der Taten des ‚britischen Fritzl’, aber das scheint auf die Autoren keinen Eindruck gemacht zu haben.

Ein drittes Buch aus Großbritannien kann in diesem Rahmen nicht berücksichtigt werden.

Es handelt sich um House of Horrors: The Horrific True Story of Josef Fritzl, the Father from Hell von

Nigel Cawthorne (London: John Blake Publishing, 2008).

 

[14]  Hall (S. xiv) hatte gemeint, das Leben der Österreicher beruhe auf “Schein nicht Sein” (Hall benutzte den deutschen Ausdruck ).

 

[15]  Die oft thematisierte/beklagte Zweiteilung des Landes (d.h. Wien und der ‚Rest’) bleibt unerwähnt.

 

[16]  Es ist schon merkwürdig, dass die Autoren gegen „tabloid hacks“ wettern (186). Sie halten sich offensichtlich für ‚seriöse’ Journalisten.

 

[17]  Zum Fall Ariel Castro vgl. folgende Beiträge: Thomas Sheehan, „Cleveland hostage suffered 5 miscarriages at hands of her captor, police say”, AP-Meldung, Online (http://www.nola.com/crime/index.ssf/2013/05/cleveland_hostage_suffered_5_m.html); “Polizei war mehrmals beim Haus des Entführers von Cleveland“, Der Standard, 8.5.2013. Online schrieb ein Kommentator dazu: „Unfassbar wozu Menschen imstande sind. Irgendwie fühlt man sich an die ‚Kellerfälle’ Priklopil und Fritzl erinnert.“ „Suche im Horrorhaus von Cleveland beendet“, Frankfurter Rundschau, 11.5.2013. Frank Herrmann, „Cleveland: Kritik an der Polizei wird laut“, Der Standard, 10.5.2013. Meghan Barr, „Ariel Castro’s Ex-Relatives Say Ohio Accused Kidnapper, Rapist Is A ‘Monster’“, Huffington Post, 10.5.2011. Online: http://www.huffingtonpost.com/2013/05/10/ariel-castro-monster_n_3251920.html?icid=maing-grid7|main5|dl1|sec1_lnk2%26pLid%3D311101;

„Behörden weisen Vorwürfe zurück“, ORF-Bericht Online: http://orf.at/stories/2180952/2180955/.

 

[18] Vgl. die Ankündigung des Vortrags „Die Atomisierung der Gesellschaft“ von dem Wiener Physik-Ordinarius Herbert Pietschmann:

„Der materielle Wohlstand in der Spaßgesellschaft und der Drang nach Selbstverwirklichung haben dazu geführt, dass die meisten Menschen ohne wahre Kommunikation in der Gemeinschaft isoliert sind. Wie Atome in einem Edelgas stoßen sie zwar aneinander, haben aber darüber hinaus kaum eine Wechselwirkung. Als Ersatz dient bestenfalls maschinelle Kommunikation, Mobiltelefon und Internet.”

Online: http://vorarlberg.orf.at/radio/stories/2509849/

 

[19]  Régis Jauffret, Claustria. Roman (Paris: Éditions du Seuil, 2012). Im Folgenden zitiere ich aus der

deutschen Übersetzung von Gaby Wurster (Salzburg: LESSINGSTRASSE 6, 2012). Es kann hier nicht darum gehen, die Arbeit der Übersetzerin zu kommentieren, aber die Genauigkeit ist vielleicht nicht immer gegeben. Ein Beispiel: Aus dem Wort „surtout“ im Original (418) wird „vor allem Dinge“ statt „vor allen Dingen“ (413). Das könnte aber auch ein Druckfehler sein.

Eine Übersetzung ins Englische soll 2013 erscheinen.

 

[20]  Es handelt sich um die zynische Aussage eines (anscheinend österreichischen) Rechtsanwalts dem Autor/Erzähler gegenüber. Der Text verdient es, in voller Länge zitiert zu werden: „In Österreich geht es keinem um die Wahrheit. Man will nur einen Kompromiss finden, um die Wogen zu glätten, und versuchen, es allen recht zu machen. Die Wirklichkeit ist etwas für Touristen, wir hier handeln lieber und beseitigen Beweise, die uns belasten könnten. Die Wirklichkeit hat uns immer enttäuscht, Der Niedergang der k.u.k. Monarchie, das Dritte Reich mit dieser Shoah, die man uns ständig und noch immer um die Ohren haut, und dann wurde Mozart auch noch zu einer Zeit in Salzburg geboren, als die Stadt gar nicht zu Österreich gehört hat. Was bleibt uns? Irgendwelche Perverse wie Egon Schiele oder Sigmund Freud? Die Wahrheit ist schlimmer als alles andere. Wer sie anfasst, verbrennt, erfriert, reibt sich die Finger wund. Unser Volk hat genug gelitten – Wahrheit, Wirklichkeit, nennen Sie es, wie Sie wollen, all dieses Zeug hat uns ausreichend geschadet, wir hassen sie wie die Pest.“ (Vgl. S. 163f.) Der französische Verlag hat diese Passage nicht in den Einband integriert.

Die Fortsetzung dieser Rede, die man nicht im Einbandtext findet, ist auch nicht uninteressant: „Ganz Europa verabscheut uns so abgrundtief, dass wir nach dem Krieg zusammen mit den Juden an das andere Ende der Welt hätten ziehen sollen. Wir hätten versucht, den Einheimischen dort einen Gefallen zu tun, und – wer weiß? – vielleicht wäre es uns gelungen, den Nahen Osten in eine Schweiz zu verwandeln mit Israel und Palästina als friedlichen Kantonen.“ (164)

 

[21]  Dieser Text steht am Anfang des zweiten ‘Teils’ auf S. 12. Es gibt keine Kapitelüberschriften im Roman, aber wenn man die Teile numerieren wollte, käme man auf die Zahl 102.

 

[22] Vgl. Florence Duguit, “’Claustria’ – Jauffret sans maestria”. Online: http://www.evene.fr/livres/actualite/claustria-jauffret-sans-maestria-781033.php

 

[23]  Vgl. Hubert Artus, “De l’affaire Josef Fritzl, Régis Jauffret tire le roman de l’année 2012”, Le nouvel Observateur, 3.1.2012. Online: http://www.rue89.com/rue89-culture/2012/01/03/de-laffaire-josef-fritzl-regis-jauffret-tire-le-roman-de-lannee-2012-227909.

Jauffret sagt selbst dazu: “J’ai tout de suite pensé à la caverne de Platon. Il y a des gens qui sont nés là-dedans, qui n’ont jamais rien vu d’autre, et il y avait les ombres portées puisqu’il y avait la télévision. Platon, au fond, parlait de ça.” La télévision – “le personnage principal. Sans elle, ils n’auraient peut-être pas survécu. Sans elle, je n’aurais pas pu écrire” –, la seule chose qui aidera Elisabeth, la jeune femme séquestrée, et ses enfants à vivre en parallèle avec le temps du dehors, la seule chose qui rythme ce temps infini de vingt-quatre ans…” Aus: Nelly Kaprièlian, “’Claustria’ – le roman monstre de Régis Jauffret”, Online: http://www.lesinrocks.com/2012/01/05/livres/claustria-le-roman-monstre-de-regis-jauffret-114549/2/.  Fritzl brachte tatsächlich einen Fernseher in den Keller, der jahrelang der einzige Zugang zur Welt blieb.

 

[24]  Vgl. Georg Lukács, Der historische Roman (Berlin: Aufbau-Verlag, 1955), 47. [Erstdruck 1937 in Moskau.]

 

[25]  Der Erzähler fühlt sich bemüßigt, folgende Aussage zu machen: „Die Opfer sind enttäuschend, Märtyrer sind nicht immer Helden.“ (30) Das mag sein, aber heißt das, dass das jeweilige Martyrium bagatellisiert oder relativiert werden soll?

 

[26]  Dass sich der Ich-Erzähler “auf Angelikas Bett” wirft (175), wirkt doch sehr voyeuristisch. Vgl. dazu „French author’s ‚Fritzl’ novel branded ‚pure filth’ by Austrian critics“, Guardian,  26.9.2012. Online: http://www.guardian.co.uk/books/2012/sep/26/regis-jauffret-claustria

 

[27]  Merkwürdigerweise kann Jauffret–wie seine journalistischen Vorgänger–auch nicht davon absehen, das Ökologische in seine Österreich-Kritik mit einzubeziehen: „Heute ist Amstetten eine grüne Stadt. Vom Frühjahr an steht sie in Blüte, die Straßen wurden mit Rasenteppich ausgelegt. Man | stellt den Wagen auf dem Parkplatz ab–so wie man vor einer Moschee die Schuhe auszieht–, bevor man das Allerheiligste betritt, dessen Einwohner ihr schönes Ökosystem anbeten und in die Pedale treten, damit sich die Räder drehen wie Gebetsmühlen.“ (10f.) Die religiös gefärbte Sprache soll wohl das Irrationale betonen.

 

[28]  Emma Donoghue, Room. A Novel (New York, Boston, London: Little, Brown and Company, 2010).Im Folgenden wird nach der Taschenbuchausgabe zitiert. Die britische Ausgabe erschien bei Picador.

 

[29]  Sarah Crown, “Emma Donoghue: ‘To say Room is based on the Josef Fritzl case is too strong’”, The Guardian, 12.8.2010. Online: http://www.guardian.co.uk/lifeandstyle/2010/aug/13/emma-donoghue-room-josef-fritzl.  Dass Donoghues Feststellung weitgehend ignoriert wurde, zeigen andere Beiträge zum Thema, z.B.: „Emma Donoghue’s The Room is a Josef Fritzl-inspired horror”, Online: http://metro.co.uk/2010/08/04/book-review-the-room-477089/  oder Ben East, „Room: A tale inspired by Josef Fritzl’s crimes”, Online: http://www.thenational.ae/arts-culture/books/room-a-tale-inspired-by-josef-fritzls-crimes#full

 

[30]  Wer sich für diese Problematik interessiert, kann sich informieren, und zwar bei Monika Spielmann, Aus den Augen des Kindes: Die Kinderperspektive in deutschsprachingen Romanen seit 1945 (Innsbruck: Universität Innsbruck, Institut für deutsche Sprache, Literatur und Literaturkritik, 2002). Eines der bekanntesten Werke dieser Art in der US-amerikanischen Literatur stammt von Harper Lee, To Kill a Mockingbird (1960; dt.:  Wer die Nachtigall stört). Lees „Scout“ ist am Anfang sechs Jahre alt.

 

[31]  Eine Ähnlichkeit mit Fritzl hat Old Nick schon: er meint, Ma sollte dafür dankbar sein. dass er sich für sie abrackert: „’I don’t think you appreciate how good you’ve got it here,’ says Old Nick. ‚Do you?’ […] ‘Aboveground, natural light, central air, it’s a cut above some places, I can tell you. […] Plenty girls would thank their lucky stars for a setup like this, safe as houses.’” (78)

 

[32]  Im Text geht es so weiter: “Before I came down from Heaven Ma left it on all day long and got turned into a zombie that’s like a ghost but walks thump thump thump.” (12) Später heißt es: “I hate it when the pictures disappear and the screen’s just gray again.” (40)

 

[33]  Er sagt dazu: “Stealing is when a boy takes what belongs to some boy else, because in books and TV all persons have things that belong just to them, it’s complicated.” (38)

 

[34]  Zitiert wird nach der Version auf Jelineks Homepage (www.elfriedejelinek.com). Es gibt keine Seitenzahlen, aber wenn man den Text ausdruckt, ergibt sich eine Länge von 58 Seiten. Ich benutze diese Seitenzahlen der Übersichtlichkeit wegen.

Im selben Jahr erschien das Theaterstück Winterreise, worin sich Jelinek u.a. mit Natascha Kampusch befasst. Darin heißt es: „[…] Die Kleine glaubt, nur weil sie von der Erde fortgebracht worden ist, ist sie was Besonderes. Das ist sie nicht. […] Wir haben bei ihr die Zerstreuung gesucht, an ihrem Schicksal geleckt wie Tiere am Salz, aber das interessiert nur kurz.“ Aus: Elfriede Jelinek, Winterreise. Ein Theaterstück (Reinbek: Rowohlt, 2011), 36 u. 44.

 

[35] Wolfgang Kralicek , „FaustIn and Out“, Online:

http://www1.muelheim-ruhr.de/kunst-kultur/theater/stuecke/faustin_and_out/173

 

[36] Gerhard Stadelmaier, “Jelineks ‘Faustin and Out’ in Frankfurt: Witzeln und Fritzeln”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.9.2012.  Stadelmaier ist imstande, trotz der Ereignisse in Amstetten den Neologismus „fritzeln“ lustig zu finden.

Ein anderer Kritiker verstieg sich sogar zu der Behauptung, Goethe sei (als Rom-Reisender) „der erste Sexurlauber“ gewesen. Goethe in der Campagna = Fritzl in Thailand?? Vgl. Marcus Hladek, “Faust in Kampfchauvi-liebt-Baumarkt-Lesart. FaustIn and Out: Julia von Sell inszeniert Elfriede Jelineks Sekundärdrama zu Urfaust”, Online:

http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=7284:faustin-and-out–julia-von-sell-inszeniert-elfriede-jelineks-sekundaerdrama-zu-urfaust-am-schauspiel-frankfurt&catid=38:die-nachtkritik&Itemid=40

 

[37] Noch unmissverständlicher: “Frauen sind zum Ficken da, so singen die Mädels in der Fußgängerzone, die sie mit den Burschen durchzechen und durchziehen […]“ (27)

 

[38] In der kurzen Bühnenanweisung heißt es dazu: “Wir können auch anders. Nur ich kann ja leider nicht anders.“ (1)

 

[39] Aus unerklärlichen Gründen kann Jelinek aber nicht auf Seitenhiebe gegen die Grünen verzichten, z.B. so: “Das Kind atmet nicht und wird in den Ofen geworfen und verbrannt, damit die Familie oben es warm hat. Ja, wir auch. Die Familie unten speist die Familie oben mit kostengünstiger, umweltfreundlicher, selbst erzeugter Erwärmung, und sie leben auch gut mit der Erderwärmung, sie leben dort oben mit mehr Erwärmung, als die Erderwärmung zu bieten hat, obwohl wir ja in der Erde wohnen und es wissen müßten. Von uns stammt diese Wärme. Weil wir atmen dürfen, dürfen wir auch heizen. Ich bestätige, das Kind wurde ins Feuer geworfen, um das Haus zu heizen, aber nicht allein. Ein so kleines Kind kann kein ganzes Haus heizen, das ist klar, da muß noch einiges an Masse, an Biomasse dazukommen. Wie kommen wir dazu, mit einem Kind das Haus zu heizen?“ (49) Wenn Ironie irgendwo fehl am Platze wäre, dann hier.

Von einem „unreine[n] Geist in seinem umweltfreundlichen Hybrid-Aufschwung“ (21) ist auch die Rede.

 

[40] Vgl. “Ariel Castro House Demolition”, Huff Post Crime, 7.8.2013. Online:

http://www.huffingtonpost.com/2013/08/07/ariel-castro-house- demolition_n_3718395.html?icid=maing- grid7|maing5|dl1|sec1_lnk3%26pLid%3D354550

Inzwischen wurde der ‘Fritzl-Keller’ mit Beton gefüllt. Die Behörden wollten, dass daraus kein Spektakel würde: Man „hoffe – auch für die Amstettener – sehr, dass es keinen solchen Rummel geben werde wie 2008, als das Verbrechen aufflog. Bisher hätten sich einige wenige Schaulustige und regionale Medien eingefunden.“ Vgl. „Fritzl-Keller wird zubetoniert“, APA-Meldung in News, 20.6.2013. Online:

http://www.news.at/a/inzest-fritzl-keller-zubetoniert#

 

[41] US-Amerikaner, die Jelineks FaustIn and Out lesen, werden wohl verwundert sein, wenn sie erfahren, dass Frauen entweder schlechte Jobs haben oder gar keine. Was würden die LeserInnen von Sheryl Sandbergs Bestseller Lean In: Women, Work, and the Will to Lead dazu sagen?

 

[42] Die vielen Berichte über den “Kannibalen von Rotenburg“ führten nicht dazu, dass Armin Meiwes das ‚Gesicht von Deutschland’ wurde.

 

[43] Vgl. Timothy Garton Ash, “The New German Question,” The New York Review of Books, 15.8.2013, 52.

Immerhin wird die Stadt Wien wiederholt als „lebenswerteste Stadt der Welt“ oder „erfolgreichste Metropole der Welt“ ausgezeichnet. Vgl. „Lebensqualität – Wien ist und bleibt Nummer eins“,  Online:

http://www.wien.gv.at/politik-verwaltung/mercerstudie.html

 

[44] Unvergesslich bleiben wird wohl Allan Halls Charakterisierung von Fritzls Wahnvorstellungen als „like some dysfunctional Von Trapp dynasty“ (162).

 

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Nov 07 2013

Harri Engelmann

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Dill & Sahnetorte  — Eine Poetik für die Hosentasche

Behauptet jemand, ein Instrument zu beherrschen, Gitarre, womöglich Geige oder Klavier, regt sich in uns stilles Bewundern. Gibt er gar eine Kostprobe von seinem Können, nicken wir: ja, er kann’s. Auch wenn wir völlig unmusikalisch sind: wir haben ein tiefsitzendes Gefühl für Harmonien in uns. Könnerschaft offenbart sich uns durch diese Gabe, eventuelle Scharlatanerie ebenso. Er zwingt es nicht, heißt es dann: er vergreife sich in den Saiten, treffe nicht den Ton. Wird nun von einem berichtet, dass er schreibe, sich also literarisch betätige, macht sich mitunter Ratlosigkeit breit. Er ist unter die Dichter gegangen, lautet eine gängige Redewendung – nicht ganz frei von Ironie. Denn diese Art sich künstlerisch zu betätigen ist hoch angebunden und wenig durchschaubar zugleich. Lässt der angehende Autor sein Tun durchblicken,  im Bekanntenkreis oder vor Kollegen, kann es sein, dass Unbedarfte an ihm vorbeischauen: „Reichst du mir bitte mal die Kaffeesahne herüber!“ Sie wittern Anmaßung. Freunde dagegen, vorausgesetzt, es handelt sich nicht um versierte Leser – versiert in dem Sinne, dass sie Texte auf ihre Struktur hin, nach Qualität zu beurteilen vermögen -, lesen etwas von dem Eleven, nicken und sagen: „Ganz toll! Hat mir gut gefallen.“ Auch wenn es sich um den größten Schwachsinn handeln mag. Denn die Zahl der Leserschaft  die beim Lesen gleichzeitig das „Räderwerk“ sieht, ist verschwindend gering. Unsicherheit breitet sich aus und verführt. Vielleicht hat jemand von ihnen „Ulysses“ von James Joyce in der Hand gehabt, das Buch nach dreißig Seiten geschlossen und gemeint, das sei zu hoch für ihn. Und bevor er seinem Freund oder der Freundin attestiert, dass er beim Lesen des Selbstverfassten Kopfschmerzen bekam, neigt er lieber zum Lob. „Wer weiß, vielleicht ist der so eine Art Joyce und ich kann es nicht erkennen.“ Aufatmen dagegen, wenn Dritte ihr Urteil abgeben, die Medien zum Beispiel. Dann herrscht Klarheit: Wer in der Zeitung steht, muss was können.

Manchmal, oft nach einer Buchlesung, bittet mich jemand, sein Geschriebenes zu beurteilen. Klar, mache ich, sage ich dann. Denn ich habe ein Glas Rotwein intus, stand auf wunderbare Weise im Mittelpunkt und mag nicht als Ignorant gelten. Obgleich Textanalyse  eine respektable Arbeit ist:  Unfertiges liest sich schwer. Und bis auf ein, zwei Ausnahmen war ich bislang der Überbringer schlechter Nachrichten. Eine Gitarre spielt sich nicht von allein. Man lernt Griffe, versucht den Ton zu treffen und übt solange, bis man ihr wahrhaftig eine kleine Melodie entlockt. Oder man lässt es, weil man spürt: das Talent reicht nicht. Schreiben dagegen kann jeder – das verführt. Als mein Buch „Aufzeichnungen eines Autoverkäufers“ in den Handel kam, hielt ein Taxifahrer neben mir, ließ die Seitenscheibe herunter und rief dröhnend, dass er mein Buch gelesen habe. Er müsse hier noch zwei Jahre seine Runden durch Rostock drehen, dann gehe er in Rente und schreibe darüber. Ob er denn mit dem Schreiben von Geschichten vertraut sei, fragte ich. „Nein“, antwortete er und sah mich, als hätte ich soeben seine Fahrkünste in Zweifel gezogen. „Ich habe in dieser Hütte soviel erlebt, das reicht für drei Bücher.“ Ich hätte ihm reinen Wein einschenken sollen: Abenteuer erleben und aufschreiben – zwei völlig verschiedene Abteilungen. Wie lange es dauerte, bis ich das begriff. Und wie ich mein eigener Zeuge wurde,  als die „Tornados“, die in meinem Geist wirbelten, sich in laue Lüftchen verwandelten, sobald ich versuchte, sie in  Sätzen zu bannen.

Institut für Literatur in Leipzig kurz nach meiner Immatrikulation. Ein Dozent, weißhaarig, spöttischer Blick, die Schultern ein wenig eingezogen wie ein römischer Konsul den die Tage plagen, und der die letzten damit verbringt, auf Volk und Senat herabzuschauen – eine Legende in diesem Haus. Er steht vor der Seminargruppe und hebt einen dicken Wälzer in die Höhe. „Dieser Mann“, deklamiert er, „hat tausend Seiten über literarischen Stil geschrieben. Ich würde empfehlen“, er macht eine Pause und schaut in die Runde, „ihn nicht zu lesen.“ Und mit  theatralischem Schwung wirft er das Exemplar hinter sich auf den Tisch. Es staubt, und in die Stille hinein fügt er hinzu, dass er uns grundsätzlich raten müsse, um solche Schwarten einen großen Bogen zu machen. – Damals war ich müde; wir hatten am Vorabend gefeiert. Doch als der Mann dort seine Performance bot, richtete ich mich auf. Was war das  für einer? Denn ich hatte bislang so ziemlich alles gelesen, was mir diesbezüglich unter die Finger geraten war: Arthur Schopenhauer „Über Schriftstellerei und Stil“, Wygotski „Psychologie der Kunst“, „Handbuch der Schreibkunst“, „Vom Handwerk des Schreibens“, und ich war stolz darauf, dass ich die Schriften bewältig hatte. Ein alter Kerl, dachte ich, ihm hängt das ganze hier zum Hals heraus, und nun versucht er seinen Überdruss deckungsgleich auf uns zu übertragen. Heute weiß ich, dass er recht hatte. Natürlich ist Wissen vonnöten; weitaus wichtiger aber ist, dem eigenen Rhythmus nachzuspüren, dem „Sendungsbewusstsein“ zu misstrauen, den Einfällen in die Zügel zu greifen, sobald sie den Anschein erwecken, über die Erzählung hinaus zu galoppieren, und nicht zuletzt: dem warmen Wannenbad des Aufgebens zu widerstehen. Denn es gibt beim Schreiben keinen tosenden Beifall, keine sich immer wieder hebenden Vorhänge, kein verständnisvolles Nicken. Wenn es dumm kommt, gibt es das: Kaffeeflecken, übervolle Aschenbecher und den Verdacht, dass man doch eigentlich und genaugenommen ein Spinner sei.

Letztens tat ich einem alten Herrn kund, natürlich sehr umwunden, vorsichtig, ich werde älter und vermeide es, anderen ohne Not in den Hintern zu treten, dass seine „Geschichte“ keine Geschichte sei. Er habe beim Schreiben nichts gesehen, sondern Sätze gedrechselt. Dabei fiel mir auf, dass ich immer die gleichen Ratschläge gebe. Es ist wohl derer eine Handvoll, überschaubar also und passend für die Hosentasche.

 

Eine Geschichte finden

Grundlage jeglicher Erzählkunst ist das Vorhandensein einer Geschichte. Möchte ich eine Botschaft unters Volk bringen, muss ich mich dieser Form bedienen. Dabei hat mein Anliegen verpackt, um Gottes Willen nicht vordergründig zu sein. Fehlt mir die Geschichte dazu, oder gelingt es mir nicht, eine zu erfinden oder zu „sehen“, die meine Botschaft auf zauberhafte Weise verbrämt, bleibt mir nur noch die Möglichkeit, ein Sachbuch zu schreiben. Oder mich in die Fußgängerzeile zu stellen und ein Plakat aufzurollen: „Wir essen zu viel Fleisch!“ oder „Ich bin strikt gegen die Abschiebehaft!“ und dergleichen. Denn Literatur hat die wunderbare Eigenschaft, dass uns die Anliegen hinterrücks erreichen. Was ist denn nun die Botschaft von „Krieg und Frieden“? Dass Kriege grausam sind? Das wusste die Menschheit bereits vor Tolstoi; und so simpel war der Mann nicht, dass er sich mit bekannten Tatsachen abgab. Ihm war daran gelegen, zu zeigen, wie wenig nütze alle noch so schlaue militärische Taktik und Strategie sind. Dass, wenn Menschen derart aufeinanderprallen, immer die große Unbekannte über dem Schlachtfeld schwebt: Stimmungen, Tagesverfassung, Heimatliebe oder Verzagtheit in der Fremde. Goethe drückte es etwa so aus: Die geschicktesten Unternehmung misslingen mitunter, während das scheinbar Paradoxe zum Ziel führt. Und das Fazit von Tolstoi: Lasst deswegen gefälligst die Finger davon. Aber in erster Linie hat er eine wunderbare Geschichte erzählt: von Leidenschaft, Liebe und Verwandlung. Davon erzählt auch Gustave Flaubert in „Madame Bovary“. Und erst viel später, wenn wir das Buch zugeschlagen haben, wird uns klar, was er sagen wollte: Gebt nicht stets euren erstbesten Empfindungen nach. Schon gar nicht, wenn eure Handlungen, die ein vermeintliches Glück versprechen, den Menschen um euch herum teuer zu stehen kommen. Dumm ist nur, dass er dabei eine Frau erwischte.

Ein Vorfall, der sich vor meinen Augen zutrug, der mich noch tagelang beschäftigte, mag sich als Geschichte anbieten. Er drängt sich vielleicht sogar auf, näher betrachtet, weil er die Vorgaben erfüllt. Er hat das, wonach eine Geschichte verlangt: einen Anfang, ein Ende, irgendwo dazwischen den Kulminationspunkt. Und er bedient womöglich das Gesetz der Dramatik: Ein Gewehr, das im ersten Akt an der Wand hängt, muss im dritten losgehen. Ein erster Test kann sein, die Geschichte vor anderen zu erzählen. Dabei stellt sich vielleicht heraus, dass der Spannungsbogen trägt, die Leute einen an den Lippen hängen und erst nach dem Schluss ausatmen. Berstend vor Tatendrang mache ich mich ans Werk. Und nicht selten erlebe ich, wie der Schreibfluss versiegt, meine Stimmung verebbt, und ich frage mich, was  mit meiner so scheinbar tollen Geschichte passiert ist. Ein Grund kann der sein: man sollte von seinen Projekten  nichts erzählen. Sich schweigend an die Arbeit machen und fertig. Wobei das eher einem Aberglauben gleichkommt und nicht fundiert genug ist, um als Regel standzuhalten. Wahrscheinlicher ist, dass die Kunst des lauten Erzählens anderen Kriterien unterworfen ist. Gestik und Mimik unterstreichen, gut formulierte Worte heben hervor, und plötzlich verwandelt sich eine Maus in einen Berg. Und wird wieder zur Maus, wenn ich mir das Geschriebene betrachte. Ideal ist es, wenn Geschichten einen „anspringen“. Das passiert zwangsläufig, wenn ich mich über lange Zeiträume mit dem Schreiben beschäftige. Ähnlich erging es mir, als ich über Wochen hinweg täglich Schach spielte: ich träumte nachts von Rochaden und Springerattacken. Offenbar richtet sich der Geist aus und galoppiert uns voran. Irgendwie verhält man sich wie ein Filmregisseur, der seine Finger formt und sie wie einen Rahmen vor die Augen hält, durch ihn hindurch die Welt betrachtet. Sie sozusagen in Facetten zerlegt, um so ihrer Unermesslichkeit beizukommen. Feld, Wald und Himmel verwandeln sich ins Handliche, und die Kamera erledigt den Rest: sie bannt. Und wenn es gut geht, wird Kunst daraus. Ebenso banne ich schreibend ein Geschehen. Ob ich es bewusst oder instinktiv tue: es muss sich meiner Sichtweise unterwerfen. In mir sollte sich unbedingt, zumindest so lange ich bei dieser Arbeit bin, das Gefühl einer großartigen Anmaßung breitmachen: das da habe ich entdeckt. Ich verstehe und durchschaue es bis in den letzten Winkel. Ich bin der Gott der sieben, zwanzig, hundert, fünfhundert Seiten.

  

Die Erzählwürdigkeit

Die Geschichte ist nunmehr sichtbar. Man könnte ihr sogar  das alt-ehrwürdige „Es war einmal …“ voranstellen. Sie hat also einen Anfang und ein Ende, dramatisiert sich  sprunghaft oder gleitend – je nach Temperament des Verfassers oder seinem Anliegen. Der Fortgeschrittene wird natürlich variieren: er beginnt womöglich mit dem Ende und arbeitet sich zum Anfang vor oder zurück. Oder er springt mitten ins Geschehen und erklärt das Vorrausgegangene behutsam im Folgenden. Immer so, dass es nachvollziehbar bleibt. Denn ein fiktiver Leser sollte einem über die Schulter schauen. Ein Merkmal des Könners ist, bei allem Hang zum Experiment, seine Verständlichkeit. Weil er stets auf der Suche nach dem allertrefflichsten Begriff ist. Kafka war so einer. Seine Sätze scheinen mir wie aus Stein gemeißelt. Vermutlich überstanden sie deshalb die Zeit: man kann sie heute noch „begreifen“. Der Anfänger dagegen, so meine Erfahrung, misstraut seinem Vermögen. Er scheint unter dem Druck zu stehen, Kunst zu machen. Also stürzt er sich auf die Sätze und drechselt so lange an ihnen herum, bis sie auch dadurch unverständlich werden. Anstatt die Augen zu schließen, der ausgedachten Szenerie zu folgen und das Geschehen treffend zu benennen. Es geht nicht um die Herstellung von Sätzen, sondern um das Aufzeichnen einer Geschichte. Die dann eine zu sein scheint, wenn ich sie mit wenigen Worten nachzuerzählen vermag. Ist die Fabel nicht mit ein, zwei oder drei kurzen Sätzen zu formulieren, je nach Umfang der Geschichte, ist was faul im Gebälk. Und wenn alles stimmen sollte, bleibt die Frage nach dem tieferen Sinn, der Erzählwürdigkeit. Die hat nun weiß Gott nichts mit dem Rang der Handlung zu tun. Anfänger versteigen sich oft darin, sich eines Themas anzunehmen, dass drei Nummern zu groß für sie ist: Der Hunger in der Welt. Oder: Die Leute verblöden durchs Fernsehen. Davon hört er doch dauernd. Und ist später überrascht, wenn in einer Untersuchung zu Tage gefördert wird, dass selbst die Gebildeten sich häufig das viel geschmähte „Unterschichtenfernsehen“ zu Gemüte führen. Gogol dagegen berichtet „lediglich“  von einem Mann, dem sie seinen neuen Mantel klauten. Und man spürt geradezu die Lust, die ihn die Sache ins Groteske treiben lässt. Welche Wirkung seine Erzählung auf seine Zeitgenossen haben könnte, dass sie über die Grenzen Russlands hinaus, ja durch die Zeiten springen würde, das sah er sicher nicht voraus. Er besaß die Fähigkeit, Phänomene  aufzuspüren, bestimmte Muster in der Gesellschaft zu entdecken. Und er schuf eine kleine, überschaubare Parallel-Welt auf dem Papier, ordnete kunstvoll das Beobachtete an, machte es auf diese Weise sichtbar: die Erstarrung einer Gesellschaft, ihren Hang, Menschen ausschließlich nach ihrem Äußeren zu beurteilen, nach ihrem Schein. Einer verliert mit dem Mantel seine Reputation, zieht sich die Herzlosigkeit seiner Mitmenschen zu und rächt sich dafür – eine ganz klare mögliche Fabel. Erzählwürdigkeit hat also nichts mit dem Gegenstand zu tun, den ich beschreibend gestalten möchte. Das kann, wie wir sehen, auch ein geklauter Mantel sein, ein Fahrrad oder sonstwas. Es kommt lediglich darauf an, ob wir mit seiner Hilfe weit über ihn  hinaus zu weisen vermögen: auf unser Dasein.

Vor einiger Zeit gab ich einem Freund die Kurzgeschichte „Arabia“ von James Joyce zu lesen. Der Ich-Erzähler, vermutlich Joyce selber, führt uns an den Ort seiner Kindheit. Er wohnt  bei Tante und Onkel. Er beschreibt die Straße, die Häuser: altehrbar, wuchtig, voller geheimnisvoller Vergangenheit. Das Licht, das ihm erscheint. Es ist Winter, und der Himmel leuchtet in einem sich ständig ändernden Violett (die Farbe steht für Geheimnis). Trotz der Kälte spielt er mit seinem Freund Mangan, „bis unsere Körper glühten“. Mangan hat eine Schwester, die in dem kleinen James unvermittelt ein Feuer entfacht. Sie erscheint ihm geradezu: das Lichtspiel in ihrem Haar, die Augen, ihre Haut, der Reif an ihrem Handgelenk …  Sie nimmt, ohne es zu ahnen, vollständig von ihm Besitz. Fortan beobachtet er Mangans Haus, hofft, dass dessen Schwester heraustreten möge und verspürt den verzehrenden Drang, sie anzusprechen. Die Stunde kommt, und Sie schwärmt von dem Basar  in Dublin, den sie Araby nennen, und dass Sie dort in nächster Zeit nicht hingehen könne. Es ihm aber anrate. Er verspricht, noch leicht in Trance, dass er das tue und ihr etwas von dort mitbringe. Er bettelt  die Tante wegen Geld an, die verweist ihn an den Onkel, der vertagt die Entscheidung. Am nächsten Tag ist der Onkel außer Haus. Der Junge tigert durch die Wohnung und zerspringt fast vor Erwartung, wird endlich erlöst und gelangt in den Araby. Eine Händlerin spricht ihn an. Doch er ist außerstande, ihr zu antworten. Schließlich schlendert er durch den Basar, in dem bereits die Lichter gelöscht werden, spielt mit den Geldstücken in seiner Hosentasche, blickt nach oben in die Dunkelheit und „sieht“ sich: „… ein Wesen, von Eitelkeit getrieben und lächerlich gemacht; und meine Augen brannten vor Qual und Zorn.“  „Wo zum Kuckuck versteckt sich denn hier deine berühmte Erzählwürdigkeit?“ wetterte mein Freund. „Eine Geschichte über kleine pubertäre Jungen, na und?“ Ihm war leider der große Wurf des Schriftstellers entgangen, der sich mir am Schluss der Erzählung offenbarte: Für Sekunden spürte der Junge die alles beherrschende Kraft der uns  innewohnenden Natur. Die unsere Glut entfacht und das Kommando übernimmt. Und uns vernichten könnte, ließen wir sie ungestört walten.

 

Handlung, Handlung, nochmals Handlung

Auch wenn der oben erwähnte Dozent verächtlich Bücher von sich warf, war er kein Ignorant.  Er unterschied die Schriftsteller in solche, von denen wir lernen könnten und in jene, von denen nichts zu holen wäre. Nicht weil es ihnen an Talent mangelte, im Gegenteil. Es gebe Autoren, zitierte er, deren Genialität eine Stufe erreicht habe, die sie auf Konventionen pfeifen lässt. Wir Schwächeren würden ihnen auch dann folgen, führten sie uns durch Sümpfe oder über unwegsam Gebirgspfade. Wir hängen an dem Geschriebenen wie andere an den Lippen der Weisen. Und zögen den Genuss allein aus der Art des Verfassten, möge sie auch noch so schwindelerregend sein. Die Regeln hätten sie auf jene Höhe gebracht. Denn, um ein anderes Genre zu bemühen, bevor Picasso seine Bilder „zerpflückte“, habe er Menschen und Gegenstände „ordentlich“ abgebildet. Dann habe ihn die Lust am Experiment ergriffen und fertig.  Der Dozent zauberte einen Roman hervor und meinte: „Dieser hier ist ganz passabel, und wir können ihn ausbeuten.“ Und eines sei bei diesem Autoren besonders deutlich: das Handeln. Eine gute Geschichte lebe von der Handlung. „Handlung, Handlung, Handlung“, rief er stakkato artig  in die Runde, „dann eine kurze Beschreibung, wieder Handlung, wieder kurze Beschreibung, wieder Handlung.“- Wenn ich mir nachträglich die Bücher betrachte, die mich mitrissen, so handelten sie vom Handeln. Wir sind temperaturabhängige Wesen, die, einmal warm geworden, tätig durch die Welt schreiten. Wir versuchen unsere Handlungen mit anderen zu koordinieren. Wer rastet, rostet – heißt einer unserer Kampfsprüche. „Handeln Sie endlich!“ fordern wir die Prädestinierten auf, „Machen Sie Nägel mit Köpfen!“ Wir bewegen uns, um zu leben. Und wir spüren instinktiv, dass wir uns durch die Bewegung verwandeln. Sitzen wir sehr lange auf der Couch, werden wir erst schlapp, dann unruhig. Schauen wir uns dabei einen Film im Fernsehen an, springen wir gegebenenfalls auf. „Das geht nicht vorwärts!“ rufen wir. Und weshalb nicht? Weil der Drehbuchautor darauf gepfiffen hat, was im Wesen von uns Menschen liegt: sich von Taten angezogen zu fühlen. – Wassili Schukschin (eine kurze Gedenkminute für den Mann) ließ in einer seiner Geschichten zwei Kriegsveteranen, entwurzelte Bauern, die bei ihren Kindern im Neubaublock lebten, über Seiten hinweg miteinander sprechen. Sie trafen sich dort regelmäßig im Keller unter den Heizungsrohren, um über die Welt zu schwadronieren.  Die Rohre knackten, der Wodka floss beim Einschenken über die zerfurchten Hände: absoluter Stillstand? Nicht bei einem wie Schukschin. Er lässt die Handlung vom statischen Keller in das dynamische Gespräch springen – Handlung ist Handlung. Auch wenn der Erzähler den Erzähler erzählen lässt. Thomas Mann, der sehr wohl die Gesetze des Schreibens kannte, setzte sich über sie hinweg. Seine „meterlangen“ Sätze sperren sich unserem Aufnahmevermögen. Doch sind sie in ihrer Art die schönsten überlangen Sätze, die die Literatur kennt. Auch seine Beschreibungen arten aus, legen sich quer zur Handlung. In „Dr. Faustus“ lässt er sich über Seiten hinweg über klassische Musik aus. Die Kraft dieser Beschwörung vermochte es: ich legte das Buch beiseite und schob eine CD in den Schacht. Was ich bei anderen verabscheute, Verharren, Stagnation, ließ ich mir von diesem gefallen. Ansonsten: Handlung und nochmals Handlung und möglichst kurze Sätze. Warum? Weil das mit unserem innewohnenden Rhythmus in Verbindung steht, mit unserem Puls, der Atmung.  Stil hat etwas mit unserer Atmung zu tun? Antwort: Ja.

 

Der Vergleich

Ein Russe hat sein Wesen bildhaft zusammengefasst: Er muss hundertprozentig genau, möglichst weit von dem zu vergleichenden Gegenstand entfernt sein und nach Dill duften. In einem Buch las ich, dass jemand einen Wollknäuel in seinem Schädel wähnte. Damit wollte der Autor wohl das Chaos beschreiben, das im Kopf seines Protagonisten herrschte. Ein Haufen Wolle vermag etwas Chaotisches wiederzugeben, ein Knäuel Wolle weniger. In Verbindung mit einem Faden drückt das Wort Ordnung aus: er ist ordentlich aufgewickelt. Gesetzt den Fall, wir akzeptieren den Vergleich dennoch, scheint er mir nicht weit genug entfernt zu sein. Denn ein Gehirn ist ebenfalls ordentlich gelegt, besser noch: gefaltet. Wobei dies ein Grenzfall ist, eine Sache des Geschmacks. Er zeigt uns aber, welcher Sorgfalt ein Vergleich bedarf. Ein Paradebeispiel, wenn auch ein schlichtes, kommt in dem Film „Das Boot“ vor. Unser aufgetauchtes U-Boot, heißt es dort sinngemäß, glitt durch die Straße von Gibraltar. Der klare Nachthimmel mit seinem grellen Mondlicht, das die Wasserfläche geradezu ausleuchtete, machte uns mehr als nur sichtbar: wie eine einzelne Kirsche auf einer Sahnetorte. Da haben wir die Zutaten: es ist genau, weit weg, und wer will leugnen, dass eine Torte duftet. Wobei der Duft, den der Russe erwähnte, für die „Seele“, die ausgefeilte Ästhetik steht. Durch Metaphern, es steckt im Wort, vermögen wir einer Geschichte nicht nur Bildhaftigkeit zu verleihen, sondern ihr auch Leben einzuhauchen. So wie Joyce in „Arabia“: „Die … Häuser der Straße, des ehrbaren Lebenswandel in ihrem Innern bewusst, sahen einander mit braunen unerschütterlichen Gesichtern an.“ So sehr wir solche Gedankenblitze lieben, sie sind Unikate. Einmal erfunden und verwendet, dürfen wir an ihnen nicht mehr rühren, auch wenn es uns in den Fingern juckt. Warum ich dann das Wort Gedankenblitz verwende? Weil es sehr alt ist und den Anschein erweckt, in den allgemeinen Sprachschatz übergegangen zu sein. Glücklich bin ich über die Wahl nicht. Auch deshalb, weil „blitzgescheit“ eines der Lieblingsworte Hitlers war. Doch es gibt Vorgänge, die verweigern sich der Mehrdeutigkeit. Synapsen, Neuronen – die Forscher selbst sagen, dass es dort blitzt, gewisse Regionen im Hirn, wenn auch nur auf Bildschirmen, aufleuchten. Trotzdem: die meisten der Vergleiche und Metaphern  sind tabu. Verwenden wir sie dennoch, ist das unserer Trägheit geschuldet. „Regentropfen, die an dein Fenster klopfen“, heißt es in dem Lied. Wir müssen nun also wohl oder übel die Augen schließen, dem Regen lauschen, sein Wirken neu benennen. Und im Zweifelsfall lassen wir es einfach regnen. Einen Vergleich nicht zu bemühen: das ist allemal besser, als einen falschen oder abgenützten zu verwenden. Auch wenn es mich noch so drängt, ich im Januar am Strand stehe, aufs glatte Meer schaue: das Wort „bleiern“ ist weg. Tut mir leid. Benutze es, und ich werde beim Lesen zusammenzucken. Was macht das Meer sonst noch, wenn es so träge daliegt? Keine Ahnung, ich schreibe zurzeit nichts über Meere und dergleichen. Aber starrte ich es lange genug an, würde sich wohl was tun. So wie der Dichter, der vormittags aus seinem Fenster auf den Marktplatz schaute, die Krähen dort auf dem Pflaster bemerkte und sie später in einer Verszeile verglich: wie gelangweilte Rentner, die Arme auf dem Rücken …

 

Das Beseeltsein

Einer, der ein bisschen zu zeichnen vermag, skizziert einen Hund. Er nimmt den Kopf zurück und betrachtet das Blatt. Vielleicht schaut ihm seine Frau über die Schulter. „Ein Hund wie er leibt und lebt!“ ruft sie. Sie kann nicht zeichnen. Nun ja, eine Blume vielleicht: ein Strich stellt den Stiel dar, Kringel hier, Kringel da, fertig. Aber ihr Mann brachte einen richtigen Hund aufs Papier: Ohren, Schnauze, Schwanz – es ist alles dran. Doch zufrieden ist unser Künstler nicht: das Tier dort „lebt“ nicht, entspricht keineswegs seinen Vorstellungen. Es kribbelt ihn in den Fingern, es richtig zu machen. Und vielleicht kommt er dahinter, dass es weniger an seinem Talent, eher an dessen Entfaltung liegt. Er wird also neugierig, eignet sich Wissen über die Technik des Zeichnens an, studiert, beobachtet den Hund des Nachbarn, macht sich Bewegungsskizzen, übt sich in besonderen anatomischen Merkmalen, hebt auf dem Blatt Details hervor, vernachlässigt andere. Und irgendwann, nach vielen Stunden emsigen Schaffens, schaut ihn ein wahrhaftiger Hund an. Das Tier wirkt neugierig und verhalten zugleich. Der Körper ist gespannt, zu Angriff  oder Flucht  bereit, und in der Tiefe seiner Augen glimmen die Körnchen seiner Natur. Habe ich das gemacht, mag sich der Schöpfer fragen. Diesmal ist die Zeichnung nach Plan geraten; mehr noch:  etwas scheint sich beigesellt zu haben. Denn die Weisheit, die für  Autoren zutrifft, gilt wohl auch für ihn: Das Buch muss schlauer sein, als der Verfasser. Er trägt all sein Wissen in das Werk, dort verwebt es sich, beseelt sich sozusagen und scheint sich vom Erfinder zu lösen. Nun spürt er die Kraft,  die Künstler an ihrem Werk ausharren lässt: dass die Geister, die er rief, um ihn herum zu tanzen beginnen. – Jasnaja Poljana im Sommer 1867. Tolstoi sitzt an seinem Buch „Krieg und Frieden“, schreibt gelegentlich die Nächte hindurch. Eines Morgens, Sofia Andrejewna, seine Frau, hat vor dem Haus den Frühstückstisch decken lassen,  tritt ihr Mann in die Tür, blinzelt in die Sonne, fährt sich mit der Hand durchs Gesicht, lehnt sich an. „Stell dir vor“, sagt er, „heute Nacht haben Natascha und Pierre geheiratet.“ Wie denn, hatte dieser Genius etwa seine Figuren nicht im Griff, tanzten sie ihm auf der Nase herum? Schwer vorstellbar: der Graf ohne Plan und in den Fängen des launigen Zufalls. Aber irgendwann begann der Zauber, den er veranlasste, auf ihn selbst zu wirken. So wie bei Gustave Flaubert, der eine Selbsttötung beschrieb, sich derart hineinsteigerte, bis das Unheil nach ihm zu langen schien – sein Körper wies Male auf, Hautreizungen wie nach einer Vergiftung.

Friedrich Nietzsche ging in seinem Werk kurz auf die Anmaßung ein: dass sie zu jenen menschlichen Phänomenen gerechnet werden müsse, der wir am wenigsten verzeihen. Dazu kann ich ein Beispiel liefern. Literaturinstitut Leipzig. Unter dem Dach dieser Villa gab es einen gemütlichen Raum, in dem Studenten im Kreis der übrigen Seminaristen lesen durften. Einen Text, den sie selbst für würdig erachteten, vorgestellt zu werden. Kaum war gefragt worden, schnellte mein Arm nach oben. Na was denn, ich hatte bereits einiges veröffentlicht, sogar in einer bekannten Literaturzeitschrift. Kurz zuvor hatte ich in einer Nacht einen Text in die Schreibmaschine gehämmert, der mich selbst berauschte. Er schien wie aus einem Guss zu sein: endlich mal einer, an dem ich nicht „feilen“ brauchte. Mir war nicht an der Meinung der Studenten gelegen – mir ging es lediglich darum, die vermeintlich hypnotische Kraft, die ich in meinem Gedankengut vermutete, auf andere zu übertragen. Ich lehnte mich also zurück, schlug das Bein über und sah prüfend in die Runde. Schließlich begann ich zu lesen. Erwärmte mich an dem Feuer meiner Sätze: die Finger zitterten leicht, wenn ich die Seiten umschlug. Als ich geendet hatte, ließ ich das Manuskript sinken, lehnte mich zurück und nahm triumphierend die Runde in Augenschein. Hier und da hüstelten sie, einer kratzte sich den Kopf, meine Dozentin schaute zu Boden. Und in die Stille hinein sagte ein anderer: „Das ist der größte Scheiß, den ich je in meinem Leben gehört habe!“ Er begründete seine Abneigung, in dem er Textstellen zitierte. Es war, als würde er immer wieder durchladen, Schuss um Schuss in meine Richtung abfeuern. Kaum hatte er geendet, brach es aus den anderen hervor: liederliche Sprache, unpassende Vergleiche – gequirlte Kacke, sagte eine. Ich steckte mir eine Zigarette an und versuchte es mit hochmütigem Aussehen hinzukriegen. Das klappte nicht, weil meine Gesichtshaut brannte und meine Augenlider zuckten. Der erste Gedanke war: Selbstmord. Zum Glück gesellte sich die Wut dazu und ich begann mir ihre Gesichter genau einzuprägen, besonders die mit dem gequirlten Zeugs nahm ich in Augenschein. Schließlich wollte ich das Studium aufgeben, dass Schreiben sowieso. Dann ebbte die Springflut ab, ich fand die Kraft, mir noch einmal den Text anzuschauen, sah, was dort nicht stimmte und verbesserte es.

Iwan Turgenjew schrieb sinngemäß, das gehöre zu den größten Peinlichkeiten: Ein junger, blendend aussehender Offizier stellt sich zwischen zwei musikalischen Vorträgen ans Klavier, zaubert einen Zettel aus der Uniform, glättet ihn, sagt, dass auf diesem ein Gedicht geschrieben stehe. Es sei ihm letzte Nacht „zugeflogen“. Und augenzwinkernd fügt er an, er habe es direkt aus seinem Herzen aufs Papier fließen lassen. Deklamiert. Endet und schaut glühend in die Runde. Es ist still im Saal. Es wird noch stiller. Dann springt einer auf und ruft: „Ja, Kinder, darauf müssen wir was trinken!“ – Ich habe die Stimme eines Heutigen in den Ohren: „Nun gut, aber ich persönlich schreibe nur für mich, fürs Nähkästchen. Zu meiner eigenen Erbauung.“ Schon klar, aber warum gab er es mir zu lesen? Von Montaigne behauptet man, er habe nur für sich geschrieben. Was ich persönlich nicht glaube. Die Schrift ist ein Mittel, um Botschaften weiterzugeben. Und wer maßt sich an, diesem Essayisten nachträglich ins Hirn schauen zu wollen.

Dies habe ich für mich erfunden: Schreiben ist mit dem Fliegen vergleichbar. Wer ein Flugzeug in die Luft bringen will, muss einen Pilotenschein machen. Die Bedingungen dafür sind die Beherrschung der Technik, das Wissen um Navigation, Wetterphänomene, Auftriebskräfte, Treibstoff, Ausweichflugplätze, Schwerpunktkontrolle, Pistenlänge. Man kann nicht nur ein „bisschen fliegen“. Wer das dennoch auf sich nimmt, stürzt vermutlich ab.

 

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Nov 07 2013

Frederick A. Lubich

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Literaturpapst mit Frau — In Erinnerung an Marcel Reich-Ranicki (1920 – 2013)

Nach der großen Flucht vor Richtern und Henkern,
nach der lebenslangen Suche nach Dichtern und Denkern,
nach all den Feinden und Freunden,
den vielen Weggefährten ins Gedeih und Verderben …
durch Abgründe und Sehnsüchte …

Endstation Deutschland — Café Einstein:
Bitte eine Melange und ein stilles Wasser.

Frederick A. Lubich

MRR

Marcel Reich-Ranicki und Frau Theofila im Berliner Café Einstein Unter den Linden

 

__________________

(Bild und Text sind ein Wiederabdruck aus Gerald Uhlig-Romero (Hrsg.), Berliner Melange. Geschichten und Rezepte aus dem Café Einstein Unter den Linden. München: Collection Rolf Heyne, 2006, S. 105.

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Nov 07 2013

Britta Kallin

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Presenting Alterity in Angelina Maccarone’s Fremde Haut (2005) and Tatort: Wem Ehre gebürt (2007)

The spaces in contemporary German narratives that were assigned to minorities such as German Turks and Jews have changed over time and “a pivotal shift in the ‘configuration’ of cultural alterity” has taken place, according to Leslie Adelson (2005, 23).[1] The self-identity of the colonizing subject, the identity of imperial culture, is inextricably linked to the alterity of colonized others, an alterity determined, by the process of “othering.”[2] The literature that Adelson analyzes in her study is written by either first, second, or third generation migrants who live and work in Germany. Yet, she also mentions that the “literature of migration” as she calls it (in distinction to “intercultural literature,”) “is not necessarily written by migrants alone” (23). Therefore, the logical extension is that “native” German writers (as Tom Cheesman calls them) partially contribute to a literature of migration. Tom Cheesman calls Turkish German literature a “literature of settlement” which sprang from and accelerates the “cosmopolitanization” and the “globalization” of Germany. In his study, he discusses “‘native’ German or Austrian writers who have created Turkish protagonists” in order to offer a broad view of changing topics, themes, and spaces in literature for Germans and migrants alike (13).

Likewise, in his analysis of the movie Journey of a Lion (1992) by Fritz Baumann, Lutz Koepnick argues that a range of German moviemakers have vastly contributed to the discussions of the representation of the “foreign” in Germany. Koepnick contends that movies by directors such as Percy Adlon, Doris Dörrie, Harun Farocki, Werner Herzog, Ulrike Ottinger, Heiner Stadler and Wim Wenders “clearly seek to engage with geopolitical or neocolonial negotiations of alterity” (66). Yet, he also reminds us that when trying to evaluate the role of alterity, difference, and hybridity today, we must remember to account for the historically contingent institutions, traditions and power relationships that help to determine the vectors of political, economic, social, and cultural globalization (68). Other scholars, among them Arlene Teraoka, Paul Michael Lützeler, and Monika Shafi, to name but a few, have examined how German writers and artists create fictional characters from ‘Second and Third World’ countries while trying hard to avoid stereotypical depictions.[3]

While the main object of the analysis in this article does not display a Turkish or Jewish German, I would argue that the shift to which Adelson refers can also be seen in a film that depicts a non-Turkish Muslim “Other” in Germany. In her film Fremde Haut (Unveiled, 2005), the white, lesbian German filmmaker Angelina Maccarone speaks up for queer men and women who are persecuted around the world. Maccarone’s film is a plea for justice and civil rights of minority groups who cannot survive in cultures that suppress those that are ethnically, religiously, or sexually different. In Fremde Haut, Angelina Maccarone presents a visual narrative in which she presents an outsider who is more than a mere catalyst for a German national narrative. Maccarone examines an encounter between a heterosexual Germany and an Other whose sexual orientation, ethnicity, religion, and cultural upbringing are different. She points to weaknesses in the German legal system when it comes to asylum seekers and the Iranian legal system when it comes to sexual orientation. In Fremde Haut, Maccarone displays the conflicts that arise when an Iranian lesbian is denied asylum in Germany. According to Islamic law in Iran, women and men who have same-sex relationships can be punished with 100 lashes at the first offense. On the third offense, they will be executed, sometimes stoned to death.[4] Fearing deportation, the protagonist Fariba Tabrizi cross-dresses as a male Iranian friend who was granted asylum in Germany but has committed suicide. This act of changing genders presents a collision of gender roles and expected sexual behavior. As Yentl (Barbara Streisand, 1983) and Boys Don’t Cry (Kimberly Peirce, 1999) have shown, women who trespass into roles of men often encounter traumatic experiences once their disguise is uncovered. The movie director Maccarone shows how the main character crosses gender boundaries to survive in a world in which her sexual orientation is at stake. The story becomes a plea for changing asylum laws and a plea to change Iranian social laws. It is also a tale about gay sexual orientation, a delicate theme in Germany and a taboo theme in Iran. In Fremde Haut, the German small-town girl Anne falls in love with the illegal immigrant she believes to be a man.[5] Dana Stevens comments in her review of the movie that the protagonist “embarks on a lonely life in a strange country that is often just as intolerant as the land she has fled” (n.pag.). Maccarone shows in the film how both Iran’s and Germany’s customs and laws benefit the majority and put restrictions on minorities.

Autobiographical aspects of Fremde Haut include that Angelina Maccarone considers herself a “Gastarbeiterkind” who frequently had to explain her Italian, non-German last name because her parents immigrated to Germany in the 1960s and she has also had to explain her lesbian sexual orientation. In an interview with Simon Kingsley for the German-Films.de website, the director explains:

I like the themes of absurdity, the absurdity of norms, and of crossing borders, of overstepping the line. I cross them every day. Just to try things, learn new things, understand and confront the things I’m scared of. Even as a child I had to explain my name. Then I had to explain myself as a lesbian. Things always had to be explained. I think that is so absurd.[6] (n. pag.)

In an interview with Shauna Swartz, Maccarone describes why she chose Iran as the country of origin for the protagonist: “Iran is one of four countries in the world were homosexuality stands under death penalty” (n. pag.).[7]

The plot of Fremde Haut can be easily summarized: Fariba Tabrizi is a young, female, middle-class translator from Teheran who is fluent in Farsi, German, and English. She arrives in Germany by plane and seeks asylum based on political persecution and does not reveal the true reason to the German authorities that she was sentenced to death in Iran for being a lesbian and that she had to flee to Germany. Fariba is aware that German asylum laws do not recognize asylum seekers whose claim is persecution based on sexual orientation. Another Iranian asylum seeker, Siamak, learns that his brother was killed by the Iranian government as a retribution for Siamak’s role in a student organization that was critical of the Iranian government. Fariba takes on Siamak’s identity after he commits suicide while he was waiting to hear whether he was granted asylum. With this new identity as Siamak, Fariba can live in a refugee camp with a temporary permit to stay in Germany. She is not allowed to work, nor can she leave Siedlingen, a small town ten kilometers southeast of Stuttgart in Baden-Württemberg.

The Iranian heroine then manages to work illegally in a cabbage processing plant and falls in love with her co-worker Anne, who realizes very late that Fariba is a woman. Fariba tries to get a German passport illegally but lacks the money. She is informed that she will be sent back to Iran because the Iranian government no longer prohibits Siamak’s student organization. After telling Anne about her situation, Anne agrees to help Fariba get the money she needs by stealing a car. After their successful endeavor, they are physically intimate. Anne’s sexual identity is at stake while Fariba has reasserted hers. However, Anne’s ex-boyfriend Uwe and his male friend unexpectedly enter Anne’s house and find Fariba in her underwear. The men verbally and physically attack Fariba for having disguised herself as a man and for luring Anne away from the group of heterosexual friends. It becomes evident that the catalyst for their aggression is that their sense of a safe heterosexual, ethnically homogenous German identity is threatened by Fariba’s act of crossing into their “male territory” and by her act of cross-dressing. Anne’s 10-year old son calls the police after he hears fighting and on their arrival Fariba is arrested and finally deported to Iran. The last shot shows Fariba in the airplane changing her female gender identity back to that of the male Siamak in order to avoid reprisals from the Iranian government on her return. The movie shows how the gender bending is perceived as threatening for those who insist on traditional gender roles and who are against integration and cultural exchanges.

Maccarone depicts Fariba to be more knowledgeable about German culture and literature than the native German authorities. For example, an ignorant German policeman interrupts her conversation to ask if she knows a German Romantic author starting with “N” for a crossword puzzle. Fariba supplies him with the name Novalis but the German wonders if it is written with a “w” after which Fariba corrects him.[8] Another male German bureaucrat who interviews her asks if she has a notarized copy of her death sentence for the files. In this scene, Maccarone pokes fun at the bureaucratic Germans who do not comprehend that the persecuted asylum seekers usually cannot provide written proof of their persecution. The film represents an educated Iranian woman as more civilized and enlightened in comparison to her German co-workers at the cabbage plant and the German bureaucrats who have not acquired much knowledge about German literary history.[9]

Fariba’s transitional state of being is underscored with the imagery of the film that shows dozens of asylum seekers killing time being stuck in limbo: waiting, playing table tennis, smoking cigarettes, and kicking empty beer cans as if they were soccer balls. Their temporary shelter borders a Frankfurt airport runway and the view of the planes landing and taking off mirrors the feeling of the status of “in-between” worlds and homelands of the refugees and asylum seekers who experience homesickness and the desire to start a new life. Maccarone shows the German audience something they have heard about but not too many have seen the inside of an asylum shelter.

In “Against between: A Manifesto,” Leslie Adelson writes against the image of “in between” for cultural studies that concern themselves with migration literature. She asserts that the images of “border” or “bridge” on which Turks are suspended or stuck on the way to integration into German culture should be replaced with the image of a “house” or “threshold to the house” in which Turks and Germans meet and interact. Drawing on Yoko Tawada’s vision of breaking down cultural borders and finding a common space, Adelson employs the image of a “building” or “house.” Tawada does not see a border but a threshold for the newcomers, a transitional space. Adelson clarifies these changing spatial assumptions:

If spatial relations have figured prominently in many discussions of center and periphery, metropolis and margin, West and East, North and South, and Self and Other, the prevalence of border metaphors speaks to the need for a critical language that could explain how and why it is that individuals, groups, nations, and cultures seem to rub each other raw with the friction of difference. (248)

Using Adelson’s imagery as a backdrop, we could explain how Maccarone tries to come up with a critical cinematography, a language of the visual arts that could explain “the friction of difference.” The director highlights that sometimes there is no friction because difference is not seen as a threat but as a chance for positive change. The crossing of borders in Fremde Haut even features into the imagery of the house in which Fariba and Anne finally come together. The wide-open lonely scenes shot outside in the countryside where Fariba digs out the cabbage in the field contrast with the domestic scenes where Fariba and Anne are safe and free to exchange words and feelings.

In line with Adelson’s imagery, Deniz Göktürk has argued against the passive, silent victim role of Turks (in particular Turkish women) and other migrants in movies and literature from the 1980s and 1990s. Göktürk argues “for a moving beyond the whining rhetoric of being lost ‘between two cultures,’ commonly indulged in by politically engaged Germans as well as self-pitying Turks” (136). She is in favor of cultural representation that underscores “pleasures of hybridity by envisaging broader, less provincial horizons and embarking on mutual border traffic” (ibid.).[10]

Fremde Haut does not show many lengthy conversations, its narrative style is kept to a minimum of verbal exchanges but focuses more on the visual aspects of cinematic representation. What adds to the portrayal of the characters in the movie and makes them very convincing, are the conversations and voice-overs in Farsi, a language that not too many Germans have heard spoken in a movie. The German audience has to read the German subtitles to understand the dialogue. After Fariba changes her identity and buries Siamak’s body, she writes to Siamak’s parents because he had asked her for this favor before his death. She sends them money after she starts working illegally. The letters that Fariba sends to Siamak’s parents in which she pretends that Siamak is still alive mirror the narrative of the cinematic images. In her handwritten letter, she ironically describes Germany to the Iranian parents with exaggerated praise: “Deutschland ist schön” and “Die Deutschen sprechen leise und sie machen viel sauber.”  Fariba narrates these descriptions in her mother tongue, while German sub-titles translate the Farsi voice-over. The letters she writes to Siamak’s parents express her dreams of a welcoming atmosphere in Germany, the exact opposite of what she feels, and thus her descriptions subvert the positive images.

Neither Maccarone nor Fariba hold the Muslim faith in Fremde Haut responsible for the restrictions that Fariba faces back home. In an interview with Michelle Kort, Maccarone explicates her project: “We wanted to tell a story about someone who loses basically everything that makes a person a person: her work, where she lives, who her friends are, her family, her language, and her sexual identity” (n. pag.). Yet, Fariba has not lost her religious faith. Her religious background is highlighted when she prays at Siamak’s grave and when she takes off her shoes in a German church as if it were a Mosque. Fariba pays respect to her faith despite the fact that her home country’s laws deny her the right to live her lesbian identity openly. The German Iranian actress Jasmina Tabatabai who came to Germany in 1986 when she was twelve years old added to the film script and the lead role in order for Maccarone and Judith Kaufmann to develop a culturally sensitive tale that was written by two German women as a team. The director presents alterity as an essential part of a forward-looking, culturally diverse Germany.

By featuring ignorant, xenophobic rednecks like Uwe, Maccarone employs the stereotypical image of small-town Germans in the Swabian countryside as eating Sauerkraut, the stereotypical German food. The stereotype of a German, the Kraut, tries to evoke the image of the penultimate German. Here, the Germans are depicted in a clichéd manner while the outsider Fariba is drawn out more carefully, in a three-dimensional manner and not just in a simplistic, two-dimensional way. In a scene in which all employees of the plant sit around a large dinner table eating piles of the affordable sauerkraut, Anne’s German friends are represented as simple-minded and racist when they make fun of foreigners. Uwe and Sabine call Fariba names such as “Ayatollah” and “Salmiak” (ammonium chloride) or “Salmi” (licorice). They inquire about her life back in “Tajikistan,” and Uwe uses a towel and puts it around his head imitating turbans and Islamic head covers. This scene in which Uwe acts out “ethnic drag,” to borrow the term from Katrin Sieg, shows how this group of Germans is indifferent to the customs of foreigners and refugees, and Maccarone ridicules their ignorance. The movie also highlights the lack of communication and lack of understanding on Uwe’s side who is not interested in learning more about Siamak’s past and home country. In Fremde Haut, it is the foreigner who is represented as shy and who at first does not want to intrude into the circle of the German friends. When Fariba walks along the streets in Germany, for example, the camera takes in the graffiti and writing on the walls of houses, which read “Kanaken Raus,” representing xenophobic sentiments in Germany, an attitude with which Uwe fully identifies.

Before the climax of the plot, Anne and her friend Sabine talk about Fariba/Siamak and Sabine asks: “Was willst du denn mit dem? Das hat doch null Zukunft,” to which Anne replies: “Zukunft? Was ist denn mit jetzt?” and Sabine responds: „Jetzt ist der Typ ein Saisonarbeiter, dem mein Vater vier Euro die Stunde zahlt. Das reicht nicht mal fürs Jetzt.“ Anne states: „Vielleicht will ich einfach nur jemand kennen lernen, der anders ist, der woanders herkommt und anders denkt.“ Anne voices her desire to meet someone different who thinks differently and is of a different origin. She feels this way because Siamak seemingly offers freedom from the small-town restrictions and the narrow-mindedness of her circle of friends. She rejects the provincial milieu with her homogenous group of German friends and longs for a more cosmopolitan, open-minded environment. Fremde Haut thus undermines restrictive identity politics by visualizing the experiences of people crossing boundaries, by offering glimpses into Fariba’s displacement and exile. Anne yearns for a space of cultural hybridity and cultural alterity.

In his study Cosmopolitical Claims, Venkat Mani emphasizes the relationship between a sense of freedom, cultural hybridity, and immigrant communities or those who are considered “others”, namely representatives of alterity:

Cultural hybridity situates itself in movement; it locates itself in the act of dislocation; it abandons the hitherto inhabited in order to strive toward newness. All these elements make the idea of hybridity extremely useful – after all, it offers itself the most dynamic, fluid, and motional modality and therefore promises high degrees of freedom, emancipation, and perhaps even creative autonomy. It is, therefore, not too difficult to understand hybridity’s appeal for otherwise marginalized, subjugated, neither-here-nor-there, dislocated and displaced immigrant communities and their artists. (123-24)

In Fremde Haut, hybridity is represented by Fariba who has already learned about German culture before coming to Germany. Maccarone does not only portray a migrant character, Fariba, drawn to a hybrid environment but also a non-immigrant German woman, Anne, with an interest in new, vibrant, and cutting edge cultural manifestations. Anne seeks out someone not rooted in her homeland, but someone in “dislocation,” a hybrid character in a space to meet in which the two can engage with each other to create a new form of multicultural community against the mainstream within Germany.

In his analysis of Fatih Akin’s Kurz und schmerzlos and Maccarone’s Alles wid gut, Gerd Gemünden convincingly asserts the importance of transnational aspects in those movies by these two directors: “They understand themselves as part of an alternative cinema that gives voice to minorities and indeed shows the centrality of the margins” (184). One of the few moments in Fremde Haut when the women Fariba and Anne are free and when they can express their feelings of joy about the newly formed relationship is when they drive off into the countryside with the stolen Mercedes. The cinematography reminds the viewer of the road movie Thelma and Louise (1991) where the wide-open spaces captured through long-shots recall the freedom of the road and the protagonists’ (even though temporary) success as a lesbian couple that overcomes seemingly insurmountable hurdles.

The sexual and cultural alterity of Maccarone’s vigorous lesbian protagonist emerges as a sight where Fariba’s identity is in double exile: first, repressed sexual orientation in Iran, then repressed gender identity and forced denial of her sexual identity in Germany. Nevertheless, her existence under a repressed gender identity was only made possible through a deus-ex-machina coincidence of Siamak’s suicide, which prompted Fariba to seize the opportunity and change identities, thereby also deceiving others like Siamak’s parents, her roommate, and the German authorities, among others. The end of the movie is to some extent hopeless as the relationship between Fariba and Anne comes to an abrupt end. Nonetheless, there is a paradoxical end to this part of her story that can be read as both optimistic and pessimistic: the viewer watches Fariba reenter her home country in disguise, which might help her conceal her true identity. However, this can also be interpreted as pessimistic because she continues to be forced to hide her true sexual identity. In the last camera shot, Fariba is in the bathroom on the airplane switching back from being a woman with a headscarf into the man Siamak whose Iranian passport she pulls out of her shoe where she kept it as a backup. Fariba’s cross-dressing technique here is an act of survival and a cover for her vulnerable, forbidden sexual identity.

Besides Fremde Haut and her other important films Alles wird gut (1998), Verfolgt (2006), and Vivere (2007), Maccarone has received the most, albeit negative, attention for her one installment of the German detective series Tatort, titled Wem Ehre gebührt (Who Deserves Honor, 2007), a series that is aired weekly on the public TV station ARD.[11] The network commissioned the Tatort installment and Maccarone wanted to write a script highlighting the heterogeneous Turkish minority in Germany. Therefore, she featured Sunni and Alevi Turks in the plot. The overarching theme of Wem Ehre gebührt is an incestuous relationship.

The story line starts when Afife Özkan, a Turkish German woman, is found dead. While at first it is believed that she committed suicide, her sister Selda insists that Afife was killed. Selda is pregnant and afraid that someone may kill her as well. The superintendent working on this case, Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler), takes Selda in to stay with her for a while. Lindholm assumes that Afife’s death was an honor killing but she does not know the motif or the murderer’s identity as yet. In the meantime, Selda becomes a suspect in her sister’s murder. She leaves Lindholm’s house and tries to commit suicide but her father finds her in time to rescue her. Selda survives but loses the unborn child. Finally, Lindholm and her colleague Cem Aslan (Mehmet Kurtulus) find out that the father killed Afife because she found out about her father’s abuse of her younger sister.[12] Afife wanted to go to the police and report the incestuous relationship when her father panicked and strangled her.

Incest has been used as a cliché over the past centuries by the Sunni majority against the Alevi minority, which makes up approximately one tenth of the 3 million Turks in Germany. This minority is among the most moderate groups within the Muslim faith, a group that allows men and women to pray together. The liberal approach of this group gave rise to the stereotype that the Alevi are also more tolerant in terms of sexuality and the myth of incest evolved. The most central point of criticism that was brought against Maccarone was that Selda was featured as the only family member who wears a headscarf. The movie implied that Selda was trying to escape the incestuous relationship by finding refuge in an orthodox Islamic faith and by covering her hair. Ali Ertan Toprak, the head of the Alevi Community in Germany (Alevitische Gemeinde in Deutschland, AABF) proclaimed that the movie supports and functions as propaganda, “Schleichwerbung” (surreptitious advertising), for the orthodox Sunni faith and that the more liberal and secular Alevi faith is depicted as hurting women.[13] After the screening of this Tatort installment, there were demonstrations in all major cities in Germany. On December 30, 2007, more than 20,000 people attended the protest in Cologne.[14]

An important step towards the integration of migrants with a Turkish background was the promotion of Kurtulus to superintendent in Tatort in 2008, making him the first Turkish German actor to star in this lead role on TV. When asked whether it is a stereotype to think of honor killings when a Turkish German woman is found dead, Kurtulus replies that only multiculturalism can overcome existing prejudices: “Ich glaube bei Vorurteilen im Allgemeinen, dass man dieser Kurzschlussreaktion der geistigen Einfalt mit Vielfalt begegnen sollte. Bei der Inflation von Vorurteilen klingt das fast schon wie eine Plattitüde” (n. pag.). Stereotypes can only be countered by including a greater ethnic and religious diversity of German characters. Maccarone makes this clear, for example, in a scene when Lindholm’s mother visits her at her office. The mother meets her daughter’s colleague and she remarks: “Du hast gar nicht erzählt, dass du einen türkischen Kollegen hast.” Lindholm sets the record straight: „Herr Aslan ist Deutscher.“ Yet, the mother adds to the awkward situation: “Aber er ist charmant.” The daughter only responds with: “Warum ‘aber’?” to show her mother that the ‘aber’ here implies that usually the mother does not consider German Turks charming. Throughout the installment, Maccarone plays with stereotypes and mocks them as inappropriate.

To overcome these stereotypes, Maccarone lets her characters argue them out. In a brief conversation between Lindholm and Aslan on the street, his superior reminds him that the death of Afife is more important than Aslan’s investigation into her brother’s participation in pirating CDs and DVDs and selling them in Turkey. The stereotype of Turks as machos is at stake here and Aslan’s reaction is defensive: “Unterstellen Sie mir Sexismus, nur weil ich Türke bin?“ to which Lindholm replies: “Ich finde Sie ziemlich deutsch in Ihrer Karrieregeilheit.“ Maccarone was praised for the subtle exchanges between the two lead characters in Wem Ehre gebührt. The praise from mostly German critics without migratory background, however, did not save her from the legitimate criticism of Alevi Turks living in Germany.

After the controversy about the portrayal of the Alevi family in this installment broke out, Maccarone apologized and assured the representatives of the Alevi organizations that she did not mean to reinscribe old stereotypes of the community in the TV installment.[15] The Alevi organizations charged the Norddeutsche Rundfunk with sedition and the charges were dropped in the summer of 2008 when the NDR officially apologized and assured the Alevi communities in Germany that they would run journalistic features about the community in order to change the wrongly made impressions. The weekly Spiegel reports Maccarone’s reaction: “Wer ihre anderen Filme kenne, wisse, dass ihr daran gelegen sei, ein differenziertes Bild von Minderheiten zu zeichnen, sagte Maccarone” (n. pag.). While some of Maccarone’s films have been praised for the depiction of characters that are of non-German origin such as Fremde Haut, the Tatort installment Wem Ehre gebührt received such negative publicity that Maccarone promised the organizations to investigate other communities more thoroughly before venturing into new projects on non-Germans.[16]

Both Fremde Haut and Wem Ehre gebührt are vital contributions to the national narrative of Germany in which a film director tries to overcome blind spots in society. While successful in Fariba’s case, Maccarone experienced what it feels like when good intentions are not enough but rather complicate the situation of migrant families whose status she attempted to highlight as an integral and accepted part of the changing cultural, ethnic, and religious make up of German life. In both movies, Maccarone disrupts notions of cultural purity. In Fremde Haut, she shows psychological and physical manifestations of the process of exclusion in terms of asylum laws and the reaction regarding Fariba’s lesbianism and gender crossing. The feature movie speaks about heterosexuals and Germans as much as about lesbians and asylum seekers and turns the mostly ethnographic, homophobe gaze of the viewers around. In both movies, the director offers a celebration of hybridity when featuring Jasmina Tabatabai as Fariba in a role that represents a possible way out of restrictive German cultural seclusion for Anne and featuring the Turkish German actor Mehmet Kurtulus as Cem Aslan as an educated, good-looking, well-integrated, and charming law enforcement official with an equal status to the Germans without migratory background around him in the police force. Both movies encourage an inquiry on the audiences’ part into what exactly is sexual, ethnic, cultural, and religious alterity and how it has become part of Germanness and how it positively affects everyday life in a changing Germany.


 

 

Notes

[1] A similar quote occurs in Leslie Adelson, “Touching Tales of Turks, Germans, and Jews: Cultural Alterity, Historical Narrative, and Literary Riddles for the 1990s.” New German Critique, No. 80, Special Issue on the Holocaust (2000): 93-124. “Senocak’s touching tales of Turks, German, and Jews suggests a pivotal shift in the ‘configuration’ of cultural alterity and historical narrative in contemporary German literature” (124). The usage of the noun “alterity” dates back to 1642 and its etymology goes back to the Latin “alter-“ meaning “different” orother”; “specifically: the quality or state of being radically alien to the conscious self or a particular cultural orientation.” Merriam-Webster Online. 8 February 2010. http://www.merriam-webster.com/dictionary/alterity.

[2] Othering is a term used in cultural studies and post-colonial studies and a popular definition is: “Othering is a way of defining and securing one’s own positive identity through the stigmatization of an ‘other.’  Whatever the markers of social differentiation that shape the meaning of ‘us’ and ‘them,’ whether they are racial, geographic, ethnic, economic or ideological, there is always the danger that they will become the basis for a self-affirmation that depends upon the denigration of the other group.” http://psychology.wikia.com/wiki/Other

[3] For an analysis of other German authors who are describing minorities, compare Arlene Akiko Teraoka, “Gastarbeiterliteratur: The Other Speaks Back.” Teraoka, “Talking Turk: On Narrative Strategies and Cultural Stereotypes.” Teraoka, East, West, and Others: The Third World in Postwar German Literature. Paul Michael Lützeler, ed. Schreiben zwischen den Kulturen: Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Lützeler, ed. Der postkoloniale Blick: Deutsche Schriftsteller berichten aus der Dritten Welt. Lützeler, ed. Schriftsteller und ‘Dritte Welt’: Studien zum postkolonialen Blick. Monika Shafi, “Gazing at India: Representations of Alterity in Travelogues by Ingeborg Drewitz,Günter Grass, and Hubert Fichte.”

[4] Great Britain is among the few countries that have recently accepted lesbians who fled Iran as refugees because they would face the death penalty on their return. See Robert Verkaik. “Asylum for Lesbian on the Run from Iran.” The Independent 16 February 2009. http://www.independent.co.uk/ news/uk/home-news/asylum-for-lesbian-on-the-run-from-iran-1622991.html

[5] Compare Eva Eusterhus, “Einfühlsame Grenzgängerin: In ihrem jüngsten Film Verfolgt bringt Angelina Maccarone ihrem Publikum das Fremde überraschend nah.” Die Welt 20 January 2007.

[6] Compare the interview with Ross van Metzke in wich Maccarone insists that crossing borders has always been an important aspect in her work.

[7] Right before making the movie Fremde Haut, Maccarone spent time “concentrating on educational and social spots for the cinema, such as on AIDS education” (n. pag.). Featured on the DVD with the English version Unveiled is also the short trailer, “Everyone, Everywhere,” directed by Renee Rosenfeld, which describes how gay and transgender men and women in all countries around the globe are harassed, tortured, and murdered for their different sexualities. The sponsor of the short clip is the International Gay and Lesbian Human Rights Commission, which exists since 1990, whose goal is to help in cases where sexual minorities are in danger. The spot highlights threatened human rights for people with different gender identities, sexual orientation, or HIV status.

[8] The lingua franca in the refugee camp is English, the asylum seekers communicate with each other to exchange basic information about their home and current status. Fariba helps a boy learn words in English, as everyone’s dream there is to immigrate to the United States. When Fariba teaches the boy the English word “bird” the German official reprimands her and asks that she should teach the German “Vogel” instead.  American popular culture also influences the desires of the asylum seekers. The little boy shows Fariba a drawing on which a tall and a small Spiderman are depicted as images of heroes that solve the transient immigrants’ problems.

[9] Abbas Maroufi, an Iranian author who came to Germany as an asylum seeker in 1996, wrote an open letter to Günter Grass that was published in Die Zeit in 2000, in which he criticized Germans for their ignorance in regard to other cultures, particularly Iran: “We [the Iranians] know Günter Grass and Heinrich Böll and Nietzsche well, we have made them our own, but do you know anyone in Iran besides Zarathustra? Perhaps Hafis?” In Deniz Göktürk, David Gramling, Anton Kaes, ed. Germany in Transit. Nation and Migration 1955-2005. Berkeley: U of California P, 2007. 418. While Maroufi argues that Iranian intellectuals are familiar with authors from the West, it is not the same the other way around.

[10] Yet, it seems that in Fremde Haut Fariba is not an immigrant but a would-be-immigrant whose legal status keeps her in a position of “in-between” national boundaries and countries.

[11] Tatort: Wem Ehre gebührt, dir. Angelina Maccarone. Aired on 27 December 2007 on ARD.

[12] The actor has become well-known in Germany through some of Fatih Akin’s movies (such as Kurz und schmerzlos 1998, Im Juli (2000) and Gegen die Wand (2004).) Fatih Akin is also an Alevi German Turk.

[13] See Sibylle Ahlers, “Aleviten sehen Tatort als Werbung für Orthodoxe,“ (n. pag.). The Alevi Community has been watching the Islamicization of Muslim groups in Germany that are partially sponsored by organizations outside of Germany.

[14] Scott Roxborough, “Muslims Protest Incest Plot on Germany’s Tatort,” (n. pag.). Some links claim there were as many as 30,000 demonstrators.

[15] Compare Klaus Uhrig, “Ich wollte etwas Komplexes. Sie wollte Klischee aufbrechen, sagt Tatort-Regisseurin Angelina Maccarone. Das Inzest-Stereotyp habe sie nicht gekannt.” Tageszeitung 28 December 2007.

[16] “Aleviten lassen Vorwurf der Volksverhetzung gegen Tatort fallen.” ddp 20 Juni 2008. Maccarone also explains that some of her friends are Alevi but that she did not send them the script before the show was filmed and that she was unaware that incest is an old stigma for the group. The director acknowledges that she did not research this project well enough as an outsider of the Alevi group and agrees that she should have been more sensitive to the history of the Alevi community within and outside of Turkey. “Tatort-Regisseurin Angelina Maccarone. Das ist ein ziemlicher Hammer.”

 

 

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