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Jul 25 2013

Verzeichnis der Rezensionen: Glossen 34 – 40 (2012 – 2015)

Verzeichnis der Rezensionen — Glossen 34 — 40/2012/2015
1. Frederick A. Lubich: Marko Martin, Treffpunkt ’89 – Von der Gegenwart einer Epochenzäsur. Hannover: Wehrhahn, 2014, 319 Seiten.

2. Theo Buck: Hans Joachim Schädlich: Narrenleben. Roman. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg 2015

3. Gabriele Eckart: Frederick A. Lubich (Hrsg.), Transatlantische Auswanderungsgeschichten: Reflexionen und Reminiszenzen aus drei Generationen. Festschrift zu Ehren von Robert Schopflocher. (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014) 647 Seiten.

4. Margrit Zinggeler: Niederhauser, Rolf. Seltsame Schleife. Zürich: Rotpunktverlag, 2014

5.  Wolfgang Müller: Ernest Kuczynsky (Hg.), Im Dialog mit der Wirklichkeit. Annäherungen an Leben und Werk von Jürgen Fuchs. Halle(Saale): Mitteldeutscher Verlag GmbH, 2014.

6.   Christine Cosentino: Lutz Seiler, Kruso (Berlin: Suhrkamp,2014)

7. Theo Buck: Susanne Schädlich, Herr Hübner und die sibirische Nachtigall. Roman (München: Droemer, 2014)

8. Susanne Schädlich: Uwe-Karsten Heye, Die Benjamins. Eine deutsche Familie (Berlin: Aufbau Verlag, 2014)

9. Christine Cosentino: Cornelia Schleime, Weit fort. Roman ( Hamburg: Hoffmann und Campe, 2008; Taschenbuchausgabe München: Goldmann, 2010).

10. Gabriele Eckart: Maja Beutler, Ich lebe schon lange heute: Texte 1973 bis 2013.  (Oberhofen: Zytglogge, 2013) 390 Seiten.

11. Christine Cosentino: Uwe Tellkamp, Die Schwebebahn. Dresdner Erkundungen (Berlin: Insel Verlag, 2012)

12. Gabriele Eckart: Richard A. Zipser, Von Oberlin nach Ostberlin: Als Amerikaner unterwegs in der DDR-Literaturszene. (Berlin: Christoph Links Verlag GmbH, 2013)

13. Christine Cosentino: Jakob Hein und Jacinta Nandi, Fish’ n’ Chips & Spreewaldgurken. Warum Ossis öfter Sex und Engländer mehr Spaß haben. (Köln: Kiwi, 2013)

14. Christine Cosentino: Christoph Hein, Vor der Zeit. Korrekturen. (Berlin: Insel, 2013). 10. Rainer Stollmann: Teju Cole, Open City. A Novel (New York: Random House, 2011. Dt.: Open City. Roman (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2012)

15. Rainer Stollmann: Zu Teju Coles Open City. Roman(New York: Random House, 2011. Dt.: Open City. Roman (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2012)

16. Michael G. Fritz: Utz Rachowski,  Miss Suki oder Amerika ist nicht weit!  (Niederfrohna: Mironde Verlag, 2013). Mit Zeichnungen von Thomas Beurich.

17. Theo Buck:  Michael Speier, Haupt Stadt Studio. Gedichte  (Berlin: Aphaia Verlag, 2012).

18. Frederick Lubich: Charlotte Roche, Schoßgebete ( München: Piper, 2011) 283 Seiten.

19. Frederick Lubich: Ein Berliner Bilder- und Bildungsroman. Zu Gerald Uhlig-Romeros Neuerscheinung stoff.wechsel (Berlin: epubli, 2011) 124 Seiten.

20. Susanne Schädlich: Grit Poppe, Abgehauen (Hamburg: Cecilie Dressler Verlag, 2012) 336 Seiten.

21. Susanne Schädlich: Bernd Cailloux, Gutgeschriebene Verluste. Roman memoire. (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2012) 271 Seiten.

22. Susanne Schädlich: Ulrich Bergmann, Doppelhimmel. (Bonn: Free Pen Verlag, 2012). 182 Seiten

23. Theo Buck: Hans Joachim Schädlich, Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II. Eine Novelle. (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2012).

24. Theo Buck: Anna Schädlich – Susanne Schädlich (Hrsg.), Ein Spaziergang war es nicht. Kindheiten zwischen Ost und West. (München: Wilhelm Heyne Verlag, 2012). 317 S.

25. Wolfgang Müller: Anna Schädlich – Susanne Schädlich (Hrsg.), Ein Spaziergang war es nicht. Kindheiten zwischen Ost und West. (München: Wilhelm Heyne Verlag, 2012). 317 Seiten.

26. Christine Cosentine: Christoph Hein: Weiskerns Nachlass. Roman (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2011).  319 Seiten.

27. Christine Cosentino: Jens Sparschuh, Im Kasten. Roman.  (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012).  224 Seiten.

28. Christine Cosentino: Volker Braun, Die hellen Haufen. Erzählung.  (Berlin: Suhrkamp, 2011)  97 Seiten.

29.  Christine Cosentino: André Kubiczek, Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn (München, Zürich: Piper, 2012). 479 Seiten.

30. Christine Cosentino: Lutz Seiler, Die Zeitwaage. Erzählungen. (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009). 285 Seiten.

31. Christine Cosentino: Julia  Schoch, Selbstporträt mit Bonaparte  (München: Piper, 2012) 142 Seiten.

32. Gabriele Eckart: Edwin Kratschmer, Wahnwald.  (Stadtroda: UND Verlag, 2011). 249 Seiten.

 


 

Marko Martin, Treffpunkt ’89 – Von der Gegenwart einer Epochenzäsur. Hannover: Wehrhahn, 2014, 319 Seiten.

Rechtzeitig zum fünfundzwanzigsten Jahrestag des Berliner Mauerfalls erschien im Herbst 2014 Marko Martins Sammlung von rund fünfunddreißig Essays, in denen Schicksal und Lebenswerk von Exilanten und Dissidenten der deutschen und mitteleuropäischen Kultur und Geschichte des letzten Jahrhunderts skizziert werden. Es handelt sich dabei, um hier nur die bekanntesten zu nennen, zum einen um Hans Sahl, Arthur Koestler, Manès Sperber, Ralph Giordano und André Glucksmann, zum andern um Reiner Kunze, Jürgen Fuchs, Czeslaw Milosz, Pavel Kohout, Milan Kundera und Milo Dor. Während die erste Gruppe vor allem aus Vertretern der deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums besteht, die sich zur Zeit des Dritten Reiches durch Auswanderung in westliche Länder retten konnten, repräsentiert die zweite Gruppe primär Autoren, die unter diversen Regimen des osteuropäischen Kommunismus unterdrückt und verfolgt wurden.

Allesamt sind die Portraitierten „Jahrhundertzeugen“ (196) des modernen Totalitarismus und seines Big-Brother-Terrorismus, den sie in seinen verschiedenen Erscheinungsformen in ihren literarischen Werken darzustellen suchten, angefangen von den ideologischen Verblendungen, parteipolitischen Schauprozessen und den rassenwahnsinnigen Völkermorden in der Mitte des Jahrhunderts bis zu den alltäglichen Schikanen und andauernden Repressionen der Bespitzelung und Einschüchterung, des Publikationsverbots und der letztendlichen Ausbürgerung in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit. Der Gewaltherrschaft des deutschen Faschismus und des ost-europäischen Kommunismus folgte nach dem Fall der Berliner Mauer die letzte blutige Ausgeburt dieses Wahnsinnsjahrhunderts, nämlich des in verschiedenen Teilen Europas wieder auflebenden Nationalismus, dessen zum Teil mörderische Exzesse im letzten Teil dieses Buches ebenfalls immer wieder zur Sprache kommen.

Ein Großteil der Essays beruht auf Interviews, die der Autor mit den Portraitierten geführt hat, wobei ihn seine Treffpunkte in Kneipen, Kaffeehäusern und Privatwohnungen von Berlin über Prag und Paris bis nach Portugal und Kanada führten. Dazu kommen auch noch weitere Reisen in den Fernen Osten, wie etwa nach China und Birma, wobei der Verfasser im letzteren ein Gespräch mit einem ehemalig verfolgten und gefolterten Regimekritiker und heutigen Herausgeber von Birmas bekanntester Exilzeitschrift führt.

Da Marko Martin in der DDR geboren und aufgewachsen ist und durch seine dortige Wehrdienstverweigerung schon früh die Vergeltungsmaßnahmen eines staatlichen Machtapparats am eigenen Leib erfahren hat, bring er ein kongeniales Sensorium für die politischen Erfahrungen seiner verschiedenen Gesprächspartner mit. Zu diesem persönlichen Einfühlungsvermögen kommt eine große Beredsamkeit und weltliterarische Belesenheit, sodass sich die Lektüre einzelner Episoden immer wieder zu intensiven, emotional wie intellektuell stimulierenden Leseerfahrungen verdichtet, und dies umso mehr, wenn man sich auch immer wieder das grenzenlose Ausmaß an Blut, Schweiß und Tränen vergegenwärtigt, das den persönlichen Erfahrungen und historischen Erinnerungen der Portraitierten auf vielfache Weise zu Grunde liegt.

Während der Autor mit den einstigen kommunistischen Herrschaftssystemen sowie ihren politischen Repräsentanten, vor allem ihren skrupellosen Karrieristen und Opportunisten, sowie ihren gewissenlosen Kollaborateuren immer wieder unmissverständlich ins Gericht geht, sucht er andererseits auch der kritischen Loyalität einer Autorin wie Christa Wolf zumindest in manchen Zweifelsfällen ein gewisses Verständnis entgegen zu bringen. Unzweideutige Hochachtung zollt er hingegen der moralischen Integrität und intellektuellen Redlichkeit von Autoren und Politikern wie Jürgen Fuchs, Ralph Giordano, Alexander Dubček und Václav Havel.

Es sind Ideen und Realitäten wie Glasnost und Perestroika und Bürgerrechtsbewegungen wie der Prager Frühling, Solidarnosć, die Friedliche Revolution von Ost-Berlin, die Samtene Revolution auf dem Prager Hradschin, die Orangene Revolution auf dem Maidan von Kiew und letztlich die zerschlagene Revolution auf dem Tian’anmen Square in Beijing, die den Leser immer wieder an die Zivilcourage einzelner und ihr kollektives Engagement erinnern, wenn es darum ging, sich für die Befreiung und Verbesserung ihrer Gesellschaften voll und ganz einzusetzen.

Drei thematische Leitmotive kehren gleichsam als gemeinsamer Nenner in dieser Textsammlung mehrfach wieder: Zum Ersten das erstaunliche Phänomen eines geradezu systematischen „Demokratisierungsprozesses“ (258) in der östlichen Welthemisphäre, der vor allem für die letzte Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts charakteristisch ist, zum Zweiten der persönlich emphatische Einsatz des Autors in seinem literarisch-journalistischen „Kampf gegen die Erinnerungslosigkeit“ (310) und nicht zuletzt seine mehrfach ausgesprochene „Daseinsdankbarkeit“ (317), die er angesichts der großen Zeitenwende rund um 1989 empfindet, und dies vor allem in dem klaren Bewusstsein, dass vieles auch ganz anders hätte verlaufen können. Es war ja auch wirklich mal Zeit für diese „historische Gerechtigkeit“, wie der Autor diese Entwicklung mehrfach nennt.

Insgesamt betrachtet summieren und kristallisieren sich die Gespräche und Betrachtungen dieses Sammelbandes zu einem faszinierenden Kaleidoskop, in dem sich die zahlreichen Brüche und Widersprüche des zwanzigsten Jahrhunderts auf überaus facettenreiche Weise widerspiegeln. Sie fügen sich zu einem Jahrhundert-Panorama, in dem sich einmal mehr das „Annus Mirabilis“ 1989 in der Tat als eine epochal-globale Zäsur zu erkennen gibt, wie sie die Annalen der Weltgeschichte wohl kein zweites Mal aufzuweisen haben. Es ist, als hätte sich Hegels legendärer Weltgeist, seine geschichtliche Dialektik der Aufklärung und vor allem sein vielbeschworener Drang zur Befreiung der Menschheit endlich einmal ein großes, welthistorisches Stelldichein gegeben.

Dieses revolutionäre Rendezvous allein ist Grund genug, der Textsammlung von Marko Martin einen prominenten Platz auf dem persönlichen Bücherregal einzuräumen, Und für alle Leser, die nach dem abgründigen Zivilisationsbruch in der Mitte des letzten Jahrhunderts zufällig westlich des Eisernen Vorhangs geboren wurden und aufgewachsen sind oder gar in einem bereits befreiten Europa auf die Welt kamen, ist diese aktuelle Textsammlung, diese veritable Festschrift auf das fünfundzwanzigjährige Jubiläum der errungenen Einheit und Freiheit Europas, gleichzeitig auch eine notwendige Mahnschrift sowohl zur Dankbarkeit als auch zur nachhaltigen Wachsamkeit, diese großen, geschichtlichen Errungenschaften nie für selbstverständlich zu nehmen. Die gegenwärtigen Entwicklungen in manchen Teilen der Welt geben Anlass genug, sich um das internationale Unternehmen der Demokratisierung unserer Weltzivilisation, um das unvollendete Projekt der globalen Moderne, weiterhin Sorgen zu machen und entsprechend wachsam zu bleiben.

Frederick A. Lubich

 

Hans Joachim Schädlich: Narrenleben. Roman. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg 2015

Bescheidne Wahrheit sprech ich dir:
Wenn sich der Mensch, die kleine Narrenwelt
Gewöhnlich für ein Ganzes hält
(Goethe: Faust, V. 1346-1348)

Der Titel des neuen Romans von Hans Joachim Schädlich eröffnet ein vielschichtiges Bedeutungsfeld. Die Spannweite des Wortes “Narr“ reicht, historisch betrachtet, vom Spaßmacher und Schelm bis zum Mißgestalteten, zum Toren, zum Irren oder gar zum zwielichtigen Verwandten des Teufels. Im positiven Bereich kann die Ausdrucksmöglichkeit des Wortes einen geistreich-unterhaltsamen, humorvollen, lustigen oder weltfremden und außenseiterischen Mitmenschen meinen, wie dann im negativen einen unreifen, voreingenommenen, tollpatschigen, dummen oder ignoranten. Hinzu kommt die mit der Zeit herausgebildete Funktion des Schelms, Schalks oder Komikers, der als Possenreißer und Spaßmacher für Unterhaltung und Belustigung seiner Umwelt sorgt, wie das in vielen Kulturkreisen nachzuweisen ist. Aus der Rolle des Zeitvertreibers und Stadtnarren, man denke etwa an Till Eulenspiegel, entwickelte sich dann in der Zeit vom 14. bis zum 18. Jahrhundert die besondere Ausprägung des Hofnarren, der wie Hofmohren und Hofzwerge zum Gesinde der jeweiligen Herrschaften gehörte, aber durch die ihm zugesprochene Narrenfreiheit sogar Kritik äußern konnte, die allen anderen verwehrt war. Im feudalen Machtsystem bildete sich so für den mutigen Hofnarren ein Handlungsfreiraum heraus, hin und wieder die Wahrheit verlauten zu lassen. Er tat dabei das, was Walter Höllerer einmal vom Schriftsteller sagte: “Schreiben hat etwas zu tun mit In-Unordnung-bringen: nämlich eine Ordnung, die du nicht für richtig hältst, die du nicht ausstehen kannst, – und es hat etwas zu tun mit In-Ordnung-bringen: etwas zusammenzufügen, was immer auseinandergetrieben worden Ist“. Das gilt ebenso für die Aktionen kluger Narren. Sie bringen etwas durcheinander, um der Mitwelt eine andere, bessere Ordnungsmöglichkeit anzudeuten. “Kluge Narren reden besser“, konnte darum Nietzsche sagen. Kritisierende oder karikierende Wahrheit zu äußern, war natürlich ein Drahtseilakt. Allemal blieb der Hofnarr dabei dem Zornesrisiko des Herrschers ausgesetzt. Immerhin gewann manch ein Hofnarr auf diese Weise Ansehen und sogar Faszinationskraft. Immer wieder konnte er über den Rahmen einer bloß lustigen Person hinauswachsen und, gleichsam spielerisch, gesellschaftlich relevante menschliche Ängste und Nöte artikulieren und Aktionen des Herrschers kritisch beleuchten. Solche Narren sind imstande, uns die bestehende Wirklichkeit als “kleine Narrenwelt“ – im Sinne des von Goethe durch Mephisto kritisch gesehenen Weltzustands – bewußt zu machen. Weil wir alle uns in dieser “kleinen Narrenwelt“ tummeln, ist ein “Narrenleben“ identisch mit der Lebenskomödie schlechthin. Deswegen sollten Narren uns nebenbei auch lehren, uns nicht zu ernst zu nehmen.

Ein so gearteter, von Freiheit und Menschlichkeit träumender Narr war der von Hans Joachim Schädlich ausgewählte Joseph Fröhlich aus der Steiermark, ein gelernter Müller, der von 1694 bis 1757 lebte. Nur seinem Innern folgend, kämpfte er als Hofnarr mit den ihm gegebenen beschränkten Möglichkeiten ganz selbstverständlich und unprogrammatisch für eine humanere Welt. Dabei kann das Lachen immer wieder ziemlich traurig geraten. Als seines Zeichens kurfürstlich-königlicher Hoftaschenspieler im Dresden Augusts des Starken, rückt ihn Schädlich ins Zentrum des Romans. Über diese historische Figur gelingt es ihm, hinter der gesellschaftlichen Situation im Absolutismus die unerträgliche Lage derer zu schildern, die Macht und Willkür der Herrschenden ausgesetzt waren und häufig immer noch sind. Seit seinen Anfängen pflegt der Autor sie vielsagend “die Unmächtigen“ zu nennen. Damit führt er sein Grundthema weiter, Machtmißbrauch und Unfreiheit in Geschichte und Gegenwart anzuprangern. Wie schon in der vorangegangenen Novelle über das Verhältnis von Voltaire und Friedrich II. (“Sire, ich eile“) oder im Erzählstück über den Komponisten Antonio Rosetti (“Concert Spirituel“) wird die Leserschaft ein weiteres Mal mit dem Absolutismus konfrontiert, der ja in der heutigen Kapitalakkumulation durchaus noch eine nicht zu übersehende strukturelle Nachwirkung ausübt. Durch sein Reden und Wirken macht uns Joseph Fröhlich mit der zweischneidigen Situation des Narren vertraut. Der taschenspielerisch begabte “lustige Rat“ muß durchaus die Launen der Mächtigen immer wieder über sich ergehen lassen, versteht es aber, wenigstens punktuell die Rolle des Unmächtigen zum Signal von Humanität, Vernunft und Freiheit zu nutzen. Ironie ist dabei seine Waffe. Weil unerträgliche Mängel oder Mißstände entlarvend vorgeführt werden, unterminieren ironisch vorgebrachte Wahrheiten das herrschende System der feudalen Hierarchie, auch wenn sich nach außen zunächst nichts ändert. Es ist kein Zufall, daß die im Roman beschriebenen unerträglichen Sozialstrukturen immerhin im Land des ‘Sonnenkönigs‘, in Frankreich, Jahrzehnte später, 1789, zur gewaltsamen Beseitigung des Absolutismus geführt haben. Viel zu wenig bekannt ist, daß unter anderem auch die direkt unter dem Volk verbreiteten Flugschriften der ‘Mathurine la folle‘, der ersten Hofnärrin Frankreichs, vorbereitend dazu ihren kleinen Teil beigetragen haben. Sie stellte in diesen Texten, die sie höchstpersönlich auf dem Pariser Pont Neuf verkaufte, Willkür, Mißwirtschaft und Heuchelei am Hofe bloß. Narrenfreiheit kann eben durchaus Langzeitwirkung haben.

Schädlich ist als Historiograph immer auch erzählender Poet. Mit großer Sorgfalt spürt er den historischen Zusammenhängen bis in alle Einzelheiten nach, nimmt sich aber zugleich die Freiheit, bei der Gestaltung seines Textes das Faktische sowohl kurz und bündig zu straffen, als auch fiktiv zu unterfüttern und zugleich mit kunstvoll kristallisierender Wortgestaltung anzureichern. Das gelingt ihm auf dreierlei Weise. Zum einen erreicht er auf dem Wege konsequenter Verknappung mit präzisen Satz- und Dialogfolgen eine konzentrierte und deshalb gut überschaubare Darstellung der historischen Befunde. Dadurch gewinnt das plastisch mitgeteilte Faktenmaterial ausweitbaren Parabelcharakter. Zum andern rückt er das narrativ vermittelte Geschehen in ironische Distanz. Das regt den Leser dazu an, dem Erzählten kritisch zu begegnen, ohne in seiner genußvollen Aufnahme des mit Kunst und Absicht zusammengefügten Wortmaterials beeinträchtigt zu werden. Anregend wirkt schließlich zum Dritten die von Schädlich praktizierte Erzählmanier ständigen Wechsels von Ich-Erzählung und auktorial berichtender Außenperspektive. Denn gerade durch den zum Mitdenken auffordernden perspektivischen Wechsel der pointiert vermittelten Erzählelemente bekommt der Leser die Möglichkeit geboten, sich aktiv mitwirkend, von den heutigen Problemen her, in den Rezeptionsprozeß einzuschalten. Die Darstellungsweise in meist kurzen Absätzen, stellenweise verlebendigt durch eingefügte Dialogpartien, erzeugt eine die Aufmerksamkeit steigernde, weiterdrängende Bewegung, erlaubt jedoch ebenso das fortwährend nötige reflektierende Innehalten. All dies bewirkt zusammen, daß uns Lesern das historisch Ferne ungemein nahe vorkommt. Wir erkennen im Jagdrevier der Mächtigen uns durchaus vertraute Lebensstrukturen.
Fröhlich darf als einziger August den Starken mit ‘du‘ anreden, aber natürlich ändert das nichts an seiner unbedingten Abhängigkeit. Nicht ohne Grund beginnt der Roman mit einem wenig freundlichen und insofern symptomatischen ‘Dialog‘ zwischen einem Schreiber des Markgräflichen Hofes Bayreuth und dem angehenden Hof-Taschenspieler, zwischen dem Repräsentanten der Macht und dem Unmächtigen. Das ist natürlich in Dresden nicht anders. Zur Bestätigung dieser Abhängigkeit erhält der lustige Narr jedes Mal, wenn er vor August erscheint, je nach Laune einen Klaps, eine Ohrfeige oder einen Schlag auf die Wange. Der Kurfürst und König schätzt zwar an ihm, daß er ein “Narrendorf in seinem Kopf“ hat. Dennoch läßt er beim Besuch des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. zum Vergnügen der Hofgesellschaft an ihm das Fuchsprellen vorführen oder mutet ihm in Wittenberg den Studentenulk zu, sich als Taschenspieler immatrikulieren zu lassen. Zur Strafe verdonnert der dem Gelächter Ausgelieferte in seiner Antrittsrede August dazu, für die finanziell kurz gehaltene Universität Geld lockerzumachen. Er trägt gleichfalls wesentlich dazu bei, die geplante Heirat des 58-jährigen Witwers August mit der 19-jährigen preußischen Prinzessin Wilhelmine zu verhindern (“Mein lieber König, du bist dreimal so alt wie die Prinzessin … Dein lustiger Rat rät dir: Heirate nicht!“). August muß danach eingestehen: “Er hat ja recht“.- Entschieden fragwürdig kommt dem lustigen Rat ebenso das fünf Millionen Taler teure “Große Campement“ oder “Lustlager“ vor. Sein berechtigter Einwand: “Wozu das alles? Es wäre besser gewesen, du hättest den Bauern fünf Millionen Taler Steuern erlassen“, wird von August mit der Staatsraison gekontert. Auf die Entgegnung Fröhlichs: “Daß man stark ist, muß man nicht zeigen. Man muß es sein“, bleibt dem Monarchen lediglich ein resigniertes “Ach Joseph“ zu sagen. Insgeheim bringt ihre unterschiedliche Betrachtungsweise die beiden dennoch einander näher. Eine ebenso eingefügte Unterhaltung zwischen Fröhlich und dem befreundeten Buchhändler und Chronisten Johann Christian Crell dient dazu, den Leser aufzuklären über die Folgen aristokratischer Libertinage. August der Starke, dem der Volksmund 365 Nachkommen zuschreibt, ist dafür ein geeignetes Beispiel. Die nüchterne Aufzählung des “Frauen- und Kinder-Durcheinanders“ von Augusts Gemahlin und den nicht wenigen Mätressen nebst den jeweiligen Kindern genügt dem Autor, um davon eine die Verhältnisse entlarvende Komik ausgehen zu lassen. Bei aller dem Text durchgängig eingeschriebenen Kritik am Absolutismus ist jedoch der Konfiguration August – Joseph insgeheim eine gewisse Seelenfreundschaft abzulesen, die vor allem in der impulsiven Reaktion Josephs beim Tod Augusts zum Ausdruck kommt: “Mein guter König / Mein großer Freund. / Nie mehr heitere Gespräche! / Nie mehr ein offenes Wort. / Ich habe nur geweint“.

Derartige geistige und menschliche Nähe gibt es dann überhaupt nicht zwischen dem etablierten Hofnarren und Augusts Nachfolger, dem “würdevoll, steifen, nicht lebenslustigen“ Friedrich August II. Der kann einen lustigen Rat um sich herum nicht brauchen, behält aber freundlicherweise die Bezahlung bei. Schließlich schiebt er ihn als Mühlen-Commisarius in die polnischen Gefilde ab. Ein fester Sold erlaubt es Fröhlich, in Dresden ein Haus, das “Narrenhäusel“, zu bauen und für Frau, Kinder und Enkelkinder Vorsorge zu treffen. Kurz vor seinem Tod muß er dann noch erleben, daß die Preußen unter dem ebenso erfolgs- und eroberungssüchtigen wie rücksichtslosen Friedrich II. in Sachsen einmarschieren und damit den Siebenjährigen Krieg vom Zaun brechen, der sich bekanntlich zu einem Weltkrieg auswuchs. Die Schlacht bei Lobositz in Nordböhmen im Oktober 1756 gibt Schädlich Gelegenheit, an zwei Stellen aus der authentisch plebejischen “Lebensgeschichte“ des zum Militärdienst gepreßten Ulrich Bräker (“Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer (!) des Armen Mannes im Toggenburg“, Zürich 1789) zu zitieren. Bräker entschloß sich unter dem Eindruck dieses “unbeschreiblichen Blutbads“ dazu, zu desertieren und dazu im Rückblick anzumerken: “Das heißt – wo nicht mit Ehren gefochten (zu haben) -, doch glücklich entronnen“ zu sein. Sein Blick von unten befähigt ihn zu der ‘defätistischen‘, in Wahrheit menschlich vernünftigen Haltung, die ihn in die Nähe jener närrischen Weisheit rückt, die das Zeug hat, zum Protest gegen die bestehende Gesellschaftsordnung anzuregen und somit ins Schwarze zu treffen. Auf all diesen verschiedenen narrativen Pfaden gelingt es dem Autor die Zeitumstände brennglasartig herauszuheben.

Wie gründlich sich Schädlich über das Narrenwesen informiert hat, zeigen beiläufige Hinweise. Er erwähnt nicht nur den originell einbezogenen Vorläufer Fröhlichs, Claus von Ranstädt, Hofnarr Friedrichs des Weisen, sondern auch die 1705 erschienene Schrift des katholischen Predigers und Schriftstellers Abraham a Sancta Clara, alias Johann Ulrich Megerle, mit dem schönen Titel “Wunderlicher Traum / Von einem grossen Narren-Nest“. Ebenso fehlt nicht die ganz anders geartete Geschichte des preußischen ‘Narren‘ Jacob Paul Freiherr von Gundling, jenes unglücklichen Präsidenten der Preußischen Akademie der Wissenschaften, der seiner Neigung wegen, mehr zu trinken “als ihm zuträglich war“, zum Ziel allgemeinen Spottes wurde. Widerstandslos ließ der “Narr wider Willen“ alles mit sich geschehen. Vor allem das Tabakskollegium des ‘Soldatenkönigs‘ machte ihn mit fortgesetzten Demütigungen zum unfreiwilligen Narren. Man warf ihn in den zugefrorenen Schloßgraben, damit er einbrechend in Panik geriet, legte ihm zwei junge Bären ins Bett, machte ihn zum Vater eines Affen. Die Zechgenossen begrüßten ihn mit einem Eselsschrei, den er erwidern mußte. Obwohl auf so üble Art erniedrigt, wollte Gundling mit Fröhlich nichts gemein haben, weil er glaubte, etwas Besseres zu sein. Der reagierte darauf mit dem weisen Satz: “Hochmut tut niemand gut. Narren sollten einander nicht geringschätzen“. Zum schlechten Schluß wurde Gundling auch noch in einem Faß-Sarg beigesetzt. Fröhlich quittierte das ironisch-elegant mit einem “zwanzig Ellen langen Trauerflor“. Aber auch sein Leben neigte sich bald danach dem Ende zu. Wegen der preußischen Besatzung Sachsens wurde er Ende Oktober 1756 nach Warschau beordert. Dort angekommen, quälten ihn Schmerzen in der Brust. Wenige Monate später, am 27. Juni 1757, starb er in seiner Mühle. Damit endet der erste Teil des Romans.

Die von Fröhlich hinterlassene satirische Schrift “Politischer Kehraus … mit Freud und Leid geschrieben“, veröffentlichte der Sohn Jacob 1763. Darin stand unter anderem zu lesen: “… was die Großen einbrocken, sollen die Niedrigen ausfressen. Schießen die Großen Böck, so treten sie die Kleinen in den Dreck. … Schaut, ihr Kleinen, ihr habt Mäuler, ihr habt Augen, warum seht und redet ihr nit einmütig, wo ihr sehn und reden sollt?“ Das war entschieden notwendiger, klassenkämpferischer Klartext eines seine Zeit durchschauenden und über sie hinausdenkenden einfachen, couragierten Menschen.

Kontrastierend zum erfüllten Narrenleben Joseph Fröhlichs kommen dann noch die von Schädlich absichtsvoll hinzugefügten ‘Memoiren‘ des unfreiwilligen ‘Narren‘ Peter Prosch aus Tirol. Mit einen einfallsreichen Kunstgriff stellt der Autor in einem fiktiven Brief Proschs an den berühmten Zunftgenossen und Verfassers des “Politischen Kehraus“ die Verbindung zum zweiten Teil her. Die in 13 ‘Parts‘ gegliederten ‘Memoiren‘ basieren auf der von Prosch selbst verfaßten Biographie. Dieser arme Teufel mußte sich lebenslang als Vagant mühsam an seinem Traum abarbeiten, daß ihm die Kaiserin Maria Theresia einen Hut voll Geld schenkt und er sich so ein Haus bauen kann. Zwar geht der Traum in Erfüllung, jedoch führt Prosch in der Folge ein erniedrigendes Leben als herumziehender Handschuhverkäufer, der Bosheit und Sadismus der jeweiligen Herrschaften, die er aufsucht, ausgesetzt ist. Nirgends findet er eine feste Anstellung. Bilanzierend muß er die deprimierende Feststellung machen: “Je mehr ich ertrage, desto größer ist mein Ertrag“. Die schmerzlichen Erfahrungen Proschs – man erwählt ihn zum Taufpaten eines Esels, bindet ihn am Sattel eines wilden Pferdes fest, verpaßt ihm ungut wirkende Klistiere, zündet den ihm verpaßten falschen Bart an, unterschiebt ihm ein Kind und mißbraucht seine Frau – zeigen überdeutlich wie weit Macht und Moral auseinanderliegen. Das ist die zwingende Quintessenz auch des zweiten Romanteils. Erstaunlich und höchst lesenswert ist, was alles der Erzähler Schädlich in komprimierender Prägnanz auf nicht einmal 200 Seiten unterbringt. Wie nebenbei weitet sich die Szenerie um die beiden sehr unterschiedliche Narrenleben zum charakteristischen Querschnitt einer ver-rückten Welt, eben der Welt des Narrenlebens, – unserer Welt. Schnell ans Lesen, lieber Leser!

Theo Buck

Frederick A. Lubich (Hrsg.), Transatlantische Auswanderungsgeschichten: Reflexionen und Reminiszenzen aus drei Generationen. Festschrift zu Ehren von Robert Schopflocher. (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014) 647 Seiten.

 Auf die Bitte dieses Buch zu rezensieren, sagte ich sofort zu, weil mich das Thema Mehrsprachigkeit interessiert – wozu bei diesem Titel Interessantes zu erwarten war, vielleicht sogar über die Frage, wie Deutsch und Spanisch im Kopf zueinanderpassen. Robert Schopflocher schreibt ja, wie ich aus seiner Autobiographie weiß, in beiden Sprachen. Wie geht das? Mir brennen Dinge auf den Nägeln, die ich auf Deutsch nicht beschreiben kann. Auf Spanisch (meine Lieblingssprache) ginge es da? Das Buch kam an — ein Wälzer, Beiträge von rund siebzig Autoren. Nach dem ersten Schreck las ich Egon Schwarz’ Beitrag “Sprachen im und fürs Exil” und fand, was ich suchte: der Autor beschreibt zum Beispiel die “Trefflichkeit der phonetischen Ortographie” im Spanischen, leicht zu lernen für einen deutschen Muttersprachler, wie ich aus eigener Erfahrung weiß.

Jetzt, nach der Lektüre aller Beiträge — in den meisten erzählen Auswanderer über ihre erzwungene oder freiwillige Auswanderung aus einem deutschsprachigen Land und ihre Eingliederung in ein neues, in dem eine andere Sprache gesprochen wird — interessieren mich diese zwei Ausdrücke sehr: “hybrider Schriftsteller” (siehe Reinhard Andress’ interessanten Artikel über Robert Schopflocher) und “butterfly effect” (kein Synonym für Schneeballeffekt, wohl bemerkt) — Guy Sterns Begegnung mit Marlene Dietrich an der europäischen Front im zweiten Weltkrieg zum Beispiel!

Der längste Beitrag in dieser Festschrift sind Frederick Lubichs in fünf Teile gegliederte, mit Eichendorff-Zitaten und Songzeilen seiner Lieblingsbands geschmückten und faszinierend zu lesenden Reisebilder. Dieser autobiographische Text berührt unter vielen anderen das Thema Zurückwandern. Lubichs Großeltern, Mährisch sprechende Sudetendeutsche, gehen nach dem zweiten Weltkrieg gezwungenermaßen nach Deutschland zurück; von da wandert der Enkel später in die USA aus… An einer Stelle weinte ich fast. Lubich, die frühen siebziger Jahre feiernd, schreibt: “Wir Deutschen der ersten Nachkriegsgeneration spürten Freuds ‘Unbehagen in der Kultur’ ganz besonders und reagierten mit entsprechend radikaler ‘Gegenkultur’. […] ‘Heavy Metal’ statt ‘Heavy Artillery’, das wurde unsere Lebensphilosophie – vor allem wenn es um Grenzerfahrungen ging.” Der Autor feiert das Reisen, “ausgiebige Ausflüge, vor allem nach Frankreich und Italien” und bezeichnet diese Zeit rückblickend als “große jugendbewegte Aufbruchzeit”. Aber wir? Die auf der anderen Seite der Mauer? Statt nach Italien zu trampen, FDJ Fackelzüge und Stasi. Wer das nicht aushielt, konnte ja versuchen, von Hiddensee aus durch die Ostsee nach Dänemark zu schwimmen, wie wir in Lutz Seilers preisgekröntem Roman Kruso (Deutscher Buchpreis 2014) gerade lesen können. “Wir Deutschen” – schließt der Begriff uns, die von der anderen Seite, aus?

Mehrere Autoren geben Leseempfehlungen; die ersten zwei Bücher auf meiner Liste sind Robert Schopflochers Die verlorenen Kinder und Martin Caparrós’ Wir haben uns geirrt, Romane, die kritisch auf die argentinische Militärdiktatur zurückblicken. Denn das gehörte leider auch zum Auswandern nach Südamerika – Militärdiktaturen, nachdem man vor noch gar nicht so langer Zeit Hitler entronnen war… Vielleicht war die DDR gar nicht so schlimm im Vergleich?

Und sogar das gehört zum Thema dieses Buches: Fred Viebahn, der in den USA lebende deutsche Schriftsteller, erinnert sich an 9/11 – auf dem Urlaubsschiff nach Europa unterwegs sein und da stürzen auf dem Bildschirm die Twin Towers ein! Ist das Fiktion oder Realität? Was ist der Unterschied zwischen beiden? Schließlich hielten 1938 viele Orson Welles’ Hörspiel War of the Worlds zuerst für Wirklichkeit und verfielen in Panik. Da bist du erst einmal vorsichtig, bevor du Bildern glaubst…

Der Herausgeber Frederick Lubich hat die von Zeichnungen von Peter Pabisch sehr schön eingeleiteten und in drei verschiedenen Sprachen (Deutsch, Englisch, Spanisch) geschriebenen Texte in acht Kapitel gegliedert: Erinnerungen an Schopflocher und Glückwünsche zu seinem 90. Geburtstag, Essays zum Autor oder zum Thema Shoah, Reflexionen über fast alle Aspekte des Auswanderns, Rezensionen neuer Bücher zum Thema und Interviews mit bekannten Ausgewanderten sowie das mit “Memories and Fantasies” betitelte Kapitel VII, das ein bisschen eine Stopfgans ist (aber bei der Lektüre nicht weglassen, einige der interessantesten Beiträge des Bandes füllen es). Mein Lieblingskapitel ist VI: “Südamerika: Fremde (und) Heimat”; es weckte Erinnerungen an meine Reisen nach Südamerika und den Entschluss, unbedingt noch einmal nach Argentinien zu fliegen – aber erst nachdem ich die oben genannten Romane über die Militärdiktatur gelesen habe! Kapitel VIII mit Beiträgen von Studenten aus Virginia über atlantische Hin- und Herbewegungen schließt das Buch – die Jüngsten haben das letzte Wort: “Man braucht das Andere, muss auch das Fremde kennengelernt haben, um herauszufinden, wohin man gehört und was man hat.” (Sabine Smithers).

Die Lektüre dieses Buches ist ein Muss für alle, die sich für die Themen Exil, Shoah, Auswandern, Integration und, vielleicht, Nicht-integration und Zurückwandern interessieren.

Gabriele Eckart

 

Rolf Niederhauser, Seltsame Schleife. Zürich: Rotpunktverlag, 2014.

Der Roman Seltsame Schleife ist ein anspruchsvolles Buch, das Zeit zum Lesen und Denken verlangt! Schon wenn man es in die Hand nimmt, muss man sich anders orientieren. Das Wort Schleife auf dem Umschlag steht unter Seltsame auf dem Kopf und auf der Rückseite wiederholt sich das Spiel auf umgekehrte Weise. Auf der rechten Seite elf beginnt der Roman mit dem ersten Kapitel “Die Reise”, darunter ein Zitat von Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meister I; auf Spanisch! Die Reise beginnt mit dem Wort “Buenaventura,” die Stadt in Kolumbien, die aber, wenn man die Geschichte zu Ende gelesen hat, dieses Ende der Anfang ist. “Geschichten lassen sich nur vom Ende her erzählen, wie es auch keine Gegenwart gibt, auf der andern Seite, die etwas anderes wäre als eben erst wahrgenommene Vergangenheit. Jede Information braucht Zeit, um im Bewusstsein anzukommen” (50). Die zweite Seite ist nicht auf der folgenden Rückseite, sondern wieder rechts; also Seite 12. Man liest so zuerst 368 rechte Seiten, muss dann das Buch umdrehen—auf den Kopf stellen—und das zweite Kapitel, “Die Rückkehr” von Seite 370 bis 727 lesen, wobei das kurze, dritte Kapitel ganz am Ende (S. 716-727) mit “Die Recherche” überschrieben ist. Diese Recherche ist der erzählerische Anti-Klimax und ein erklärender Versuch, der die Wahrhaftigkeit und Wahrscheinlichkeit der Geschichte hinterfragt. Immer nur die rechte Seite eines Buches lesen fixiert irgendwie den Kopf, den Blickwinkel des Lesers/der Leserin, immer mit dem Kopf nur nach rechts blickend ist anstrengend. Zudem ist der subjektiv-emotionelle Bericht des Protagonisten, Pit oder Nicolàs Dörflinger, ein tagebuch-artiges Note Book Journal, durchwegs in Kleinbuchstaben (außer am Satzanfang und Namen) und ohne Kommata verfasst, während ein auktorialer Erzähler zwischendurch kurze Erklärungen in Standard-Orthographie einfügt (wie z.B. das obige Zitat). Diese äußerliche Leseoptik und -technik ist anfangs irritierend, nicht nur wegen der deutschen Kleinschreibung und kommalosen Sätze, sondern auch wenn man das Buch wieder zur Hand nimmt. Mehrmals ist es passiert, dass ich in die falsche Richtung der Schleife gelesen habe, obwohl ich das angebundene graue Stofflesezeichen benutzte, was mir aber einige weitere Handlungshinweise bescherte. Da die Geschichte in Mexiko, Kolumbien und Panama sowie die allgemeine Ausgangslage in der Schweiz und den Vereinigten Staaten spielt, sind die Dialoge oft auf Spanisch und Englisch. Eine intertextuelle, diskursive Sprachanalyse, die an Ludwig Wittensteins Theoreme erinnert, zieht sich wie eine Schleife durch den Text. Oft fasst der Protagonist die für ihn sinngebende Bedeutung von zwischenmenschlicher Kommunikation in indirekter Rede zusammen. Während seiner Reise liest und zitiert er von der spanischen Übersetzung von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (Los años de aprendizaje de Wilhelm Meister). Also ein Hinweis auf einen Bildungsroman, was dieses faszinierende Buch durchaus ist, bzw. es sind zwei Bücher, seltsam ineinander geschachtelt, ein spannender Abenteuer-Reise Roman und eine Sammlung von philosophischen, sprachwissenschaftlichen, kulturwissenschaftlichen, sozio-historischen, naturwissenschaftlichen, mathematischen und informationswissenschaftlichen Essays, die immer auf ein Ziel gerichtet sind: Was ist Wirklichkeit und was ist Bewusstsein, auch als sogenannte “doble-yo routine,” indem, “um sich selbst steuern zu können, muss das verdoppelte ‚selbst’ ja in jedem augenblick seine aktuellen beziehungen zu den objekten mit einer reihe von möglichen beziehungen vergleichen” (310). Die grundlegende Frage (was ist Wirklichkeit und Cyber Space?) ziehlt auf die Evolution der zu erkennenden Begriffsinhalte hin, wie die Sprache damit umgeht, aber die Semantik wird nie per se erwähnt. Die Folge der komplexen und oft komplizierten wissenschaftlichen oder para-wissenschaftlichen Abhandlungen sind narrativistisch geschickt, verzwickt und verschlungen in die Handlung eingebaut, d.h. der Leser/die Leserin muss sich da durchkämpfen bis man zur Fortsetzung der spannenden Reise gelangt. Man spürt immer, wie der Autor die Geschichte und den Leser/die Leserin kontrolliert, indem er wiederkehrend vorgreift, manchmal nur einen Satz einfügt um die Spannung anzukurbeln, oder er lässt Erinnerungsbilder und Rückblenden an ganz unerwarteten Stellen aufblitzen. Im ersten, rechts-buchlangen Kapitel erfahren wir nur Buchstücke vom Leben des Protagonisten, einem Schweizer, der seit fünf Jahren am M.I.T. (Massachusetts Institute of Technology) an einem Roboter-Forschungsprojekt mitarbeitet. Der Name Flor Marina taucht ständig auf, schon auf der fünften Leseseite, ohne dass man weiß, wer diese Frau ist, deren profunde Ansichten und Lebensausschnitte aber ausführlich beschrieben werden. Der Autor manipuliert die Narrative stets mit einem “input gap,” was nämlich auch Frauen im Leben Dörflingers bedeuten. “Ja, sowie ich darüber nachdachte, musste ich zugeben dass die gegenwart einer frau nur die funktion hatte so etwas wie eine lücke in meiner wahrnehmung zu füllen, einen input gap schliessen” (240). Erst auf Seite 242 erfahren wir, wie er Flor Marina in Kolumbien kennengelernt hat. Nun beginnt die endlose Schleife (S. 249) in der Beziehungsnarrative, obwohl der Begriff Schleife zuerst zur Beschreibung der Busroute durch die Stadt bis der Bus gefüllt ist, gebraucht wird. Aber die Schleife beginnt schon früher im Auto von Dörflinger in Cambridge, im Staate Massachusetts, und führt nicht nach Texas zum Elternhaus seiner Freundin Lilith wie geplant, sondern nach Mexiko zu seinem Schweizer Freund Guido, dann mit ihm und seiner Tochter auch auf die Galapágos und dann nach Kolumbien und von dort zu Fuß mit Flor Marina durch den Dschungel nach Panama, natürlich nicht linear, sondern intermittierend ins Note Book geschrieben. Texttypisch ist diese Narrative ein klassisches Beispiel von “stream of consciousness,” gepaart mit existentiellem, innerem Konflikt, rückblickend von der jeweils aktuellen, verzwickten Lage des Protagonisten. Er notiert auch viele Sinneswahrnehmungen von der Natur, der Umgebung, den Slums und den Menschen, die mit großer Sprachgewalt zu einem farbenvollen Bilderteppich gewoben werden. Alle Orte sind real und wenn man sie nicht kennt oder nichts darüber weiß, kann man sie zusätzlich auf dem Internet besuchen und wir erhalten die reale Bestätigung, dass der Protagonist wirklich da war, kein Ort, kein Museum, kein Park, keine Straße ist erfunden. Vieles zur wahrhaftigen Geschichte und Politik—aber was ist Geschichte und Politik anderes als was darüber geschrieben wird?—erfahren wir von den Menschen mit denen Dörflinger auf seiner Reise spricht und in indirekter Rede von Flor Marina, sowie auch langsam mehr und mehr zu ihrer Biographie als Guerilla und später politische Sozialarbeiterin. Nach dem “intercourse” in der Hängematte im Dschungel beginnt sich die Beziehungs-Narrative langsam ins Groteske zu steigern, bis hin zum Mord und grausigen Leichenentsorgung. Als der Schuss losging, notierte ich am Rande der Seite, “woher hat Dörflinger die Waffe?“, die er doch erst nach der Tat im Haus des ermordeten Freundes von Flor Marina geholt hatte, wie eine Schleife schon zuvor offenbarte. Solche faszinierenden Erinnerungs-Schleifen legt der Autor immer wieder zum Lesestraucheln.

Die Kern-Narrative kann essentiell als eine Homo faber Geschichte interpretiert werden. Der unbewusste Inzest als narrativen Wendepunkt bezieht sich aber “wahrscheinlich” auf Bruder und Schwester, Dörlinger und Flor Marina, nicht auf Vater und Tochter. Die Wahrheit kann nicht vom Vater des Protagonisten bestätigt werden, da er Minuten vor dem Treffen mit dem aufgebrachten Sohn nach einer Herzoperation in Zürich stirbt. Mit nur einem Foto als zweifelhaftem Beweis fliegt er gleich wieder nach Panama, aber von der vermeinten Mutter und Tochter keine Spur mehr. Im Grunde genommen hätte Dörflinger noch Blut von seinem Vater und ein Haar oder Hautzellen von Flor Marina in seinen Sachen zu einer DNA-Analyse suchen können, aber wie so oft fallen ihm rein logische, mechanische oder physikalische Möglichkeiten erst später ein, weil seine Gedanken mit der Niederschrift eines philosophischen oder mathematischen Phänomens in Anspruch genommen werden.

Die Seltsame Schleife ist ein komplexer, geschickt konstruierter Roman, der viele Textsorten mischt; viel reicher, tiefer und reflektierter als Max Frischs Homo Faber. Die komplexe Narrative und der Schreibstil Niederhausers kann sich durchaus mit den ganz “Großen” der Weltliteratur messen; Gabriel Garcia Márquez (vielleicht sein kolumbianisches Vorbild), Joseph Conrad, Philip Roth, James Joyce, Virginia Woolf und vor allem mit Mary Godwin Shelleys History of a Six Weeks Tour (1817), ein gemeinsames Tagebuch mit Percy Shelley über ihre ausbrechende, gemeinsame Reise durch Frankreich im Jahr 1814. Der Text ist ebenfalls eine Reise-Liebesgeschichte, in der aber vorwiegend die Revolution und der Krieg mit einem politischen, philosophischen Idealismus beschrieben wird, genau wie die Seltsame Schleife die politischen und sozio-ökonomischen Folgen der Revolution in Kolumbien und Südamerika behandelt.

Rolf Niederhauser spielt sprachlich-souverän mit den Werkzeugen der vernetzten, digitalen, programmierenden, medialen Menschen, die aber trotzdem die Globalisierung negativ erfahren, weil sie immer wieder an Grenzen und Differenzen von Emotionen und sozialem Benehmen stoßen. Die klassischen Klischees und Stereotypen über Schweiz/USA/Mittel- und Süd-Amerika haben ebenso einen Platz wie der Versuch sie zu durchschauen und zu dekonstruieren. Beim Schreiben des Romans hat Niederhauser seine mathematischen, naturwissenschaftlichen, psychologischen und philosophischen Recherchen in die Narrative aufgenommen, ein Grund warum dieses Buch eine so lange Gestationsperiode brauchte, zwanzig Jahre seit seinem letzten Buch. Die Exkurse Niederhausers erinnern sehr an die Philosophie des Mathematikers Bertrand Russel (1872-1970), der anfangs alle Realität als ein Produkt des Bewusstseins sieht, später aber behauptet, dass die Außenwelt unabhängig von Erfahrungen und Bewusstsein existiert, also dass Erkenntnis nur empirisch von Sinneserfahrungen der Außenwelt (Our Knowledge of the External World (1914) möglich ist. Die Seltsame Schleife bereichert die engagiert-unterhaltende Schweizer Literatur außerordentlich!

Margrit Zinggeler

 

Ernest Kuczynsky (Hg.), Im Dialog mit der Wirklichkeit. Annäherungen an Leben und Werk von Jürgen Fuchs (Halle(Saale): Mitteldeutscher Verlag GmbH, 2014). Diese von dem jungen polnischen Germanisten Ernest Kuczynsky herausgegebene Anthologie zum literarischen Werk, mutigen Leben und politischen Wirken des Autors, Psychologen und Bürgerrechtlers Jürgen Fuchs erschien mit Unterstützung der Heinrich Böll Stiftung 15 Jahre nach seinem Tod. Es ist neben der von Ulrich Scheer im Jahre 2007 veröffentlichten Biografie Jürgen Fuchs. Ein literarischer Weg in die Opposition. Inhaftiert in Hohenschönhausen ein notwendiges Buch. Das gilt besonders für die jüngere Generation, die kaum noch Erinnerungen an die Zeit hat, in der die Stimme von Jürgen Fuchs von großer Bedeutung für alle Menschen in der DDR war, die eine Umgestaltung des kleineren deutschen Teilstaates, den Fall der Berliner Mauer und letztlich auch die Vereinigung Deutschlands wollten.

Im Dialog mit der Wirklichkeit ist seinem Andenken und Vermächtnis gewidmet. Es ist ein lesenswertes und facettenreiches Buch, geschrieben von fast vierzig Autoren, deren Leben von seinem schriftstellerischen Werk und seinem mutigen Kampf gegen die Diktatur auf die eine oder andere Art tief berührt und verschiedentlich auch verändert wurde. Die Beiträge dieser Anthologie sind weitgehend kenntnisreich und gut geschrieben. Ernest Kuczynsky hat sie drei Hauptteilen zugeordnet. Im 1. Teil geht es um Jürgen Fuchs als dem “Kämpfer gegen das Vergessen”, der 2. Teil analysiert die “engagierte Literatur der Erinnerung” und der 3. Jürgen Fuchs’ “biographische Stationen zwischen Ost und West”.

Aus verschiedenen Quellen und Perspektiven erfährt man, dass Jürgen Fuchs ein feinfühliger, emphatischer und mutiger Mensch war. Schon als Oberschüler schrieb er unter dem Einfluss des Lyrikers Reiner Kunze, der ihm zu einem älteren Freund und Förderer wurde, ddr-kritische Gedichte. Ob in Reichenbach, seinem Geburtsort oder später in Jena und Berlin bildeten sich um ihn politische Freundeskreise, oder er schloss sich solchen an, wie z. B. in Berlin dem um Wolf Biermann und Robert Havemann, die Veränderungen in der DDR vorantreiben wollten, wie sie sich schon während seiner Schulzeit im “Prager Frühling” 1968 andeuteten, aber letztlich von den Panzern des Warschauer Paktes niedergewalzt wurden.

So sensibel und mutig er in allem auf die entwürdigenden Unterdrückungsmechanismen in der DDR reagierte, sagte er sich nie von der Vision eines demokratischen Sozialismus los, da er, der sich auch als Christ verstand (97), wie er später Esther Dischereit anvertraute, diesen für die den Menschen angemessene Gesellschaftsform hielt.

Trotz Haft, schwerster psychologischer Zersetzungs- und Mordversuche durch die Stasi, waren sein Festhalten an den Ideen von Freiheit und Demokratie, seine Integrität und seine Standhaftigkeit kennzeichnend für diesen aufrechten Vogtländer; Doris Liebermann z. B. hat das äußerst eindringlich in ihrem Interview “Landschaften der Lüge — Gespräch mit Jürgen Fuchs” zum Ausdruck gebracht. Einen NPD-Wähler, wie ihm das Vernehmer Nr. V, Peter Grünstein, Sohn des damaligen Stellvertretenden Innenministers der DDR, im Stasiknast Hohenschönhausen prophezeit hatte, hat man aus ihm nicht machen können. (Fuchs, Vernehmungsprotokolle, Berlin: Rowohlt Verlag 1978)

Auch war es ihm gerade wegen der Bedrängungen durch die staatlichen Institutionen der DDR und seiner in dieser Situation notwendigen Härte sich selbst gegenüber an seinem Humor fest zu halten, der ihm ein unabdingbarer Bestandteil der menschlichen Freiheit war, wie Adam Zagajewski schrieb. (49) Auch Roland Jahn erinnerte sich: “Wenn ich an Jürgen denke, fällt mir als erstes sein Lächeln ein.” (58)

Sein Lächeln und sein Humor wurde nicht allen offenbar. So betitelte Helga Hirsch ihren Beitrag zur Anthologie “Der Unnachsichtige unter den Aufrechten”, eine Beurteilung, die möglichweise auch andere unterschrieben hätten. Seine nahen und fernen Freunde kamen, wie sich in den Beiträgen zeigt, aus verschiedenen politischen Richtungen und gefühlsmäßigen Dispositionen. Gut jedoch, dass sie alle zu Worte kamen.

Ein sich rührend kümmernder Freund für Hilfesuchende und Hilfe Benötigende war er im Osten und blieb er auch nach seinem und dem “Verkauf”, wie er es damals empfand, seiner kleinen Familie in den Westen allemal — Hans Joachim Schädlich z. B., der nach ihm in den Westen kam, nannte ihn, auf sich bezogen, einen Samariter (120). Dass er und seine Frau Lilo den so genannten Problemkindern im Moabiter Projekt “Waldstraße” ein zweites Zuhause schufen, wie Christa Moog in ihren Erinnerungen schreibt, bestätigt Schädlichs dankbares Urteil in einem anderen Kontext noch einmal. Die Wärme des Textes von Utz Rachowski, dem er schon ein Reichbach ein Freund wurde, spricht ein Übriges.

Es ist schwer möglich, in der Rezension einer Anthologie allen Beiträgen gerecht zu werden. Doch sei wenigstens noch auf zwei feinfühlige und sich einfühlende Beiträge zu seinem literarischem Werk verwiesen, die von Autoren geschrieben wurden, die selbst mit den “Segnungen” der Diktatur sehr vertraut sind, nämlich Herta Müllers “Blick der kleinen Bahnstationen” und Helmuth Frauendorfers, “‘Versteht auch mein Schweigen’ Lyrik des sparsamen Wortes”, die unabdingbar sind, will man diesen manchmal übersehenen Aspekt seines Wirkens in seiner ganzen Tiefe verstehen — Es ist eine bleibende Schande, dass sich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung nicht dazu durchringen konnte, ihm für sein Gesamtwerk den Georg-Büchner-Preis zu verleihen.

Es ist außerordentlich schade, dass Jürgen Fuchs diese von Mitstreitern gegen die Diktatur, von Freunden, Autoren, Literaturwissenschaftlern und Journalisten geschriebene Anthologie nicht vor seinem frühen, möglicherweise von den Todesstrahlen der Staatssicherheit verursachten, Tod in der Hand halten konnte. Die hier zum Ausdruck kommende Achtung und hohe Wertschätzung seines bedeutenden schriftstellerischen Werkes, mutigen Lebens und politischen Wirkens hätten ihn trotz der ihm eigenen Bescheidenheit ganz sicher gefreut.

Wolfgang Müller

 

Lutz Seiler, Kruso (Berlin: Suhrkamp, 2014). Im Jahre 2014 veröffentlichte Lutz Seiler, der bisher primär als Autor von Lyrik und Kurzprosa bekannt war, seinen ersten Roman, Kruso. Für diesen Debütroman erhielt er den Deutschen Buchpreis. Der 1963 in Gera geborene, in der DDR sozialisierte Autor, der weitgehend in seinen Werken aus dem Erfahrungsbereich seiner Sozialisierung schöpft, schien der passende Träger dieses Preises zu sein, denn im Herbst 2014 jährte sich das Ereignis des Mauerfalls zum 25. Mal. Man denkt zunächst an einen Wende-Roman, und in der Tat ist die DDR als Folie in diesem Roman durchgehend präsent. Die Handlung endet auch mit der Wende von 1989 und erzählt doch eine ganz andere Geschichte. Es geht um das Konzept einer Gegengesellschaft, deren Schauplatz die Insel Hiddensee ist. Hiddensee wird als letzter Ort der Freiheit erlebt: “Wer hier war, hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten.” In einem Interview äußerte sich Seiler über die nur 50 Km von der dänischen Insel Møn entfernte Insel und deren Stellenwert im Denken von Aussteigern, Abenteurern, Abtrünnigen, Antragstellern und “Flüchtlingen in spe”, kurz von all jenen “Schiffbrüchigen”, die aus dem reglementierenden Rahmen der DDR herausfielen und sich dem politischen Druck entziehen wollten: “ Die Insel war der Sehnsuchtsort überhaupt im Osten. Für die allermeisten. Es war die einzige Insel, der Gipfel an Exotik, unbeschädigte Landschaft, am äußersten Rand der Republik. Und dann diese Freiheitserfahrung, … eine Freiheitsmagie, eine Freiheitsstrahlung.” Damit wird Hiddensee zu einer Art “Szene”, in der Konzepte individueller, existenzieller und politischer Freiheit unter gesellschaftlichen Zwängen durchgespielt und kritisch durchleuchtet werden. Kruso ist sowohl Abenteuer- als auch Bildungsroman, der um eine Männerfreundschaft kreist. Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, der halb russischer und halb deutscher Herkunft ist, steht im Zentrum des alternativen Freiheitsbundes. Seine Philosophie schöpft aus dem Trauma des Verlustes seiner Schwester, die bei einem Fluchtversuch im Wasser an der Küste Hiddensees verschwunden ist. Dieser Robinson findet in Gestalt des ähnlich traumatisierten Germanistikstudenten Edgar Bendler seinen Freitag, denn auch dieser hat bei einem tödlichen Unfall seine Freundin verloren. Wie ein roter Faden zieht sich die Erinnerung an den Verlust durch die Handlung, reflektiert im häufigen Zitieren des Traklschen Schwester-Gedichts “Sonja”. Der Verweis auf Daniel Defoes Robinsonade für diese Männerfreundschaft ist jedoch nur oberflächlicher Art. Die starke Verbundenheit von Mentor und Schüler fußt zwar auf einem Verlusterlebnis und auf der gemeinsamen Liebe zur Poesie wilder gequälter Seelen wie Trakl, Rimbaud und Artaud: “Poesie war Widerstand.” (217) Ist die Insel für Edgar jedoch ein Ort, an dem er realitätsentbunden und willenlos dahintreibt – “Ich möchte einen Platz auf der Welt, der mich aus allem heraushält” -, so ist sie für Kruso der Schauplatz der Entgrenzung des Ich, an dem er missionarisch seiner ganz aufs Innere gerichteten Freiheitssehnsucht Ausdruck gibt. Er will Wagemutige von ihren Fluchtplänen abhalten, da er den Westen als die falsche Verheißung von Freiheit sieht. Stattdessen weist er auf ein entgrenzendes verinnerlichtes Hiddensee: “Das ist Hiddensee, verstehst du, hidden – versteckt? Die Insel ist das Versteck, die Insel ist der Ort, wo sie zu sich kommen, wo man zurückkehrt zu sich selbst, das heißt zur Natur, zur Stimme des Herzens, wie Rousseau es sagt. Niemand muss fliehen, niemand ertrinken. Die Insel ist die Erfahrung. Eine Erfahrung . Eine Erfahrung, die es ihnen erlaubt, zurückzukehren, als Erleuchtete; ergo: “Die Freiheit ist die Wurzel, die jeder in sich trägt.” In einer Untergrundatmosphäre von Pathos, freiem Sex, Partys, Drogen und literarischen Ritualen ist die Betriebsgaststätte “Klausner” die Stätte der Krusoschen Verkündigungen. Sie, die zum Zufluchtsort der “Schiffbrüchigen” wird, gleicht einem “trunkenen Schiff”, das frei und ohne Zwänge dahintreibt. Einführung in die alternative Gegenwelt der Erleuchteten bedeutet für Edgar Arbeit als Tellerwäscher im Abwaschraum des “Klausners”. Hier versammeln sich gesinnungsähnliche Saisonarbeiter, zumeist Intellektuelle oder Künstler, die aus widerlichen Details und üblen Gerüchen Dichtung machen. In einer Mischung von mythisch Surrealem und extremem Realismus beschwört Seiler die von verstopftem Abfluss, Schmutz, faulenden, glitschigen Speiseresten und faulendem Wasser beherrschte Arbeitswelt der Tellerwäscher. Verfall nimmt die Gestalt eines Lurches an, ein hinter Abflussgittern sich verbergendes mythisches Ungeheuer. In diese Atmosphäre des Verfalls tönen die Nachrichten aus einem alten Röhrenradio, genannt Viola, die von der Flucht von DDR-Bürgern in bundesdeutsche Botschaften berichten und letztlich vom Fall der Mauer. Auflösung und Verfall im Abwaschraum korrespondiert mit dem Ende eines Staates. Die Erleuchteten verlassen einer nach dem anderen das sinkende Schiff, nur Kruso und Edgar bleiben. Der todkranke Kruso nimmt Edgar das Versprechen ab, den vielen auf der Flucht Ertrunkenen nachzuspüren, und in einem Epilog begibt sich der Autor zwei Jahrzehnte später in die zuständigen dänischen Archive und findet Spuren. Der Roman berichtet, scheinbar nebensächlich, von der Auflösung der DDR und vom Ende einer Utopie, die auf Selbsttäuschung fußt.   Seiler schafft eine verwunschen wirkende Extrawelt des Widerstands. Der Roman zeichnet sich durch Intensität und Genauigkeit der Sprache aus. Mythisch überhöhte Details einer naturalistisch erlebten Realität fungieren im Kreis der Erleuchteten als Komponenten eines Kults der Hässlichkeit. Kruso ist k/ein Wenderoman. Die kultisch erlebte Zwischenwelt lässt in einem offenen Assoziationsraum vieles in der Schwebe. Enträtselungen werden dem Leser überlassen. Kruso ist ein entzauberndes und sprachlich bezauberndes Werk, ein Lesevergnügen.

Christine Cosentino

 

Susanne Schädlich, Herr Hübner und die sibirische Nachtigall. Roman. (München: Droemer, 2014) Nach zwei stark persönlich geprägten Büchern – “Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich“ (2009) und “Westwärts, so weit es nur geht. Eine Landsuche“ (2011) – legt die Autorin nun im gleichen Verlag einen Roman vor, in dem sie zwei exemplarische Lebensläufe vor dem ebenso widerwärtigen wie leidvollen Hintergrund kommunistischer Menschenverachtung zu Zeiten der Sowjetunion und der ‘Deutschen Demokratischen Republik‘ nachzeichnet. Dietrich Hübner, ein junger, von Freiheit, Demokratie und Humanismus träumender Idealist und die politisch nicht interessierte Mara Jakisch, eine bekannte Operettensängerin und Schauspielerin der dreißiger Jahre, geraten 1948 in die Fänge der politischen Polizei im Bereich der sowjetischen Besatzungsmacht. Beiden wird unterstellt, für die Westmächte zu spionieren. Im Falle Hübners genügt es, daß der zu diesem Zeitpunkt 21-jährige in der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) der sowjetischen Zone tätig ist. Im Falle der Mittvierzigerin Mara Jakisch macht sie ein Besuch bei einer alten Bekannten in Berlin, bei der auch Amerikaner verkehrten, für den russischen Geheimdienst verdächtig. Beide treffen zufällig für kurze Zeit im Dresdener Gefängnis zusammen, wo sie sich als Zellennachbarn durch Klopfzeichen verständigen können. Einmal hatte Hübner sie “auf der Bühne gesehen: … Ein Engelsgesicht“, jetzt waren sie jeglicher Willkür ausgesetzte Leidensgenossen. Zu einer wirklichen Begegnung zwischen ihnen kann der bloße Klopf-Kontakt naturgemäß nicht führen. Ohnehin trennen sich ihre Wege wieder. Beide werden zu 25 Jahren Haft verurteilt. 1950 wird Hübner als “Strafgefangener 290 B“ nach Bautzen verlegt, später nach Brandenburg-Görden. Mara bleibt im russischen Gewahrsam; sie kommt ins sibirische Straflager. Beide sehen sich um einen wesentlichen Teil ihres Lebens betrogen. Beide haben fortwährend den Tod vor Augen. Aber sie schreiben emotionale, lebensbejahende Gedichte für sich auf. Im Roman wird beider Leidensweg in hart gereihter, parallel gefügter Faktenfolge wiedergegeben, die deutlich spürbar auf gründlicher Quellenkenntnis basiert. Der Leser sieht: GPU und Stasi können sich in Sachen Gemeinheit, Perfidie, Brutalität und Perversion das Wasser reichen. Andeutend und mehr noch im mitschwingenden Subtext schildert Susanne Schädlich ebenso den mühsam geführten Kampf der hilflos Ausgelieferten, sich ihrer schlimmen Situation zum Trotz über die Jahre hin ihr Menschsein unbedingt zu erhalten. Hierdurch wird die genau dokumentierte Häftlingschronik zugleich zum tröstlichen Nachweis bewahrter Menschenwürde. Hübners widerständige Kraft, keine Kompromisse einzugehen, und der Gesang der “sibirischen Nachtigall“ werden zu Zeichen menschenmöglicher Bewährung unter qualvollen Leiden und verbrecherischen Schikanen. An einer Schlüsselstelle des Romans lesen wir das Fazit: “Man muß sie geschmeckt haben, diese Jahre“. Susanne Schädlich ist es jedenfalls gelungen, das “Schmecken dieser Jahre“ zwingend an die Leser weiterzugeben. Insgeheim hat sie in souveräner Erzählbewegung zwischen den Gattungen Roman, Bericht und Chronik anrührende humane Beweise für uns festgeschrieben. Martin Lüdke bezeichnete einmal ihr Buch “Immer wieder Dezember“ sehr zu Recht als ein “Lehrbuch deutscher Nachkriegsgeschichte“. Mit ihrem neuen Roman hat sie aus einem notwendigen ‘Lehrbuch kommunistischer Menschenverachtung‘ im vorgeblich ‘real existierenden Sozialismus‘ wie nebenbei – und das bezeugt ihr literarisches Können – eine wegweisende Ermutigung zum Weiterleben in Freiheit gemacht.

Theo Buck

 

Uwe-Karsten Heye, Die Benjamins. Eine deutsche Familie (Berlin: Aufbau Verlag, 2014) “Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren, daß es ‚so weiter’ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene.” (Walter Benjamin, Zentralpark. In Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. I, 2, S. 683.   Liest man das Buch Die Benjamins – eine deutsche Familie, sind diese Sätze aus der Feder des deutschen Philosophen und Literaturkritikers Walter Benjamin nicht nur mehr geschichtsphilosophisch zu verstehen. Sie klingen fast prophetisch schicksalhaft und scheinen untrennbar mit den Lebenswegen der Benjamins verbunden, der Geschwister Walter, Dora und Georg, und dessen Ehefrau Hilde Benjamin, geborene Lange. Anhand bisher unbekannten Materials (Briefe, Tagebuchnotizen und andere Aufzeichnungen) aus dem Nachlass Hilde Benjamins, das deren Schwiegertochter Ursula Benjamin Heye anvertraut hat, versucht der Autor ein Gesamtbild der prominenten Familie zu zeichnen. Von deutschen Leben ist also zu erzählen, von Biografien mit Folgen und Irrtümern ist hier zu berichten. Sie wollten eine gerechtere und humanere Welt als die, die sie vorfanden. Sie waren auf der politischen Linken zu finden und zeigten sich abgestoßen von der rassistischen Menschenfeindlichkeit der Nazis. Geboren um die Wende zum 20. Jahrhundert, wollten sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, das geprägt ist von Herkunft und späterer Überzeugung. Eine Familiengeschichte. (Heye, 35″. Zunächst also Walter, Georg und Dora, Kinder wohlhabender, gebildeter, jüdischer Eltern. Sie wachsen in einem assimilierten Milieu auf. Der erste Weltkrieg ist der Bruch mit der Welt, wie sie war, der durch eine ganze Generation geht. Dieser Bruch erfasst auch die Geschwister. Im Chaos der Weimarer Republik erwacht ihr politisches Bewusstsein. Sie schwärmen von einer Gesellschaft ohne Unterdrückung und für den Kommunismus. Besonders Georg, der Mitglied der KPD ist. Als Kinderarzt engagiert er sich für die sozial Schwachen. Ebenso seine Schwester Dora; sie ist Sozialforscherin. Walter findet durch die lettische Schauspielerin Asja Lacis zum Marxismus. Er reist nach Moskau, befreundet sich mit Brecht, kennt Adorno, Horkheimer und arbeitet für die Zeitschrift für Sozialforschung. Da ist er schon vor den Nazis nach Paris geflüchtet. 1940 nimmt er sich in Frankreich das Leben. ”eine existentielle Entscheidung“, wie er notierte. Dora, auch sie war aus Deutschland geflohen, stirbt 1946 im Schweizer Exil. Hilde lernt Georg Benjamin in den 1920ern kennen. Sie verlieben sich, heiraten. Hilde Benjamin, schon 1927 hat sie eine eigene Anwaltskanzlei in Berlin, ist wie ihr Mann in der KPD. Am ausführlichsten widmet sich Heye ihr, die später als Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR (von 1949 -1953) und bis 1976 Justizministerin – berühmt und berüchtigt – wurde. 1933 wird ihr Mann als Jude und Kommunist in Schutzhaft genommen, kommt ins KZ Sonnenburg. Hilde Benjamin erhält Berufsverbot. Die Angst um den Sohn Mischa, der nach den Nürnberger Gesetzen “Halbjude” ist, die Angst um den geliebten Mann, der ihr nicht nur politisch ein Vorbild ist, sondern wesensverwandt, bestimmen sie. Georg kommt noch einmal frei. 1936 die erneute Verhaftung. Dann Zuchthaus Brandenburg, von dort ins KZ Mauthausen, wo er stirbt. Hilde Benjamin nimmt ihren Mädchennamen Lange an, um den Sohn zu schützen. Beide überleben. Heye sucht eine Erklärung dafür, wie aus der Tochter aus liberalem Elternhaus die fanatische “rote Hilde” wurde. Als “rote Hilde vom Wedding” war sie schon in den 20er Jahren bekannt, die Bezeichnung war keine Erfindung der Adenauerschen „BRD“, wie Heye suggeriert. Den Begriff Unrechtsstaat für die DDR setzt Heye stets in Gänsefüßchen, er lobt das von Hilde Benjamin mitgestaltete DDR-Familienrecht, das im Westen seinesgleichen gesucht hätte und „nach der Wiedervereinigung im Westen beerdigt wurde“ und kommentiert: Der Blick auf den Kern der DDR-Bildungspolitik – wenn man die ideologisch begründete Semantik rund um die ’Arbeiter- und Bauernfakultäten’ weglässt – könnte durchaus anregend sein. (Heye, 220) In der frühen DDR saß Hilde Benjamin Naziverbrechern gegenüber vor Gericht, verurteilte dann gnadenlos so genannte Feinde des SED-Regimes. Sie fällte Todesurteile. Wie ist der Hilde Benjamin dieser Zeit näher zu kommen? Wie zu verstehen, was sie angetrieben hat, was war ihre Prägung, was hat das blutige 20. Jahrhundert aus ihr gemacht? (Heye, 115) Oft kommen die Reflexionen des Autors mildernd daher, hinterlassen einen merkwürdigen Beigeschmack: Hilde Benjamin… […]wusste natürlich, dass ihre Prozesse und deren propagandistische Wirkung auch die Funktion hatten, einer Bevölkerung klarzumachen, dass es für jeden Einzelnen vorteilhaft war, den SED-Staat zu unterstützen.(Heye, 204) Es war durchaus ”vorteilhaft“ – schnell geriet man ins Visier der Staatssicherheit und nicht selten ins Gefängnis. Liest man Protokolle von Prozessen, in denen Hilde Benjamin den Vorsitz hatte, erinnert ihr Duktus an den Nazirichter Roland Freisler, dessen Unterschrift unter dem Diktat ihres Berufsverbots von 1933 stand. Gut beraten wäre der Autor gewesen, die Biografie nicht als Mittel zum Zweck eigener Reflexionen zu benutzen. Die seitenlangen Ausschweifungen über seine politischen Ansichten wirken störend, ja: aufdringlich, und haben in einer Biografie nichts zu suchen. Denn immer dann, wenn Heye sich ausschließlich den Benjamins widmet, in die Zeit eintaucht, aus Briefen und Aufzeichnungen schöpft, ist das Buch stark. Schön die Stellen, an denen sich der Autor in die Protagonisten einfühlt, so in Walter Benjamin, in der Nacht vom 26. auf dem 27. September 1940, für Heye eine Chiffre für den Lebenskampf: Nachtkühle. Ein kurzer Hang. Seine Schritte hinauf und hinunter sind verhalten. Er weiß, dass sein Herz mitmachen muss. Er atmet schwer, fröstelt und hofft, dass die Bewegung gegen die Abendkühle hilft.(Heye, 83) Oder wenn er beschreibt, wie Hilde Benjamin ihren Mann konspirativ beim Zwangsarbeitseinsatz für Gleisarbeiten der Reichsbahn aufsucht. Hilde Benjamin lief die Böschung hinunter, umging die Baubude, in der sie Aufsichtspersonal vermutete, und durchquerte das Waldstück so, dass sie wieder auf der Höhe des Bahnsteigs und der Baustelle herauskam. Zeitgleich hatte sich Georg in Bewegung gesetzt.(Heye, 163) Manchmal jedoch versteigt sich Heye, zum Beispiel wenn er auf den Spuren Georgs das KZ Mauthausen besucht. An diesem Tag ist man plötzlich eingereiht und wird zu einer der Elendsgestalten, die halb verhungert vor mehr als siebzig Jahren aus den Eisenbahnwaggons am Bahnhof von Mauthausen kletterten […] (Heye, 145) Die Vergangenheit erklärt vielleicht das Handeln, auch das einer Hilde Benjamin. Eine Relativierung ihres Handelns und der SED-Diktatur, wie die Biografie sie nahelegt, verbietet sich. Die Linie verläuft nicht zwischen schlimm und schlimmer, sondern zwischen Diktatur und Demokratie, wie Der Historiker Hubertus Knabe, Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, kürzlich sagte. Hilde Benjamin hat nach 1945 keine demokratischen, sondern diktatorische Konsequenzen gezogen. Wie hatte Walter Benjamin geschrieben? “Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren, daß es ‚so weiter’ geht, ist die Katastrophe.”

Susanne Schädlich

 

Cornelia Schleime, Weit fort. Roman (Hamburg: Hoffmann und Campe, 2008; Taschenbuchausgabe München: Goldmann, 2010). Im Jahre 2008 veröffentlichte Cornelia Schleime, die als Malerin bekannt ist, ihren ersten Roman Weit fort. Der Roman ist autobiografisch grundiert. Schleime, 1953 in Ostberlin geboren, studierte von 1975-1980 Grafik und Malerei in Dresden. Hier lernte sie den Dichter und Musiker Sascha Anderson kennen, mit dem sie nach Ostberlin zog, wo sie in die künstlerisch oppositionelle Szene am Prenzlauer Berg eingebunden war. Schleime hatte als nichtstaatskonforme Künstlerin seit 1981 Ausstellungsverbot und wurde von der Stasi permanent bespitzelt. Ihrem vierten Ausreiseantrag wurde stattgegeben, und 1984 reiste sie mit ihrem Sohn nach Westberlin aus. Nach dem Fall der Mauer nahm sie in ihre Akten Einsicht und musste feststellen, dass sie von ihrem besten Freund Sascha Anderson jahrelang bespitzelt worden war. Das Thema ihres Romans hakt hier ein. Es geht um Verrat, Schock und Trauma, und das im doppelten Sinne, denn per Partnersuche im Internet lernt sie wiederum einen Mann kennen, von dem sie glaubt, dass er eine Stasi-Vergangenheit hat. Eine Künstlerin, die sich Clara nennt, die aber deutlich erkennbar ist als Cornelia Schleime, lernt einen Mann namens Ludwig kennen, der als Wettervorhersager bei einem süddeutschen Fernsehsender arbeitet. Er ist ebenfalls aus Ostberlin, spricht aber wenig über seine Vergangenheit. Die beiden verlieben sich, korrespondieren wochenlang, dann kommt es zu zwei Begegnungen, bei denen sich die Liebe zu steigern scheint. Doch etwas stimmt nicht. In Ludwigs Erzählungen bei einem Besuch im früheren Ostberliner Nobelviertel Hessenwinkel, wo er wohnte, gibt es auffallende Leerstellen.  Als sie ihm einen Dokumentarfilm über den Verrat und die Enttarnung des Spitzels aus Freundestagen zeigt, weicht Ludwig aus, schweigt, und verschwindet dann völlig aus ihrem Leben. Schließlich ruft sie ihn an und ringt ihm die Erklärung ab: “Es gibt solche Komplikationen, aber ich kann darüber nicht sprechen [ …] Es gibt bei mir so etwas, das ist so kompliziert. Es gibt Komplikationen.” Hat die Begegnung mit dem Stasi-Opfer Clara etwas in ihm freigesetzt? War Ludwig selbst ein Spitzel, der die Enttarnung fürchtet? Leidet Clara an Verfolgungswahn? Ist sie Opfer ihres Misstrauens den Menschen gegenüber? Der Roman gibt keine Antwort. Ludwigs Identität bleibt ein Rätsel. Die vom Titel suggeriert Ferne, Weit fort, ist gleichzusetzten mit unmittelbarer Nähe, denn das Destruktive des Stasi-Apparates wirkt fort: Misstrauen, Verdacht, Angst vergiften die Gefühle der Protagonistin und das Geschehen um sie herum auch weiterhin. Der Band ist schlank, als habe es der Autorin die Sprache verschlagen, als gäbe es nichts mehr zu sagen. Schleime ist Malerin, und auf dem Umschlag des Buches befindet sich das Abbild eines ihrer Frauenporträts: eine junge Frau mit einem Blumenkranz im Haar und einer Blume im Mund blickt nachdenklich forschend in die Ferne. Schleime bedient sich in ihren Reflexionen eines metaphernreichen, malerisch “blumigen” Stils, was dem Roman nicht immer dienlich ist. Stilblüten und sprachliche Entgleisungen gibt es so einige.  Trotzdem ist er zu empfehlen, denn das Thema ist brisant und noch lange nicht abgeschlossen, zeigt es doch, wie die Zerstörungsmechanismen der Stasi ins Private übergreifen und wie seelische Erschütterungen wohl auf Lebenszeit fortwirken.

Christine Cosentino

 

Maja Beutler, Ich lebe schon lange heute: Texte 1973 bis 2013 (Oberhofen: Zytglogge, 2013) 390 Seiten.

Die Schweizer Schriftstellerin Maja Beutler ist 1989 weithin bekannt geworden als die Schöpferin der Doña Quichotte, die als Malerin gegen die Windmühlen der Schweizer Männerwelt in den Kampf zieht.  Die Erzählung gilt als eines der wichtigsten Anfänge weiblichen Schreibens in der Schweiz.  Im 2013 erschienenen Band Ich lebe schon lange heute legt die Autorin elf neue Erzählungen vor und dazu einige, die schon früher veröffentlicht wurden.  Unter den älteren, hier frisch publiziert, ist die wichtigste fraglos “Das Werk oder Doña Quichotte”. Die neuen Texte kreisen hauptsächlich um die Themen Familie, Kindheit und Tod. “Kinderszenen” über das Sterben eines kleinen Jungen, dem die Mutter noch den Begriff Gott zu erklären versucht (“Gott ist auch alles andere, alles, was wir nicht sagen.  Nur so hat Gott eine Möglichkeit”) beeindruckt mich am meisten; das philosophische Thema Sprachkrise wird hier angeschnitten.  Sehr aktuell in Hinsicht auf das Thema Migration finde ich “Traubengold” — die Geschichte eines Mannes, der, in der Schweiz geboren, Schweizer zu werden versucht; seine Eltern stammen aus Österreich und Italien, und er rackert sich ab, bis er es schafft am Ende. Poetisch verdichtet und zugleich mit Dokumenten in der Amtssprache versetzt, erzählt Maja Beutler von bürokratischen Scherereien und den Vorbehalten alteingesessener Schweizer diesem “Ausländer” gegenüber. Beutlers Texte in diesem Band sind thematisch in fünf Gruppen geordnet.  Die letzte Gruppe mit dem Titel “Politisches Fragespiel” enthält eine sehr informative Frageliste an alle Schweizer über den Zusammenhang zwischen der Schweizer Geschichte und der gegenwärtigen Politik, zu der auch das Sich-Fernhalten von der Europäischen Union gehört.  Der fünfseitige Text ist ein ideales Unterrichtsmaterial, falls Sie hier in Amerika “die Schweiz” unterrichten müssen! Den Band schließt ein Interview ab, das die Autorin dieser Rezension 2010 mit Maja Beutler geführt hat, “Don Quixote im Rock”. Es geht darin nicht nur, wie der Titel suggeriert, um Beutlers feministische Don Quichotte-Rezeption, sondern auch um Ostdeutschland.  Beutler war dort auf Reisen, vor und nach der Wende, und machte sich ihre Gedanken über das, was sie sah und hörte – ein erfrischend fremder, eben “schweizerischer” Blick auf das eigenartige Land DDR, der uns, die wir in den Erinnerungen zu nahe daran kleben, oft fehlt.

Gabriele Eckart

 

Uwe Tellkamp, Die Schwebebahn. Dresdner Erkundungen (Berlin: Insel Verlag, 2012).

Der 1968 in Dresden geborene Autor Uwe Tellkamp wendet sich auch in diesem Werk einem Sujet zu, das ihm zutiefst vertraut ist und das er bereits in seinem Monumentalroman Der Turm (2008) beschrieben hatte: den Dresdner Lokalitäten, der Architektur, den Attraktionen, darunter Schwebebahn und Standseilbahn. Tellkamps Titel bezieht sich auf die reale Schwebebahn, die den Stadtteil Loschwitz mit den Höhenlagen von Oberloschwitz verbindet. Der Turm des Maschinenhauses der letzten Station, der Bergstation, bietet dem Spaziergänger/Ich-Sprecher/Autor ein eindrucksvolles, blickerweiterndes Stadtpanorama. Um eine eher blickverengende Perspektive dagegen handelte es sich in Tellkamps (Elfenbein?)Turm – Roman, in dem gleich zu Anfang der Handlung die Hauptfigur Christian in der Dresdner Standseilbahn dem Stadtteil Weißer Hirsch zustrebt, in dem das Dresdner Bildungsbürgertum zu DDR-Zeiten seine abschottende Nische gefunden hatte. Zwei Blickrichtungen, zwei Perspektiven, zwei Versuche, mit Erinnerungen umzugehen und Vergangenes im Gegenwärtigen zu erkennen. In 33 Kapiteln, in denen Fotografien von Werner Lieberknecht eingestreut sind, erkundet der der Stadt zugewandte Flaneur der Schwebebahn “unterliegende Schichten, Verborgenes, der gegenwärtige Augenblick schiebt sich wie ein Prisma über Bruchstücke der Vergangenheit und ordnet sie zu vorläufigen Kaleidoskopen.” Er spürt, “dass eine Stadt durch ihr Lebendiges galt und Bedeutenderes umfasste als ein Ensemble von Gegenständen, Lokalitäten und mehr oder weniger charakteristisch zu einem Stil zusammengefügten Steinen. Eine Stadt – eine Summe der Augenblicke, die blieben, an die man sich erinnerte.” Es ist das Historische, das “stark beschwörende Magnetfeld” seiner Heimatstadt, das ihn im Bann hält. Und so spürt er, der als Kind und Jugendlicher noch die DDR und die sowjetische Besatzungspolitik erlebte, den Orten nach, die es nicht mehr gibt, die aber dennoch im Gedächtnis fortwirken. Tellkamp schreibt von wechselnder Perspektive. Er schlüpft in die Rolle eines zehn- oder elfjährigen Jungen, später dann spricht der Erwachsene. Das erste und letzte Kapitel der Dresdner Erkundungen blenden geschickt ineinander ein. Auf dem Dachboden lebt der Junge in eisiger Kälte eines erinnerten Winters unter den mit Landkarten beklebten Dachschrägen in einer kindlichen Phantasiewelt, die von fiktiven Kapitänen, Piratenschiffen, Schatzinseln und Räubern beherrscht ist. Jahre später betritt der nun über Vierzigjährige wiederum den Dachboden und gibt sich den Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend hin. Dresden entsteht noch einmal als DDR-Provinzhauptstadt, dann, nach der Wende von 1989, als “Dresden der Gegenwart, mit digitalen Benutzeroberflächen.” Es geht dem erkundenden Flaneur um den Versuch, in dieser Welt unvereinbarer Gegensätze das Atmosphärische aufzuspüren. Er schildert in der DDR Erbautes, dann wiederum sinniert er über Gebäude, die im Krieg zerstört wurden, wie die Frauenkirche, dann aber wieder aufgebaut wurden. Leitmotivisch winden sich durch die Erinnerungen Hinweise auf die Zerstörung der Stadt am 13. Februar 1945: “die Schatten des zugeschütteten Lebens, das mit einigen Zipfeln hier und dort noch aus den Planierungen ragt.” Tellkamp beschreibt Dinge und Schauplätze, die es nicht mehr gibt, die er aber als Kind oder aus den Erzählungen der Erwachsenen kannte. Er beschreibt Schauplätze wie den Kosmetiksalon Nofretete, eine Laufmaschen-Reparatur, das Evana Miederwarengeschäft und den Friseur-Salon Harand, in dem auch der 1957 in Dresden verstorbene General Paulus bedient wurde. Wiederholt taucht in den Erinnerungen der Name der Kalten Klawdia auf, einer vollbusigen Rotarmistin, die man am Eingang des Lazaretts der Roten Armee, eines früheren Sanatoriums, sehen konnte. Für den Jungen war sie eine Quelle erotischer Phantasien. Und – “ich gehe weiter, die Geschichten folgen mir” – vor dem inneren Auge erscheint vor einer geöffneten Balkontür ein im ersten Stock des Lazaretts wohnender sowjetischer Offizier, der Schallplatten mit Liedern von Hans Albers and Zarah Leander zuhört, bis er abrupt eine Platte mit russischer Volksmusik auflegt. Tellkamps Erkundungen sind durchdrungen von autobiografischen Verweisen auf Schulunterricht, Heirat, Medizinstudium, Armee, Künstlerfreundschaften, Galerie- und Museumsbesuchen. Einige Kapitel sind gelungener und ausdruckskräftiger als andere. Hervorzuheben sind die um den Dresdner Maler Curt Querner kreisenden Kapitel: “Was er gekonnt hat – Hände, wie er sie zu malen verstand, möchte ich von den Heutigen erst einmal sehen.” In anderen Kapiteln jedoch sind die Darstellungen ausufernd, voll von Wortkaskaden. Tellkamp macht es dem Leser nicht leicht. Oft ist ein zweites und drittes Lesen der scheinbar endlosen Sätze nötig. “Wie Kraken” winden sich exzentrische Bilder durch die syntaktischen Gebilde: “Die Papierlungen der Meldeämter auf der Theaterstraße; die an langsamen Tentakeln arbeitenden Tastsinnesscheiben der Staatskanzlei; Finanzämter, in deren Allesfressergebiet man niemals ungestraft einen Handschuh wirft; die an den Nabelschnüren einer Stempel-Gottheit flottierenden Anwalts- und Notarkanzleien …” Der Leser jedoch, der sich Zeit nimmt und Tellkamps barocken Stil auf sich wirken lässt, kommt auf seine Kosten. Tellkamp ist es gelungen, fragmentenhaft ein Stück DDR-Biografie in der schillernden Atmosphäre der Stadt Dresden einzufangen, in der Stadt, wie sie einmal war oder nicht war oder sein könnte: “Dresden ist ein langer Blick zurück. Gegenwart nur Wasseroberfläche der Vergangenheit […] Aber auch sie wird es geben, die Freiheit des Abschieds. Die sesamtragenden Türen.”

Christine Cosentino,

 

Richard A. Zipser, Von Oberlin nach Ostberlin: Als Amerikaner unterwegs in der DDR-Literaturszene. (Berlin: Christoph Links Verlag GmbH, 2013) 224 Seiten.

Der Amerikaner Richard Zipser ist als ein Germanist bekannt, dem es schon seit Anfang der siebziger Jahre die DDR-Literatur angetan hat. Ergebnisse seiner Arbeit sind unter anderem die Veröffentlichungen DDR-Literatur im Tauwetter (1985) und Fragebogen Zensur (1995). Im Unterschied zu anderen Sympathisanten der DDR-Literatur an amerikanischen Universitäten reiste und forschte Zipser nicht auf Einladung der DDR oder einer der DDR nahestehenden politischen Gruppe, sondern ganz auf eigene Initiative. Damit jagte er den DDR-Behörden, die mutmaßten, er könnte ein CIA-Agent sein oder die DDR ideologisch unterwandern wollen, Angst ein. Schon 1973 legte die Stasi eine Akte über ihn an; sie ist umfangreich und schließt erst 1988. Nach einem sehr lesenswerten Vorwort von Heinz-Uwe Haus mit dem wichtigen Satz “Heute ist kaum noch vorstellbar, dass das, was Zipser bezeugt, über Jahrzehnte zwischen Elbe und Oder grausamer Alltag war”, enthält der Band Von Oberlin nach Ostberlin hauptsächlich Dokumente aus Zipsers Stasiakte und erläuternde Kommentare Zipsers. Darin vergleicht der Autor seine Erinnerungen kritisch mit dem, was im Stasideutsch fläzig dasteht; dabei wird die DDR, so wie er sie erlebt hat, vor seinem inneren Auge lebendig. Einen frischen Blick bekommen wir auf Autoren wie zum Beispiel Jurek Becker oder Ulrich Plenzdorf. Schwarz-weiß Fotos von einigen der Autoren, mit denen Zipser befreundet war, und ihren Büchern und Briefen schmücken das Buch. Leser, die sich noch immer unruhig fragen, was das war, die DDR, kommen um die Lektüre dieses Buches nicht herum. Wehtun wird sie jenen, die der DDR als eines Raumes, der mit Utopie zu tun hatte, immer noch nachtrauern. Von den Berichten der neun verschiedenen IM sind die des Schriftstellers Fritz Rudolph Fries und die des Verlegers Konrad Reich die überraschendsten; von den von der Stasi gegen Zipser eingeleiteten Zersetzungsmaßnahmen ist der Rufmord – “Zipsers Ansehen so abwerten, daß auch negative Kräfte ihn meiden” – am ekligsten. In der Einleitung beschreibt Zipser seine Überraschung, als er 1999 nach sechs Jahren Warten von der damaligen Gauckbehörde Teile seiner Akte erhielt. Er zitiert aus dem Briefwechsel mit der Behörde und erklärt dem Leser seines Buches das Aktenchinesisch, ohne das auch dieses Buch nicht auskommt, etwa die Abkürzungen für die fünf verschiedenen Typen von Informellen Mitarbeitern der DDR Staatssicherheit. Dann folgen die schon erwähnten Erinnerungen, Aktenauszüge, Auskünfte über die Germanistik der USA, insofern sie sich für die DDR-Literatur interessierte, Zipsers eigene Arbeit an verschiedenen die DDR betreffenden Forschungsprojekten, und immer wieder Erinnerungen. Am besten gefällt mir der sachliche Ton des Buches; der Autor prahlt nicht mit seinem aufregenden Abenteuer DDR. Und es gibt sogar Spuren von Selbstkritik, etwa, wenn Zipser sich fragt, warum Wolf Biermann fehlt in seinem dreibändigen Lesebuch DDR-Literatur im Tauwetter. 1975 – Zipser war am Oberlin College für sein DDR-Projekt ein Forschungsurlaub bewilligt worden – folgte er Christa Wolfs Rat und bat den Schriftstellerverband der DDR schriftlich um Unterstützung. Beim Treffen mit einem Funktionär des Verbandes wurde ihm mitgeteilt, welche Autoren er in sein Buch aufnehmen sollte. Obwohl dies “das Letzte [war], was ich wollte” und er die Liste der Autoren, die er interviewen wollte, nicht an den Verband, der ihn dazu drängte, herausgab, fügte er zu den zwanzig Namen, die er schon hatte, doch noch diejenigen hinzu, auf denen die Verbandsfunktionäre bestanden hatten, Namen wie zum Beispiel Günter Görlich oder Uwe Berger. Der Stasi schwahnte, dass Zipser sich auch für Wolf Biermann interessierte (siehe “Auskunftsbericht vom 22. Juli 1976”), aber Zipser hatte in Gesprächen mit Verbandsfunktionären und der Partei nahestehenden Autoren schon begriffen, “daß der Schriftstellerverband mein Projekt blockieren würde, falls ich Biermann besuchte. Letzten Endes lief es darauf hinaus, Biermann oder das Buch.” Biermann wurde 1976 ausgebürgert; da Zipsers Tauwetter-Buch erst viel später erschien, hätte er ja im Nachhinein Biermann noch in den Text aufnehmen können – “Doch da ich zugesagt hatte, das Buch ohne Biermann zu machen, wäre es aus den genannten Gründen ein fragwürdiges Vergehen gewesen, ihn ex post facto aufzunehmen.” Trotz dieses freundlichen Entgegenkommens durfte Zipser ab 1985 nicht mehr in die DDR einreisen. Gründe waren unter anderen, dass er sich bei der Leipziger Buchmesse mit dem Dissidenten Lutz Rathenow getroffen hatte, und dass er sich bei der Auswahl der DDR-Schriftsteller, die er für ein Semester ans Oberlin-College in Ohio einlud, vom Schriftstellerverband nicht gängeln ließ. Er lud zum Beispiel Helga Schütz ein; der Verband ließ sie nicht reisen. Daraufhin schickte er die Einladung an Karl-Heinz Jakobs, der heftiger als andere Schriftsteller und Intellektuelle der DDR gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte; Jakobs lebte inzwischen im Westen und bedurfte keines Ausreisevisums der DDR. Der folgende Satz gefällt mir am besten im ganzen Buch: “Ich stelle mir immer wieder gern vor, wie die DDR-Behörden ihre Entscheidung, Helga Schütz nicht ausreisen zu lassen, verflucht haben müssen, als sie erfuhren, dass wir dafür im Frühjahr 1986 Jakobs einluden. Von ihrem Standpunkt aus hätte Schütz die DDR bestimmt immer noch besser repräsentiert als Jakobs.” Der Text schliesst mit dem Kapitel “Nach dem Ende der DDR”; es beschreibt unter anderem Zipsers letzte Reise nach Berlin 1990, siebenundzwanzig Jahre nach der ersten Reise 1963. “Seltsamerweise”, schreibt Zipser, vermisste er die Grenze, “das mulmige Gefühl und die kleinen Schikanen” – offenbar vermisste sein Körper den Adrenalinschub, mit dem ihm der Grenzübergang in die DDR über lange Jahre versorgt hatte. Trotzdem freute er sich natürlich 1990 zu beobachten, wie das bunte und quirlige Westberliner Leben nun auch im Osten Einzug hielt. Neben allen Deutschprofessoren, die sich für die frühere DDR interessieren, empfehle ich Richard Zipsers Buch Von Oberlin nach Ostberlin auch jenen, die auf dem neuen Gebiet der “Surveillance Narratives” forschen. Wie hat die Stasi Informationen über den Autor gesammelt, wie hat sie sie archiviert und welchen narrativem Muster folgt die Story, die der DDR-Geheimdienst daraus strickte… auf diese Fragen liefert das Buch reichhaltiges Material.

Gabriele Eckart

 

Jakob Hein und Jacinta Nandi: Fish’ n’ Chips & Spreewaldgurken. Warum Ossis öfter Sex und Engländer mehr Spaß haben. (Köln: Kiwi, 2013). Wer annimmt, dass es sich bei diesem Büchlein um eine Studie über Gastronomisches in den beiden Ländern handelt, irrt sich. In der Tat bieten die beiden Autoren einen satirisch übersteigerten Landeskunde – und Geschichtsunterricht, der aus der Perspektive naiver Jugendlicher erteilt wird, die ihrer Fantasie freien Lauf lassen. In einem Interview befragt, wie es zur Wahl dieses seltsamen Titels kam, meinte Hein, dass alle Vorschläge, die er dem Verlag machte, zu “ostig” klangen: “Fish and Chips war o.k, und dann die Frage, was gilt als typisch ostdeutsch. Das waren dann die Spreewaldgurken.” Welche Vorstellungen und Fantasien hatten ein Ostdeutscher und eine Engländerin darüber, wie die Menschen im jeweils anderen Land lebten? Der 1971 geborene, in der DDR groß gewordene Jakob Hein ist von Beruf Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Berlin. Bekannt ist er jedoch für eine Reihe literarischer Werke, die ironisch-humorig den DDR-Alltag abhandeln. Bekannt ist er ebenfalls für seine Lesungen auf Berliner Sprechbühnen, vor allem bei der Reformbühne “Heim und Welt”. Sein erster großer Erfolg war die Miniaturensammlung Mein erstes T-Shirt (2003), in der er mit geschickt konstruierter Pseudo-Naivität Absurd-Lächerliches und Alltäglich-Normales verquickt. Diese Erzähltechnik – diesmal aus der Perspektive zweier Jugendlicher – weist auch der neue Band Fish’ n’ Chips & Spreewaldgurken auf. Dialogpartnerin des aus der DDR kommenden Ich-Sprechers ist die 1980 in London geborene Nacinta Nandi, die im Jahre 2000 nach Berlin zog, folglich die DDR nur vom Hörensagen kannte. Bekannt ist Nandi in der Berliner Szene als Bloggerin und Surf-Poetin. Die London-Sehnsucht des jungen Berliners – “hippe Klamotten, heiße Musik, harte Währung, scharfe Pornos” – wird im satirischen Gewand mit den überbordenden Romantik-Fantasien der jungen Engländerin kontrastiert, für die der verflossene Staat das Exotischste ist, was es überhaupt geben kann. Der heitere, unverkrampfte Rückblick auf die DDR sowie Heins ausgeprägter Sinn für skurrile Situationskomik bieten dem Leser einen breiten Assoziationsraum darüber, wie es damals wirklich gewesen sein könnte. Das Spiel mit Übertreibungen enthebt das gebotene DDR-Bild jeglicher Wertung. Der Band kreist um fünf Schwerpunkte, die von doppelter Warte gesellschaftliche Thematik beleuchten: “Gesellschaft und Kritik”, “Sex und Einsamkeit”, “Bildung und Verblödung”, “Freizeit und Stress”, “Dienen und Bedienung”, “Sport und Gesundheit”. In den einzelnen Kapiteln überbieten sich die Autoren mit einem Gemisch von Klischees, Fakten, Übertreibungen, Fantasien und skurrilen Erfahrungen. Über Sex im Ferienlager träumt die Engländerin Nandi, und sie reflektiert über den schnellen Zufallssex, der in der DDR schon deshalb besser war, gewesen sein sollte, weil man sich am nächsten Tag nicht anzurufen brauchte; kaum jemand hatte ein Telefon. Und über den 1. April erfährt sie von einem ostdeutschen Liebhaber Seltsames, nämlich dass der Tag verboten war, um staatsfeindliche Witze zu vermeiden. “Stell dir vor, wenn Aprilscherze erlaubt gewesen wären. Dann hätte zum Beispiel einer am Vormittag des 1. April gesagt: Oh, ich haue ab in den Westen! Und erst mittags sagt er: ‘April, April!’” “Dann wären die Stasi-Leute gekommen und haben euch gefoltert, stimmt’s?” resümiert Jacinta Nandi. Und der Ich-Sprecher Hein erinnert sich mit vergnüglicher Ironie an die Bedienungsrituale in den Restaurants der DDR: “Vor die Wahl gestellt, ein Jahr in einem sibirischen Lager zu verbringen oder zehnmal in der nächstgelegenen Clubgaststätte (wie viele DDR-Restaurants hießen) essen zu gehen, hätten viele sicher zunächst gefragt, um welche Ecke von Sibirien es sich denn handeln würde, weil einiges dort landschaftlich ja sehr reizvoll sein soll […] Das vermessene Fragen nach [Bier] Sorten oder anderen Unterkategorien galt als an Frechheit nicht zu überbietende, geradezu spätbürgerliche Dekadenz, die durch den Sieg des Sozialismus überwunden war.” Und so geht es weiter in dieser treffsicheren Ossi-Satire. Sämtliche realsozialistische Widrigkeiten werden aufs Korn genommen, niemand wird verschont. Heins Witz und Ironie sorgen für vergnügliche, unterhaltsame Lektüre. Das Lachen ist eine Möglichkeit der Distanz zu den geschilderten Situationen.

Christine Cosentino

 

Christoph Hein, Vor der Zeit. Korrekturen. (Berlin: Insel, 2013) Hein hatte sich im Laufe seiner literarischen Karriere wiederholt als Chronist bezeichnet, der über sein Verhältnis zur Welt berichtet. Er erzählt distanziert, oft im Protokollton, mit ganz lapidaren Sätzen, die meistens Feststellungen sind. Leerstellen gibt es in seinem Werk zur Genüge, und so muss der aktive Leser selbst Verbindungen herstellen. Auch in seinem neusten Werk, den Korrekturen antiker Mythen, muss Zeitnahes vom Leser selbst erarbeitet werden. Hein wartet mit kleinen Änderungen am griechischen Mythos auf, mit neuen unerwarteten Wendungen, die zeigen, dass alles auch anders hätte verlaufen können. Der erste Eindruck des Lesers ist, dass Hein die unmittelbare Gegenwart verlasse und weit zurückgehe, aber es scheint nur so. Hein benutzt vertrautes mythologisches Material, um die Gegenwart durchschaubar zu machen. Hein präsentiert 25 Miniaturen mit Neuinterpretationen. Eingeleitet werden diese Miniaturen von einem “korrigierenden” Bericht über den “wahren” Entdecker Trojas (“Das Paradies der Paradiese”) , den heute vergessenen englischen Archäologen Frank Calvert, der Heinrich Schliemann anvertraute, wo er Troja vermutete, und der Schliemann somit die Ausgrabungen ermöglichte. Die Miniaturen enden mit dem Bericht über das “erste Buch Homers”, in dem der blinde Sänger Profitsucht, Machtstreben und Kolonialisierungsabsichten als die wahren Wurzeln und Motive des Krieges entlarvte, eine Tatsache, die der verrohte Odysseus nicht akzeptieren konnte. Er wird – Hein erinnert hier unaufdringlich an seine DDR-Erfahrungen – zum Zensor, fordert Änderungen und Auslassungen, letztlich eine Neuinterpretation des Trojanischen Krieges: Ehre, verletzte Gastfreundschaft und der Raub der schönen Helena seien die wahren Motive dieses “gerechten” Krieges gewesen. Homer muss eine zweite Fassung über den Krieg schreiben. Die beiden Miniaturen in diesem Band weisen einführend und abschließend auf einen Kontext “vor der Zeit”, also vor einer sich auf Quellen stützenden Geschichtsschreibung, in dem es um die Götter des Olymp geht, um den Trojanischen Krieg, um Situationen und Ereignisse, in denen Götter und Menschen aufeinanderstoßen oder in denen sie sich abstoßen. Was geschah zum Beispiel mit der schönen Helena, nachdem der Krieg zu Ende war? Hein wartet mit verschiedenen Spekulationen auf, schließt jedoch mit der Mutmaßung ab, dass die alternde Frau, um den Mythos der Schönheit zu wahren, sich bis zu ihrem Lebensende in einem spiegellosen Raum versteckte. Und wie fühlte sich der vom Krieg geprägte, gewalttätige Odysseus wirklich, als er wieder zu Hause in der Zivilgesellschaft war? Fremd und verwirrt verbrachte er die Tage. Erst als sein Sohn ihn aufforderte, Penelopes Freier zu vertreiben, war er in seinem Element. Er tötete alle: “Er war daheim.” Hein projiziert den Olymp als Ort, der von Machtgier, Profitsucht, Verleumdung, Korruption, sexueller Lust, Gewalt, Verrohung und Sittenverfall gezeichnet ist. Liegt hier Zeitnahes? In einem Interview deutet Hein selbst auf das in den Miniaturen Ungesagte: “Auf dem Olymp sah es genauso aus wie in Berlusconis Italien oder den Vorstandsetagen der Banken.” Andererseits jedoch ist der oberste Gott und Herrscher im Olymp auch unberechenbar, denn er ist durchaus humanitärer Gesten fähig. Als Herakles, so korrigiert Hein den griechischen Mythos, eine dreizehnte Arbeit abverlangt wird, nämlich seinen Vater Zeus zu töten, fällt er, der Sohn, weinend auf die Knie und betet zum Göttervater. “Das rührte das Herz des unrührbaren Gottes, und er erbarmte sich seiner.” Dem Ruf der Weichheit wollte sich Zeus allerdings nicht aussetzen. Also wurde die dreizehnte Arbeit des Herakles verschwiegen. Eine prekäre Thematik berührt Hein in seiner Behandlung der Asklepiosfigur, des Arztes und Heilers, der auf Ansinnen des Gottes Hades von Zeus mit dem Tode bestraft wurde, weil er Kranke heilte und somit dem Griff des Gottes Hades entzog. Führt die Langlebigkeit der Menschheit zur Vergreisung, und ist der Mensch selbst oder die geriatrische Gesellschaft darauf vorbereitet? Asklepios wird in Heins Miniatur nicht nur mit dem Tod bestraft, sondern in der Unterwelt auf den Stuhl des Vergessens gesetzt, wo er selbst die Vergreisung erlebt: “Bald wusste er nicht mehr den eigenen Namen […] Das Vergessen hatte ihn völlig umfangen, und mit offenem Mund und erloschenen Augen sitzt er für alle Zeit auf dem Stuhl des Vergessens.” Eine der schönsten Miniaturen ist die, die von Prometheus handelt, der, laut mythologischer Vorlage, den Menschen das Feuer brachte und deshalb von Zeus bestraft wurde, der ihn an einen Felsen im Kaukasus schmiedete. Hein gibt dem Schicksal des Menschenfreundes eine andere Wendung: Prometheus wurde von Zeus bestraft, weil er den Menschen der Figur der Hoffnung zugesellte. So wurde die Vorausschau der Menschen auf eine furchterregende Zukunft überstrahlt von leuchtender Hoffnung. Und so geht es weiter. Hein beschwört das mythische Personal des Olymps herauf. Er berichtet, korrigiert, versieht seine Text mit Widerhaken, schmückt aus und verfremdet. Sein schöpferisches Weiterarbeiten am Mythos beleuchtet unaufdringlich Gegenwärtiges. Doch Hein moralisiert nicht. Er stellt einfach dar, geht auf eine Partnerschaft mit dem Leser ein, den er zum Nachdenken provoziert. Wohl kaum ist anzunehmen, dass Heins Überlegungen die Welt korrigieren, aber sie korrigieren den Blick.

Christine Cosentino

 

Zu Teju Coles Open City. Roman(New York: Random House, 2011. Dt.: Open City. Roman (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2012)

Was uns an einem Menschen wie an einem Buch fesselt, ist seine Haltung zum Leben. Der Erzähler von Open City ist ein Entwurzelter, nicht zu Hause in Berlin, wo seine Mutter herkommt, nicht in Nigeria, woher sein Vater stammt und wo er selbst seine Jugend verlebte. Daher findet er sein Zuhause in New York City, der ältesten modernen Heimatstadt der Entwurzelten. Er ist ein Solitär, ohne eigene Familie, und das verbindet ihn mit der Hauptlinie der europäischen und der amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, mit den Bildungsromanen der Deutschen, den Gesellschaftsromanen der Franzosen, mit Kafka, Proust und vielen anderen, aber es trennt ihn gleichzeitig von der Tradition des Familienromans, von den Buddenbrooks ebenso wie von The Corrections. Sein Thema ist die Einsamkeit in der Masse, in der Anonymität, nicht die Einsamkeit in der Familie. Genauer gefasst, ist es nicht die Einsamkeit, sondern das Standhalten gegen sie. Von Glück ist nicht die Rede, und wenn davon Ahnungen in dem konsequenten inneren Monolog, der an keiner Stelle von Dialogen oder anderen literarischen Darstellungsmitteln unterbrochen wird, aufscheint, dann ist es an Kunst (Bilder, Musik) oder an meist zufällige menschliche Begegnungen gebunden. Diese Anlage des Buches hält Kontakt zum Existentialismus, der aber dadurch unter Kontrolle gehalten wird, dass der weiße schwarze Erzähler gar nicht anders kann, als historisch zu fühlen und zu denken. Der Kontakt, das Zwiegespräch mit den und die Erinnerung an die Toten ist (wie wohl bei aller großen Literatur) das Stoffzentrum des Romans, obwohl er sich im (vorwiegend New Yorker) Alltag bewegt wie ein Fisch im Wasser. Selbstverständlich ist es ein Buch über Rassismus. Aber es wirbelt die oberflächlichen, den alltäglichen westlichen Diskurs darüber bestimmenden Kategorien so gewaltig durcheinander, wie es die Wahrheit erfordert. Der Held verachtet seine Mutter, die sein natürlicher Leidensgenosse sein könnte, ist sie doch die Frucht der Vergewaltigung einer Berlinerin durch sowjetische Soldaten im okkupierten Kriegsberlin, gleichzeitig ist ihm seine Berliner Oma eine Sehnsuchtsfigur, einer Umarmung wegen, die er einmal in Nigeria von ihr erfahren hat. Über den Grund dieser kalten Verachtung erfährt der Leser nichts –– ist sie eine “geerbte” Kälte der Kriegsgewalt? Ist sie ein in sehr tief im Unbewussten verriegelter “existentieller” Rassismus der weißen Mutter gegen ihr schwarzes Kind oder umgekehrt schwarzer Rassismus des Sohnes gegen seine weiße Mutter, vielleicht noch gestärkt durch den frühen Tod seines Vaters? Die Tragik dieses verbrecherischen Unfallknäuels der historischen Verwerfungen, die Menschen aber existentiell prägt, wird vollends unentwirrbar, wenn der Erzähler, der Benjaminsche Flaneur in der Hauptstadt des zwanzigsten Jahrhunderts, von drei jungen Schwarzen, also “brothers”, überfallen, verprügelt und beraubt wird, aber ganz besonders auch in der Szene, in der er auf der Party eines Hedgefond Managers von dessen schwarzer Freundin erfährt, dass er sie als Siebzehnjähriger in Nigeria betrunken vergewaltigte, etwas, dass der Held offenbar völlig aus seinem Bewusstsein entfernen konnte und auch jetzt nicht kommentiert. An dieser Stelle des Nachdenkens über das Buch liegt der Vorwurf der Trivialität wegen der Inflation von Stoffen nahe. Am wenigsten entgangen ist der Verfasser dieser Falle in einem Kapitel, das in Brüssel spielt, wohin ihn, freilich erfolglos, die Suche nach seiner Oma trieb, die er aber weniger als halbherzig betreibt, wohl ahnend, dass das Proustsche Großmutterglück der “belle epoche” zwar für jeden Erzähler notwendig, weil es doch von alters her die Großeltern sind, die den Enkeln die Erfahrung, zuerst in den Märchen, weiterreichten, aber doch mehr und mehr verloren ist. Stattdessen trifft er auf einen jungen Araber, einen Angestellten in einem Internet-Café, der Benjamin und Barthes liest, auf seiner “Differenz” besteht und dies mit einer Weigerung der Distanzierung von Al-Kaida verbinden kann. Die eitle rassistische Dummheit, die hier intellektuell geschminkt ihren Ausdruck findet, wird aber im selben Kapitel durch die robuste politische Vernunft einer amerikanisch-belgischen Ersatzgroßmutter zurechtgerückt. Man bemerkt, dass das ein bisschen viel Stoff ist, aber es zeigt Coles Talent, dass er dem Scheitern in der Stofffalle entkommt. Ein anderer Vorwurf, der bei vielen Stellen, wo es um Kunst oder Intellektuelles geht, aber bei diesem “Farouque” besonders naheliegt, ist, dass der Roman sich weniger mit dem Leben als mit dem Denken, mit den Theorien linksliberaler Intellektueller beschäftigt. Die Figur des sterbenden Professor Saito, den der Erzähler verehrt, bringt z.B. auch noch die Gender- und Schwulen-Debatte ins Spiel. Nun ist dieser Vorwurf schon Größeren wie Musil und Proust gemacht worden, und er trifft auch für Cole nicht zu. Man irrt sich leicht über die angebliche Trennung von Denken und Leben. Es mag zwar stimmen, dass Open City einen Teil seines Erfolges der Tatsache verdankt, dass jede (amerikanische) Studentin, die intellektuell-politisch up-to-date ist, “ihre Sache” darin häppchenweise konsumieren kann, aber die wirkliche, die subkutane Wirkung des Buches beruht doch auf etwas anderem: auf der Ökonomie des Zusammenhangs. Dieser Zusammenhang ist das autonome Individuum, ein Mann, der seinen Weg geht. Und das ist eigentlich das Erstaunlichste an dem ganzen Buch: wie kann einer im 21. Jahrhundert, wo wir Europäer in Europa und New York doch (seit Marx, Freud, Benjamin, Adorno, Foucault und Derrida – oder: seit zwei Weltkriegen, den Konzentrationslagern und dem Fall des World Trade Centers) wissen, dass es damit endgültig vorbei ist, einen solchen Zusammenhang in der Ökonomie eines geschliffen geschriebenen Buches, also in der Haltung, authentisch darstellen? Vielleicht kann das nur ein “naiver” amerikanischer Schwarzer. Zweifellos ist dieses “Individuum” beschädigt, nicht “unteilbar”, keine “Persönlichkeit” (sondern z.B. ein Vergewaltiger), aber es besteht doch auf einer pragmatischen inneren Konsistenz des Einzelmenschen, die etwa Kafka schon vor hundert Jahren in Richtung Tierreich hinter sich gelassen hat. An einer Stelle wird das explizit deutlich, wenn der Erzähler, der doch Psychiater ist, kurz auf Freud zu sprechen kommt und dabei ganz den in der psychologischen Praxis der USA herrschenden Antifreudianismus wiederholt, obwohl er sich doch für Freud zugänglich zeigt. Freud als Kulturwissenschaftler ist jedoch ein weißer Fleck in seinem Bewusstsein. Und so kann dieses Buch auf einen Europäer vielleicht etwas anders wirken als auf einen Amerikaner, nämlich romantisch, so als ob der Gottfried Benn der frühen Rönne-Novellen von 1916 noch einmal politischere Gestalt angenommen hätte und als ob Döblin, Joyce und Dos Passos, obwohl der Autor die beiden letzteren sicher gut kennt, ihre Hauptwerke noch nicht veröffentlicht hätten.
Rainer Stollmann

 

Liebeserklärungen an einen Hund. Utz Rachowski, Miss Suki oder Amerika ist nicht weit! Niederfrohna, Mironde Verlag, 2013. Mit Zeichnungen von Thomas Beurich

Dass sich Rachowski sowohl als Prosaautor wie auch als Lyriker und Essayist längst einen Namen gemacht hat, ist bekannt, besonders die Bände „Red‘ mir nicht von Minnigerode“ und zuletzt „Beide Sommer“ haben ihm seinen Platz in der deutschen Gegenwartsliteratur gesichert. Für sein Werk wurde der 1954 in Plauen/Vogtland geborene und in Reichenbach aufgewachsene Dichter u.a. 2007 mit dem Reiner-Kunze-Preis ausgezeichnet. Seine Literatur ist aufs engste verbunden mit seiner Biographie: Fünf Gedichte und die Verbreitung verbotener Texte (Biermann, Fuchs, Pannach) brachten ihm in der DDR eine Verurteilung zu 27 Monaten Gefängnis ein. Nach seinem

Freikauf durch die Bundesrepublik lebte er bis 1989 in Westberlin.

Sein neuer Band „Miss Suki“ wendet sich einem Hund zu, was im Vergleich zu seinen bisherigen Themen zunächst überrascht. Der Hund ist eine Cavalier-Prince-Charles-Spaniel-Lady, er ist in Amerika zu Hause. Diese mit scheinbar leichter Hand geschrie-benen Gedichte um einen Hund, die im Grunde Liebeserklärungen sind, inspirierten Rachowski, als er eine Gastprofessur am Gettysburg College in Pennsylvania bekleidete. Aber die Gedichte weisen darüber hinaus, sie feiern die Freiheit, das Leben schlechthin, die Beständigkeit der Liebe und Treue, erinnern jedoch gleichzeitig daran, wie Wasser in Wein geschüttet wird, dass wir endlich sind, auch wenn wir es oft vergessen, indem auf das Alter angespielt wird ebenso wie auf

den Tod: die großen Themen der Literatur.

Aber Rachowski wäre nicht Rachowski, wenn es nicht Reminiszenzen an seine Diktatur-Erfahrungen gäbe.

„Mein Hündchen / mein kluges / mit langen Ohren // findet das Zusammenleben / mit einem Dichter // angenehm // soviel Schweigen / von beiden Seiten // zwei die zu oft / angebellt wurden“.

Die Gedichte leben von dem Spannungsverhältnis, das sich aus dem Vergleich zwischen Hund und Mensch ergibt, was mitunter  charmant-selbstironische Züge annimmt: Miss Suki liegt auf Platz 24 der Hunde-Intelligenzliste, das lyrische Ich tappt im dunklen, was den eigenen Platz anbelangt. Das kann man nur mit Augenzwinkern lesen und feststellen, dass sich das lyrische Ich nicht zu ernst nimmt.

Doch der Dichter weiß, dass die Oden an den Hund allein diesen Band vielleicht nicht ganz tragen. Deshalb hat er einige lange Gedichte eingebaut, die thematisch weiter gefasst sind. Neben dem „Ich hatte Nachbarn“ ist „Culp’s Hill, April 19, 2012“ das bemerkenswerteste: Es hat Tiefe, spannt einen großen historischen Bogen und bleibt im Tonfall dennoch lakonisch. Wer Gettysburg hört, assoziiert den amerikanischen Bürgerkrieg. Im Juli 1863 standen sich hier die Truppen der Nord- und Südstaaten zur entscheidenden Schlacht gegenüber. An drei Tagen starben auf jenem Hügel 50 000 Soldaten. Der Gastprofessor begeht mit seinen Studenten den für immer gezeichneten Ort des Todes. „Ich bin das Gras. Ich decke / zu. Häuft Berge bei / Gettysburg. Häuft Berge / bei Ypern und Verdun.“ Als sie hinunter zur Stadt laufen, fällt das Bedrückende des Ortes, die Last der Geschichte von ihnen allen ab, ohne sich gänzlich von ihr befreien zu können.

Michael G. Fritz

Zuerst erschienen in: Dresdner Neueste Nachrichten 

 

“balance zwischen zerstäuben / und zentrieren“.  Zu Michael Speier: Haupt Stadt Studio. Gedichte Aphaia Verlag. Berlin 2012.

Man kennt den Autor seit vielen Jahren als ausgewiesenen Schriftsteller, Übersetzer Literaturwissenschaftler und Herausgeber. Er ist in der romanischen und angelsächsischen Welt in gleicher Weise zuhause wie hierzulande. Eine ganze Reihe von Gedichtbänden liegt vor. Diese neue Sammlung setzt den in den Bänden “Scherbenschnitte“ (2001) und “welt/raum/reisen“(2007) eingeschlagenen Weg des ‘Erzählgedichts‘ fort. Die vielen von Speier aufgesuchten Orte werden für ihn zum Terrain ausladender Bewußtseinserkundungen. Äußere und innere Reflexe spiegeln die lyrisch erfaßte Radikalität seines Erlebens. Die assoziativ aufgenommenen Erzählelemente schlagen sich in der aufgelockerten, eigenwilligen Sprache nieder. Sie erlaubt sowohl spielerische Leichtigkeit wie hintergründige Tragik. In rhythmisch abgestuften Abläufen schwingt gleichermaßen existentielles Unheil wie distanzschaffende Ironie mit. Sein stichwortartig lapidares Nennen erfaßt die paradoxe Weltlage mit großer Genauigkeit vom Detail her. Solche Sprachverkürzung führt oft zu Sprachverhärtung. Nicht so im Falle von Speiers Gedichten. Ihm gelingt die schwierige “balance zwischen zerstäuben / und zentrieren“ (S. 41) und damit die Verwandlung des komplex Dargestellten in sinnlich ausgefüllte Plastizität.  Dabei entsteht ein sprachliches Geflecht von Geschichte, Alltag, Mythos, Erinnerung, Reflexion, Depression, Sehnsucht und Erwartung. Allerdings setzt der lyrisch-narrative Wortfluß den mitdenkenden Leser voraus. Sonst bleibt die sinnliche Abstraktion der Textgestaltung unerschlossen. Die im Grunde negative Welterfahrung mündet letzten Endes in der produktiven Erkenntnis vom “Verlernen der Welt“ (Nelly Sachs). Speiers Gedichte eröffnen haltbare Positionen gefaßten Weiterlebens im unsicheren Wissen: “ist es wenig fast nichts, und zwar heftigst? / lehne ich mich ins weite, greife ich tief / bin ich forsch, grammatisch, eifrig / beim horten von worten lauf ich / die serpentinenstraße“ (S. 69). So wünscht man sich heutige Lyrik: welthaltig, formstreng, hart in der Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, die den Alltag zum Schrecken machen kann, im Endeffekt aber befreiend durch die lyrisch entfalteten Gegenkräfte. Speier hat wahrlich “nachgedacht und verstanden“ S. 36). Wir sollten unsererseits über seine Gedichte nachdenken und – hoffentlich – verstehen.

Theo Buck, Aachen

 

Charlotte Roche, Schoßgebete. München: Piper, 2011, pp. 283.

Im Zuge der um die Jahrtausendwende entstandenen Gattung der sogenannten Pop-Literatur entfaltete sich auch das genderspezifische Genre des sogenannten, wenn auch begrifflich umstrittenen „literarischen Fräuleinwunders“, in dem junge Autorinnen wie Judith Hermann, Tanja Dückers, Julia Frank, Sarah Kuttner et al. ihre Lebenserfahrungen als junge Frauen in einer postmodernen Spass- und Leistungsgesellschaft thematisieren. Bisheriger publizistischer Höhepunkt dieser literarischen Entwicklung war sicherlich Charlotte Roches senstionell-skandalöser Bestsellerroman Feuchtgebiete (2008), der monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stand und in kürzester Zeit in mehr als ein Duzend Sprache übersetzt wurde.

Auch Roches neuer Roman Schoßgebete (2011), der ebenfalls monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste rangierte, ist als chronique scandaleuse konzipiert. Die 33-jährige Ich-Erzählerin hat sich nach ihrer gescheiterten Hochzeit in einen 50-jährigen Mann verliebt, den sie heiratet, um mit ihm, seinem jungen Sohn und ihrer jungen Tochter eine nach außen recht bürgerliche Patchworkfamilie zu gründen. Auch in diesem Roman spielt, wie schon in Feuchtgebiete, die Sexualität eine zentrale Rolle. In aller Ausführlichkeit werden die Liebesgepflogenheiten und Sexualrituale des Ehepaares dargestellt. Dieser Erlebnisbereich wird komplementiert durch eine außergewöhnliche Familientragödie. In einer Massenkarambolage  und ihrem Flammeninferno kommen drei Brüder der Erzählerin ums Leben, während ihre Mutter schwerverletzt überlebt. So wird der Traum von einer exzessiv ausgelebten Sexualität ergänzt durch das omnipräsente Trauma der menschlichen Mortalität.

Im Verlauf des Erzählgeschehens, das von einer intensiven Psychotherapie-Erfahrung durchwirkt wird, verdichtet sich diese Liebes- und Todesgeschichte zu einem exemplarischen Freudschen Familienroman, in dem sich wesentliche Verhaltensweisen der Romanheldin als bezeichnende Erscheinungsformen eines vielschichtigen Mutter- und Vaterkomplexes zu erkennen geben. Während ihre „Hypersexualität“ und ihre provokativen Praktiken und Phantasien unter anderem als Reaktionsbildungen gegen ihre „feministische Mutter“ zu verstehen sind und sich im psychoanalytischen Erklärungsmodell der Objekt-Beziehungen weiter deuten lassen, kann ihr „fetter Vaterkomplex“ mitsamt ihrer obsessiven Analfixierung als eine illustrative Fallstudie für die psychosexuelle Regression ins primäre Stadium infantiler Geschlechtsvorstellungen gedeutet werden, in denen Freuds Kloaken-Theorie zufolge der anale und vaginale Körperbereich eine polymorph perverse Einheit bilden. Dieses Regressionsphänomen ist mit dem Freudschen Todestrieb assozierbar und lässt sich sowohl  in der verkehrten Welt der faschistischen Vernichtungslager, dem „Anus Mundi“ von Auschwitz und seiner „Pornographie des Todes“ (Ruth Klüger), als auch in den archaischen Vorstellungen vom matriarchalen Mutter- und Totenreich und seinem imaginären orcus uterus weiterverfolgen. Zusammengesehen kristallisieren sich diese psychomythischen Phantasmagorien immer wieder zu einer morbiden Schauerromantik, in der Ekstase und Exitus, Eros und Thanatos eine magisch entgrenzte Einheit bilden. Immer wieder flirtet die Erzählerin mit ihrem „Gevatter Tod“, stimmt gar ein Loblied auf den Freitod an, diese letzte Entgrenzung allen Lebens. Es ist eine makabre Hymne, die vor allem für labile Jugendliche der „Gothic Scene“ verhängnisvoll werden könnte. Zum Glück schlagen Roches Lockrufe in den befreienden Tod in der Regel immer wieder schnell um in den Sirenengesang auf die entfesselte Liebe. Diesem Lockruf kann seit Neuestem auch Sönke Wortmann, (Der bewegte Mann, Deutschland – Ein Sommermärchen) nicht  mehr widerstehen, und so soll denn der Film zu Schoßgebete bereits im Herbst 2013 in die deutschen Kinos kommen.

Frederick A. Lubich

 

Ein Berliner Bilder- und Bildungsroman. Zu Gerald Uhlig-Romeros Neuerscheinung stoff.wechsel. Berlin: epubli, 2011, 124 Seiten.

Gerald Uhlig-Romero ist sicherlich einer der schillerndsten Künstlerfiguren des heutigen Berlin. Seine vielseitige Karriere begann er in Wien als Sänger und Schauspieler, um sie bald als Theaterregisseur, Autor von zahlreichen Bühnenstücken, Photograf, Radio-Moderator und Installationskünstler in verschiedenen deutschen Städten fortzusetzen. Ein Highlight seiner Lehr- und Wanderjahre war sicherlich die Inszenierung von Yoko Onos Musical New York Story, mit dessen deutschen Premiere ihn die Künstlerin persönlich beauftragt hatte. In den letzten  Jahren profilierte sich Uhlig-Romero zudem mehr und mehr in den Ausdrucksformen der Malerei, Lyrik und Prosa. Seine Gemälde fanden in nationalen und internationalen Ausstellungen Anerkennung und seine Gedichte erschienen in Buchform und wurden von führenden deutschen Printmedien wie der Frankfurter Allgemeine Zeitung wiederabgedruckt.

Gleichsam als kreative Quintessenz dieser All-Round-Reise durch die Welt der Künste kristallisierte sich das Café Einstein Unter den Linden in Berlin-Mitte heraus, das Uhlig-Romero im Jahre 1996 mitbegründete und heute als alleiniger Inhaber unterhält. In den letzten Jahren hat  es sich unter seiner engagierten Regie zu einer geradezu globalen Schaubühne entwickelt, auf der sich die nationalen und internationalen Akteure der Kultur, Wirtschaft und Politik ein Stelldichein geben und in dessen angeschlossener Galerie führende Künstler vor allem aus den Vereinigten Staaten ihre Werke ausstellen. Zudem wurde Café Einstein in den letzten Jahren auch zum beliebten Begegnungsort von Nobelpreisträgern aus dem In- und Ausland, die sich in regelmäßigen Abständen hier zum informellen Gedankenaustausch treffen. Kurzum, Café Einstein ist die konsequente Krönung von Uhlig-Romeros künstlerischem Schaffen, eine kulturelle Leistung, die ihm mit gutem Recht in der deutschen Boulevardpresse den Titel „Kaffeehauskönig von Berlin“ eingebracht hat.

Diese multi-mediale Erfolgsgeschichte wird allerdings überschattet vom Schicksalschlag Morbus Fabry, einer seltenen Erbkrankheit, an der Uhlig-Romero seit seiner Kindheit leidet, und die ihn vor Jahren fast das Leben gekostet hätte, wäre sie nicht im letzten Moment diagnostiziert worden. Die Gespenstergeschichte dieser heimtückischen Speicherkrankheit hat er 2009 in seinem Buch Und trotzdem lebe ich. Mein Kampf mit einer rätselhaften Krankheit eindringlich beschrieben.

Diese autobiographischen Hintergründe sind nicht unwesentlich für ein besseres Verständnis von Uhlig-Romeros neuestem Buch stoff.wechsel. Peter Baaks, der Protagonist dieses Textes, ist ein 40-jähriger Erfinder und Unternehmer, der es in der sich entfaltenden Internet-Industrie zu großem Ruhm und unermesslichem Reichtum gebracht hat. Zu Beginn des Romans sehen wir ihn in einem Zugabteil, das speziell für seine Reise reserviert worden ist. Er ist versunken in Erinnerungen an die geliebte, frühverstorbene Mutter, an die Leiden der Schulzeit und an die leidenschaftliche Suche nach sich selbst und seiner künstlerischen Selbstverwirklichung. Diese animierte Retrospektive changiert im Verlauf des Narrativs zusehends in die exaltierten Wunsch- und  Wahnwelten unserer heutigen Konsum- und Karrierekulturen und ihren prestige- und profitorientierten High Societies. Der Autor zieht alle kritisch-kreativen Register im Kaleidoskop seines facettenreichen Panoptikums, wobei sich die reale Reise mehr und mehr in eine voyage imaginaire verwandelt. In ihrem Verlauf beschwört die bewegte Bildersprache des Textes auch immer wieder ikonographische Reminiszenzen an die Berliner Kunstgeschichte herauf, seien es die expressionistischen Schrei-und-Angst-Visionen Edvards Munchs, die apokalyptischen Landschaften Ludwig Meidners, die satirischen Skizzen und Sittengemälde von Otto Dix und George Grosz und nicht zuletzt die heftige Malerei der Neuen Wilden im Berlin der achtziger Jahre. Diese kulturgeschichtlichen Assoziationen vermischen sich dabei durchgehend mit naturwissenschaftlichen Evokationen aus dem mikroskopischen und makrokosmischen Universum der Quarks und  Elektronen, der Lichtjahre und ihren unendlichen Dimensionen. Erratische Bildfragmente von „brennendem Eis“ und „gefrorenem Feuer“ treiben darüber hinaus die verkehrte Welt, die unheimlichen Abgründe der deutschen Schauerromantik herauf.

Diese Bewusstseinsflut mit ihrem irrlichternden Bilder- und Wissensgut konkretisiert sich schließlich in der schimärischen Erscheinung einer weiblichen Figur namens Johanna, die der Romanheld im Speisesaal des Zuges trifft und die von Beruf Kellnerin und von Berufung Malerin ist. Der Blick- und Wortwechsel dieser beiden, das Spiel ihrer beginnenden Tuchfühlung, führt schließlich zur vollständigen Enthüllung  ihrer „vollkommenen Schönheit“,  mit der sie sich ihrem Bewunderer zügel- und grenzenlos hingibt – nur um sich danach in den Tod zu stürzen.

Im Gefolge dieser seltsamen Ereignisse verwandelt sich der mondäne Speisesaal in einen ominösen Operationssaal, dessen Decken mit den Szenarien aus Himmel und Hölle ausgemalt sind. Unter diesem zwiespältigen Horizont und seiner halluzinatorischen Erscheinungswelt wird schließlich Baaks‘ krankes Herz durch das einer jungen Frau ausgetauscht, „die sich selbst getötet hat“. Spätestens hier lassen sich Parallelen zum Autor dieses Romans nicht mehr ignorieren. So gewinnt zum Beispiel in der Darstellung von Uhlig-Romeros eigener Krankengeschichte eine Nierentransplantation zentrale Bedeutung, wobei seine junge Frau als Organspenderin eine ausschlaggebende Rolle spielt. So hat der Autor von stoff.wechsel mit der Überlebensgeschichte seines maroden Protagonisten auch seiner eigenen Ehefrau ein mehr oder weniger verschlüsseltes Denkmal gesetzt.

In der weiteren Entwicklung der Handlung stellt sich schließlich heraus, dass Baaks’ Liebhaberin und Lebensretterin mit ihren „25 Jahren bereits einige Milliarden Jahre alt“ war. Auf diese Weise gibt sie sich als eine Verkörperung des „Ewig Weiblichen“, als ein leibhaftiger Avatar der aphroditischen Magna Mater zu erkennen. Darüber hinaus figuriert Johannas Glücksversprechen auch als eine vollständige Verkehrung der Geheimen Offenbarung des heiligen Johannes. Dessen Buch der Sieben Siegel hat sich bei Johanna verwandelt in die Geheimschrift ihres entsiegelten Schoßes: „Sie öffnete ihm ihre Schenkel wie Tagebücher.“ So mutiert das apokalyptische Weltgericht Gottvaters im Himmel in die ekstatische Welterlösung durch die Muttergöttin auf Erden. In dieser chiliastischen Kontrafaktur ist nicht mehr das Wort Gottes, der himmlische Logos, sondern der irdische Eros, die Wollust der Göttin, das schöpferische Urgesetz, das die Welt im Innersten zusammenhält. Goethe hat dieses muttermythische Mysterium auf die Faustische Formel gebracht: „So herrsche denn Eros, der alles begonnen.“

Auf diese epische Rückkehr zu den archaischen Ursprüngen spielt auch eine Anekdote des Romans an, die das Menschenleben mit seinem Tod beginnen lässt, es durch verschiedene Entwicklungstufen bis zu seinen Anfängen in der Gebärmutter zurückverfolgt, um es schließlich im Zeugungsorgasmus enden zu lassen. Diese ontogenetische Regression führt mythographisch gesehen zurück in den elementarsymbolischen Orcus Uterus, das sagenhafte Mutter- und Totenreich, über dessen prima materia die allmächtige Magna Mater herrscht und richtet und deren Urstoffe sie zu lebendigem Dasein verdichtet. Diesem Vorbild entsprechend wird Johanna mehr und mehr zum delphischen Orakel, aus dem immer wieder die Zaubersprüche dieses Stoffwechsels, die Beschwörungsformeln von Zufall und Notwendigkeit, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit wie leitmotivische Nebelschwaden aufsteigen und das gesamte Erzählgeschehen schwängernd durchziehen.

Der Rausch der Bilder und Einbildungen erreicht seinen numinösen Höhepunkt, als Baaks auf einer Kunstauktion das Gemälde „Dame Evolution“ für eine astronomische Summe ersteigert und es damit zum teuersten Kunstwerk aller Zeiten macht. Wie es sich herausstellt, handelt es sich bei diesem Gemälde um ein Selbstportrait Johannas „nackt in einem Zugabteil, die Beine übereinandergeschlagen, schwarze Stiefeletten“. Für Baaks ist dieses Bild ein Inbild sinnlich-sinnbildlicher Vollkommenheit, Darwinsche Domina und Munchsche Madonna in matriarchaler Personalunion. Und so errichtet Baaks, ganz ödipaler Muttersohn, seiner enigmatischen Sphinx eine Art Herrschaftsthron, ein museales Mausoleum, das er täglich zur „geheiligten Stunde“ besucht. Für ihn haben sich in diesem idolischen, erotisch-religiösen Idealbild Kunst und Leben zu einem einzigartigen Gesamtkunstwerk verdichtet.

Hand in Hand mit dieser sakralen Hommage an seine symbolische Kunstfigur geht die satirische Demontage des internationalen Kunstmarktes, dessen Hype und Hysterie in diesem Roman immer wieder zur Zielscheibe von Spott und Hohn werden. Die jüngste chronique scandaleuse um den Gemäldefälscher Wolfgang Beltracchi kann als ein weiteres Exempel gelten für die unheilige Allianz von Kunst und Kapital und ihre zwielichtige Welt aus Tausch und Täuschung. Die doppelte Optik, mit der Uhlig-Romero Sein und Schein dieser Kunstwelt ins Visier nimmt, macht seinen Roman zu einem kongenialen Reflexionsmedium, in dem sich komplexe Aspekte der Berliner Kulturgeschichte beispielhaft widerspiegeln.Wohl keine andere Metropole Europas hat in den letzten Jahren kunstschaffende und kunstvermarktende Synergien so magnetisch angezogen wie das wiedervereinte Berlin. Hier schossen Kunstgalerien aus dem Boden wie einst die Amüsierkabaretts in der Weimarer Republik. Zudem spielte Berlin im zwanzigsten Jahrhundert eine exemplarische Rolle als Barometer für die fundamentalen Veränderungen der Epoche. Hier vollzog sich der Wandel der Moderne, der systematische Paradigmenwechsel von der patriarchalen Realität zur matriarchalen Utopie, sicherlich am spektakulärsten.

Während zum Beispiel im imperialen Berlin Kaiser Wilhelms die Stechschrittparaden der zum Krieg aufmarschierenden preußischen Soldaten das Stadtbild bestimmten, ist vice versa das Image des republikanischen Berlins der Zwanziger Jahren von den Attraktionen der Revue Girls, dem Nackttanz des Weimarer Cabarets und – last but not least – der beginnenden gesellschaftlichen Selbstverwirklichung der „Neuen Frau“ geprägt. Entsprechend wurde die Weimarer Republik als „Frau Republik“ und Berlin als „Hure Babylon“ so berühmt wie berüchtigt. Die treibende Kraft dieser sexuellen Revolution inspirierte auch noch die Eskapaden der Berliner Kommune I zu Beginn der siebziger Jahre und feierte schließlich im Berlin der neunziger Jahre und seiner bunten Love Parades ihre letzten, fröhlich-frivolen Urständ. Ultimatives Sinnbild dieser hedonistischen Körperkultur sind wohl Helmut Newtons weltberühmte „Big Nudes“, die unübersehbar die Wände der Helmut Newton Bar in Berlin Mitte zieren. „Make Love not War“, dieses Fanal der 68er Generation ist ihren veritablen Venus-Figuren buchstäblich von Kopf bis Fuß auf den Leib geschrieben. Ihr photogener Auftritt inszeniert metaphorisch gesehen das Comeback der antiken Amazonen, der fabelhaften Vorreiterinnen aller modernen Frauen-Emanzipationen. Zudem figurieren die schamlos Schönen von Helmut Newton auch als passende Ergänzung zu Käthe Kollwitz‘ gramvoller Mutter in Berlins Alt-Neuer Wache, wo sie der Opfer ihrer zahllosen, im Krieg gefallenen Söhne gedenkt.

Das ikonische Potential dieser imaginären Konstellationen ließe sich kulturutopisch noch bedeutend weiter projizieren. So wie einst die „Langen Kerls“ für den preußischen König ihr Leben in die Schanze schlagen mussten, so könnten heute die „Big Nudes“ sinnbildlich gesprochen der deutschen Kanzlerin als ehrwürdige Leibgarde dienen. Statt männlichem Kampfgewühl böten sie nun weiblicher Sex-Appeal. Damit ließe sich symbolisch bestens Staat und Reklame machen. In diesem Sinne repräsentierten Newtons „Nudes“ nicht nur Weimars legendäre Freikörperkultur, sie reflektierten auch den Geist der heutigen Zeit und sein so vielberufenes Ideal der größtmöglichen Freiheit. So wären diese Super Models auch die Muster- Mädel der Kanzlerin und – quod erat demonstrandum – die schönen Freudenfunken der vielbesungenen „Tochter aus Elysium“.

Angesichts des Wunderjahres 1989 und seiner friedlichen Berliner Revolution – dem Wunder aller deutschen Nachkriegswunder von „Fräuleinwunder“ bis „Wirtschaftswunder“ – ließen sich Newtons „Wonder Women“ auch als wunderbare Wiedergängerinnen von Walter Benjamins „Angelus Novus“, dem umstürmten „Engel der Geschichte“ denken und deuten. Als wandelnd verwandelte „Angela Nova“ könnten sie zu neuen, schönen Schutzengeln von – nomen est omen – Angela Merkel werden, um sie fortan auf ihrem umstrittenen Feldzug als große Mutter Courage der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft schützend und schirmend zu begleiten. – Doch genug der Projektionen in Raum und Zeit, genug der endlosen Männerphantasien rund um die „Imaginierte Weiblichkeit“.

„Back to the Future“, diese Parole der Postmoderne ist auch Uhlig-Romeros Zeitreise auf mannigfaltige Weise eingeschrieben. Anfang und Ende aller menschlichen Sehnsüchte ist und bleibt – allen kritischen Theorien zum Trotz – die „restaurative Utopie“ der Großen Mutter, in anderen Worten, das aphroditische „Paradise Now“. Dieser mythisch moderne Spannungsbogen verleiht auch Uhlig-Romeros Bilder- und Bildungsroman seine innere Dynamik und dem wissenschaftlichen Eros seines schillernden Liebespaares immer wieder logische Kohärenz und imaginative Brillanz.

Frederick A. Lubich

 

Grit Poppe, Abgehauen (Hamburg: Cecilie Dressler Verlag, 2012) 336 Seiten.

„Es war dunkel, vollkommen dunkel. Sie stand allein in der Finsternis und rührte sich nicht.“ Sie ist die 16jährige Gonzo, die seit Tagen wegen rebellischen Verhaltens in Einzelhaft in einer Dunkelzelle im berüchtigten Jugendwerkhof im sächsischen Torgau einsitzt.

Es ist Spätsommer 89. Von Veränderung oder gar Zusammenbruch der DDR ist in dem Knast, in dem sogenannte verhaltensauffällige Jugendliche zu „vollwertigen sozialistischen Persönlichkeiten umerzogen“ werden sollen, nichts zu spüren. Gonzo ist sadistischen „Erziehern“ und willkürlicher körperlicher wie psychischer Gewalt erbarmungslos ausgesetzt. Nur einen Weg aus der Hölle gibt es: Sie verletzt sich so schwer, dass sie in ein Krankenhaus muss. Bei der Überführung in ihren Stammwerkhof nutzt Gonzo eine Pinkelpause als Gelegenheit zur Flucht.

„Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere“, heißt vielleicht darum sinnbildlich eine Zwischenüberschrift in dem neuen Roman „Abgehauen“ von Grit Poppe, in dem Gonzos Odyssee durch diverse Kinderheime und Werkhöfe erzählt wird, aus denen sie abhaut (im DDR-Jargon wird sie unter der Rubrik  „Dauerentweicherin“ geführt), immer wieder eingefangen wird, bis sie schließlich in Torgau landet.

Sie entkommt, trifft in einer Schrebergartensiedlung auf den 18jährigen René, der über Prag aus der DDR fliehen will. Sie schließt sich ihm an. Das ist die andere Tür, die sich ihr öffnet, raus aus der DDR, „in ein Land ohne Torgau“, denn „wenn dir ein Riegel durch die Seele gerammt wird, hast du jedes Recht der Welt, nach dieser verdammten Tür zu suchen.“  Gemeinsam wagen sie den Weg über die grüne Grenze von Sachsen in die Tschechoslowakei und finden in die deutsche Botschaft, wo sie, wie Tausende andere, auf dem Gelände ausharren.

Eindringlich, als wäre sie selber dort gewesen, beschreibt Poppe im zweiten Teil des Buches die Zustände in der Prager Botschaft: die beengten Verhältnisse, das ewige Warten, den Schmutz, die Langeweile, die Zweifel, die wachsende Anspannung, die sich in Aggressionen entlädt, weil die Menschen zur Untätigkeit verdammt sind.

Doch das sind nur die äußeren Umstände. Vielmehr geht es Poppe in Abgehauen — dem Nachfolgeroman von Weggesperrt, in dem sie bereits den Weg der 14jährigen Anja durch staatliche Erziehungsanstalten schilderte — um die Verwüstungen der Seele, die Erlebnisse an Orten wie Torgau hinterlassen.

Stets verflechten sich Begebenheiten mit Assoziationen. So erzeugt der Geruch von Sauerkraut bei der Essensausgabe im Hof der Prager Botschaft einen widerlichen Geschmack auf der Zunge, Gonzo hört Riegel knallen, einen Schlüssel im Schloss, „dann wird es dunkel, stockdunkel“.

In äußerst prägnanter Sprache, beinahe abgehackten Sätzen, beschwört Poppe die Schrecknisse herauf, schildert feinnervig die Gefühlswelt der Protagonistin, wobei sich die Autorin auf Zeitzeugenberichte stützt, verwebt ziseliert Gegenwart und Vergangenheit. Kleinste Begebenheiten katapultieren Gonzo in die Hölle zurück . Unvermittelt ist er wieder lebendig, der „Torgauer Dreier“, eine Kombination aus Liegestütz, Hockstrecksprung und Hocke, der bis zur völligen Erschöpfung ausgeführt werden musste. Oder der „Entengang“: die Treppen hoch und runter, bis  einer zusammenbricht. Die Zwangsarbeit wie das Zusammenschrauben von Waschmaschinenschaltern – und wehe, die Norm wurde nicht erfüllt.  Krank werden gab es nicht. Wer sein Essen erbrach, musste das Erbrochene aufessen. Wer sich nicht mehr zu helfen wusste, schluckte schon einmal Schrauben oder Nägel.

Was bleibt, ist ein verunsicherter, misstrauischer junger Mensch, der schweigt, über das, was war. „Ihr war nicht zu helfen. Niemand konnte das. Die Vergangenheit ließ sich nicht ändern. Sie hatte sich in ihr festgesetzt: in ihrem Blut, ihren Knochen, ihrem Herzen.“ Es ist ihre ganz persönliche Hölle, der Gonzo scheinbar nicht entrinnen kann, die ihr wie ein böser Kobold, sie nennt ihn „Panik-Punk“,  im Kopf sitzt und jeden Versuch der Befreiung von den dunklen Schatten zu torpedieren sucht: „Eine Flucht ist sinnlos. Wohin du auch gehst, du wirst ES immer mit dir herumschleppen“.

Auch wenn am Ende Genscher die Ausreise der Flüchtlinge in die Bundesrepublik verkündet und der Weg frei ist, die Türen offen sind, Gonzo endlich ein neues Leben beginnen kann, kommt sie nicht los vom alten. Es verschwindet nicht einfach wie das Jugendgefängnis, das nach dem Mauerfall stillschweigend aufgelöst wurde. Gonzo begibt sich noch einmal zurück an den Ort der Folter. Die Sichtblenden der Zellenfenster und der Stacheldraht sind abmontiert und verrotten im Hof, Unkraut bahnt sich überall seinen Weg. „Schau mal einer an, da wollen sie wohl Gras über die Sache wachsen lassen.“  Solche Verknappungen, ebenso wie die Selbstzweifel und Verunsicherungen der Protagonistin und der von Poppe durchweg nüchern gehaltenene Ton, ohne jegliche Larmoyanz, sind es, die das Buch zu einer überaus beklemmenden Lektüre machen.

Susanne Schädlich (Berlin)

 

Ulrich Bergmann, Doppelhimmel Bonn: Free Pen Verlag, 2012. 182 Seiten 

Halle an der Saale. Sowjetische Besatzungszone. Anfang der Fünfziger Jahre.  Hier wohnt Janus Rippe zusammen mit seiner Mutter und seinen Großeltern Luise und Carl in einem bürgerlichen Haus. Janus’ Vater Robert, ein Arzt, gilt als verschollen. Das Kind, es wurde im letzten Fronturlaub gezeugt und wird im vorletzten Kriegsjahr geboren, kennt seinen Vater nicht.  Eine typische Nachkriegsfamilienkonstellation, eine vom Krieg verwundete Familie.

Mit  Doppelhimmel hat Ulrich Bergmann,  selber aus Halle stammend, seinen ersten Roman vorgelegt, der biografische Züge erkennen lässt. Feinfühlig und unsentimental erzählt er darin den Kosmos einer Familie in der Zeit nach 1945. Das besondere daran: er erzählt die Geschichte zum größten Teil aus Sicht des Jungen Janus, der, neugierig, aber vor allem unversehrt, die zerrüttete Welt der Großen erfährt, ohne sie als zerrüttet zu empfinden. Er ist wie ein Schwamm. Nimmt wahr, setzt sich aus, hört hin, lässt sich ein, deutelt nicht.

Es ist ein scheinbares Miteinander, denn im Grunde lebt jeder für sich allein, die Erwachsenen mit ihrer Vergangenheit und den Erinnerungen, das Kind in seiner Phantasie, und doch leben sie alle unter einem Dach.  Da ist Usch, Janus Mutter, jung und lebensfroh. Janus’ eigenwilliger Großvater, der sich dem Aufbau eines neuen Deutschland verschrieben hat, sich noch Illusionen hingebend liberaldemokratische Artikel verfasst und weltfremd über alte Zeiten und große Themen philosophiert wie Gott, das Leben und den Tod.  Die Großmutter Louise, zupackend, der Fels in der Brandung,  den Umständen entsprechend realistisch. Und eben Janus, der den Namen des römischen Gottes des Anfangs und des Endes, der Ein- und Ausgänge, der Türen und Tore trägt. Mittler zwischen Menschheit und Göttern. Als könnte er irgendwann die Brücke schlagen zwischen dem Jetzt und Später. Janus unter zwei Himmeln, auch politisch, Deutschland ist geteilt.

Doch Janus ist ein Kind, gerät als solches in das Getriebe des Weltgeschehens und der Erwachsenenwelt mit all ihrer Schuld und Geschichte. Konkret wird sie, als Janus’ Vater 1953/54 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrt. Usch hatte ihn für tot erklären lassen, hat wieder geheiratet und ein zweites Kind. „Janus ist neun, er hat Usch und Mama Luise und Carl. Und er hat einen Vater. Der war tot. Aber jetzt lebte er wieder.“

Bergmanns Stil ist eindringlich, knappe Sätze evozieren Bilder und Emotionen, kunstvoll variiert der Autor die Erzählperspektiven. Störend allein, wenn er sich als Ich-Erzähler einbringt und aus der Gegenwart reflektiert.  Immer wieder mischen sich Gedanken und Erinnerungen in die Geschichte von Janus, am eindrucksvollsten die Schilderung der Kriegs- und Gefangenenerlebnisse des Vaters.  Illusionen, Träume, Hoffnungen, sie haben im Himmel, egal welchem,  keinen Platz. „Die Hoffnung ist Wundpflaster und Selbstbetrug zugleich“, so hatte sich Robert sein Dasein schon im sibirischen Schweigelager zurechtgelegt.  Nach seiner Heimkehr beschließt er, in die Bundesrepublik zu gehen. Seine Eltern, die in der DDR längst als ‚reaktionär’ gelten und im Visier der Staatssicherheit sind, holt er nach.

Janus kommt ebenfalls zum Vater, Usch übergibt ihn höchstpersönlich, sozusagen als Schuldpfand. „Gib Robert wenigstens seinen Sohn! Kein Tag ohne diese Gedanken … an Russland, an das Lager… Ich war allein, ich war eine junge Frau. Ich wollte wieder leben, ich verlor mich an den Frieden, der Stacheldraht schnürt mir die Luft ab, der Stacheldraht in Russland, und der Stacheldraht hier“, so resümiert Usch.

So ziehen sich Trennung und Teilung durch das Leben des Knaben. Nichts ist zu haben, ohne etwas anderes dafür hergeben zu müssen. Doch er ist sonderbar entrückt. Unweigerlich hineingezogen in die Geschichte der Eltern und Großeltern, „Ich bin geteilt“ sagt Janus; als er 1967 in Ost-Berlin seiner Mutter begegnet, will er sich ihr gleichzeitig entziehen.

Doch ein Ende gibt es nicht, auch keine Türen und Tore. Er steht dazwischen. Zwischen Vater und Mutter, Ost und West, sich und der Welt, kann kaum etwas dagegen setzen. Mit „Doppelhimmel“ ist Bergmann ein bewegendes Buch über das geteilte Deutschland der Nachkriegszeit gelungen, das es zu entdecken gilt.

Susanne Schädlich (Berlin)

 

Bernd Cailloux, Gutgeschriebene Verluste. Roman memoire. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2012

Café M, Domina, Dschungel, Risiko, Ruine, Kumpelnest, das Café Swing. Wer kennt sie nicht, diese Orte aus den guten alten Zeiten im guten alten Westberlin. Ich eroberte sie erst mit 16 oder 17 für mich, in den 80ern, als die hippen Künstler und Schriftsteller und Musiker schon in die Jahre kamen, dort herumhingen, das Flair der Bohéme verbreiteten und das alternative Kunst- und Kulturleben dieser halben Stadt prägten. Einstürzende Neubauten, Notorische Reflexe, Manna Maschine. Jeder war ein Star, und wer noch keiner war, wollte einer werden. Ich bestaunte sie, diese Leute und diese Welt, saß meist in einem dieser Cafés, scheu, mit einem Buch und beobachtete.

Jetzt, dreißig Jahre später, halte ich wieder ein Buch in der Hand: „Gutgeschriebene Verluste“ von Bernd Cailloux, Jahrgang 1945. Ich schmunzle des öfteren nicht schlecht, denn obwohl ich so viel jünger bin, so erkenne ich doch den einen oder anderen Portraitierten wieder in dieser selbstironischen, zuweilen sarkastischen, Lebensbilanz eines „Übriggeblieben“.

So nennt ihn seine wesentlich jüngere Freundin, die er im Café Fler in Schöneberg kennenlernt. Diese Liebesgeschichte zwischen Ella und dem Flaneur, der nun sein Leben durchstreift wie einst Franz Hessel das Berlin der 20er Jahre, bildet die Rahmenhandlung des Romans. Nach kurzfristiger Ekstase des Glücks zeigen sich unüberbrückbare Differenzen zwischen dem zaudernden Ironiker und der zur Exaltiertheit neigenden, überemotionalen Alleinerziehenden. Der durchs Leben treibende, einzelgängerische, launische Mittsechziger und „sich selbst zum Geistesmenschen erhebende Geringverdiener” ist zum gemeinsamen Nestbau nicht zu überreden. Der schwindenden Hoffnung auf eine feste Bindung geschuldet, schüttet Ella ihren ganzen Männerhaß über dem Helden aus, und so führt der späte Versuch, eine konventionelle Bindung einzugehen, sich ganz konventionell selbst ad absurdum. Die tragische Komik dieser Beziehung verwandelt sich in melancholisches Scheitern, das irgendwie immer vorprogrammiert zu sein scheint.

Sein zweites Gegenüber hat der Ich-Erzähler in Leiser, einem Freund aus alten Tagen, einem wortkargen Poeten, der es, im Gegenteil zum Erzähler, zu etwas gebracht hat, mit dem er im Fler über alles und jeden spricht und der sein kritisches alter ego zu sein scheint. In der Rückbetrachtung werden sich gegenseitig die Versäumnisse und Verfehlungen aufgetischt – das Leben passiert Revue.

Eine Reise mit Ella an den Geburtsort im Thüringischen bringt zwar ein wenig Licht ins Dunkel der frühesten Kindheit des Ich-Erzählers, stellt sich aber als „therapeuticum interruptum“ heraus, weil eben doch nicht das ganze Leben mit den frühen Leiden und Verlusten zu erklären bzw. zu rechtfertigen ist; ebensowenig mit der Hepatitis C, die er sich in einer Drogennacht beim needle sharing vor Äonen eingefangen hat. Auch das Virus – eine Metapher für die 1968er? -, muß für das halb verkrachte Leben herhalten und führt jetzt zur klinischen Diagnose von noch zwei Jahren Lebenszeit. Nur die Inferon-Therapie kann den sicheren Tod abwenden. Katharsis in der Postmoderne.

„Gut geschriebene Verluste“ hat keine chronologische Handlung. In kreisenden Reflexionsprozessen setzt der Autor immer wieder an neuen Lebensstationen an, mit feiner Ironie führt er sich und die 1968er vor, die Hedonisten, die alles umwälzen, die nicht dazu gehören wollten und jetzt etabliert in sicheren Häfen ihren spießigen Existenzen frönen. Nur der Held des Romans ist und bleibt ein „Schwellenwesen“, wie er am Ende so schön non chalant feststellt, als er zusammen mit dem Ex-Terroristen Peter Jürgen Boock und anderen Mitdiskutanten auf einem Podium sitzt und merkt, er sitzt mal wieder zwischen allen Stühlen, jedes bon mot verfault ihm im Munde, und mit dem SDS konnte er sowieso nie mithalten.

So ist das mit der Vergangenheit. Sie ist voller Abgründe und Peinlichkeiten, vor allem aber voller Verluste, die aber gutgeschrieben werden müssen. Das ist Bernd Callioux glänzend gelungen: Gut geschrieben, abgeklärt, gnadenlos bissig, pointiert ist es, dieses autobiographische perpetuum mobile, das den vermeintlichen Glanz einer ganzen Generation noch einmal aufleuchten läßt, die sich selbst erledigt hat. Nicht mehr Zukunft, sondern Vergangenheit ist er, stellt der Ich-Erzähler irgendwann lakonisch fest, als sei es schon immer so gewesen, und kehrt die Maxime seiner Sinnsuche, daß das Leben zwar rückwärts verstanden, aber vorwärts gelebt werden müsse (Kierkegaard), sinnreich um.

Susanne Schädlich, Berlin

 

Hans Joachim Schädlich: Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II. Eine Novelle. Rowohlt. Reinbek bei Hamburg 2012

Friedrich II. von Preußen war eine höchst widersprüchliche Persönlichkeit. Einerseits hat er sein Land zur Großmacht erhoben, nutzbringend den Kartoffelanbau befördert und Sumpfgebiete trockenlegen lassen, ja sogar Rechtsgleichheit verfügt und ein Toleranzgebot erlassen, die Folter (allerdings nicht die Leibeigenschaft) abgeschafft, ferner sein Rokokoschloß Sanssouci ganz nach eigener Vorstellung erbaut, barocke Flötenstücke komponiert und Gedichte in französischer Sprache verfaßt. Deshalb galt der Autor der bemerkenswert human angelegten Schrift „Antimachiavell“ nicht wenigen als aufklärerischer „Philosoph auf dem Thron“ sowie, eigener Bekundung nach, als „der erste Diener seines Staates“.  Auf der anderen Seite aber charakterisierte ihn, wenn man der begründeten Meinung des Schweizer Kulturhistorikers Jacob Burckhardt folgt, eine völlige „Mißachtung der menschlichen Würde“. In der Tat gehörte er zu den schlimmsten Kriegsverbrechern und Massenmördern seiner Zeit. Rücksichtslos verfolgte der ruhmgierige Hasardeur nämlich seine widerrechtliche Machtpolitik. Nicht ohne Grund galt der „alte Fritz“ in den betroffenen Gebieten als berüchtigter „Witwenmacher“. Über eine Million seiner Untertanen verloren durch das eroberungssüchtige Gehabe des Königs ihr Leben.

Die Erhebung des Preußenkönigs durch die Nachwelt zum „Großen“ hat viel zu tun mit dem auffallenden Mangel an überzeugenden Regierenden in deutschen Landen seit der Neuzeit, ebenso mit dem Mißverständnis, in ihm einen „aufgeklärten Monarchen“ zu sehen. Denn allemal endete sein Aufklärungsbedürfnis dort, wo sein absoluter Machtanspruch tangiert wurde. Bezeichnenderweise legte Friedrich Schiller Wert auf die Bemerkung über seinen Zeitgenossen, er könne „diesen Charakter nicht liebgewinnen“. Sogar der zur Zeit des Ersten Weltkriegs eher preußenfreundliche Thomas Mann mußte in seinem Aufsatz von 1915 über „Friedrich und die große Koalition“ einräumen, der ungute Charakter des Königs sei mit zunehmendem Alter „noch höhnischer und boshafter denn zuvor“ geworden.

Die besondere Vorliebe des sich gerne als Schöngeist gerierenden Herrschers, der mit der deutschen Sprache auf Kriegsfuß stand, gehörte der Kultur Frankreichs. Deswegen bemühte er sich um die Gunst Voltaires, der als „König der Philosophen“ höchstes Ansehen in ganz Europa genoss. Dieser vielseitig begabte Freigeist repräsentierte unangefochten die Kultur seines Landes. Er hatte lediglich eine große Schwäche: er war adels- und geldversessen. Zwar hatte diese Einstellung einen durchaus achtbaren Grund. So glaubte er seine Unabhängigkeit als freier Schriftsteller sichern zu können. Doch trieb er dabei im Falle des preußischen Absolutisten, wie sich zeigen sollte, den Teufel mit Beelzebub aus. Der Kontakt zu dem achtzehn Jahre jüngeren König schmeichelte freilich seiner Eitelkeit. Ungeachtet der Warnungen seiner Geliebten, Emilie du Châtelet, beging er den Fehler, sich auf das gefährliche Spiel mit dem absolutistischen König einzulassen.

Die ungleiche Beziehung zwischen Regent und Freigeist ist Gegenstand des neuen Buches von Hans Joachim Schädlich. Im Gegensatz zu den meisten der zahlreichen Veröffentlichungen zum 300. Geburtstag des ‚großen Königs‘ ist es ihm nicht darum zu tun, die Bedeutung von dessen Leben und Wirken darzustellen. Mit souveränem Überblick über die gegebenen Fakten konzentriert er seine Erzählung auf die wesentlichen Momente des für Friedrich unrühmlichen Ablaufs der Begegnung beider. Insgeheim wird im selben Zug der unselige preußisch-deutsche Mythos vom „großen König“ demontiert. Ersichtlich hat der Autor vor dem Beginn der Arbeit an seiner Geschichte eine Fülle von Quellen genau studiert: Briefe, Dokumente, Biographien und Abhandlungen. Stellenweise wirkt die Erzählung wie eine Montage überlieferter Fakten. Aber Schädlich war von Beginn an ein Meister der Verbindung von historischen Zeugnissen mit eigener Erfindung. So auch hier. Durch die Authentizität seines Schreibens wird Faktisches Fiktion und Fiktion faktisch. Mit bewundernswerter Fähigkeit zur narrativen Reduktion gelingt es ihm auf nicht ganz 150 Seiten, die entscheidenden Begebenheiten des Zusammentreffens dieser konträren historischen Persönlichkeiten mit konkreter Schärfe zu vermitteln. Beispielhaft verfolgt er dabei den eigentlichen Antrieb seines Schreibens weiter: den Mißbrauch der Macht anzuprangern und ihm ein, oft zwischen den Zeilen verstecktes, aber deutlich spürbares Zeichen humaner Haltung entgegenzusetzen.

Klar gegliedert in zwei Teile entfaltet Schädlich seinen Erzählzusammenhang. Der erste Teil beschreibt in 18 Kapiteln den Beginn der freundschaftlichen Begegnung zwischen Friedrich von Preußen und dem „König der Aufklärung“ in den Jahren von 1736 bis zum Aufbruch Voltaires nach Potsdam 1750. Der aus 14 Kapiteln bestehende zweite Teil deutet lediglich kurz den Verlauf seines fast dreijährigen Aufenthalts bei Friedrich II. (1750-1753) an, konzentriert sich jedoch hauptsächlich auf die Wiedergabe des kläglichen Endes der unmöglichen Verbindung von Freigeist und Machtmensch. Mit der ausführlich geschilderten Inhaftierung Voltaires in Frankfurt erreicht die Darstellung dann ihren bezeichnenden Endpunkt. Von diesem schäbigen Finale her geht dem Leser auf, warum der Marquis de Mirabeau nach dem Tod Friedrichs 1786 nüchtern registrieren konnte. „Alle Welt beglückwünschte sich. Kein Bedauern wird laut“.

Der frei entwickelte Erzählzusammenhang enthält eine Menge eingefügter Zitate aus Briefen und anderen Quellen. Authentisch sprechen sie für oder gegen die Urheber. Dennoch gibt der Autor den Erzählfaden keinen Augenblick aus der Hand. Er entscheidet über die Auswahl. Die eigenen Schilderungen und in den Kontext von ihm eingearbeitete Dialoge ergänzen, gelegentlich nicht ohne ironische Untertöne, die zitierten Partien. Historische Realität und Erzählwirklichkeit sind so aufeinander abgeglichen, dass manch ein Leser vom spannenden Geschehen voll absorbiert werden kann und dabei die durch den Gestaltungsprozess herbeigeführte poetische Verwandlung übersieht. Denn der Erzählablauf enthält einen für das ästhetische Verständnis entscheidenden, durchgängig mitschwingenden kommentierenden Subtext. Um ihn zu vermerken, bedarf es gründlich mitvollziehender Reflexion.

Souverän setzt Schädlich die von ihm gewollten Akzente. Die wohlüberlegte Komposition verfolgt ein klares Ziel. In jedem Kapitel kommt schlaglichtartig eine sich einprägende charakteristische Verhaltensgeste zum Ausdruck. Etwa, um ein Beispiel herauszugreifen, im fünften Kapitel (I,5) die für die stimmige Beziehung zwischen Voltaire und seiner „göttlichen Geliebten“ (27), Emilie du Châtelet, mitgeteilte Beobachtung: sie „fühlten sich … glücklich, als Liebende, als geistige Arbeiter, als Freunde“ (23). Über diese qualitative Zuschreibung kann man lange nachdenken. Offenkundig bildet die menschlich gelingende Begegnung den Gegenpol zu der am Ende katastrophal mißlingenden ‚Freundschaft‘ mit Friedrich, dem bloß vorgeblichen Aufklärer, weil der sich als rücksichtsloser Despot mit einer „Schlachterseele“ (56) entpuppt.

Oder als weiteren Beleg ein anderes Schlaglicht: Die klare Erkenntnis Emilies im achten und elften Kapitel (I,8, I,11), dass Friedrich den umworbenen Voltaire nur für seine Interessen benutzen will: „Er ist nicht dein Freund. Er will dich besitzen, wie er andere Schmuckstücke besitzt. Du sollst seinen Ruhm mehren“ (47). Weil diese besondere Frau Friedrichs Absichten durchschaut und ihn deswegen ablehnt, wird sie zur menschlich überzeugenden Kontrastfigur. Friedrich erkennt das rasch und will sie darum wegschieben. Ungescheut schreibt er Voltaire: „Es geht … um Sie, um meinen Freund. … Die göttliche Emilie, bei all ihrer Göttlichkeit, ist doch nur ein Accessoire des newtonisierten Apoll“ (47). Freilich schützt die Klarsicht der Geliebten Voltaire nur, solange er mit ihr zusammen ist, – „Solange ich lebe“ (47), wie sie ihn ahnungsvoll wissen läßt.

Voltaire reagiert anders. Viel zu sehr fühlt er sich vom königlichen Werben geschmeichelt. Obwohl er schon bei der ersten Begegnung auf Schloß Moyland bei Kleve erfahren muß, dass der vermeintliche schöngeistige Partner in Wahrheit ein übler „Machtmensch“ (47) ist, der, ohne ihm gegenüber auch nur ein Wort darüber zu verlieren, seine Truppen aufmarschieren läßt, wo und wie es ihm gerade zupaß kommt. Ungeachtet dessen gefällt der Philosoph sich in der Rolle des Mentors für den von ihm als „Salomon des Nordens“ (44 und 51) gefeierten Herrscher. Schlimmer noch: Nach Friedrichs Überfall auf Schlesien notiert er zwar für sich die zutreffende Bemerkung: „Der König von Preußen hält sich für einen zivilisierten Mann, doch unter der dünnen Außenhaut des Ästheten liegt … die Seele eines Schlachters“, lobt ihn jedoch ebenso als seinen „Helden“. Einerseits schreibt er ihm mahnend: „Werden Sie denn niemals aufhören, Sie und Ihre Amtsbrüder, die Könige, diese Erde zu verwüsten, die Sie, sagen Sie, so gerne glücklich machen wollen“ (59). Gleichzeitig aber betont er emphatisch: „dennoch, großer König, lieb‘ ich Sie“ (60). Zwei Reisen nach Rheinsberg 1740 und Berlin 1743 vertieften dann eher noch die beidseitige Wertschätzung. So kam es, wie es kommen mußte.

Bald nach Madame du Châtelets frühem Tod macht Voltaire sich, der dringlichen Aufforderung Friedrichs folgend, im Juni 1750 auf nach Sanssouci („Sire, ich eile“, 84 und Titel). In seiner Verblendung begibt er sich ungeschützt in die Höhle des Löwen. Er wird, nach außen mit allen Ehren bedacht, als Kammerherr unversehens zum Besitz Friedrichs („Voltaire – besitzen! Schlesien – besitzen“ (85). In Kapitel II,2 findet sich das vom Autor für diese ambivalente Situation treffend ausgewählte Bild: „Friedrich streichelte Voltaire mit königlicher Samtpfote. Voltaire schien vergessen zu haben, dass es eine Tigertatze war, deren Hieb ihn zerschmettern konnte“ (87). Wahrlich, eine Schlüsselmetapher des Ganzen.

Den zeremoniell geregelten Umgang während des für den Philosophen in intellektueller Hinsicht bald eher langweiligen Aufenthalts läßt der Autor weithin beiseite. Ihn interessieren die Auswirkungen auf den privilegierten, aber bald nicht mehr so gern gesehenen Gast. Zunächst gelten des Königs „verletzende Scherze“ beim abendlichen Souper noch anderen. Als jedoch Voltaires unglückliche Finanzspekulation mit sächsischen Steuerscheinen ruchbar wird, demütigt ihn Friedrich mit Vorwürfen. Ein letztes Mal beugt sich der abhängig Gewordene den Launen des Regenten: „Ich habe Ihnen mein Leben geweiht. … Haben Sie Mitleid mit Bruder Voltaire“ (96). Er muß indes vernehmen, dass Friedrich über ihn verlauten ließ: „Ich brauche ihn höchstens noch ein Jahr. Man preßt eine Orange aus und wirft die Schale weg“ (97).

Insgeheim war damit der Bruch vollzogen. Nun konnten die Masken der Freundschaft fallen. Zum offenen Konflikt kommt es bald danach, weil Voltaire sich bei der Kontroverse zwischen Maupertuis, dem Präsidenten der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, und Samuel König auf die Seite des in den Niederlanden tätigen Gelehrten stellt, obwohl Friedrich seinen Akademie-Präsidenten stützt. Für Voltaire ging es darum, die Freiheit des Schriftstellers zu verteidigen. Deswegen veröffentlicht er gegen die von Friedrich eigenhändig verfaßte Streitschrift für Maupertuis eine Spottschrift, welche der verärgerte König in Anwesenheit Voltaires verbrennen läßt. Die dann noch folgende öffentliche Verbrennung auf dem Berliner Gendarmenmarkt macht ihm vollends die Gefahr bewußt, in der er sich befindet. Darum will er nun bloß noch „ehrlich … desertieren“ (117). Friedrich gibt ihm den erbetenen Abschied mit der Auflage: „lassen Sie mir vor Ihrer Abreise Ihren Dienstvertrag, Kreuz (Orden Pour le mérite) und Schlüssel (Kammerherrn-Schlüssel) und den Gedichtband zurückbringen, den ich Ihnen anvertraute“ (119). Unverzüglich reist Voltaire am 26. März 1753 ab, allerdings ohne die ersuchten Objekte zurückzugeben. Er war der Meinung, „der Gedichtband stehe ihm zu angesichts der zahlreichen stilistischen Hilfen, die er Friedrich geleistet hatte“ (119). Das sollte er in der Folge bitter bereuen.

Die Reise Voltaires wurde schon in Frankfurt am Main jäh unterbrochen. Dort hatten zwei preußische Gesandte, Kriegsrat Freytag und Hofrat Schmidt, den von Friedrich erlassenen Befehl, dem Durchreisenden unverzüglich den Kammerherrenschlüssel und den Orden „ab(zu)fordern … und alles Beschriebene, … ingleichen ein Buch, welches Einlage besaget“ abzunehmen. Widrigenfalls solle er „arretiert“ werden. Erst wenn ihm „ohne Komplimente Alles genommen“ sei, dürfe er „alsdann reisen“ (121 f.). Mit einem zweiten Befehl wurde präzisiert, „alle königlichen Manuskripte“ und „das Buch … Oeuvres de Poésie“ (123) seien sicherzustellen. Da Voltaire allein die königlichen Briefe, das Ordenskreuz und den Schlüssel aushändigen konnte, weil das Buch sich in einer in Leipzig zurückgelassenen Kiste befand, wurde ihm die Weiterreise unter Androhung der Arretierung verweigert. Er mußte sich ehrenwörtlich verpflichten, „unter Hausarrest im Gasthaus zu bleiben“ (124), bis die Kiste nachgekommen sei. Die Behörden der Freien Reichsstadt ließen das, vom königlichen Befehl eingeschüchtert, geschehen. Damit begann eine böswillige Schikane, die Voltaire später mit guten Gründen als „Ostgoten- und Vandalengeschichte“ bezeichnete (140). Es zeigt das wahre Gesicht des rachsüchtigen Königs und seiner willfährigen Handlanger, dass der Gefangene nicht nur über einen Monat festgehalten und in übler Weise schikaniert wurde, sondern dazu auch noch sein ganzes Reisegeld abgenommen bekam. Der lange Arm des Preußenregenten bewirkte sogar die Verweigerung des Aufenthalts im Einflußbereich des französischen und lothringischen Hofes. Mit einem Schlag war Voltaire „heimatlos“ (141). Aber er hatte nun seine Freiheit wiedergefunden.

Spürbares Vergnügen bereitete es Schädlich, in einem gesonderten Kapitel (II,6) am Beispiel einer ganzen Reihe von Briefen Friedrichs an seinen Kammerdiener Fredersdorf den miserablen Umgang des Monarchen mit der deutschen Sprache kritisch zu beleuchten. Zu Recht läßt er dabei durchblicken, wie sehr der die deutsche Literatur verachtende, selbstverliebte Schöngeist sich mit einer Art „Kutscherdeutsch“ (31) an seiner Muttersprache versündigte. Nebenbei deutet der Autor mit den zitierten anteilnehmenden Briefen an Fredersdorf äußerst diskret die homophile Neigung des Königs zu seiner „Pompadour“ (Wolfgang Burgdorf) an. Nicht ohne Grund vermißte Voltaire am preußischen Hof die „Anregung schöner Frauen“ (53).

Der vom Autor spannungsreich ausgestaltete Erzählbogen wird im kurzen Schlußkapitel (II,14) gezielt noch einmal weitergeführt. Im auswertenden Epilog findet nämlich Voltaire, der wieder freie Schriftsteller, hoch über dem Genfer See „ein köstliches Refugium: Les Délices – Die Wonnen“ (141). Die Wortwahl Voltaires für seine Bleibe bezeugt resümierende, in sich ruhende Gefaßtheit. Schädlichs Erinnerung an den Hausnamen genügt, um diese wichtige Haltung zu vermitteln. Damit kommt die letzten Endes unmögliche Begegnung Voltaires mit Friedrich II. zu ihrem wirkungsvollen Abschluß. Zurück bleibt im Bewußtsein des Lesers das entlarvende Bild eines zynischen Machtmenschen und das versöhnliche Gegenbild eines freien Denkers sowie, ergänzend und menschlich vertiefend, das Warnbild der hellsichtigen Emilie du Châtelet, jener großen Verfechterin vollkommener Unabhängigkeit. Hauptsächlich um dieses Paares willen hat der Autor seine ebenso scharfe wie überzeugende Abrechnung mit dem sogenannten großen, menschlich jedoch sehr kleinen Friedrich vorgenommen.

Angesichts der überwältigenden Flut mehr oder weniger huldigender Darstellungen zum 300. Geburtstag dieser vermeintlichen Lichtgestalt der deutschen Geschichte kann der kurzen, aber eindringlichen Erzählung Schädlichs wohltuender Abstand aus der Sicht eines kritischen Humanisten bescheinigt werden. Er hat das Kunststück fertig gebracht, die sich über einen weiten Zeitraum erstreckende Partnerschaft zweier Charaktere in ihrem Kern herauszukristallisieren, ohne sie auf ein Schema einzugrenzen. Mit unnachahmlicher Finesse versteht es nämlich der Autor, den dargestellten Figuren Lebensfülle einzuhauchen. Sie sprechen zu uns. Dank der parabolischen Stilhaltung des Textes zielt der erzählte Fall des 18. Jahrhunderts unmittelbar auf das Bewußtsein eines jeden heutigen Lesers. Ihm obliegt es, die damit zur Entscheidung vorgelegte Wahl zu treffen.

Theo Buck, Aachen

 

Anna Schädlich – Susanne Schädlich (Hrsg.), Ein Spaziergang war es nicht. Kindheiten zwischen Ost und West. Wilhelm Heyne Verlag. München 2012

An Berichten oder Zeugnissen von Künstlern und Intellektuellen, die in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts als Dissidenten und Regimegegner die DDR verlassen mußten, ist kein Mangel. Allerdings bleibt bei der Darstellung ihrer weiteren Lebensläufe meist unberücksichtigt, dass sie in der Regel nicht allein vom einen Teil Deutschlands in den anderen übersiedelten, sondern ihre Familienmitglieder, vor allem die Kinder mitnahmen. Für sie, die ungefragt den Systemwechsel erleben mußten, bedeutete das Herausgerissenwerden aus dem bisher gewohnten Alltag oft einen existentiellen Bruch mit langanhaltenden psychischen Nachwirkungen. Es ist den beiden gleichfalls davon betroffenen Herausgeberinnen hoch anzurechnen, mit dem von ihnen zusammengestellten Buch diese Lücke geschlossen zu haben. Die von ihnen versammelten Beiträge geben dem Leser, ungeachtet des unterschiedlichen Niveaus der Lebensgeschichten, Aufschluß über dieses bisher ausgespart gebliebene Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte. Die achtzehn Berichte der neunzehn zwischen 1965 und 1980 geborenen ‘Schicksalsgenossen und –genossinnen‘ ergeben im Zusammenwirken ein authentisches, reich facettiertes Bild der von ihnen gemachten Erfahrungen des Heranwachsens zwischen Ost und West. Von Verlusten, Verunsicherung, Verweigerung und Schwierigkeiten dieser zudem noch mit der Pubertät zusammenfallenden Zerreißprobe ist ebenso die Rede wie von gewonnener Selbstfindung und ungewohnter Kraft zu freier, kreativer Entfaltung.

Orientierende Schrittmacherdienste leisteten dabei sicher die beiden Bücher der Herausgeberin Susanne Schädlichs, in denen sie über die Geschichte ihrer eigenen Verunsicherung im anderen Deutschland ausführlich berichtet hat: Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (2009) und Westwärts, so weit es nur geht (2011). Was dort mit bemerkenswerter Selbstdistanz und in gebührender Breite und Tiefe zur Darstellung kommt, wird uns in gebotener Kürze und Konzentration in nicht wenigen der Beiträge gut nachvollziehbar vermittelt. Sie leisten wirklich, was der Titel von Anna Schädlich, der anderen Herausgeberin, ankündigt: “Erzählte Erinnerung“. Gemeint ist erinnerte “Zerrissenheit, Entwurzelung, Trennungsschmerz“ (135). In bemerkenswerter Offenheit erfahren wir auf diese Weise, was es bedeutet, auf der Suche nach Identität in eine fremde Welt hineinwachsen zu müssen. Nicht immer gelingt es den Chronisten, so wie Nicki Pawlow ihren Beitrag mit den hoffnungsvollen Sätzen abzuschließen: “Vor dem Mauerfall legte ich Wert darauf zu sagen: Ich bin Ostdeutsche. Einige Zeit nach der Wende erklärte ich: Ich bin Gesamtdeutsche. Und heute bin ich einfach: Deutsche“. Es bleiben viele ungeheilte seelische Wunden. Wir lesen bei Dagny Dewath das anrührende Bekenntnis: “Dieses Gefühl, nicht gewollt, der Störfaktor einer sonst stimmigen Welt zu sein, und zu glauben, dass sich Menschen deshalb von mir abwenden, werde ich wohl in diesem Leben nicht mehr ganz los“. Die meisten halten es wohl mit Anna Langhoff, die resümierend festhält: “Meine Gegenwart teile ich ohne Besitznahme. Mit jeder Zukunft versöhnt. Und meiner Zuversicht, keinerlei Wirklichkeit anzugehören“. Wir sollten sehr genau auf diese “Stimme einer zerrissenen Generation“ (so der Umschlagtext zum Buch) hören, weil wir danach auch viel über unsere eigene Zerrissenheit nachdenken könnten.

Theo Buck, Aachen

 

Anna Schädlich und Susanne Schädlich, (Hrsg.), Ein Spaziergang war es nicht. Kindheiten zwischen Ost und West. München: Wilhelm Heyne Verlag, 2012. 317 S.

In dieser von Susanne und Anna Schädlich mit Sorgfalt zusammengestellten Anthologie kommen 19 Autoren zu Wort, die heute zwischen 30 und 48 Jahren alt sind und mit Ausnahme von Dagny Dewath, die 1981 in Westberlin zur Welt kam, zwischen ihrem zweiten und fünfzehnten Lebensjahr mit ihren Eltern in den siebziger und achtziger Jahren in den Westen ausgereist, oder, wie Nicki Pawlow, mit ihnen geflüchtet waren.

Sie waren “kein leichtes Gepäck” für die Eltern, wie Anna Langhoff in ihrem Beitrag vermerkte, aber es war auch kein Spaziergang für die Kinder, besonders für die schon älteren, die diese oft sehr plötzlichen Abschiede — manchmal blieben nur 24 Stunden –, durch die sie ihrer vertrauten Umgebung, ihren engsten Freunden und ersten Lieben entrissen wurden, sehr bewußt erlebten.

Viele Autoren dieser Anthologie sehen ihren Wechsel von Ost nach West aus heutiger Sicht nicht ausschließlich aber vor allem als eine große Chance, der Enge und Bedrohung entkommen zu sein. Andere empfanden den Ortswechsel von Anfang an als etwas Positives. Moritz Kirsch z. B. sah seinen Weggang aus der DDR im Nachhinein zu hundert Prozent als einen Glücksfall an. Moritz Schleime genoß die Buntheit des Westens, die Bravo und die Nähe zu den türkischen Migranten in Kreuzberg, unter denen er sich überhaupt nicht fremd fühlte, weil sie wie er aus einer anderen Welt kamen. Jakob Schlesinger fühlte sich schon von Anfang an im Westen wohler, weil er die Ostschule nicht ausstehen konnte.

Und doch haben viele den Umzug in den Westen nicht unbeschadet überstanden. Nadja Klier spürt noch heute den tiefen Schmerz, den sie am Tag der Ausreise erfuhr. Anna Schädlich berichtet, dass sich mit der Erlaubnis zur Ausreise ihre ganze bisherige Welt in ein Nichts auflöste und dass sie unvorbereitet in die Fremde gestoßen wurde. Auch hatten sie es schwer, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Ob es die neuen, fremden Freunde oder die manchmal sogar unangenehmen unbekannten Lehrer und Klassenkameraden in den Westschulen waren, ein Gefühl der Entwurzelung, Einsamkeit und Hilfslosigkeit in der “terra incognita” stellte sich wohl bei den meisten, besonders bei den schon etwas Älteren, wenigstens zeitweise ein.

Den Jüngsten unter ihnen wurden die Verletzungen später deutlich, als sie begannen, sich mit der Biografie der Eltern und mit den Abschieden und Trennungen innerhalb der Familie auseinander zu setzen. Das Gefühl, eine Heimat war verloren oder nie besessen zu haben, hielt Jahre an. Und die Ankunft im neuen Land brauchte die gleiche Zeit, wenn sie nicht gar noch andauert.

Hinzu kam, dass es, wiederum gerade für die Älteren unter den in den Westen Mitgenommenen, nicht nur um einen Orts- und Lebensstilwechsel ging, sondern auch um einen viel zu frühen Abschied von der Kindheit. Lebten sie im Osten noch halb in einem zwar noch unverstandenen aber behüteten Märchenland — Anna und Susanne Schädlich lebten sogar im Ostberliner Märchenviertel von Köpenick –, wurden nun im Westen einige zu unbeholfenen Behütern der Erwachsenen, die sich dort fast noch weniger zurecht fanden als sie und daher Mühe hatten, ihren Kindern die Zuneigung und Freiheit zu gewähren, die sie selbst benötigten. So mussten sich die Mitgenommenen vorerst allein behaupten, wurden aggressiv oder neigten im Gegenteil dazu, Konflikte mit der neuen Umwelt zu harmonisieren und eventuell sogar zu Vermittlern zwischen den Eltern zu werden, deren Beziehungen im “Neuland” ohne Ausnahmen trotzdem kaputt gingen, wenn sie es nicht vor der Ausreise schon gewesen waren.

Erschwerend für die Entwicklung der ehemaligen Kinder und Jugendlichen aus dem Osten wirkte sich aus, dass sich viele an die DDR der Kindheit nicht als eine Diktatur, nicht als einen Wolf, sondern eben hauptsächlich als an ein Märchenland erinnern, was ihnen ihre Abschiede auf längere Zeit unverständlich machte und den notwendigerweise entstehenden Frust, die die Eingewöhnung in den Wesen mit sich brachte, auf die Außenwelt, die Eltern eingeschlossen, projizierten. Denn nicht nur hatten die Eltern, ähnlich wie der Wolf im Märchen, sie in den Erinnerungen vieler von ihnen aus dem Märchenland entführt, sondern behinderten durch ihre Leid- und Mutbiographien, in deren Sog sie lange befangen waren und eventuell teilweise noch sind, ihren Prozess zu sich selbst zu kommen. Als Kinder der teilweise berühmten Eltern finden sie auch erst einmal keine Zuhörer für ihr eigenes Leben, für ihre eigenen Wunden und Erfolge. Wie Susanne Schädlich in einem Interview sagte: “Die Bühne gehörte den Eltern.”

Nicht mehr. Mit dieser Anthologie äußert sich die Generation der “Mitbringsel” in ihrer eigenen Sprache. Während sich der eine oder andere Text noch ein wenig wie ein Schulaufsatz liest oder eine “Selbsteinschätzung” und daher auf stilistischer Ebene das DDR-Erbe zu erkennen gibt, sind andere sehr persönlich, intim und frei geschrieben. Ein Spaziergang war es nicht ist eine sehr lesenswerte Anthologie der anderen Flucht-, Ausreiser- und Ausbürgerungsgeschichten, es ist eine notwenige Anthologie der bisher kaum wahrgenommenen Geschichten von Kindern des Ostens, die früh im Westen ankamen, über ihre Erfahrungen meist schwiegen und erst als Erwachsene über ihre Zeit der Abschiede, des Umbruchs und der Eingewöhnung mit sich und mit einander ins Gespräch kamen.

Wolfgang Müller, Carlisle

 

Christoph Hein: Weiskerns Nachlass. Roman (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2011).  319 Seiten.

Christoph Heins neuer gesellschaftskritischer Roman Weiskerns Nachlass  wurde im September 1912 mit dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet. Der Klappentext des Verlags verspricht einen aktuellen, realistischen, literarisch durchgeformten Gesellschaftsroman. In der Tat handelt es sich hier um eine zutiefst pessimistische Zeitanalyse, in der Hein die  profitorientierte Bundesrepublik des Jahres 2011 kritisch unter die Lupe nimmt. In einer Gesellschaft, in der nur das Geld regiert, ist auch der Universitätsbetrieb  —  besonders  die nichtvermarktbaren  Geisteswissenschaften —  vor Kürzungen und  Herabwürdigungen nicht verschont. Geisteswissenschaften gelten als Belastung;  Fächer, für die es nur wenige Bewerber und kein Geld gibt, werden als Orchideenkunde gestrichen.

In diesem Milieu bewegt sich Heins neunundfünfzigjähriger Protagonist Rüdiger Stolzenburg, ein Kulturwissenschaftler an der Leipziger Universität,  der seit fünfzehn Jahren zum akademischen Prekariat gehört und mit einer  halben  Stellung recht und schlecht sein Leben fristet. Dieser Gruppe  abgehängter Akademiker fehlt jegliche Chance auf sozialen Aufstieg, jegliche Zukunftshoffnung. In Stolzenburgs  Leben  sind entwürdigende Zumutungen und Nichtachtung  geistiger Werte,  Dominanz des Profits, Respektlosigkeit bis zum Gewaltakt und totale  Bindungsunfähigkeit  verquickt. An der Universität sind die Studenten wenig interessiert an Bildung; das Diplom zählt allein, und an Versuchen, den Dozenten mit Geld oder Sex zu bestechen, fehlt es nicht. Das Leben im Bereich der Halbheiten im Prekariat überträgt sich, kaum unerwartet, auf das  Privatleben des Protagonisten: halbe Stelle, halbes Leben, unverbindliche  Affären: “Eine Beziehung ist eine Freundschaft mit Bettlaken, nicht mehr, allerdings auch nicht weniger.”

In dieser Atmosphäre des Geduldetwerdens findet Stolzenburgs Forschungsprojekt, den  Nachlass des im 18. Jahrhundert  in Wien lebenden Librettisten und Schauspielers Friedrich Wilhelm Weiskern  zu veröffentlichen,  ebenfalls weder Interesse  noch Sponsoren. Das Projekt wird als nicht publizierbar abgetan. Der Leser ist geneigt, diesen Akademiker und Schöngeist, der in eine Sackgasse von Mißlichkeiten geraten  ist,  als Opfer zu betrachten,  zumal der vom Unglück Verfolgte  sich auch noch mit dem Finanzamt herumschlagen muß. Dieses besteht auf eine irrsinnig hohe  Steuernachforderung, weil sich irgendein Bürokrat im Amt nicht vorstellen kann, wie Stolzenburg ohne heimliche Nebeneinkünfte von seinem Hungerlohn existieren kann. Hinzu kommt, daß er dreimal von einer Bande etwa zwölfjähriger Mädchen überfallen, verprügelt und verletzt wird. Doch Hein macht es sich bei der Charakterisierung  seiner Figur nicht leicht und distanziert sich. Stolzenburg ist arrogant, zynisch, lustlos, übersättigt, illusionslos, ist Liebäugeleien mit Unmoral durchaus nicht abhold. Er wird betrogen, spielt dann allerdings selbst mit dem Gedanken des Betrügens.  Wieweit er gehen würde, bleibt offen.  Heins bewährte Schreibweise chronistischen Beobachtens und distanzierten  Berichtens  läßt vieles offen und ungesagt.

Das ambivalent Schillernde dieser Dozentenfigur schlägt sich in einer geschickt gewählten Erzählstruktur nieder. Die Anfangsszene des Romans zeigt einen vor Angst erstarrten Stolzenburg, der in einem Flugzeug nach Basel sitzt und einer Wahnvorstellung verfallen ist: Er glaubt, die Propeller hätten versagt, wie überhaupt alles in seinem Leben, er selbst eingeschlossen versagt hat. Die suggerierte kreisförmige Bewegung der Propeller enthält die Poetik des Romans, wird zum Symbol fortwährender Mißlichkeiten im Leben Stolzenburgs. Die letzte Szene in dieser Retrospektive  mündet  kreisförmig wieder in die Anfangsszene. Doch der Ton hat sich geändert. Wieder ist Stolzenburg im Flugzeug, und wieder hat er die Wahnvostellung eines  Absturzes. Doch er vergegenwärtigt sich, daß  es eine optische Täuschung ist. Er blickt auf sein Leben zurück, seine Beziehung zu Frauen, seine finanzielle Notlage, seinen Umgang mit Studenten. Er reflektiert.  Wird er den finanziellen und sexuellen Versuchungen, die ihm von Seiten der Studenten drohen, erliegen, wird er korrupt? Der Text beläßt es bei der Leerstelle. Doch taucht das Wort “hoffen”  in Variationen auf: “ Er [Stolzenburg] kann nur hoffen.”  Trotzdem endet  Hein den Roman mit  einer freundlichen Geste, die Stabilität und Zufriedenheit suggeriert. Stolzenburg erinnert sich an seine Billardrunde in Leipzig: “Die Billardrunde wird er nicht aufgeben, mit diesen Freunden ist er bereits eine Ewigkeit zusammen, die Runde hat länger gehalten als seine Ehe, er gehörte dazu, noch bevor er an der Uni anfing, und dort hatte er keine halbe Stelle, dort zählte er zu den alten, erfahrenen Hasen.” Ein kleiner Lichtblick also doch noch;  ein volles Leben  im Kleinsten, aber nicht das schlechteste.

Christine Cosentino,  Rutgers University

 

Jens Sparschuh, Im Kasten. Roman.  (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2012).  224 Seiten.

Der 1955 in Karl-Marx-Stadt geborene Autor Jens Sparschuh hatte verschiedentlich mit Romanen aufgewartet, deren Helden verschrobene Exzentriker sind. Man denke etwa an Hinrich Lobek aus dem Zimmerspringbrunnen (1995). In seinem neuen Roman Im Kasten, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde,  widmet sich Sparschuh dem Thema des Überflusses in der westlichen Konsumgesellschaft bzw. dem Thema, wie man Ordnung und Struktur in sinnloses Anhäufen von Gegenständen bringen kann. Der Name des Helden, Hannes Felix, ist eine Anspielung auf eine Märchenfigur: Hans im Glück, der, nachdem er sich vom Besitz befreit hat, zutiefst glücklich ist. Hannes Felix jedoch ist ein frustrierter Ordnungsfanatiker, der die Kontrolle über seine Ordnungssysteme verliert. Letztlich beherrscht die Ordnung ihn. Kurz, ein Neurotiker gleitet in die Psychose. Parallelen zu Jakob Heins neurotischem Sonderling, Herr Jensen,lassen sich erkennen, denn auch hier  (Herr Jensen steigt aus , 2006) handelt es sich um ein Psychogramm:  ein durch Ämterwillkür stillgelegter Mensch isoliert sich und endet im Wahnsinn.

Hannes Felix’ Ordnungsliebe bringt gleich zu Anfang des Romans Unordnung in sein Privatleben, denn  ihm läuft die Ehefrau davon. Hannes  — realitätsfremd und in der Zange seiner Zwangsnatur  —   versucht,  Ordnung in ihren liederlich gepackten Koffer zu bringen und empfiehlt ihr, ein Inhaltsverzeichnis anzulegen. Das ist das Ende der Ehe and der Beginn sich steigernder Isolation. Mit Rückblenden in Kindheit und Ehe entfaltet sich dann vor dem Leser die allmähliche Persönlichkeitsauflösung des Helden, der sich zu immer seltsameren Ordnungskonzepten versteigt.  Bereits im Kindergarten hatte Hannes  mit Begeisterung aufgeräumt und alles millimetergenau und nach Farbe und Größe geordnet. Das wird mit den Jahren schlimmer. Seinen Traumjob findet er als Marketingexperte bei NOAH (Kürzel für Neue Optimierte Auslagerungs- und Haushaltsordnungssysteme), einer Firma, die alles speichert, was andere temporär loswerden wollen: alte Kleidung, Einrichtungsgegenstände, Akten, Jalousien etc. Das Motto  des  Aufräumers  Hannes  ist “Weniger ist mehr” und “Das meiste ist nichts”. Eine durchaus akzeptable Strategie, nur steigert Hannes Felix diesen Werbespruch der Firma Schritt für Schritt ins Groteske.

Die Self-Storage-Firma NOAH ist für den Durchschnittskunden schwer erreichbar;  sie befindet sich am Berliner Stadtrand.  So ist es die Aufgabe Hannes Felix’, potentielle Käufer persönlich aufzusuchen und sie von den Lagerungsstrategien zu überzeugen. Im Laufe der Handlung werden seine Ordnungs- und Speicherungspläne  immer bizarrer, und langsam entgleitet ihm die Realität. Er entwickelt in komplizierten, jedes Detail erfassenden Gedankengängen den Felix-Quotienten, der bei der Kalkulation  des Mietpreises auch die Höhe eines Wohnraumes miteinbezieht, denn höhere Wohnungen haben mehr Platz zum Stapeln, Horten und Aufbewahren.  Dann, letztlich, nach einem Besuch des schwedischen Einrichtungshauses IKEA, entwickelt er im Irrsinn ein skurriles Marketingprojekt: dem Käufer wird empfohlen,  beim Kauf von Einrichtungsgegenständen die Wohnungen von Anfang an zu überspringen und das Gekaufte sofort bei NOAH einzulagern. Für die Hauptzentrale sieht er den freien Platz im Berliner Zentrum vor, wo einst das alte Berliner Schloß, dann der Palast der Republik standen, der nach der Wiedervereinigung abgerissen wurde. Im Wahn zieht Hannes Felix als König im Hermelin ins Schloß: ein Patient in der Zwangsjacke, der hinter Schloß und Riegel verschwindet. Der Wahnsinn des Ordnungsgedankens spiegelt sich im Wahnsinn des Helden.

Der Leser kann sich der Komik des zwanghaften Ordnens nicht entziehen; vielleicht aber auch berühren ihn die leitmotivisch wiederholten, so bekannten Parolen  “Ordnung muß sein” oder “Ordnung ist das halbe Leben” unangenehm, denn er wird mißtrauisch gegen deutschen Ordnungsgeist. Die akribische, bis ins kleinste Detail gehende Analyse von Ordnungssystemen im Gewand der Logik scheint für den Autor ein Leichtes, denn er promovierte 1983 mit einer Arbeit in seinem Spezialgebiet der Philosophie der Logik. Für den Leser jedoch mag es hier und da  ermüdend sein. Hannes Felix ist ein Zwangscharakter mit gescheitertem Lebensentwurf. Das Buch ist tragisch und komisch, also tragikomisch, letztlich irrsinnig komisch.

Christine Cosentino, Rutgers University

 

Volker Braun, Die hellen Haufen. Erzählung.  (Berlin: Suhrkamp, 2011)  97 Seiten.

In dem schmalen Bändchen Die hellen Haufen  wendet sich Volker Braun wieder einem seiner Lieblingsthemen zu:  dem historisch “Nichtgeschehenen, Unterbliebenen, Verlorenen.” Was er meint, sind Aufstände, die nicht stattgefunden haben, aber in der Wunschvorstellung denkbar sind. Das Werk ist auf historischer Folie konzipiert, greift zurück  – der Titel suggeriert es  – auf die von Thomas Müntzer und Florian Geyer organisierten  Haufen in den Bauernkriegen und auf den von Max Hoelz 1921 aufgerufenen Mitteldeutschen Aufstand der Mansfelder Knappen.  Braun berichtet vom Hungerstreik der Kalikumpel von Bischofferode nach der Wende, den ein Ich-Sprecher  zu einem weit um sich greifenden Arbeiteraufstand gegen die Treuhand fiktionalisiert. Fakt ist, daß im thüringischen  Bischofferode  Anfang der neunziger Jahre vierzig Bergleute in den Hungerstreik traten, weil die Treuhand  beschlossen hatte, das Werk stillzulegen. Aufgrund der Konkurrenz aus dem Westen, so wurde erklärt, war das Werk nicht mehr zu halten. Bischofferode wird bei Braun zu Bitterode. Ähnliche  Schließungen der Gruben wurden im Mansfelder Bereich vorgenommen. Es geht dem Autor  in dieser als sozial ungerecht empfundenen Situation um die “alte Lust zu handeln”, um dumpfe Wut und frischen Zorn. So liefert er ein Gewebe von Realem und Erdachtem.

Braun berichtet zunächst faktengetreu vom Protest der Kumpel von Bischofferode, die nach Berlin ziehen, um ihre Ansprüche anzumelden und sich doch letztlich mit einer lächerlich kleinen Abfindung abspeisen lassen, denn  “das Kämpfen war ihnen von  Partei & Regierung abgewöhnt worden.”  Es kommt nicht zum Generalstreik. Die kleine Gruppe von Bergleuten und  einigen wenigen Sympathisanten, die nach Berlin marschieren, wirken grotesk: “Ein Narrenzug (die Polizisten eingeschlossen), pfeifend, eine Karnevalsrotte, man applaudierte diesen Artisten, aber keiner kam mit.” Doch der Gedanke des “Was-wäre-wenn” läßt den Autor nicht los. Er erdenkt den Widerstand: ein Aufstand großen Formats findet in der Tat statt, erfaßt die Massen. Die historische Folie, auf der sich diese utopische Vision gestaltet, gründet auf den “Zwölf Artikeln von Memmingen” (1525), die die schwäbischen Bauern im Bauernkrieg ausgearbeitet hatten. Diese erste Formulierung von Menschen- und Freiheitsrechten wird dann in der Gegenwart umgeschrieben zu den Mansfelder Artikeln. Eingebettet in diesen fiktionalen Geschichtsverlauf sind reale Personen aus der unmittelbaren Nachwendezeit oder der Geschichte, deren Namen verändert sind, die man aber trotzdem erkennt. Hinter Schurlemmer verbirgt sich Schorlemmer, hinter dem Treuhandmanager Schufft der Wirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt Klaus Schucht und hinter dem immer wieder erwähnten Mintzer der Bauernführer Thomas Müntzer.

Die Parole  “Keine Gewalt”  führt die Aufständischen letztlich auf einen Schlackeberg, und dort kommt es zu einer  blutigen Niederlage. Sie werden hingemetzelt. Hier meldet der Dichter lauthals Protest an: “Einer aus dem Vogtland, Braun, rief im Jähzorn  GEWALT, GEWALT, und es war nicht klar, wollte er sie konstatieren oder ausrufen.”   Dieses sperrige Statement suggeriert Offenheit und  Widerspruch. Nimmt Braun sich ernst? Der Ich-Sprecher in der Erzählung ist ein Narr, so bezeichnet er sich jedenfalls: “Ich beginne wie ein Narr mit den Fakten.”  Ist es der weise Narr, der hier spricht, oder der Kritiker, oder ist es gar der Tor, der veraltete Weltsichten längst nicht mehr ernst nimmt und trotzdem von ihnen nicht lassen kann? In Betrachtungen solcher Art greift ein Ernst-Bloch-Zitat, das der Autor der Erzählung als Motto voranstellt: “Was wir nicht zustande gebracht haben, müssen wir überliefern.”  Wendet sich Braun hier an jüngere  oder kommende Generationen, die lernen sollen, was da falsch gelaufen ist? Es ist das Privileg des  Dichters, Träume aufs Papier zu bringen  in einer materialistischen und profitgesteuerten Wirklichkeit, an deren Unabänderlichkeit er sich keineswegs gewöhnen mag. Der Narr hat den Glauben an die Utopie verloren, kann sich ihr  jedoch trotzdem nicht entziehen. So bleibt die Utopie, aber  –  meint der Autor  in dem Gedichtband  Auf die schönen Possen  –  : “Sie hat nichts Besseres zu tun als nichts/ beschäftigt mit Überleben, von der Hand in den Mund/ Ein Gespenst aus der  Zukunft arbeitslos” .

Christine Cosentino, Rutgers University

 

André Kubiczek, Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn (München, Zürich: Piper, 2012). 479 Seiten.

André  Kubiczek wirkte im Kreis jener um 1970 in der DDR geborenen Autoren, die in der Literatur als Generation Trabant auf sich aufmerksam machten. Man denkt an Julia Schoch, Jana Hensel, Jakob Hein oder Falko Hennig. Der Gestus der Orientierungssuche innerhalb dieser Gruppe, der sich auf den Tonlagen von Frust, bösem  Ärger oder nostalgischem Stolz mitteilte, fehlte in Kubiczeks Debütroman Junge Talente (2002)  jedoch völlig. Bei ihm geht es um das Spiegelbild  einer Jugend ohne politische Ambitionen in einem Staat, der in staubiger Tristesse und eigenem Mief längst erstickt ist. Der Roman fand ein breites Publikum.  Weniger wirkungsvoll waren jedoch Kubiczeks folgende  grell-satirische Romane Die Guten und die Bösen (2003) und Kopf unter Wasser (2009).

Ein neuer Roman, eine  bemerkenswert  eindrucksvolle  Autobiografie mit dem märchenhaft anmutenden Titel Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn  erschien erst kürzlich, Anfang des Jahres 2012. Hier kann man getrost von einer Autobiografie sprechen, denn der Ich-Erzähler, Kubi genannt, wartet mit Erlebnissen auf, die eng mit seinem Leben verbunden sind. Geboren wurde Kubiczek im Jahre 1969 in Potsdam als Sohn eines DDR-Diplomaten  und einer laotischen Mutter, Tochter eines Politikers, der später Opfer eines Attentates wurde.  Seine Eltern hatten sich in Moskau während des Studiums kennen- und lieben gelernt. Die Mutter, die früh an Krebs starb, läßt im Krankenhaus ein Tagebuchfragment zurück. Dieses Fragment wird zum handlungsauslösenden Element, denn es  inspiriert den Sohn, den Spuren der geliebten Toten in Laos nachzuspüren und die neue Familie zu entdecken. So wird  dieses Erinnerungsbuch zum Geflecht  verschiedener Handlungsstränge:  es ist ein Abenteuer- oder Reisebuch, eine Familiengeschichte,  eine Kindheitsgeschichte in der DDR, aber auch eine kühl und distanziert registrierende Chronik politischer Ereignisse um die Wende.

Die Distanz zur DDR ist jedoch nicht unfreundlich, eher versöhnlich.  Von einer Freundin einmal als klein, grau und duckmäuserisch bezeichnet, reflektiert der Ich-Erzähler: “Als gäbe es keine originellere Sprache, die Vergangenheit zu beschreiben, die immerhin die Gegenwart unserer Kindheit gewesen war und auch die unserer Jugend, als gäbe es nur die dröge Sprache der Gegenpropaganda, das Zeitungsdeutsch der Zufallssieger.” So beleuchtet dieses Werk dann auch einen  politisch durchaus  grenzübergreifenden Kindheitsbereich jenseits jeglicher Ideologien. Von fortwährendem Trauma ist die Rede, das der frühe Tod der Mutter und des jüngeren Bruders im Erzähler auslöste; von Kissenschlachten, Kinderfreundschaften, Berlin-Erlebnissen und Besuchen bei den Großeltern in einer kleinen Provinzstadt.

Der Roman hat Kreisstruktur und ist in einem Rahmen eingebettet. Am Anfang der Handlung ist der Erzähler gerade in Vientiane in Laos angekommen, nachdem ihm von einem Anwalt eine Flugkarte zugeschickt wurde. Am Ende lernt er  den laotischen Teil seiner Familie kennen. Dazwischen liegen – von vielen Zeitsprüngen miteinander verbunden – fesselnde Berichte über Kindheit und  Jugend, über das enge Verhältnis zur Mutter, über Liebschaften, Freundschaften, den Dienst bei der Fahne. Vorrangig handelt es sich jedoch um den Versuch,  ein Porträt seiner Mutter zu rekonstruieren, seiner vereinsamten Mutter, die ihrer großen Liebe in die DDR folgte und dort  –  eine ewige Fremde  – Staatsbürgerin wurde. Dem Erzähler geht es jedoch auch um  Historie: die Geschichte der Mutter und des Vaters der Mutter im fernen Laos wird rekonstruiert ; dann  die Geschichte von Kubis eigenem Vater mit dem Aufstieg im östlichen Deutschland und dem entsprechend  demütigen Abstieg im westlichen Deutschland. Doch auch die eigene private Geschichte wird  heiter-ironisch, oft mit leiser Trauer unter die Lupe genommen bis zu jenem politischen Wendepunkt, an dem das Neue, Nichtzuändernde beginnt.

Der Roman endet in Laos mit dem Gestus der Integration.  Kubis Großmutter, die ein Pflegefall ist und fast nur noch schläft, öffnet die Augen, als sie den Enkel trifft, und sie lächelt. Er verbeugt sich und begrüßt sie auf laotisch. Die Tonlage freundlicher  Akzeptanz des Neuen und Fremden gibt dem Roman eine erfrischend optimistische Note. Der Autor stellt sich der neuen Problematik von Ost und West mit Selbstbewußtsein.

Christine Cosentino, Rutgers University

 

Lutz Seiler, Die Zeitwaage. Erzählungen. (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2009). 285 Seiten.

Lutz Seiler, born in 1963 in Gera/Thuringia in the former GDR, is primarily known as a poet. In 2007, he ventured into prose and published the short story Turksib, for which he received the Ingeborg Bachmann Prize. Turksib was re-published in 2009 in a new prose volume, titled Die Zeitwaage (Time Scales), which contains fourteen stories, some of them linked by the same characters or the same setting. All are interconnected, unobtrusively, by a prevailing feeling of loss and disillusionment caused by occurrences that mark a change in people’s lives. It should be noted that a leitmotif in Turksib, a “Geigerzähler,” an instrument that measures toxic nuclear activity, sets the tone for the entire volume. The term “Geigerzähler” evolves into “Geig-Erzähler,” i.e. a narrator who detects inner toxins and damages in troubled people that cause their lives to take a turn.

Seiler focuses on short but decisive moments that assume a momentuous existential significance. It should be noted that in the year 2003, Seiler was Writer-in-Residence at the Villa Aurora in Los Angeles, a position that presumably led him to familiarize himself with the American short story. Indeed, stylistic elements of this particular genre – sparseness, turning points, narrative gaps, undercurrents, and the revelation of trauma or angst concealed behind the banal – are clearly discernible in all the texts presented in this volume. The skillfully chosen title of the cover story, “Die Zeitwaage,” refers to a device that watchmakers use, a time scale, that identifies inconsistencies in the measurement of time. In interviews, Seiler has referred to “Momente, die schwanken,” i.e. situations that develop on shaky grounds with people who are off-balance, disorientated, or confused, people who have lost their grip on a situation. In the interlinked stories “Frank” and “Im Geräusch,” both set in California, a marriage falls apart with husband and wife being unable to talk to each other; in “Gavroche” the reader gains insight into a relationship that rests on a lie; and in “Der Stotterer,” Seiler portrays the loneliness of a man who stutters and finds himself isolated. Several stories deal with young children – a boy, for example, who wins a chess game against his father, a victory which is a farewell to childhood, as his father never plays with him again. There are tragic accidents: a man bleeds to death but nobody notices (“Der Badgang”); a worker repairs a stretch of a tram line but gets stuck on an electric cable while people are watching. And so it goes: Seiler’s “heroes” are anti-heroes, very ordinary people who lose control and find themselves depressed or helpless. The reader will notice one stylistic device which might be called Seiler’s own contribution to the short story: throughout this volume he works with metaphoric sound effects which are most often cacophonous and shrill. They exude irritation, angst and the state of imbalance that a time scale can detect.

One would assume that Seiler, who was twenty-six when the Wall fell, would be a convincing recorder of the turmoils of the Wende of 1989, as well as the ensuing social problems for Eastern Germans in the aftermath; and indeed, the GDR is present as far as atmosphere and setting are concerned. But the reader will notice soon that Seiler exposes psychological wounds that could have been inflicted on either side of the Wall. In short, he illuminates universal human experiences beyond political ideologies, such as death, separation, divorce, lost childhood, loneliness, alienation, and futile endeavors to alter the course of events. It would miss the point to force Zeitwaage’s texts into the confines of GDR-oriented literature, or into a kind of “Bewältigungsliteratur.” Seiler’s stories are timeless.

Most of the stories are bleak and depressing. Nevertheless, the reader is intrigued. Seiler’s portrayal of dark moments refers by no means to the spectacular or eccentric. These are situations familiar to all of us. With poetic tenderness, this very talented and precise stylist presents us with a volume of stories that will place him among the leading authors of fiction.

Christine Cosentino, Rutgers University

 

Julia Schoch, Selbstporträt mit Bonaparte  (München: Piper, 2012) 142 Seiten.

In ihrem letzten Werk, Selbstporträt mit Bonaparte, nimmt Schoch das Thema privater und gesellschaftlicher Verlorenheit und Perspektivlosigkeit erneut auf. Wie in ihrem vorletzten Roman, Mit der Geschwindigkeit des Sommers (2009), geht es um DDR-Biografien und um Erinnerungsarbeit. Die fiktiven Ich-Sprecherinnen, die in vielem autobiografische Züge aufweisen,  umkreisen das Thema des Verlustes eines geliebten Menschen, einer Liebe, eines Staates und einer für sie verbindlichen “normalen Zeitrechnung”. Im gesellschaftlichen und privaten Dahintreiben in der unmittelbaren Gegenwart ist Zeit bedeutungslos geworden. In der erinnerten Rekonstruktion  des geliebten Menschen kristallisiert sich Selbstanalyse: “Und sobald ich mich im Spiegel betrachte, erscheint sein Kopf hinter meinem. Eine Art Doppelporträt oder Selbstporträt als Paar.” (30)

Wenig  geschieht in Selbstporträt mit Bonaparte. Der Geliebte, der urplötzlich auf der Bildfläche erschien, verschwindet ebenso plötzlich, ohne Erklärung, wortlos. Auf einer Konferenz trifft die namenlose Ich-Sprecherin, die von Beruf Autorin und  Katalogtexterin ist,  einen Historiker, der mit großer Gleichgültigkeit und mit offensichtlicher Verachtung für sein Publikum seinen Vortrag hält. “Wozu das Ganze”, moniert er. Einige Tage später folgt er ihr in einen Badeort an der Ostsee, und beide zieht es ins Kasino. Roulettespielen, das die Ich-Sprecherin schon als Kind im “verriegelten” Land aus Filmen kannte, bedeutete für sie Freiheit, Sehnsucht, Reisen, Ekstase, kurz, war der Inbegriff einer “gänzlich anderen Welt”. In der künstlichen zeitlosen  Atmosphäre des Kasinos  beginnt nun eine “unwirkliche”,  sonderbare Liebe, die außerhalb, in der  realen  Welt undenkbar wäre.  Die Ich-Sprecherin weiß, “dass meine Liebe zum Roulette mit der Liebe zu Bonaparte [so nennt sie ihn] ganz einfach in eins fällt.” Das suggeriert Wahlverwandtschaften.  In einer Zeit großer gesellschaftlicher Veränderungen in der westlichen Welt fühlen sich beide, so darf man annehmen, überfordert und ratlos und suchen Zuflucht in einer Gegenwelt, in der Vergangenheit und Zukunft bedeutungslos sind: “Mit den … uhren- und also zeitlosen Interieurs, ihren samtenen Abpolsterungen gegen das Draußen sind sie [Kasinos] die sichersten Orte der Welt.”  Im Bewusstsein einer abrupt endenden geschichtlichen Vergangenheit und  einer unsicheren, bedrohlichen Zukunft  in der wirklichen Welt geben sich beide  “in der ewigen Gegenwart des Spiels” dem Rausch des angehaltenen Moments hin. Roulette wird zum Ritual ihrer Liebe. Wie lange diese Liebe dauert, ist unklar, denn konventionelle Zeitbegriffe sind in diesem Roman aufgehoben. Anzunehmen ist, dass die Handlung in den neunziger Jahren anberaumt ist.  Erzählt wird ohne  Chronologie. Das Kasino selbst ist zeitlos, ist ein Ort des Zeitvertreibs, ein Ort, an dem die Zeit vertrieben ist.

So manchen Leser wird die Gestaltung der glorifizierten  Gegenwelt  des Kasinos  irritieren, besonders, wenn die Autorin mit Thesen des “vernünftigen Spielens” aufwartet, die jeglichem Suchtverhalten konträr sind.  Doch das griffe  zu kurz.  Eher handelt es sich um Überforderung, Haltlosigkeit und Desorientierung, vielleicht auch um einen übersteigerten Individualismus. Beispiele von Nonkonformismus gibt es genug in diesem Werk.  So erinnert sich die Ich-Sprecherin  an ein Ereignis aus ihrer Kindheit. Um einmal ganz anders zu sein, protestierte sie gegen Regeln in der Schule und trug Badelatschen, als sie in die Klasse kam.  Aufgebracht versicherte  ihr der Direktor, dass sie ein Fremdsprachenstudium an den Nagel hängen könne;  er  höhnte: “Sie … Sie Individuum.” Ähnlich verhält es sich mit Bonaparte, der sich weigert,  konventionelle Kleidung zu tragen und stattdessen nur in Anzügen herumläuft, die er sich nach Hollywoodaufnahmen schneidern lässt. Sein Motto:  “etwas aus sich zu machen, was man gerade  nicht gezwungen worden war zu sein, darum, gewissermaßen so unselbst wie nur möglich zu werden. ” Das Kasino wäre in diesem Sinne der ideale Ort der Selbstauflösung oder Selbstvergessenheit.

Der unberechenbare  Drifter Bonaparte, der  der Ich-Erzählerin nie Liebesbriefe geschrieben hatte, sie nie mit Liebesbezeugungen  überschüttet hatte, verschwindet eines Tages. Warum? fragt sich die Ich-Erzählerin und erkennt in ihrem Bonaparte-Porträt sich selbst. Illusionslos und traumwandlerisch treibt  auch sie in der realen “undurchdringlichen”  Welt dahin und wartet. Sie glaubt,  in diesem Zustand passiven  Verharrens Klopfzeichen zu hören. Nichts wird jedoch  geschehen, sie ist überzeugt.  Ob dieser Roman in seiner Verherrlichung der  Weltflucht und seiner unkritischen Roulette-Ekstase  allerdings den Leser überzeugt, ist eine offene Frage.

Christine Cosentino, Rutgers University

 

Edwin Kratschmer, Wahnwald.  Stadtroda: UND Verlag, 2011. 249 pages.

In Edwin Kratschmer’s fourth novel, Wahnwald, a first-person narrator called Edmund Kraut explores the history of his ancestors back to 1423, mainly by following the family tree his father Johann had created (it is included at the end of the book.)  He travels to the deep woods of Bohemia where they had lived, hears his ancestors’ souls murmuring in the treetops, and asks: “wo sie mögen sein: im Himmel oder in der Hölle.” As a reason for his trip to this “Ahnwald,” which by means of word play is transformed to “Wahnwald,” the narrator states: “Ich will wissen, woher ich komme des Wegs, wie meine Erbschaft seit Herdenzeit, wie die Vorfahren in mir fortahnen fortleben fortlieben forthassen fortdichten, wie sie sich in mir eingerichtet haben, in mir schalten walten.”

While he is investigating the lives of those earlier Krauts (the question if Kratschmer chose deliberately this Anglo-Saxon nickname for Germans remains open until the end), the narrator in his imagination identifies with them and experiences being victim and perpetrator, winner and loser, believer and heretic.  As with Kratschmer’s former novels and essays (see, for instance, Das ästhetische Monster Mensch), the reading gave me goose pumps due to the author’s fatalistic vision of the human being.  In all chapters (their events take place around wars in 1945, 1866, 1805, 1626, and 1423), the protagonists experience incredible violence, be it by marauding soldiers, domestic violence, or plague.  The goose bumps grow the biggest during the Thirty Years War when foreign soldiers invade the Bohemian village in which the Kraut family lives and torture some people to death; after one torture scene, I had to put the book away for some days.

Also Kratschmer’s Baroque style and his preference for a vocabulary that belongs to an aesthetic of the ugly are bewildering.  In a handout provided by the editor of Kratschmer’s book, states about this language: “je tiefer er [the narrator] in die Vergangenheit greift, umso karger, härter, ungelenker, grober, kakophoner, unrationaler, aber auch umso bildhafter wird sie.” This observation is correct; the farther back the reader is led into history, the more terror this language causes.  However, does this not mean that Kratschmer is actually an optimist? Because, if we read the book backwards in time (i.e., from the past to the present), the language becomes lighter, softer, more elegant, and also more rational.  Does Edwin Kratschmer unconsciously believe that there is a historic progress toward more humanity? It almost seems that way.  An epigraph by Georg Maurer at the beginning of the book reads: “Was ist das für ein Singen, das man hört?  Niemand ist doch zu sehen.”  This “Singen” that can also be heard, although only very softly, between the lines of Kratschmer’s book that is so full of the blackest humor, I read as a sign of hope.

The text starts with a “Vorspiel” and ends with a “Nachspiel” – both frame this literary research project on the narrator’s ancestors’ and his own biography.  In the “Vorspiel,” he remembers some episodes of the time when he lived in Bohemia before he had to leave as one of the “Vertriebenen” at the age of fourteen.  With horror, he sees himself as a boy participating in a brutal attack on a Jewish merchant.  Later, when his car passes a sign to the Czech town of Lidice, disturbing memories return.  In this town, the SS had massacred all male inhabitants and sent the women to a concentration camp.

Most ancestors’ lives are narrated in the third person; however, some of them, for example, the narrator’s grandfather, who uses expressions from his local dialect such as “Puer” or “Gung” for boy, tell their story in the first person.  Such changes in the narrative voice enrich Kratschmer’s style.  Around page fifty the “Wahnwald” is transformed to a “Wahnsinnswald.”   This happens when for the first time in the text, gangs of soldiers move through the village looting, raping, and burning.  The second epigraph of the book, a quotation from Georg Büchner, says: “Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen.” Kratschmer’s text attempts to deal with this question that Büchner did not want to follow up on. The answer is that we humans are a failure; no matter how much we try to improve: “Du rutschst immer wieder in die gleiche Spur […] Und alle hundert Jahre eine Plage biblischen Ausmaßes, der Durchmarsch einer Seuche Keulung und Ausmordung.”  However, as mentioned earlier, there is a very slight hope that progress in the human condition might be possible. Some of the narrator’s ancestors were writers and artists who suffered from censorship measures. Jaschek Kraut, for instance, a muralist, had been recruited to fight in the Napoleonic Wars. When he was commissioned to paint Jesus on the cross later in his life, he remembered the agony of dying soldiers and portrayed their suffering in the image of the son of God. Only because of good luck, did Jaschek himself avoid being crucified for that portrayal.

The narrator uses these instances of censorship in his ancestors’ lives for a discussion of the differences between two aesthetics, that of the beautiful and the ugly (he calls the latter “Ästhetik des Schreckens and Grauens”).  The second always wins the competition since according to Edwin Kratschmer, art must tell the truth relentlessly; if it doesn’t it is not art.  Censors, however, see this matter differently.

Several critics have noted the author’s “Wortmächtigkeit.”  As Udo Scheer states, it seems as if this great language in its coarseness and its reductions is “aus jener Zeit herübergeweht” — the time of Luther and Erasmus.  Scheer’s observation seems correct  because Edwin Kratschmer re-read their texts before he wrote “Wahnwald” in order to tune himself into the language of the past.

Also, Kratschmer’s successful use of synesthesia enriches his style in a way that makes it sound old-fashioned, for instance: “rosa meckerte die Zibb, grau grunzte die Sau, rot sprach Marie, gelb keuchte Hochwürden, gold schlug die Glock von Sankt Martin.” Although synesthesia — in which stimulation of one sensory pathway leads to experiences in a second and allows for transcendence of everyday experience — is still used by writers today, in Kratschmer’s book, it seems to be an atavism and fits well with the attempt to revive the past stylistically.

Scholars who are interested in the motif of old age in literature can find plenty of material in Kratschmer’s book since the eighty-year-old main narrator indulges in mercilessly examining his own symptoms of aging and often tells the lives of his ancestors with a focus on age and mortality.  In addition, for scholars who conduct research on the notion of “Heimat,” the text is a rich source, especially since in the chapter “Das Buch Pšan” (Pšan is the Czech name for “Ahnwald”), in which the narrator describes his trip to his Bohemian hometown in great detail, the notion of Heimat is discussed from many interesting angles.  Most of all, readers from former communist countries who are still traumatized by their experiences will love Kratschmer’s book because it raises an important question that only a few dare to ask: Is it really over, once and for all? In the Pšan-chapter, the narrator remembers a recent conversation with Milan Kundera that should be quoted here.  After the famous Czech writer complained about the horrible loss of years of his life, “umkreist und umzingelt von Geheimpolizei,” the narrator expresses relief that so-called real existing socialism has landed on the garbage heap of history. “’Ist er das wirklich?’ fragte Kundera bang, und der Löffel im Teeglas tremolierte.”

I hope that this interesting book will find many readers!

Gabriele Eckart, Southeast Missouri State University


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Jun 11 2013

Gabriele Eckart

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Defending SED Party line: Günther Rücker’s Der Nachbar des Herrn Pansa (1969)

Günther Rücker’s adaptation of Cervantes’s novel Don Quixote, Der Nachbar des Herrn Pansa (Mister Panza’s Neighbor), is a SED party-line interpretation of the historic events during the Prague Spring in 1968, portraying the leader of the Czech reform movement, Alexander Dubček [1], as a quixotic dreamer whose actions would threaten the existence of the socialist system by supporting the class enemy.  Contrary to most of German reworking of Don Quixote that has touches of romanticism, Rücker follows the hard approach – parodying Don Quixote as an eloquent fool.  According to Rücker, Quixote’s sentimental humanitarianism leads him to treason, which represents a serious threat to the revolution.  This example of re-interpreting Cervantes’s main protagonist clearly demonstrates that not only GDR literature was written with the fantasy that it had a direct social utility, but also that classic works of world literature were adapted for that purpose.

As Laura Bradley states, many of the GDR’s citizens followed the Prague Spring closely through Western television, investing “their own hopes in the events in Prague” (75).  Among them were many theater practitioners who after the massive military invasion of Czechoslovakia by the tanks and soldiers of the Warsaw Pact States on August  21, 1968 tried to express their outrage about this invasion on stage.  As Bradley notes, “The autumn after the Prague Spring was felt not only in Czechoslovakia, but in the theaters of East Berlin” (110).  To outline the context in which Rücker rewrote Don Quixote of La Mancha, two examples should be pointed out.  The first is the controversial staging of Goethe’s Faust I at the Deutsches Theater, which had its premiere on September 30, 1968.  Although with its fixed text it did not refer directly to the invasion that happened a few weeks earlier, “its theatrical rebellion and topical cabaret betrayed a complete disrespect for authority” (Bradley 110).  Its iconoclasm and the allusions to censorship sparked a scandal.  A second critical reaction to the invasion of Prague was the adaptation of Aeschylus’s play Sieben gegen Theben / (Seven against Thebes), performed at the Berliner Ensemble in 1969.  As Bradley shows, it provocatively alludes to the crushing of the democratic reforms in the neighboring country, as, for instance, in the following lines: “keiner will / Zum Herrscher den, der eignes Volk / anfällt mit fremdem Heer” / (“no one wants / as their ruler a man who attacks / his own people with a foreign army”) (Bradley 109).  As the critic wisely states, “these lines included a coded reference to Dubček’s Soviet-backed successor, Gustáv Husák”[2 ](109).

As Bradley demonstrates in great detail, the Party responded to these critical performances with different actions of censorship.  However, as will be shown in this study, it also responded more creatively by having staged a play that condemns the Prague Spring as a counter-revolution and preaches to maintain the traditional hard-line approach of the Party.  Camouflaged as an “innocent” new adaptation of a classic work of literature, Miguel de Cervantes’s Don Quixote of La Mancha, Rücker’s play Der Nachbar des Herrn Pansa cleverly justifies the military invasion of Czechoslovakia and the crushing of the democratic reform movement.

Anatoly Lunacharsky’s [3] play Der befreite Don Quichotte / (The Freed Don Quixote) (1922) serves as a stepping-stone from Cervantes’s novel to Rücker’s play.  As Elisabeth Frenzel noted, both the Russian writer and Rücker “erprobte[n] den Humanitätsglauben des spanischen Ritters an einer Klassenkampfsituation” / (“tested the Spanish knight’s belief in humanitarianism in a situation of class struggle”) (177).  In fact, some of Rücker’s main protagonists depend so strongly on Lunacharsky’s characters that one feels reminded of Miguel de Unamuno’s observation that over the centuries Don Quixote is not only Cervantes’s creation any more but also “lo que puso libremente el espíritu de los lectores” / (“what the spirit of the readers freely added”) (see Varela Iglesias 44).  As Unamuno states, “cada generación […] ha ido añadiendo algo a este Don Quijote” / (“every generation […] has added something to this Don Quixote”) (379).  He does and says things in those texts that he did not do and say in Cervantes’s novel.  As a result, something is formed over time that Unamuno calls “la figura de Don Quijote fuera del Quijote” / “the figure of Don Quixote outside the Quixote”) (379).  He strongly encourages us to “recoger las distintas maneras como han extendido la figura del hidalgo manchego los distintos escritores que sobre él han escrito” / (“gather the different ways how the different writers who wrote about him have extended the figure of the hidalgo from La Mancha”) (379).

In the case of Der Nachbar des Herrn Pansa, we must include the examination of extensions and changes that communists such as Lunacharsky, for instance, have made to Don Quixote during the twentieth century – Quixote being a revisionist who must be restrained before he can do more damage to the historical progress.  This does not mean that Lunatcharsky and Rücker would portray Don Quixote unsympathetically as a malicious traitor; as in Cervantes’s text, he is a passionate idealist – his actions are driven by his belief in mercy and love; he always means well in whatever he does.

However, given the situation of class struggle after a revolution, both Lunacharsky and Rücker maintain in their adaptations  that Don Quixote’s idealism leads him to political naiveté that will result in treason and prove disastrous for the revolution.  Since Rücker’s play is much shorter than Lunacharsky’s (the number of characters is reduced and their dialogues are less complex), Don Quixote’s image seems that of a caricature.  Also, as a critic of Rücker’s play noted correctly, “die Gefährlichkeit seiner [Don Quixote’s] neuen Aktivitäten” / (“the dangerousness of his [Don Quixote’s] new activities”) (Linzer 30) is increased in Rücker’s play compared to Lunacharsky’s.  Consequently, Don Quixote’s portrait looks more like a sketch with the feature of lunacy grotesquely exaggerated.

Rücker’s play Der Nachbar des Herrn Pansa begins with Don Quixote setting out into the world to generate more justice with the motto “Barmherzigkeit” / (“mercifulness” or “lovingness”) (Rücker 49).  As in Cervantes’s novel, Sancho accompanies him; on horse and donkey they move through the plains of Castile.  Their most outstanding adventure is that they free prisoners who, as it turns out later, are revolutionaries.  Like in Cervantes’s novel, the freed prisoners steal Sancho’s donkey.  Count Murzio’s brutal police force arrests Don Quixote and Sancho for having freed the prisoners and puts them behind bars.  There, they meet a prisoner with revolutionary sympathies.  Murzio’s executioner beheaded his father, and the prisoner is dreaming of a revolutionary overthrow of this brutal society.  The prisoners, whom Don Quixote and Sancho had freed at the beginning of the play, overthrow Murzio’s regime and conquer the castle. They set the prisoners, including Don Quixote and Sancho, free and give Sancho his beloved donkey back (the freed prisoners do not give it back in Cervantes’s text).  Count Murzio is arrested, put in front of a revolutionary court, and sentenced to death by execution; the sentence is supposed to be carried out the following morning.

At this point, Rücker’s Don Quixote tries to mediate the conflict.  He says to his former neighbor and present squire who, as in Cervantes’s text, represents common sense:  “Ich bin glücklich, dass wir hier sind, Sancho.  Mit mir wohnt der Ausgleich hier, der alles in einen versöhnlichen Ausgang leiten und lenken kann, zum Erstaunen und Glück der Parteien.  Wen sollte ich hassen?” / (“I am happy that we are here, Sancho. With me there is compromise here that can lead things to a conciliatory resolution to the surprise and happiness of the parties.  Whom should I hate?”) (47) Afterwards, Don Quixote asks Vermillon, the leader of the revolution, to pardon Count Murzio.  Vermillon reminds him of the crimes that Murzio has committed against the peasants and others; but Quixote goes on to beg for Murzio’s life.

In this struggle between Quixote and the revolutionaries about the question of pardoning Murzio or not, in historical disguise, some of the most important arguments between the two types of communists, the hardliners and the reformists, or, to use the protagonists’ names from Stefan Heym’s famous novel Collin (1979), the Uracks and the Havelkas, are presented.  However, there is one important difference: while Heym’s novel takes sides with Havelka, who represents the open, liberal ‘third-way’ approach (Zachau, 41-56), Rücker’s play argues for the Uracks, the hardliners. The audience of Rücker’s play Der Nachbar des Herrn Pansa is supposed to learn, once and for all, that the traditional hard-line approach is the only correct one and that there could be no alternative to the present totalitarian form of socialism, a form of state that is characterized by the imposition of decisions instead of more consensual policy making.

That the political backdrop of Rücker’s play is the late 1960s is obvious from its contemporary ideological jargon.  As a critic noted, “Das geht bei Rücker bis an die Grenze, wo ein häufig direkt aus heutigen Diskussionen entlehntes Vokabular […] in einen anachronistischen Widerspruch zum überlieferten Habitus der Gestalt gerät” / (“That goes in Rücker’s play to the point where a vocabulary that is borrowed directly from the present discussion […] gets into an anachronistic contradiction to the handed-down characteristics of the figure”) (Linzer 3).

There are also many direct examples indicating that Rücker’s figure of Don Quixote is intended to personify Alexander Dubček.  For instance, with persuasive eloquence Quixote points to the similarity of the new communist regime to the old capitalist and fascist regimes in the sense that both are undemocratic and violate human rights:

Wie schnell ihr euren Feinden ähnlich geworden seid.  Seid in ihre Kleider geschlüpft und ihre Rechtfertigungen, schlaft in ihren Betten, sitzt auf ihren Thronen, sprecht Recht und Tod, als hätte man euch selbst nie zum Tode verurteilt, fragt nach nichts als dem Nutzen, prüft die Mittel am Zweck, nicht am Gewissen, eure Stimme, die, mit ehernen Notwendigkeiten sich entschuldigend, Freiheiten einschnüren und Menschen vernichten kann, spricht leise, man muß auf sie hören, eure Kommandos unterscheiden sich in nichts von den Kommandos eurer Feinde, eure Generale wie alle andern Generale, eure Regimenter, ihre Regimenter, Schlachtordnung wie Schlachtordnung.  Wie schnell seid ihr euren Feinden ähnlich geworden. / (How fast you have come to resemble your enemies.  You have put on their clothes and use their justifications, sleep in their beds, sit on their thrones, judge about law and death as if you never had been sentenced to death yourself, ask for nothing but the benefit, check the means against the ends, not against the conscience; your voice, using the excuse of iron necessities, can constrict civic liberties and destroy people; it speaks softly, one has to listen; your commands do not differ from those of your enemies; your generals are like their generals; your regiments are like theirs; the battle formations are the same.  How fast have you come to be like your enemies.)  (50)

And the expression of “using the excuse of iron necessities” is a reference to orthodox Marxist philosophy, against which Czechoslovak Reform Marxists were protesting during the Prague Spring — with Dubček strongly supporting their proposed changes.

In the end of Rücker’s play, the revolutionaries do not pardon Murzio; however, they give in to Don Quixote’s request to be at least allowed to talk to Count Murzio; he wants to urge him to change, to become more human and just.  During this conversation, Murzio, as can be expected from Rücker’s black-and-white dichotomy, manipulates the naïve knight.  The defeated Count tells Quixote that he plans to take a potion that seems to be poison, but is not; instead, it makes the person who has taken the potion be seemingly dead for three days.  After this time, Quixote and Sancho should open the coffin and let Murzio free.

Interestingly, although it is hinted that the potion has been produced in Peru, the miracle drug is called “die amerikanischen Säfte” / (“the American juices”) (57) instead of the “Peruvian” or at least the “South American” potion.  This wording hints at Rücker’s likely intention to interpret the Prague reform movement as having been infiltrated by the United States.

Moreover, the expression “American juices” maliciously hints at the fact that Dubček’s father had moved from Chicago to Czechoslovakia after World War I with the result that “Dubček was conceived in Chicago, but born after the family relocated to Czechoslovakia” (“Alexander Dubček” 1).  In 1989, in an interview with Andras Sugar that was broadcasted on Hungarian television, Dubček describes how much it had hurt him that the Rude Pravo (the official newspaper of the Communist Party of Czechoslovakia), after his political downfall, maliciously commented on his having been conceived in the United States.  Bitterly, Dubček states, “I have my own opinion of these ideologists who claim that they are Marxists, Leninists, and who knows what.  In my opinion, they are rather base people, they are not civilized…” (Dubček 23).  Commenting on the tacit assumption that the place where he was conceived was a cause for the Prague Spring movement in Czechoslovakia, Dubček goes on to say: “In the next such article, perhaps they will say the following: ‘So here you are, his roots, the roots of his opportunism, his revisionism go back to the United States of America’” (23-4).  No doubt, the example demonstrates that the media of the new socialist regime had become as unethical as the old capitalist media was.

In returning to Rücker’s plot, we find that the potion works as promised.  Three days after Murzio’s funeral, Quixote and Sancho open the coffin and let the count free.  One of his reasons for saving Murzio is Quixote’s belief that people, regardless of what social class they belong to, have the ability to change for the better: “Weißt du, ob er nicht, angerührt durch alles, was geschehen ist, und zuletzt durch deine Milde ein neuer Murzio werden kann?” / (“Don’t you know that he could become a new Murzio touched by everything that has happened and by your clemency?”) (53) Don Quixote’s other justification for helping Murzio is that it also would help the revolutionaries by preventing them from committing a crime of political terror:

Unsere Freunde sind blind geworden gegen alles, was nicht von ihnen kommt.  Wenn diese Leute an die Macht gekommen sind, verengt sich ihr Blick und ihre Fantasie verliert sich. Wir müssen ihnen helfen.  Die Revolution ist gegen die Unterdrückung.  Wenn die Revolutionäre an der Macht sind, und die Unterdrückung hört nicht auf, schadet das der Revolution; dann ist es die Pflicht der Leute, die das wissen, selbstständig zu handeln. Und der Tag ist vielleicht nicht mehr fern, an dem man sagen wird: Die wirkliche Revolution, die wahre Revolution begann heute und hier auf diesem Friedhof.  Und das wird in Büchern zu lesen sein. / (Our friends have become blind against everything that doesn’t come from them.  When these people have taken power, their vision is narrowing and their imagination is getting lost.  We must help them.  The revolution is against oppression.  When the revolutionaries are in power and oppression does not stop, it damages the revolution; then, it is the duty of the people who are aware of it to act independently.  And perhaps, the day is not too far away when they will say: the real revolution, the true revolution started today and here at this cemetery. And this you will be able to read in books.) (77)

The last sentence insinuates that Don Quixote’s humanitarianism would be mixed with vanity and a craving for recognition; what the history books will say about him seems to be more important for him (Dubček) than the well being of his fellow citizens.  However, ironically, it turned out that Rücker’s Quixote was right.  What we read in the history books today is much more positive about Dubček’s attempt to give socialism a human face during the Prague Spring than about his hard-line communist adversaries who crushed his attempt and knocked him out with the words: ”you are a traitor” (Dubček 99).

Murzio, after having been set free by Don Quixote and Sancho, does not spend his time to reinvent himself as a better person, but crushes the revolution with the help of a foreign king who was approaching with his troops.  In other words, in Rücker’s eyes, a compromise is not possible between class enemies; the author clearly calls for preserving the friend-enemy dichotomy of Stalinism.  That means that, according to Rücker, the revolutionaries in the play / the hardliners in the party had been right all along; Quixote / Dubček should have listened to them.

What Dubček concretely meant with his call for political liberalization is expressed in the following statement in Andras Sugar’s interview with the Czech reform politician:

I would say that if somebody is a Marxist, he has to understand that other phenomena, which are non-communist, or which do not comply with the policy of the Party and the state, must also exist.  This has to be.  This is not accidental; it is a rule of natural law.  They have to exist.  So if somebody demands that they should not exist, it means that you have to grab a whip.  But I cannot agree to that. (67)

The metaphor of the whip for using totalitarian measures in a socialist society had been used by Ilya Ehrenburg satirically in his famous novel Julio Jurenito, which was forbidden in the Soviet Union after its first publication in 1922.  In this text, a powerful communist in the Kremlin says to the protagonist: “We are leading humanity towards a better future.  Some people, who find this not to their advantage, are hindering us in every way […].  We must eliminate them, killing one man to save a thousand.” (252) Cynically, he adds:

Others resist us because they cannot understand that their own happiness lies ahead, because they’re afraid of the heavy march, because they cling to the pitiful shadow of last night’s shelter.  We are driving them forward, driving them to paradise with iron whips. (252)

From 1922 (when Ehrenburg’s satire was published) to 1968, forty-six years had passed; it is obvious that Dubček and his fellow reform communists had learned the hard way that the time for “grabbing a whip” was over, once and for all; it had to be over if one wanted socialism to survive.  In his interview with Sugar, Dubček answers the question if during the Prague Spring he had already positively proclaimed “the principle of glasnost.”  Of course he had.  He goes on to state: “This was precisely why the military intervention happened.  Here, within the country, not only were there no counter-revolutionary forces, there were no forces at all that could have endangered socialism” (67). Dubček explains:

If something was endangering socialism – we know very well – it was the dogmatism of Brezhnev!  This endangered socialism, weakened the position of the Party, weakened the parties of the international communist movement, social democracy, the left-wing socialist parties.  And why?  In order to serve a kind of policy which was out of step with the interests of democracy, socialism and the people. (67-8)

In other words, Brezhnev, not Dubček, was out of touch with reality during the late 1960’s; Brezhnev was the Quixote.

In the last scene of Rücker’s play, there are horrible fires everywhere.  While Sancho tells Don Quixote that the soldiers of Count Murzio have set the peasants’ houses, stables, and gardens on fire as a revenge for their uprising against him, Don Quixote sees “Freudenfeuer” / (“bonefires”) (80) instead.  In his blindness to reality, he thinks they have been lit to celebrate the reconciliation between Murzio and the revolutionaries:

Sancho: Sie stoßen die Bauern ins Feuer!

Quijote: Nein, nein, Sancho! Man springt über die Feuer, das ist ein alter Brauch bei Freudenfesten.

(Sancho: They ’re pushing the peasants into the fire!

Quixote: No, no, Sancho! They ’re jumping over the fires; that’s an old custom during celebrations.) (80)

Sancho will have the last word in Rücker’s play: “Es brennt doch wirklich, Nachbar!” / (“There are really fires, neighbor!”) (80); in Friedo Solter’s staging of the work in the Deutsches Theater, Sancho, played by Horst Hiemer, even knocks down Don Quixote, played by Jürgen Hentsch (Linzer 31).

Since Sancho Panza represents the people, this ending suggests that the Czechoslovakian people in the majority would have condemned Dubček as being blind to reality, which is on fire so to speak in 1968.  However, as statistics suggest, the opposite was true; Dubček was enormously popular during the Prague Spring.  The “Publisher’s Preface” to Andras Sugar’s interview with Alexander Dubček says:

In spite of the fact that he represented a discredited communist party, public opinion polls in that year showed that almost 90 per cent of Czechoslovakian citizens backed Dubček.  They supported his program of building democratic socialism, and only 5 per cent wanted a return to capitalism. (8)

Rücker’s play was performed in the Deutsches Theater in 1969, that is, after the troops of the Warsaw Pact-States had crushed the “process of renewal” (Dubček 58) of the Czechoslovakian Communist Party and the nation as a whole.  The Prague Spring was over; Dubček was in the process of being expelled from the Party together with almost half a million other Czech and Slovak party members.  A large wave of emigration was sweeping the country, and there were suicides by self-immolation.  In the GDR at this time, party members were obliged to take a public stand and make declarations of loyalty to the East German state that claimed it had supported the military intervention.  Those who voiced their opposition were silenced.  Robert Havemann, the most renown of the protesters, was punished with an occupational ban and put under house arrest.  Exactly under these circumstances, not during the Prague Spring, but after the other members of the Warsaw Pact crushed it, was Rücker’s play “Der Nachbar des Herrn Panza” staged!  A play that vindictively presented Alexander Dubček on stage as a dangerous fool and sent the dogmatic message that in the situation of class struggle between socialism and capitalism, easing the regime’s strict rules and changing Party-doctrine would be treason.

Rücker’s play strongly refers to the adaptation of Don Quixote by Lunacharsky, who had re-written Cervantes’s story from the point of view of class struggle before Rücker; the plot and main protagonists are similar.  The fact that Rücker’s character of Don Quixote compared to Lunacharsky’s seems to be so simplified that it resembles a caricature, results from two major changes: the motivation for Don Quixote’s liberation of Murzio and the restructured epilogue.  Lunacharsky’s Quixote is – as was Cervantes’s – a knight who thinks highly of courtly love and cannot resist the urge to help a “zartes Wesen” / (“a tender being”) (Lunacharsky 94).  Consequently, Quixote’s main reason for letting Murzio out of his coffin in Lunacharsky’s text is to help the pretty lady Maria Stella, who is in love with the count.  In Rücker’s adaptation, Maria Stella’s role is reduced; the Don helps Murzio for other, mainly political, reasons; this change has Quixote look much less sympathetic and his lunacy seems more dangerous.  Furthermore, in Lunacharsky’s epilogue, Don Quixote regrets that he freed Murzio and wakes up from his delusion that a brutal count like Murzio could become a more just man and ruler.  Disillusioned, he says to Sancho: “Dieses letzte Abenteuer hat mich völlig gebrochen.  Ich fühle eine tödliche Wunde in der Brust meiner Seele” / (“This last adventure broke me completely; I feel a deadly wound in my soul”) (104).  This ending resembles that of Don Quixote in Cervantes’s novel according to which Quixote faces reality and renounces the illusions of knight-errantry.  When the victorious revolutionary Don Balthasar (who has defeated in the meantime the counter-revolution led by Murzio) says in Lunacharsky’s play, “[Wir] werden die Macht des Menschen über das Schicksal erringen, Siegen oder sterben – die endgültigen sind wir” / (“[We] will gain the power of man over destiny; to be victorious or to die – we will have the last word”) (103), Quixote wishes him all the best: “Stolze Worte. Gott gebe es.” / (“Proud words.  God help you!”) (104). In Rücker’s version, to the contrary, such lines are missing.  Don Quixote does not wake up from his madness.  His fantasy that the peasants would have lit bonfires to celebrate the peace under the improved rule of a changed count Murzio shows that he is still as blind to reality as he was in the beginning.

The reason for the East German Rücker’s choice of a much coarser brush with which to paint Quixote might have to do with the fact that the Russian writer wrote the play immediately after the October Revolution, Rücker forty-four years later.  By 1968, the system that had developed in Eastern Europe had become so oppressive that most people saw Dubček who wanted to reform this system as a revolutionary.[4]  This makes sense because he argued that human beings must be free to act as revolutionaries; Breshnev and the leaders of the other Warsaw Pact states appear from this perspective as the reactionaries.  Since the myth of Don Quixote is that of a man who remains caught in the past while the new time is stepping over him, Lunarcharsky’s interpretation of Don Quixote as a counter-revolutionary makes sense; Rücker’s does not at all.  His attempt to teach us with a raised index finger that Dubček was the reactionary and his Soviet adversaries were revolutionaries was absurd and hard to swallow for the majority of theatergoers who still sympathized with Dubček in 1969.

Also East German critics interpreted Rücker’s play and its performance in the Deutsches Theater as a condemnation of Dubček’s reform movement.  One example was Martin Linzer’s review “Der dritte Weg des Don Quijote” / (“The Third Way of Don Quixote”) published in the prestigious Theater der Zeit.  “Der dritte Weg” / (“The Third Way”) was an expression used at the time for denouncing any attempt to reform existing socialism as an endeavor to find a third way between capitalism and socialism.  Linzer compares the play with Lunacharsky’s that was staged at the theater in Magdeburg in 1969 and notes some shortcomings in Rücker’s work.  Nevertheless, he praises the play overall and its performance in the Deutsches Theater and thereby, between the lines, approving of the military invasion of Czechoslovakia and condemning any liberalization trends in GDR society.  The theme of the play, according to Linzer, is the conflict of the “abstrakten und realen Humanismus in den Kämpfen der Klassen” / (“abstract and real humanism in the struggle of social classes”) (31), thus euphemistically calling the aggressive hard-line policy of Breshnev and his comrades “realer Humanismus” / (“real humanism”).

Let us have a closer look at one more of Don Quixote’s statements in Rücker’s play that strongly resonate with Dubček’s point of view:

Aber müssen nicht im Gang der Zeiten welche kommen, die zum erstenmale die Macht, die ihnen gegeben wird, brüderlich verwenden? Nach blutigem Fall in finsteren Zeiten Freiheiten schenken allen? Die so rein sind, daß sich der Schmutzige seines Schmutzes schämt, der Listige seiner List, der Unentdeckte seiner heimlichen Schuld? / (But, over time, shouldn’t there be some people who for the first time use the power that is given to them in a brotherly way? Who after a bloody fall in dark times give liberty to all? Who are so pure that the dirty one is ashamed of his dirt? The deceitful one of his deceit? The one who has not yet been discovered of his secret guilt?) (54)

Quixote’s vision “to use power in a brotherly way” clearly resonates with Dubček’s dream to give socialism a human face. To trace the background of the fact that Dubček in 1968 decided that it was the right time to turn his dream into reality, Williams describes the power struggle that erupted in Prague in late 1967 and its relation to the country’s social condition.  This struggle “resulted from the decision of an important faction of party and state officials to trust the population” (4). According to this faction, the Party had learned over the years that it had to accept that it could “not know or understand everything, and had to allow experts to make decisions” (4). According to the sociologists among those experts, changes were necessary “that would acknowledge and facilitate the shift that was already happening towards a differentiated, sophisticated yet fair and open, industrial society” (Williams 10).  As Williams points out, given the fact that the urban and rural middle classes had been demolished during the years since the communist seizure of power “there was no reason to fear that an anti-communist outlook might find a social basis for political mobilization” (5).  Furthermore, the intelligentsia that was starting to challenge the existing order was, by and large, “a new one, consisting largely of people of working-class origin who had moved up in the world thanks to class war, education, and the patronage of party god-fathers” (5). In other words, Dubček was not a quixotic dreamer but an experienced politician who knew that the majority of the population was in favor of a democratization of society and that there was no reason to fear a counter-revolution.  Rücker distorts this situation to make it fit his purpose of defamation.

Assuming that Dubček would have started a counter-revolution during the Prague Spring of 1968 was part of the vicious “demagoguery” (Dubček 98) of the other party leaders of the Warsaw Pact States after their armed aggression against Czechoslovakia had been successful.  It seems to have hurt Dubček the most that some of his Czechoslovakian associates in the reform movement, under pressure, participated in this demagoguery.  He states bitterly:

They agreed to abolish the Action Program; they adopted the description of the Party leadership as opportunist and revisionist; they adopted all those statements that there had been a counter-revolution, and that “there would have been a civil war if the troops had not marched in” […] and so on and so forth.  All this demagoguery, all this stupidity which they dared to say to the face of this cultured and adult nation is much worse than if somebody spits in your face! (98)

The question must be asked: Is there another possibility to interpret AlexanderDubček as a quixotic figure without denouncing his reform-efforts from a Rückerian / Stalinist point of view as a form of counter-revolution? The answer is yes.  Andras Sugar in his interview with Dubček asked him if he did not expect a military invasion of the Warsaw Pact countries.  He answered: “I did not believe it would happen, for I considered it to be such an extreme solution that it would be a catastrophe not only for us but for the whole socialism” (57).   This remark indicates that Dubček in 1968 was a loyal Marxist who meant well and attempted to help socialism to survive with his plan for democratic reforms in his country.  This is not quixotic.  However, being blind to the monster of Stalinism that was lurking around the corner up to no good is indeed quixotic.  As Dubček said in the interview, he felt that the leaders of Poland and Hungary, who were also members of the Warsaw Pact would not participate in the invasion; and therefore it could not take place.  His reasoning was that “Czechoslovakia is [also] a member of the Warsaw Pact.  The Warsaw Pact cannot pass any resolution; it cannot launch a campaign against a socialist country without that country’s approval” (58).  In other words, Dubček still trusted the other communist leaders completely, at least those from Poland and Hungary, to play a fair game according to the rules of the Warsaw Pact.  From today’s view, this trust was naïve to the extreme.  It was naïve for a man who had known the communist power machine for so many years.  In fact, Dubček’s belief that at least the leaders of Poland and Hungary would play according to the “rules” of the Warsaw Pact and not participate in the illegal invasion of Czechoslovakia corresponds to Don Quixote’s ability to think completely logically within the system of his illusions, but never to question this system.  The other players, Quixote is convinced, would think like him and play according to the system’s rules.  Instead of Quixote’s system of knight-errantry, in Dubček’s case, the system was that of what is known today as real existing socialism.  That he takes these rules (the rules of the Warsaw Pact) at their word and moves straight towards his goal of giving socialism a human face is indeed quixotic.  Dubček behaved in summer 1968 as if there were no Breshnez, Ulbricht, Gomulka, and the others with their powerful military machine waiting at the borders to crush Czechoslovakia!

In retrospect, this element of quixotism in Dubček’s personality and behavior has us looking at him even more sympathetically.  In the interview with Sugar, he says, when “I am moving towards a goal, then I follow my own line” (92).  The obstinacy with which Dubček followed it is, if we follow the romantic approach of Don Quixote that sees Cervantes’s main protagonist more as a hero than a fool, very idealistic.  After Dubček had been silenced in 1969, he worked as a forestry worker in Slovakia.  However, in 1989, more or less twenty years after the Prague Spring had been smashed, he set out for Prague again.  As Don Quixote would set out on his horse for a new adventure, Dubček set out to participate in a student demonstration held to mark the 50th anniversary of a similar student demonstration against the Nazi forces.  “The peaceful event was brutally suppressed by the police and Dubček himself was detained briefly” (“Publisher’s Preface” 2).  After the regime that had humiliated him so much was swept away, Dubček standing on a balcony alongside Vaclav Havel on November 24, 1989, said: “Praguers, I hope you’re glad to see me back….” As a response, “he was given an enthusiastic and emotional reception by an enormous crowd” (“Publisher’s Preface” 2).  Before reading the end of the “Publisher’s Preface” to Sugar’s interview with Dubček, one should think about Don Quixote, not only about his tall and skinny looks, but also how one would imagine the knight had he won the battle with the Knight of the Moon in the end of Cervantes’s novel after he had not expected it anymore to succeed: “This tall, frail figure turning 68 had been overtaken by the events of November 1989, but remained a symbol of popular democracy for Czechoslovakia” (2-3).

To summarize, Rücker’s play Der Nachbar des Herrn Pansa responded to the events in Czechoslovakia in 1968 not by condemning the invasion of that country by the military of the Warsaw Pact States as other East German theater practitioners did, but rather by justifying it.  For his theatrical defense of the party line, Rücker portrays Alexander Dubček negatively as a Don Quixote – a humanist fool whose actions would support the counter-revolution.


Notes
1 Alexander Dubček (1921-1992), First Secretary of the Communist Party of Czechoslovakia, 5 January 1968-17 April 1969.

2 Gustáv Husák (1913-1991), President of Czechoslovakia 1975-1989.  “Supported by Moscow, he was appointed leader of the Communist Party of Slovakia in as early as August 1968, and he succeeded Dubček as first secretary […] of the Communist Party of Czechoslovakia in April 1969 (“Gustáv Husák” 2). He presided over widespread purges of communists who had supported Dubček’s reform plans and reversed policies for the democratization of society instituted by Dubček.

3 Anatoly Lunacharsky (1875-1933) was a Russian revolutionary and writer who became the People’s Commissar of Enlightenment responsible for culture and education in the first Soviet government.

4 An example for the adoration that many East Germans felt for the Czechoslovakian leader, is Brigitte Struzyk’s protagonist Ulla Wasser in the novel Drachen über der Leninallee / (Dragons over the Lenin Alley) (2012) who in September 1969 spontaneously wrote “mit weißer Lackfarbe” / (“with white lacquer”) (104) the name Dubček on the asphalt of her street in East Berlin.  Struzyk goes on to state: “Ihr Herz hatte bis zum Hals geschlagen. […] Nämlich hätte sie einer der Nachbarn beobachtet, wäre sie schon damals in den Knast gekommen, aber keiner sah ihr zu” / (“Her heart was in her throat. […] Because, if some of the neighbors’ had watched her, she would have already been jailed then, but no one was watching her”) (104).

 

Bibliography
“Alexander Dubček.” [Online.] >http://en.wikipedia.org/wiki/Alexander_Dub%C4%8Dek< 28 June 2012

Bradley, Laura. Cooperation and Conflict: GDR Theatre Censorship, 1961-1989.  Oxford: Oxford UP, 2010.

Cervantes, Cervantes Saavedra, Miguel de.  Don Quixote of La Mancha.  Trans. Walter Starkie.  New York: Penguin Books, 1964.

Dubček, Alexander.  Dubček speaks: Alexander Dubček with Andras Sugar.  London: Tauris, 1990.

Ehrenburg, Ilya.  Julio Jurenito.  Westport, CT: Greenwood Press, 1958.

Frenzel, Elisabeth.  Motive der Weltliteratur.  Stuttgart: Alfred Kröner, 1980.

“Gustáv Husák.” [Online.] >http://en.wikipedia.org/wiki/Gust%C3%A1v_Hus%C3%A1k< 28 June 2012

Linzer, Martin.  “Der dritte Weg des Don Quijote: ‘Der Nachbar des Herrn Pansa’ von Günther Rücker am Deutschen Theater.”  Theater der Zeit 24 (1969) 12, 30-31.

Lunatscharsky, Anatoly.  Der befreite Don Quichotte.  Berlin: Volksbühnen- Verlags- und Vertriebs G. m. b. H, 1925.

“Publisher’s Preface” Dubček, Alexander.  Dubček speaks: Alexander Dubček with Andras Sugar.  London: Tauris, 1990, 1-3.

Rücker, Günther.  Der Nachbar des Herrn Pansa. [Manuscript.]  Berlin: Archiv der Akademie der Künste.

Struzyk, Brigitte.  Drachen über der Leninallee.  Hamburg: Fixpoetry, 2012.

Unamuno, Miguel de.  “Sobre la lectura e interpretación del Quijote.”  George Haley. (Ed.) El Quixote de Cervantes.  Madrid: Taurus, 1980, 375-386.

Varela Iglesias, Fernando.  “Realismo e idealismo en la recepción del Quijote.  Una vision pendular.” Klaus-Dieter Ertler, Alejandro Rodríguez Díaz. (Eds.)  El Quijote hoy: La Riqueza de su Recepción.  Madrid: Iberoamericana, 2007, 43-77.

Williams, Kieran. The Prague Spring and its Aftermath. Cambridge: Cambridge UP, 1997.

Zachau, Reinhard.  “The Stasi as the Force of Evil: Collin’s Faustian Struggle with the Stasi Boss Urack in Stefan Heym’s Collin.” German Writers and the Politics of Culture: Dealing with the Stasi.  Eds. Paul Cooke and Andrew Plowman.  Houndmills: Palgrave, 2003, 41-56.

 

 

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Jun 11 2013

Klaus Rainer Goll

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Tagebuch einer Reise aufs Fischland — Auszüge

4. Juli 1983, Montag

 

Meine Reise von Deutschland nach Deutschland. Ich habe keine Vorstellung von dieser Reise, weiß nicht, in welches Land ich fahre, in was für eine Welt. Noch denke ich, die Welt wird sein, wie ich sie kenne. Bei diesem Gedanken bleibe ich ganz gefasst und ruhig, so wie man auf etwas zugeht, das einem vertraut ist. Oder steckt in allem doch die Angst, die man überlistet, indem man ruhig bleibt?

Lina hat für die Reise die wichtigsten Dinge vorbereitet. Aber noch immer gibt es Vieles zu bedenken und zu berücksichtigen.

Für diese Reise gerüstet sein wie für einen Kampf, wie bei einem Aufbruch in ein unbekanntes, fernes Land. Dabei ist dieses Land auch ein Teil Deutschlands. Es ist Deutschland. Aber es ist nicht das Deutschland, das ich kenne, in dem ich groß geworden bin, aufgewachsen, aber es ist das Deutschland, das ich von Kindheit an immer vor Augen hatte: an der Trave.

Und es war immer das Land, das wir zwar sahen, das zum Greifen nah vor uns lag, das aber nicht zu erreichen war. Das war seltsam und gar nicht zu begreifen für uns Kinder: ein Land so nah vor unseren Augen, vor unserer Tür und doch nicht zu erreichen, so fern, so fremd: ein fremdes Land.
Heute nun ist es soweit: Heute fahre ich in das geheimnisvolle Land meiner Kindheit , und das heißt nichts anderes, als dass es das Land ist, von dem uns immer gesagt wurde, das ist auch Deutschland, aber da darfst du nicht hin. Damals nannte man dieses Land noch: die Ostzone. Manchmal sagte man auch nur: die Zone. Oder: russische Zone. Aber das war für uns ein Zungenbrecher, also blieb es bei: Zone.

 

Alte Grenze Schleswig-Holstein /Mecklenburg-Vorpommern Straße in Richtung Ratzeburg/Lübeck

Alte Grenze Schleswig-Holstein /Mecklenburg-Vorpommern
Straße in Richtung Ratzeburg/Lübeck

 

Die Zone: das war für uns Kinder der Blick über die Trave zum anderen Ufer hinüber und auf die sich dort an den Uferhängen erstreckenden Wälder. Manchmal auch die Wachtposten in ihren Verstecken, auf die mit geschulterten Gewehren patrouillierenden Wachsoldaten. Es waren immer zwei, und wir sagten, einer müsse noch den anderen bewachen. Und es sah auch oft so aus, weil einer immer, so sah es aus, einige Schritte vor dem anderen ging, am Ufer, und das Gewehr war so geschultert, als sei es auf den vor ihm Gehenden gerichtet. Eine aufregende Welt für uns Kinder, die diesseits des Flusses im Sand buddelten oder im Wasser schwammen, vor Augen immer das v e r b o t e n e Land, nach dem wir eigentlich unentwegt Ausschau hielten. Jede kleine Regung drüben registrierten wir sofort, und war jemand mit dem Fernglas in der Nähe (vielleicht ein Grenzsoldat vom Bundesgrenzschutz), dann baten wir ihn darum, einmal durch das Fernglas sehen zu dürfen. Wir durften und schauten lange nach drüben, aufs andere Ufer und schauten und schauten und suchten und suchten, und was wir zu finden hofften, waren immer: Menschen. Die Menschen aber, die wir gelegentlich erspähten, waren gewehrbeladene Grenzsoldaten der Nationalen Volksarmee, ganz selten einmal ein Bauer auf dem Acker oder am Ufer, das von Zeit zu Zeit geharkt wurde, vielleicht mit einer Egge, jedenfalls zogen Pferde das Arbeitsgerät. So wurden Spuren gesichert. So wurden Spuren verwischt. Die Glockentöne vom nahen Selmsdorf aber konnte keiner verwischen, nicht einmal der Wind. Sie drangen zu uns herüber – ein Lebenszeichen.

Wir fahren nicht allein in die DDR. Aufs Fischland begleiten uns Marianne und Hubert im eigenen Auto. Durch sie haben wir die ostdeutsche Schriftstellerin Ruth K. kennengelernt. Das war vor einem halben Jahr in Lübeck. Ruth K. lebt in ihrem Haus in Zeuthen, vor den Toren Berlins, der Hauptstadt der DDR. Bei ihrem Besuch in Lübeck hatte sie von mir gehört und wollte mich kennenlernen. In Ahrenshoop auf dem Fischland bewohnt sie ein reetgedecktes Sommerhaus einer Hamburger Familie, wo sie sich regelmäßig und ganz bestimmt in jedem Sommer aufhält. Das Haus hat sie renovieren lassen. Über die wirklichen Besitzverhältnisse, Ansprüche auf das Haus, Wohnrechte und dergleichen kann ich nichts sagen. Was wird werden, wenn … Darüber zu sprechen, wäre zu früh.

Es soll wieder ein schönes Haus geworden sein, in das sie uns eingeladen hat. In dem Haus werden wir für einige Tage ihre Gäste sein. Auf diese Weise haben wir Gelegenheit, die DDR kennenzulernen. Aber, was heißt das schon: Die DDR kennenlernen. Was werden wir kennenlernen — in der kurzen Zeit unseres Aufenthaltes dort.

Ich hätte es mir nicht träumen lassen. Ruth K. ist die einzige DDR – Bürgerin, die wir persönlich kennen. Die Bekanntschaft mit ihr macht diese Reise möglich.

[…] Die Grenzen im v e r b o t e n e n Land sind durchlässiger geworden seit dem Grundlagenvertrag von Willy Brandt, aber menschlicher ist diese Grenze deshalb nicht. Menschliche Erleichterungen hat es gegeben, auf der einen Seite, auf der anderen ist das Netz, in dem man sich verfangen kann, noch engmaschiger geworden. Aber kein noch so eng geknüpftes Netz der Welt hat so enge Maschen, dass nicht doch hier und da etwas hindurchsickert.

[…] Der westdeutsche Kontrollposten fragt lediglich, ob unsere Reise eine Dienstreise sei oder eine private Reise. Privat, sage ich.

Weiterfahrt, nach ca. hundert Metern überqueren wir die Grenze, fahren auf das Gebiet der DDR. Merkwürdiges Gefühl im Magen. Angespannt. Gespannt. Der Kontrollposten liegt noch einige hundert Meter weiter, sehen ihn schon, fahren direkt darauf zu.

Zur linken Seite die Trave, Schlutup links hinter uns, in eine Ecke geklemmt, es ist alles so unwirklich. Zum ersten Mal befinde ich mich auf der Seite jenseits des Flusses, die für uns Kinder damals nur das v e r b o t e n e Land war, ein geheimnisvolles Land, nicht ohne Schrecken und Schönheit. Jetzt also befinde ich mich in diesem Land, und dies Land ist auch Deutschland.

Jenseits der Trave das stillgelegte Metallhüttenwerk, das frühere Hochofenwerk. Die drei alten Hochöfen grüßen schweigend und dunkel herüber wie gewaltig drohende Zeigefinger. Im Hafen liegt kein Schiff so wie damals. Da liegt keine „Gonzenheim“, die Kohle geladen hat oder Eisenerz. Auf diesem Werk hat Vater fünfzig Jahre gearbeitet.

Hinter dem Werk bin ich geboren worden und aufgewachsen, in Herrenwyk in der Silberstraße 1. Dort steht noch immer mein Geburtshaus. Und unweit davon das Badehaus, das zum Werk gehörte und das allen offenstand. Für fünfzig Pfennig genoss ich samstags das Badevergnügen in einer „richtigen“ Badewanne, für fünfzig Pfennig Sauberkeit in der Woche.

 

Grenzstation Lübeck/Schlutup u.a. mit der "Spur 5" im Hintergrund das Hochofenwerk Herrenwyk

Grenzstation Lübeck/Schlutup
u.a. mit der “Spur 5”
im Hintergrund das Hochofenwerk Herrenwyk

 

Wir nähern uns vorsichtig, aber ohne Angst, dem Kontrollpunkt der DDR. Erste Kontrolle: aussteigen, Papiere abgeben, freundliche Begrüßung, aber beschränkt auf das Guten Tag. Ich bringe Ihnen die Papiere zum Wagen, sagt der junge Grenzbeamte mit tonloser Stimme, leerer Gelassenheit. Sie können sich ins Auto setzen. – Warten, ca. fünf Minuten.

[…] Die Papiere werden uns gebracht. Durchgang 5, sagt der Beamte, fahren Sie zum Durchgang 5 weiter.

Der Durchgang 5 liegt ca. 150 Meter vor uns. Wir halten vor einer riesigen Überdachung aus Eisenverstrebungen, neben den Grenzhäusern. Zwei junge Grenzbeamte, ein kleiner und ein stämmiger, größerer, der die Mütze tief im Gesicht trägt und einen sehr militärischen Eindruck auf uns macht.

Tore werden geöffnet und wieder geschlossen, nach jedem Fahrzeug. Die eisernen Geräusche wie auf hohlen Gefängnisfluren. Einzelabfertigung. Das kostet Zeit, und man spürt die verkrampfte, innere Anspannung, das Ungeheure und Befremdende, Bedrückende dieser Grenzsituation, die wir niemals vorher so erlebt haben. Innerhalb der Tore kommen wir uns eingeschlossen vor, wie Gefangene in Drahtkäfigen. Als Kind fühlte ich mich vom v e r b o t e n e n Land ausgeschlossen.

Eine gedämpfte Atmosphäre in der Halle. Manchmal etwas gespenstisch. Man weiß nicht, was im nächsten Augenblick geschieht. Manchmal glaubt man, in der Falle zu sitzen. Merkwürdig. Hin und wieder heulen und brausen Automotoren auf, wenn ein Auto die Kontrolle passieren darf, oder wenn es zur Kontrolle ein Stück vorfahren muss. Während der Kontrolle hat der Motor zu schweigen, auch wir. Die gedämpfte Stille wirkt bedrückend auf uns. Kein Mienenspiel auf den Gesichtern der Grenzbeamten. Sie grüßen, nehmen die Papiere entgegen, gehen, werfen (in einem winzigen Vorhäuschen) die Papiere in einen breiten Schlitz, warten, kommen zurück, nach einiger Zeit, bringen Papiere mit, überqueren unsere Fahrbahn, gehen zur anderen Seite hinüber, auf die andere Fahrbahnseite, wo sich inzwischen fast zehn Autos angesammelt haben, die Richtung Schlutup fahren, dem westlichen Grenzort, Kieler, Pinneberger, Hamburger, Lübecker, wie ich an den Autokennzeichen sehe.

Passkontrolle, anschauen der Personen, Vergleich von Person und Bild im Auto. Der militärisch wirkende Grenzbeamte geht weit in die Knie dabei, hebt und senkt ruckartig den Kopf beim Vergleich der Bilder mit der Wirklichkeit. Die Zeremonie erinnert mich an das Paarungsspiel von Haubentauchern. Ein unbewusstes Lächeln huscht über mein Gesicht, der Grenzbeamte sieht mich irritiert an. Ein Fingerzeig, das Auto darf weiterfahren. In einem Auto bekommt ein Kleinkind auf dem Rücksitz sein Essen. Die junge Mutter ist ganz damit beschäftigt, während der Vater die Grenzangelegenheit mit dem Beamten regelt. Der Beamte öffnet das eiserne Gittertor, lässt das Fahrzeug passieren, verriegelt sofort das Tor wieder. Andere Autos aber müssen die Kofferräume öffnen, auch die Motorhauben. Die Beamten kommen mit Spiegeln und langen Stöcken, mit denen sie in entlegenen Winkeln und Ecken stochern, alles ableuchten, erforschen, auch die Treibstofftanks.

Lina empfindet alles allmählich bedrückend, ich sage, stell dir vor, das geschieht zwischen Deutschen und Deutschen in Deutschland. Lina hat Angst, ich könnte zu laut reden und kurbelt das Autofenster hoch.

Wir werden zur nächsten Kontrolle gewinkt. An der bedrückenden Stille in der Halle hat sich nichts geändert. Unsere Pässe werden kontrolliert. Weiterfahren, zur nächsten Kontrolle: Zoll. Haben Sie Schriftstücke, Bücher, Zeitschriften, Waffen, Munition, Funkgeräte bei sich?
Wir haben nicht.

Der Beamte wünscht uns „Gute Weiterfahrt“.

 

Grenzstation Lübeck/Schlutup u.a. mit der Spur 5

Grenzstation Lübeck/Schlutup
u.a. mit der Spur 5

 

Weiterfahrt. Durch herrliche Alleen, wie wir sie auch bei uns, auf der anderen Seite des Ratzeburger Sees kennen. Die Landschaft ist einzigartig, aber etwas verwildert, nicht so gepflegt. Oder ist sie nur urwüchsig? Die Häuser meistens in äußerst schlechtem Zustand, ohne Farbe, abblätternder Putz. Lina sagt, hier sei selbst das Gras noch grau.

Fahrt durchs Sperrgebiet. Die Äcker links mit hohen Drahtzäunen abgeriegelt. Selbst Hasen gelingt hier die Flucht nicht immer. Selmsdorf. Dassow, Pötenitzer Wiek. Bei Dassow eine dicke, hohe weiße Sperrmauer. Ein grauer steinerner Wachturm. Der Blick aufs Wasser ist verboten, geschweige denn der Weg dorthin. An einer Stelle gelingt der Blick aufs Stülper Huk auf der Westseite, wo ich viele Sommer an der Trave verbrachte und wo auf dem Hügel das älteste Travemünde gelegen haben soll. Perspektivenänderung: Jetzt erlebe ich hier zum ersten Mal den Blick von der anderen Seite hinüber aufs andere Traveufer. Das ist schon eigenartig. Die dicke weiße Sperrmauer, der graue Wachturm – bedrückend. Ein ganzes Dorf eingemauert, abgeriegelt, ein ganzes Land.

Die Bilder vom Mauerbau in Berlin am 13. August 1961 tauchen auf. Es war ein stiller Tag bei uns im Ort, ein Sonntag dazu. Das Mittagessen stand pünktlich auf dem Tisch, als uns die Nachbarin mit etwas verwirrten Worten die Nachricht von den Ereignissen in Berlin brachte.

Zu Hunderten, ja Tausenden waren in den letzten Tagen die Menschen über die offene Grenze vom Ostteil der Stadt nach Westberlin gekommen. Und jeden Tag wurden es mehr. Eine ungeheure, gespenstische Fluchtbewegung. „Der Republik laufen die Menschen weg“, sagte Mutter beim Mittagessen. Was für ein Land muss das sein, dem die Menschen weglaufen, und was wird aus dem Land? Schweigen. Wie die Lücke in einem Satz stand es da, eine Lücke, die das andeutet, worüber man nicht sprechen kann. – Noch nicht. Es war irgendwann wohl Vater, der meinte: „Es könnte das Ende sein.“ Das Ende, dachte ich, könnte das nicht auch der Anfang von etwas Neuem sein? Keiner weiß. Keiner.

Die Stille im Ort änderte sich an diesem Sonntag nicht, aber die Atmosphäre trübte sich, wurde bedrückend. Ängste in der Familie und in der Nachbarschaft wurden geäußert. Ängste, noch ganz unbestimmter Art. Keiner wusste, wie es weitergehen wird, in Deutschland, in Europa, in der Welt. Die ersten Fernsehbilder aus Berlin zeigten die ersten verzweifelten Fluchtversuche und Bauarbeiter, bewacht von Soldaten mit vorgehaltenen Maschinengewehren und Gewehren mit aufgesetzten Bajonetten, die Stein auf Stein eine Mauer errichteten, die auf einmal eine Stadt zerschnitt, auf grausame Weise teilte, Familien voneinander trennte, Menschen, die soeben noch Tür an Tür lebten, die nun aus dunklen Fenstern weiße Taschentücher schwangen, mit denen sie vorher ihre Tränen abgewischt hatten. Sie winkten sich zu mit ihren weißen Tüchern von Ost nach West, von West nach Ost, über die Straßenschluchten hinweg, während Stein auf Stein in Zement gelegt wurde und die Mauer, dieser „sozialistische Schutzwall“ gegen die Feinde im Westen, wuchs, vor ihr und auf ihr der Stacheldraht.

Er erinnert mich immer an die Worte meines väterlichen Freundes, des Schriftstellers Jan Herchenröder: „Wo Stacheldraht gezogen wird, hören die Gespräche auf; wo er niedergelegt wird, beginnen sie wieder.“ Mehr sei dazu nicht zu sagen. Dabei hatte er grausame Zeiten hinter sich. Aus kurzen Vernehmungen nur kurze Zeit nach dem Krieg wurden Jahre der Internierung, nach amerikanischer und französischer Kriegsgefangenschaft, nach russischem Untersuchungsgefängnis in Leipzig (aus unersichtlichen, nie geklärten Gründen), Internierungslager Mühlberg an der Elbe und Buchenwald sowie deutschem Zuchthaus Waldheim in Sachsen – „Stationen menschlicher Dummheit, Stätten der Intoleranz, Stätten des Todes hinter Stacheldraht“ nannte Jan diese Auswüchse von Grausamkeit und Inhumanität, von menschlicher Machtbesessenheit und Machtmissbrauch, verbunden mit gefühlskaltem Wahnsinn. Der Stacheldraht wurde zum Symbol dafür, und bis heute. Wann wird es sein, dass man den Stacheldraht niederlegt, damit die Gespräche wieder beginnen können. Noch immer steht die Mauer, wächst vor und auf ihr der Stacheldraht. Hatte nicht Walter Ulbricht einige Tage vor dem Bau der Mauer, am 15. Juli, mit seiner Fistelstimme noch verkündet, dass niemand die Absicht habe, eine Mauer zu errichten. Spätestens an diesem Sonntag, dem 13. August 1961, wussten alle, dass dies eine Lüge war. Heimlich waren sie gekommen, die Mauer zu errichten, nachts, in der Dunkelheit, als keiner mit ihnen rechnete.

Wir fahren weiter durch das Land, mit sehr gemischten Gefühlen und sehen in den Dörfern Menschen, die nicht lachen, uns nicht zuwinken, aber schauen und uns nachblicken. Hätten  w i r  winken sollen?

 


Fotos:

Leonide Baum (Gadebusch/Mecklenburg-Vorpommern), 1990. Die Bildrechte liegen bei Leonide Baum.

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Jun 11 2013

Michael Speier

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flüchtige balance

 

LE PAYSAN DE NEW YORK (4)

SICHER dass das das jahrhundert der wolken ist?
ihre oberflächen so rätselhaft
wie ihr taktieren gegen die fliehkräfte
lockerer wechsel von zeit und möglichkeit
du siehst sie aus den elendsquartieren
der economy class in vorübergleitenden zügen
von der president‘s lounge wo man duscht
und drinks nichts kosten denkst wolken
(entstanden, schon verschollen)
in denen du deine depression badest
wenn die himmel schließen wolken
birnenförmig oder wie mauern
in szene gesetzt fraktal oder gutgelaunt
nicht fixiert aufs fixieren flüchtige
balance zwischen zerstäuben
und zentrieren (wie das ich) wie dateien
die man nicht wiederherstellen kann
wie die zeit zwischen copy & past

 

DIE EINSCHIFFUNG NACH KYTHERA (1)

NUR EINEN gönner
für diesen gewaltigen sommer
an dessen ende wir stehn
um auf die see zu blicken
die lichte unruhe kräuselt
uns aber kränkt kein bewölktsein
(im sinne von „verrauscht“)
wir leben in ausgeleuchteten räumen
aus landschaft, die macchia polstert die hänge
rasen mit frischem fassonschnitt
die halme gezupft mit der zuckerzange
hier nun die frage was willst du betonen
wenn die terrassen unterm sternbild
des kleeblatts hindurchziehn
und unser leben sei wie wir es uns denken
einer sagt human flourishing
ein andrer oxytocin manche
liegen auf sofas hören musik
singen verstreute bücher papiere
jemand trinkt wein
bald aber müssen wir reisen
versorgt mit italienischen brocken die man uns
(den hyperboräischen hunden) hinwirft
während auf dem tisch der sprache
die silbernen löffel ruhn

 

DIE EINSCHIFFUNG NACH KYTHERA (4)

ICH LAUF die serpentinenstraße
was ist und ist nicht
im sinne von blühen wachsen
was ist umsonst, vergebens kostenlos
zunge sei still, schließe dich mund aber
(ah, dieses aber !) la tua bocca
finden wir uns, finden wir uns ein im sinne von
treffen wir uns wieder? nämlich
von eintreffen oder an einem bestimmten ort
erscheinen, ist es ein einziges ritroviamo? und
„verrauscht“ hat es eine nebenbedeutung
im sinne von gedämpft oder aber
vergangen, aufgehört ? (also smorzato) soll es
redewendung sein? ist es ein denkbild?
sind es privilegien, pinien-gleichungen
ist es wenig fast nichts, und zwar heftigst?
lehne ich mich ins weite, greife ich tief
bin ich forsch, grammatisch, eifrig
beim horten von worten lauf ich
die serpentinenstraße

 

IVY LEAGUE

unverliebt auf einer bank am green
illuminiert die weite fläche vom april
studenten spielten wie junge hunde
im sonnenlicht mit langen schatten, so
begriff ich ein muster verliert seine form
löst sich auf wie in der wärme des frühjahrs
das eis auf den pfützen dann wieder, als sollte
alles erst kommen, der alte gauner der andersheiten
auf bräunlichem gras erschien
der zustand geheimnislos, busse fuhren
nach libanon oder kanaan im kreis ums green
glitten ins gelobte land oder kamen von dort
mit leuchtschriften, stadtplänen, menü-
karten, hotelpapieren und päpsten
an die man sich gewöhnt wie an den
dunst der gedanken über der kopfstadt
an die stimme außerhalb des bildes
die für kurze dauer eins wird
mit dem allerhöchsten geflunker
und dem schrei der spielenden

 

SCHLACHT UM BERLIN (1)

WARUM EIGENTLICH MAN SCHLÄFT wüssten wir gern
warum eigentlich werden daten immer öfter in wolken abgelegt
und im wattigen vakuum eines warteraums am flughafen wir
warum eigentlich berlin gerade wieder kippt
am horizont sein berüchtigtes grau: prognosen
darin abend und morgen verschwimmen
warum aber kurz vor milch dies saugende licht
zwischen berghain und paris bar (das wüssten wir gern)
die eleganz des luftwiderstands wenn man hinaustritt
ins off-ne zwischen hellsinn und herzschaden
nach den mühsam verpassten gelegenheiten
zwischen gläsern und unsagbar törichten augenbädern

natürlich – kann man entgegnen – das liegt an den
ereignissen die verteilen sich nicht gleichmäßig
in raum zeit & musik oder es liegt an den
unbemannten dokumenten mit denen
sie einem die seele rausdrehn
an minier-motten in den kastanienalleen
der ewigen traufhöhe des stimmann

alles ausreden – ist eigentlich es verboten
vergangenheit zu essen oder an piercings
zu rütteln oder den erdenkbarkeiten
wo doch die klimakapseln dahinsurrn
im kleinen ball der neben dem eigenen kopf schwebt
und man nicht weiß warum noch richtung mitte
wo einen weiß und leicht das frühlicht duzt

warum also zerbrechen um aufzudecken
(frangio ut pare facias) dann lieber heim
ins bionaden-biedermeier der bötzow
oder großspurig die frankfurter durchfegt
und wenn die eingeschlossenen fragen
wo bleibt wenck? sag ihnen im tresor
und anderen bunkern wir liegen hier
erschossen herum in diesem augenwinkel
haben das wachsein schon vor sieben
milliarden jahren eingestellt

 

SCHLACHT UM BERLIN (2)

ES GRÜNT SO HERAUS aus dem von morgenlicht durch
sonnten reichstagsrasen zu gleichgültig
um „strahlend“ zu sagen alles einheitlich
und langsam, schmiegsam die frühen
besuchergruppen an den containern
die rein wolln in die kuppel, gescannt werden

sagt nebenan ein herrenhemd wie durch
es sein fleisch haben möchte grüßt geläufig
als wären wir alte freunde (kumpel) da noch einen
nützlichen beitrag leisten zu wollen ist wie eine arie
aus lullys armida gesungen von veronique gens
auf der partymeile in delmenhorst

jeder ist schön oder fast jeder der hier ansteht durch
leuchtet von kategorien des erhabenen
wo hast du nur diese schuhe her, wie geht’s R
wer schläft mit wem im kaufhaus HIER-UND-JETZT
nicht wahr alles gute fragen ohne die wir nichts
sind als ein nichts uns behaupten müssen

 

SCHLACHT UM BERLIN (3)

DAS GANZE INVENTAR deutlich da
unter den zehrenden zerrenden winden
des frühjahrs: irre kichern elfen
gnome trippeln im reigen
man riecht sich durch bis in die tiefe der zeit
die öffentlichen wege nach kyto-art
beharkt von eurojobbern (sie haben das zeug
zu menschen, meint herr s.) vergessen
der blutige ferdinand die kalte sophie
alles bereit zu orgasmischer durchhellung der welt
geöffnet die aphroditen-arsenale
(ihr schönen aus prenzlau und treuenbrietzen)
die stille nur leicht geritzt vom summen kleinster insekten
schon wackelt der erste tourist heran
in jerusalem regnets kräftig karfreitag
den großen stern umblüht der gelbe flieder wieder
antike chöre treten auf wann
geht der erste zug nach süden


Mit freundlicher Genehmigung des Autors aus: Michael Speier: Haupt Stadt Studio. Gedichte, mit einem Vorwort von Michael Braun, Illustrationen von Hans Wrap und einer Komposition von Wolfgang Seierl, Berlin: Aphaia Verlag, 2012 (ISBN 978-3-926677-84-6).

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Jun 11 2013

Frederick Lubich

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Bis ans Ende der Welt: Von der Heidelberger Dichterrunde über das Berliner Café Einstein in die Todesfalle von Timbuktu

Erste Station: Heidelberg

Poesie und Politik mit Revolte und Romantik

 

„Poetry – what was it again?
A portal to bygone emotions”

(Durs Grünbein)

 

 

Bild am Sonntag brachte am 20. Januar 2013 aus politisch aktuellem Anlass unter dem Aufmacher „Wüstenkrieg in Mali“ mit der Schlagzeile „Dieser Berliner in Mali von Terroristen erschossen“ ein Feature mit einem großen Foto des Ermordeten. Er war ein jahrzehntelanger Weltenbummler gewesen, der, wie die Zeitung berichtete, rund hundert Länder bereist und erfahren hatte. Über den Hergang des Attentats hieß es unter anderem:

 

Die Männer mit den Kalaschnikows kamen noch vor dem Abendessen. Sie zerrten die Touristen aus dem Restaurant im Zentrum von Timbuktu, der Hauptstadt Malis. Nur Martin A. aus Berlin wollte nicht folgen. Er wehrte sich gegen seine Entführung. Das war sein Todesurteil.

 

Die drei Touristen, die damals am 25. November 2011 bei diesem Überfall entführt wurden, befinden sich bis heute in der Gewalt der Islamisten. Während die französische Presse damals ausführlich über dieses Ereignis berichtet und auch das Todesopfer beim vollen Namen genannt hatte, war in der deutschen Presse sehr wenig über die Identität des Ermordeten bekannt geworden. In diesem Bild-Bericht stellt sich jetzt heraus, dass der gebürtige Karlsruher Reiseabenteurer auch mit Gerald Uhlig-Romero, dem Besitzer des bekannten Café Einstein Unter den Linden in Berlin Mitte, seit  ihrer gemeinsamen Schulzeit im Internat befreundet war. Uhlig-Romero ist auf Grund seiner mannigfaltigen Kunst- und Öffentlichkeitsarbeit in der deutschen Boulevardpresse als „Kaffeehauskönig“ weit über Berlin hinaus bekannt geworden. Zudem hat er wie kein anderer in den letzten Jahren berühmte Künstler vor allem aus der amerikanischen Welt des Films, der Mode- und Portraitfotografie wie Joel Grey, Dennis Hopper, Richard Gere, Helmut Newton und zahlreiche andere ins Café Einstein gebracht, ihre Werke in seiner angeschlossenen Galerie ausgestellt und somit eine bedeutende transatlantische Brücke zwischen Deutschland und Amerika aufgebaut.

Vieles von der Freundschaft zwischen dem Weltenbummler und dem Kaffeehausbesitzer konnte im Interview mit Bild am Sonntag kaum angedeutet, geschweige denn ausgeführt werden. Da jedoch auch den Autor dieser Zeilen mit beiden eine lange Freundschaft verbindet, kontaktierte mich Uhlig-Romero unmittelbar nach dem Bild-Feature mit dem Vorschlag, über uns drei eine längere Erinnerungsgeschichte zu schreiben. Auch andere Freunde aus jener Zeit fanden diese Idee gut. Also schreibe ich.

Obgleich es uns nach unserer gemeinsamen Heidelberger Zeit in den Siebziger Jahren bald in alle Himmelsrichtungen verschlug, sodass wir uns in drei verschiedenen Kontinenten wiederfanden, sind wir dennoch über die Jahrzehnte in Kontakt geblieben, haben uns immer wieder für längere Zeit besucht und nicht zuletzt auch regelmäßig an verschiedenen kreativen Projekten zusammengearbeitet. Höhepunkt war sicherlich Geralds deutsche Uraufführung von Yoko Onos Musical New York Story, die sich John Lennons Witwe von ihm gewünscht hatte und für die ich dann die deutsche Übersetzung schrieb. Aber das ist schon eine spätere Geschichte aus der zweiten Reisestation im vereinten Berlin.

Folgende Aufzeichnungen stellen eine dreifache Erinnerungsgeschichte dar, nämlich einen persönlichen Nachruf auf unseren ermordeten Freund, eine Schilderung unseres langen, transatlantischen Dreierbundes, und last but not least auch eine Darstellung unserer jugendbewegten Zeit, die in mehrfacher Hinsicht eine moderne Umbruchsepoche repräsentiert, die sich nicht zuletzt in der Sexuellen Revolution manifestiert. Der folgende Text ist ein Vorabdruck von Auszügen aus dem ersten Teil eines Buches, das nächstes Jahr in einem Berliner Verlag erscheinen soll.

Martin und ich lebten zur Zeit seines Todes bereits über dreißig Jahre im Ausland, er in Bangkok, also im fernen Osten, und ich in immer wieder anderen Städten und Staaten Amerikas von New York bis Kalifornien, also im fernen und fernsten Westen. Auf Grund unseres langen Aufenthalts im nichtdeutschsprachigen Ausland war auch bereits unsere deutsche Muttersprache immer wieder von englischen Ausdrücken wenn nicht gar ganzen Sätzen durchzogen. So auch Martins E-Mails von seiner letzten, großen Reise. Seine vorletzte Nachricht stammt vom 6. Oktober 2011 aus Madrid, kurz bevor er mit der Agentur Dragoman, bekannt für ihr Motto „Adventure Holidays“, seine Mega-Tour durch Afrika begann. Darin schrieb er: „ ….jetzt in Madrid, bin ich just zu meiner laengsten overland tour unterwegs: Gibraltar to Capetown, 22 wochen camping, overland: morocco, mauretania, burkina, ghana, togo, benin, nigeria, cameroon, gabun, les deux congo, angola, namibia, u. south africa.“ Bei genauerem Hinsehen erweist sich jedoch Martins detaillierte Auflistung seiner bevorstehenden Reisestationen als äußerst merkwürdig. Er führt systematisch sämtliche 15 Länder in genauer Etappenfolge von Spanien bis nach Südafrika auf, vergisst auch nicht das kleinste von ihnen – und überspringt Mali, lässt es unerwähnt, dieses große Land zwischen Mauretanien und Burkina Faso, das Land, in dem er so bald seinen gewaltsamen Tod finden sollte. Ein oberflächlicher Zufall oder eine tiefere Notwendigkeit?

Betrachtet man Martins Reiseschicksal aus symbolischer Perspektive, so gewinnt es zudem weitere Dimensionen. Mali wurde für ihn zum realen Schwellenland ins irreale Schattenreich. Dieser Blickwinkel lässt sich noch erweitern durch die figurative Bedeutung,  die Timbuktu sowohl in der deutschen wie auch in der englischen Sprache hat. Die Redewendung „All the Way to Timbuktu“ ist im Englischen synonym für die Reise ans Ende der Welt und somit repräsentiert diese Stadt in beiden Kulturen auch einen sinnbildlichen Ort für das Ende der Lebensreise. Und nicht zuletzt verwandelte sich Martins lebenslange Wanderlust in seinen letzten Weltschmerz, den ihm die tödliche Kugel verursachte, genau in jenem Erdteil, in dem die Mutter Erde einst die Menschheit geboren hatte. Die mythische Einheit von Mutterschoß und Todesgrab, hier wurde sie für Martin zum real-symbolischen Ereignis. Entsprechend entpuppt sich denn auch die Stadt Timbuktu als „Frau mit großem Nabel“. Das ist die malische Bedeutung ihres Namens, und dergestalt wird sie zur metaphorischen Mutterstadt des Schwarzen Kontinents, zum bedeutungsschwangeren „Herz der Finsternis“:

 

Timbuktu

Womb and Tomb

Oh Mother Earth, oh Heart of Darkness,

man’s ancient dawn – man’s final doom.

 

Drum zurück in unsere Heidelberger Jugendzeit. Damals Mitte der Siebziger Jahre lernte ich Martin in einer Runde junger Poeten kennen, die sich regelmäßig trafen, um ihre Texte zu rezitieren und bis spät in die Nacht hinein zu debattieren. Martin war Student der Literatur und Philosophie und was einem sofort an ihm auffiel, war seine große Bildung, sein scharfer Verstand und nicht zuletzt sein hintergründiger Humor. Blicke ich heute zurück, so scheint mir seine Gestalt in so mancher Hinsicht geradezu beispielhaften Charakter zu haben. Er verkörperte unseren Zeitgeist, unsere systematische Gesellschaftskritik und unsere Forderungen nach radikaler Freiheit, maximaler Toleranz und konsequenter Selbstverwirklichung par excellence. Und nicht zuletzt sollte er unser Fernweh nach der großen, weiten Welt leben und ausleben wie kein anderer.

Schönheit und Schrecken der Geschichte: Martin und ich hatten im Laufe unseres Lebens auch verschiedene Länder Nordafrikas bereist. Mich faszinierte seit meiner Tour durch Südspanien und Marokko vor allem die spanisch-maurische Kultursymbiose im andalusischen Mittelalter. Ich habe seit dieser Reise auch immer wieder in diesem Bereich recherchiert und publiziert. Schon als Jugendlicher hatte mich die Abenteuerwelt der maghrebinischen Nomaden und insbesondere ihrer Tuareg-Krieger in ihren Bann geschlagen. Was sich mir aus der Lektüre über ihre Kultur und Geschichte vor allem in der Erinnerung eingeprägt hatte, war ihr Brauch, im Haschischrausch ihre Raub- und Eroberungszüge durchzuführen. Das englisch-französische  Wort „assassin“, auch das hatte ich mir gemerkt, hatte seine sprachlichen Wurzeln in dieser berauschenden Substanz. Welche Ironie des Schicksals, dass unter Martins Mördern die Nachfahren meiner mittelalterlich-maghrebinischen Helden waren.

Auf seinem letzten, fast einwöchigen Besuch im Spätherbst 2010 war Martin guter Dinge. Ich hatte ihn eigentlich noch nie so im Einklang mit sich selbst gesehen. Er kam auch immer wieder ausführlich ins Plaudern und hat unter anderem viel von den musikalischen  Bildungserlebnissen seiner Kindheit und Jugendzeit erzählt. Mich interessierte das sehr, doch so konnte ich andrerseits meine eigenen jugendlichen Bildungserlebnisse, genauer, meine metaphysischen Schauergeschichten kaum an den Mann bringen. Martin, ich bin sicher, wir hätten uns an so Manchem gemeinsam erschaudern können. Drum will ich dir hier einiges kurz nacherzählen. Meine frühe Kindheit war sehr heimelich und glücklich. Unheimlich begann es mir erst zu werden, als ich von meinen katholischen Religionslehrern mehr und mehr von der ewigen Verdammnis erfuhr. Es hieß, es gälte sich ganz besonders vor allem Gespaltenen zu hüten. In anderen Worten, vor dem huf- und zungengespaltenen Fürst der Finsternis und seiner zwielichtigen Unterwelt. Er war der Meister der sieben Todsünden. Sein bevorzugtes Einfallstor war das schöne, verführerische Weib. Allein schon die Ahnung ihrer zauberhaften Geheimnisse, die wirre Sehnsucht nach ihren wonnigen Wundern konnte, so hieß es immer wieder, furchtbare Folgen haben. Oh schlüpfriger Sündenpfuhl ins bodenlose Verderben, oh welch schlechtes Wissen und noch viel schlechteres Gewissen rund um die Leiber dieser ewig lockenden Teufelsweiber. Bald war mir klar, dass ich auf immer und ewig verloren war. Der Weg war vorgezeichnet: Vom irdischen Jammertal direkt in die Folterkammern der brennenden Höllenwelt. Keine Frage, aus heutiger Perspektive war ich ein idealer Kandidat für eine exemplarische Fallstudie zu ekklesiogenen Neurosen.

Spätestens während meiner Pubertät fiel jedoch dieses mittelalterliche Jenseitsjoch ab wie ein zerbrochenes, gründlich vermodertes Mühlrad. Umgekehrt tauchten jedoch zur gleichen Zeit mehr und mehr Bilder aus einer sehr diesseitigen Schreckenswelt auf, nämlich aus dem Höllenreich des Holocaust. Es waren Horrorvisionen wie aus dem perversen Pandämonium eines spätmittelalterlichen Höllen-Brueghel. So war der Topos der „verkehrten Welt“, der für die deutsche Schauerromantik des neunzehnten Jahrhunderts so bezeichnend ist, schließlich in der Mitte des zwanzigsten Jahrhundert grauenhafteste Wirklichkeit geworden und hatte das einstige Land der Dichter und Denker in ein Reich grausamer Richter und blutiger Henker verwandelt. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, diese Zeile aus Paul Celans „Todesfuge“ war in den siebziger Jahren für uns schlechterdings zur negativen Nationalhymne geworden.

„Memories of Heidelberg are memories of you”, trällerte Peggy March damals durch Jukeboxen und Hitparaden. Als Amerikanerin hatte sie gut singen. Wir Nachgeborenen des Dritten Reiches wollten raus aus den deutschen Erinnerungen. Martin hatte es da schon besser, er war links- und rechtsrheinischer Abstammung. Aber vielleicht war das ja nur noch schlimmer, hatte er doch gewissermaßen die blutige Erbfeindschaft unserer beiden Nationen bereits in seinem deutsch-französischen Halbblut – folgte man den Volksvorstellungen unserer Vorväter. Auf jeden Fall war er in beiden Sprachen und Kulturen bewandert und bildete dergestalt für mich auch eine wandelnde Brücke ins schöne Paris und sonnige Südfrankreich. Denn dort hatte ich, kaum dass die Gymnasialzeit hinter mir war, meine erste Freundin gefunden und mich dabei nicht nur in sie sondern auch in die Provence, ihre wunderschöne Heimat, verliebt. Doch wie sich bald herausstellte, war auch sie keine richtige Provencalin im Sinne der kultureller Verwurzelung und ethnischer Abstammung. Catherines Mutter war eine marokkanische Sephardin und ihr Vater stammte aus dem seinerzeit noch österreichisch-ungarischen Czernowitz. Und bald sah ich auch die Tätowierung an seinem Arm. Das Brandmal von Auschwitz. Mein geliebtes Mädchen, sie war eine Verschonte der deutschen Massenmörder. Ein Schreibtischfehler im System der „Banalität des Bösen“. Hallo, Hannah Arendt, da kann der Teufel nur lachen!

„Dein blondes Haar, Margarete, dein aschenes Haar, Sulamith“, so der Kehrreim der „Todesfuge“ Celans, des wohl berühmtesten Czernowitzer, der in diesen Zeilen im Namen der Geliebten Salomons noch einmal das „Hohe Lied“ auf die Liebe heraufbeschwört, und somit für einen Augenblick die Todesklage in ihr Gegenteil verkehrt. Die Geschichtsgroteske der „verkehrten Welt“ sollte schließlich in unserer eigenen Liebesgeschichte vollends ad absurdum geführt werden. Denn wir beiden verdanken sie letztendlich dem Führer und seiner grenzenlosen Gewaltherrschaft. Denn ohne den systematischen Völkermord des Dritten Reiches und ohne die extensive Völkerverschleppung nach seinem Zusammenbruch wären sich unsere Eltern nie begegnet.

„Don’t trust anybody over thirty“, dieser Spruch der Flower-Power-Kids der amerikanischen Woodstock Generation wurde für uns Deutsche, die nach dem zweiten Weltkrieg geboren wurden, zum Fanal gegen das Vaterland unserer Väter schlechthin. „Make Love not War“, das war unser Schlachtruf gegen eine Elterngeneration, die sich als Mitläufer, Handlanger und Vollstrecker am größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte schuldig gemacht hatten. Infolge dessen wurde der Spruch „Das Politische ist das Persönliche“ zum Motto der damaligen Studentenrebellion und ihrer sich zunehmend radikalisierenden außerparlamentarischen  Opposition. Für so manchen von uns war der nationalsozialistische Größenwahn der Väter zur narzisstischen Wunde ihrer Söhne geworden. Entsprechend erhofften wir uns nicht nur vom Studium der Literatur und Philosophie Antworten auf unsere Fragen, wir suchten auch in den Disziplinen der Psychologie und politischen Wissenschaft weitere Aufklärung. Und letztendlich waren es unsere eigenen Texte, mit denen wir uns zu verstehen und zu erklären versuchten. Streng genommen widersetzten wir uns mit unseren poetischen Experimenten obendrein Adornos Verdikt, dass nach Auschwitz keine Gedichte mehr möglich seien. Und er war schließlich eine der letzten Autoritäten, auf die unsere anti-autoritäre Generation noch hörte. Aus der Perspektive unseres Frankfurter Schulmeisters war also unsere Heidelberger Dichterrunde zudem ein suspekter Zirkel.

 

 

Martin, Herbert und Thomas in Martins Wohnung in Heidelberg

Martin, Herbert und Thomas in Martins Wohnung in Heidelberg

 

Heidelberger Poeten

Vergesst Des Knaben Wunderhorn, Stabreim und Skandieren,

Martin hol dein Megaphon, wir gehen demonstrieren.

 

Das waren die Reime unserer Sponti-Sprüche, die Rhythmen unserer politischen Poesie. Von den zahlreichen Demonstrationen der damaligen Zeit ist mir besonders die große Protest-Aktion  gegen die Fahrpreiserhöhung der Heidelberger Straßenbahn in Erinnerung geblieben. Hinter dieser Maßnahme steckten natürlich auch wieder Väter, in diesem Fall Stadtväter und – ultima ratio – Vater Staat, also einmal mehr das ganze, korrupte Patriarchat. Zudem war die aufgebotene Bereitschaftspolizei mit ihren martialischen Wasserwerfern ausgerechnet aus Göppingen, meiner schwäbischen Heimatstadt angerückt. Also galt es einmal mehr Farbe und Flagge zu zeigen. Ich kann mich gut erinnern, wie Martin damals auf einen besonders engagierten Randalierer deutete und dabei die Vermutung äußerte, dass es sich bei ihm möglicherweise um einen „agent provocateur“ handeln könnte, also um einen vom Staat bezahlten Lockspitzel. Wer immer er war, ich fand mich wenig später mit mehreren anderen auf der Flucht vor den aufbrausenden Wasserwerfern – „die Polizei, dein Freund und Helfer“! – auf der Kellerstiege eines alten Hauses wieder, wo ich in einem Knäuel hinuntergepurzelter Revoluzzer gelandet war. Nachdem sich der Haufen einigermaßen berappelt hatte, begann er sich mehr oder weniger kaputtzulachen. Jedenfalls waren wir alle in diesem chaotisch subterranen Moment in unserem besten, solidarischen Element.

Es dauerte nicht lange, so führte Martin auch Gerald in unsere Poetenrunde ein. Mit seinen dichten, dunklen Haaren mit den eingefärbten blonden Strähnen, seiner großen, hageren Gestalt und seinen dramatischen Gesten erschien er uns bei der ersten Begegnung eher wie ein verwegener Hasardeur aus dem glamourösen Hollywood, der sich in unser verwinkeltes Alt-Heidelberg verirrt hatte. Jedoch bei genauerem Kennenlernen gab er sich zusehends als ein schillernder Doppelgänger von Hugo von Hofmannsthals Tor und Tod aus dem Jungen Wien um 1900 zu erkennen. Bald stand er denn auch als Todgeweihter in Hofmannsthals exemplarischem Jugendstil-Schauspiel melancholisch auf der Theaterbühne. Im Rückblick gibt sich dieses Szenenbild als eine ominöse Vorwegnahme jener tödlichen Erbkrankheit Morbus Fabry zu erkennen, die zwei Jahrzehnte später brachial in ihm ausbrechen sollte und ihm fast das Leben gekostet hätte, wäre sie nicht im letzten Moment erkannt worden. Aus dieser Perspektive geben sich die rätselhaften Zustände, die ihn schon damals in Heidelberg heimzusuchen begannen, in der Tat als frühe Vorzeichen dieser unheilbaren Krankheit zu erkennen. So hielt der Tod ihn bereits damals in der Kunst wie im Leben zum jugendlichen Narren.

In Phasen, in denen Gerald frei von seinen morbiden Symptomen war, entfaltete er sich umso mehr. Oft war er ein wahrer Felix Krull wie er bei Thomas Mann im Buche steht. Dessen Romanfigur vergleichbar gab er sich besonders gern als artistischer Gaukler und charmanter Hochstapler, der mit seinen Energien und Phantasien die Menschen zu bezaubern verstand.

 

 

Gerald in der Heidelberger Studentenbude des Autors

Gerald in der Heidelberger Studentenbude des Autors

 

Schau

ich bin ein

Mauerschauer

und ein Berliner

Traumschlossbauer.

 

Noch herrscht das Wintermärchen

aus kaltem Krieg und Stacheldraht

und zwischen einer hohen Mauer

Deutschlands zerrissene Hauptstadt.

 

Doch mir träumte, es käme der Frühling,

gefallen die Mauer, zerronnen der Schnee,

die Stadt erblühte zum Sommermärchen

und überall roch es nach frischem Kaffee.

 

Im Grunde seines Wesens war dieser romantische Traumtänzer jedoch ein klassischer Stürmer und Dränger, ein ruheloser Wiedergänger des Goethe’schen Prometheus, dessen „heilig glühend Herz“ noch einmal die „Grenzen der Menschheit“ überwinden wollte, um es den Göttern gleichzutun. „Bedecke Deinen Himmel, Zeus ….!“ So hatte Goethes Originalgenie dem Olymp entgegengerufen. Jahrzehnte später schien es, Gerald hätte sich selbst die Abrechnung auf seine Götterbestürmung ausgestellt, heißt es doch in seinem Gedicht „Himmel“ aus seinem Bild- und Gedichtband Alphabet der Fische

 

„ich bin der gott

der vom himmel

zur erde verramscht wurde.“

 

Das ist der Hochstapler als Tiefstapler, der sarkastische Ikonoklasmus eines prometheischen Multitalents, das sich im Laufe der Jahre nicht nur einen Namen als Sänger und Schauspieler, Regisseur und Performance Artist, sondern auch als Dichter und Maler machen sollte, dessen Texte in den renommiertesten deutschen Publikationsorganen wie etwa der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gedruckt wurden und dessen Gemälde in Ausstellungen von Berlin bis Brasilien zu sehen waren.

Schon in Heidelberg gründete Gerald eine Schauspieltruppe mit dem bezeichnenden Namen  „Hoch- und Tiefstapler“. Ich war bei ihren artistischen Veranstaltungen auch schon mal hinter der Bühne für die Hell-Dunkel-Effekte zuständig. Ausgerechnet ich, dem in der Tat schon ein einziger Schaltknopf beträchtliches Kopfzerbrechen bereiten konnte. Viel lieber hantierte ich mit Bleistift und Papier und kritzelte meine eigenen Verse fürs poetisch-politische Kabarett. Erst unlängst hatte ein letzter Freund aus jener Heidelberger Runde bei sich zu Hause ein altes Flugblatt aufgestöbert mit dem Titel „Chanson Abend mit Gerald Uhlig“. Angekündigt wird darauf  „Lyrik und Prosa noch lebender und schon toter Freunde“, wobei neben dem toten Freund Jacques Prevert nur noch Martin und ich namentlich genannt werden. Martin figuriert als „alter Leidensgefährte Uhligs aus den gemeinsamen Internatstagen“ und ich werde als „armer Student der Germanistik und Anglistik“ identifiziert. Was die neuesten Leiden des junge Martin betraf, so hieß es damals in unseren Kreisen, er wäre so unglücklich wie leidenschaftlich in die hübsche, lebenslustige Schwester Geralds verliebt.

Während Gerald in Heidelberg begann, sich im Schauspiel zu profilieren, fing ich an, mich mit der Schreibkunst zu amüsieren. Nebenbei inszenierten wir uns auch immer wieder mit Freunden zu theatralischen tableaux vivants, die wir in fotografischen Sequenzen festhielten. Sujets aus der Kunstgeschichte wurden dabei meine liebsten Vorlagen. Zu ihnen gehörte auch Carl Spitzwegs ikonisches Gemälde „Der armer Poet“, das schon seit meiner Gymnasialzeit zu meinen Lieblingsbildern zählte. Sein zwiespältiges Dachbodenglück, welches das einstige Scheitern des Jungen Deutschlands sowohl zu beklagen als auch zu verklären schien, wurde mir in meiner Heidelberger Zeit zum romantisch-rebellischen Passepartout für mein eigenes oft so widersprüchliches Lebensgeschick.

 

Der Autor als armer Poet

Der Autor als armer Poet

 

Vive la poésie

A la recherche du temps perdu …

 

Auf den Spuren der französischen poetes maudits, von Arthur Rimbaud zurück zu François Villon bis zu den maurisch-provenzalischen Trouvères und Troubadours und über die  staufischen Minnesänger wieder voran direkt zum rheinisch-französischen Heinrich Heine, Deutschlands poetisch-politischem Emigranten par excellence, köstlich und unverwüstlich, seine freche Poesie und seine romantische Ironie. Und obendrein war ich in meiner Heidelberger Studentenbude sicher auch noch besser aufgehoben als er in seiner muffigen Pariser Matratzengruft.

Doch während ich hier oben auf dem Trockenen saß, schwelgte ganz bestimmt irgendwo das große, alles berauschende Nass. Quellende Bewusstseinsströme, wellende, wogende Weltenmeere, Gesang der Geister über den Wassern, Sirenengesänge und sinnlich-übersinnliche Sphärenklänge. Die poetische Realität sah jedoch damals ganz anders aus: „Alltagslyrik“, „Neue Subjektivität“, so lauteten die lyrischen Tendenzen jener Jahre. Ein Glück, dass der gute, alte Adorno das nicht mehr erleben musste. Und statt theoretischem Überbau nur noch introspektive Nabelschau. Ich hingegen, ich wollte die weite Welt, die schöne, verführerische Frau Welt. Wollte neue Lieder schreiben, das Liederliche hörbar machen, es allen Empörten unter die Nase reiben, alle Schlüpfrigkeiten dieser Erde heraufbeschwören und auch noch den Tod zum Leben und zur unsterblichen Liebe betören. Salve Eros! Vivat Thanatos! Es galt nichts weniger als das Versepos der sexuellen Revolution zu komponieren und zwar so, bis alle Kirchenmauern ekstatisch vibrieren und alle Osterglocken nur noch frohlocken von Händels Hymnen zu Paganinis Vivaces, von Ravels Bolero bis zu Frank Zappas G-Spot-Tornado … remember, my friends  … “Music is your only friend, until the end …“ (Jim Morrison).

 

Und das in ewiger, weltenseliger Wiederkehr,

denn kommt man erst einmal in Fahrt

ist Herkunft hin und Zukunft her

letztlich alles Avantgarde.

 

Sollten sich diese poetischen Zukunftspläne zerschlagen, so wäre zumindest ein alltäglicher Lebenswandel in bohemienhafter Impertinenz immer noch bei weitem besser als diese bürgerliche Beamtenexistenz, in der man vom Kultusministerium als pünktlicher Pauker ein Leben lang Schulstund für Schulstund einer Horde pubertierender Rabauken zum regelmäßigen Unterricht vorgeworfen wird. So ein freies, höheres Leben auf dem Dachboden wäre zudem bestimmt auch ganz im Sinne der Frankfurter Schule. Ja, es wäre in der Tat das einzig richtige Leben im damals so oft beschworenen „falschen Leben“, die komplette Verweigerung jeglicher Fremdbestimmung, in anderen Worten, die konsequente Selbstverwirklichung jenseits aller gesellschaftlichen Zwänge und ihrer spätkapitalistischen Verblendungszusammenhänge! So der Originalton unserer ideologiekritischen Spekulationen, so das rhetorische Rüstzeug für den „Langen Marsch durch die Institutionen“! Letzterer war das große, subversive Polit-Projekt, unsere maoistisch-leninistische Projektion zur systematischen Unterwanderung der gesamten, westlich imperialistischen Zivilisation. Und kam einer im solidarischen Gleichschritt mal wieder aus dem richtigen Tritt – trotz Ernst Jandls Erkenntnis: „lechts und rinks kann man nicht velwechsern“ –, dem bot John Lennons Lied „Imagine“, die große Internationale des New Age, die nötige Bein- und Bewusstseinsfreiheit und nicht zuletzt mir die endgültige Rückversicherung  „ No hell below us, above us only sky“!

Poesie und Politik, Religion und Revolution, so manches davon war auch reine psychologische Kompensation. Das konnte man schon bei Sigmund Freud nachlesen. Siehe zum Beispiel Das Unbehagen in der Kultur. Wir vom anderen Geschlecht haben uns zwar auch schon immer wieder mal gegenseitig herumgekriegt, aber bereits nach kurzer Weile setzte auf der einen oder anderen Seite die schleichende Langeweile ein. Also dann schon lieber träumen, die ganze Wirklichkeit so richtig vom Grund aufschäumen … Denn oft ist die Realität recht einerlei und nur die Gedanken sind wirklich frei. So mein Fazit zur grauen Alltagslyrik.

 

Und die Zeit verrinnt

Tag um Tag und Jahr und Jahr,

und ewig bleibt im Dunkeln,

was einmal kommen wird,

was einmal war.

 

Weltenfrust und Wanderlust: Wenn es uns in den Kneipen und Gassen von Heidelberg zu eng wurde, dann fuhren wir mit Martin auf die Herrenalb im Schwarzwald, wo seine Familie Grundbesitz hatte, und schweiften stundenlang durch die Wiesen und Wälder. Hier in dieser Bergwelt war auch das Revier eines ganz anderen Martins, nämlich des berühmt-berüchtigten Martin Heideggers, des ruhelosen Poltergeistes von Todtnauberg. Wer weiß, vielleicht war er ja immer noch unterwegs auf den Holzwegen des holpernden „Seins“ und seines stolpernden „Geworfenseins“.

 

Heideggers Hüttenzauber

Heideggers Hüttenzauber

“Die Sprache ist das Haus des Seins”

So lehrte es der Denker und Deuter von Sein und Zeit, der es bis heute versteht, die letzten französischen Existentialisten und amerikanischen Dekonstruktionisten mit seinem teutonisch-philosophischen Radebrechen zu beindrucken. Nur die jungen Heidelberger Poeten, sie machten sich lustig über den Schwarzwälder Bergpropheten.

 

Oh dunkles Orakel der richtigen Richtung

hinan in das Licht der höheren Lichtung,

und überall die wegweisende Spur,

man schaue in diesem Bilde nur

 

die zwei pädagogischen Zeigefinger,

sie deuten gar anschaulich darauf hin,

das Sprachhaus ist des Geistes Zwinger

und sein direkter, didaktischer Sinn.

 

Einer von uns hat den Bogen schon raus,

der andere freilich rührt noch im Trüben,

ihm ist das Zeigen ein richtiger Graus,

man sieht es, er muss noch gehörig üben.

 

Doch zurück nach Alt-Heidelberg: Auch Joseph von Eichendorff hatte längere Zeit in dieser Hochburg der deutschen Sehnsucht verweilt. Mit seiner märchenhaften Taugenichts-Erzählung und seinen naturschwärmerischen Wandergedichten ist er wohl bis heute der bekannteste Vertreter der deutschen Romantik geblieben. Allein schon sein Name evoziert das Bild einer ländlich begüterten Heimatidylle. Zudem lag auch noch das Heimatdorf meiner mährischen Mutter nur wenige Kilometer von Sedlnitz entfernt, wo der schlesische Freiherr sein Sommerschlösschen hatte. Schon als Schulmädchen hatte sie von ihrem Partschendorf aus diesen Ort besucht und die Eiche im Schlossgarten bewundert, unter welcher Eichendorff gedichtet hat. Ein Leben lang konnte sie nicht mehr aufhören, von dem Sänger ihrer verlorenen Heimat zu schwärmen. Und so klang denn auch mir schon seit Kindheitstagen dieser Dichtername in den Ohren. Schließlich konnte ich ihn kaum noch hören. Als die Rockmusik dann lärmend die Weltbühne stürmte, schien endgültig Feierabend mit dem andächtigen Lauschen auf des Dichters fernes Waldesrauschen.

Jedoch das Verdrängte, es kehrt bekanntlich wieder. Nur wenige Kilometer hinter dem einstigen Sedlnitz lag das Städtchen Freiberg, der Geburtsort von Sigmund Freud, dem Gründervater der Psychoanalyse. Er sollte später in Wien die Traumwelt, die Eichendorff einst so sinnenselig verdichtet hatte, in seiner berühmten Traumdeutung wieder auf ihre seelischen Ursprünge in der Kindheit zurückführen. Hier also sind die romantischen Wurzeln der modernen Seelenkunde, des therapeutischen Verfahrens, die verschütteten Kindheitsdramen und Familienromane wieder ins erwachsene Bewusstsein zurückzurufen. Altheimatlich gewendet: Die einstigen Ortsnamen Sedlnitz, Partschendorf und Freiberg sind die heutigen Wegstationen Sedlnice, Bartoŝovice und Příbor. Das sind die slawischen Bezeichnungen der jetzigen Tschechischen Republik, also Wörter eines Idioms, das den deutschsprachigen Mähren schon immer fremd, in anderen Worten böhmisch erschienen waren. Ahnung und Gegenwart heißt Eichendorffs erster Roman und wenn man so will, dann verschlüsselt er auch die Träume meiner mährischen Vorfahren. Hier war die Welt der Ahnen, die verlorene Zeit mit all ihrer ahnungsvollen, seelisch-traumhaften Vergangenheit.

Jahrzehnte nach meiner Auswanderung in die Neue Welt, als ich immer öfter in die Alte Welt zurückkehrte, tauchte denn auch Eichendorff immer häufiger aus der jugendlichen Versenkung auf. In letzter Zeit begann ich mir gar einzubilden, dass so manche seiner Gedichte mir geradezu aus der Seele und auf den Leib geschrieben seien. Allen voran

 

„Schöne Fremde“

Es rauschen die Wipfel und schauern,

als machten zu dieser Stund

um die halbversunkenen Mauern

die alten Götter die Rund.

 

Man kann sich gut vorstellen, wie der romantische Poet vor der Ruine des Heidelberger Schlosses steht und seinen Blick in die Weite schweifen lässt, bis sich seine nächtliche Weltschau zur prächtigen Himmelsvision verdichtet:

 

Es funkeln auf mich alle Sterne

mit glühendem Liebesblick,

es redet trunken die Ferne

wie von künftigem, großen Glück.

 

Im Rückblick scheint mir, Eichendorffs so doppeldeutige „Schöne Fremde“ sei geradezu mein eigenes, romantisches Lebenslied geworden. Nicht nur hatte ich mich bereits bei meiner ersten Liebe in die „Schöne Fremde“ verguckt, in Heidelberg hatte ich dann – ganz der Folklore dieses Städtchens folgend – endgültig mein Herz an eine weitere „Schöne Fremde“ verloren. Und das Hals über Kopf.

 

 

 

 

 

„Schöne Fremde“

„Schöne Fremde”

 

„Hello, I love you …

won’t you tell me your name?”

 

Das Dunkel ihrer großen Augen, ihr verheißungsvolles Lächeln, bevor es in ihr strahlendes Lachen ausbrach.

 

„Hello, I love you …

Let me jump in your game …

 

She’s walkin’ down the street,

blind to every eye she meets.

Do you think you’ll be the guy,

make the queen of the angels sigh?”

(The Doors, “Hello, I love you”)

 

Wie herrlich ihre braunen Glieder, umweht von leicht beschwingten Kleidern, wie fröhlich tanzende Liebeslieder. Oh schöne, wunderbare Welt, und ich, ihr armer, verliebter Poet, zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt,

 

bin fast blind vor lauter Liebe,

kann kaum singen, kann kaum sehen

und will nur im schönen Augenblick

auf immer und ewig untergehen.

 

Mein „künftiges, großes Glück“, wie Eichendorff es in seinem Gedicht besungen hatte, es war in der Tat aus weitester Ferne, nämlich aus San Diego, der südlichsten Stadt Kaliforniens. Und sie schien ganz wie ein „California Girl“, grad so wie die Beach Boys sie in ihren überschäumenden Liedern umjumbelten.

Ihre strohblonde Mutter war österreichisch-skandinavischer Abstammung und ihr sonnendunkler Vater stammte aus den südlichen Regionen Italiens und obwohl Kalifornien sein Geburtsland war, sprach er als erste Muttersprache immer noch Italienisch. Auf diese Weise stellte mein kalifornisches Mädchen eine geradezu perfekte amerikanische Mischung europäischer Nationen und Kulturen dar. Passend dazu hatte sie einen nordischen Vornamen, der ihrer Mutter zufolge „Wasserfall“ bedeutet und einen italienischen Nachnamen, der übersetzt ebenfalls nichts anderes meint als „vom Wasser“. Oh Ahnung, oh Gegenwart…

 

Oh Traumverlorene, oh Schaumgeborene

a dream come true

out of the sparkling Ocean,

out of the deepest Pacific Blue!

Good vibrations and great temptations,

but would she remain and always be

my “Black Magic Woman”,

my “Gypsy Queen”.

my manifest

destiny?!

Zufall oder Notwendigkeit?

Ein Traumbild nur aus Raum und Zeit?

In any case,

whatever is true,

whatever is beautiful,

here is to you

Lynne

the love of my life

ma Bella Donna

you are the one,

you are my Venus,

reborn

out of the

Age of Aquarius.

My California Girl – My American Dream

”You make me real,

you make me feel like lovers feel.”

 

So hörte ich immer wieder Jim Morrison von drüben herübersingen, diesem trunkenen Dionysos aus dem kalifornischen Los Angeles. Und dann ist er in seiner Pariser Badewanne ertrunken. Mein großes Idol.

„Turn on, tune in, drop out“, so flötete ein anderer unternehmungslustiger Amerikaner, nämlich Timothy Leary, der ausgestiegene Drogenprofessor und trippende Rattenfänger von Harvard. Sein Buch The Politics of Ecstasy wurde so manchem von uns zum mystagogischen Manifest. Obwohl die Elixiere des Rausches in unseren Kreisen immer in Reichweite waren, brauchten wir sie im Grunde genommen gar nicht. Wir waren berauscht genug vom Wunder des Lebens und dem Zauber der Liebe. Unsere Weltanschauung, das war der dauernde Höhepunkt, die Wiederverzauberung der modernen Welt – allen Kassandrarufen Max Webers von der „Entzauberung der Welt“ zum Trotz. Wir wollten Hölderlin auf Adrenalin, seine euphorische Ode auf das romantische Heidelberg seiner Zeit samt dem Höhenrausch unsrer rebellischen Wirklichkeit. Kurzum, wir wollten Highdelberg, geradeso wie es auf Aufklebern in Heidelberger Headshops zu lesen war … „Girl, we couldn’t get much higher“ … Jim Morrison, I hear you, stoking the fire!

„Du der Vaterlandstädte Ländlichschönste …“ Ich hör dich wieder, begeisterter  Hölderlin! Welch herrlicher Ausblick vom Heidelberger Philosophenweg. Und drunten, auf der anderen Seite des Neckars, vom mittelalterlichen Marstallhof durch den dunklen, verrauchten Kakaobunker bis zum efeuumrankten Hexenturm hört man überall ein zukunftsschwangeres Gemunkel. Und abends in den Tavernen, im Cave und Whiskey à Go Go, überall ein muntres Geflunker und kunterbuntes Geschunkel. Welch schöne, verführerische Welt! Wer in diesem

 

schwofend-schweifenden Hin und Her

noch immer keine Reime schreibt

und keine Lieder zusammenreimt,

der tut es nimmermehr.

 

Manche unserer poetischen Höhenflüge – samt ihrer literarischen Abstürze – kann man auch heute noch in erhaltenen Texten nachlesen. Man muss sich nur vorher gut anschnallen. Ob himmelhoch jauchzend, ob zu Tode betrübt, wir feierten unsere Manien und Depressionen auf Engel und Teufel komm raus. Mindestens einen unserer Seiltänzer haben wir dabei allerdings schon früh verloren. Er machte sich bald aus freien Stücken auf in jene andere Welt, aus der, wie es heißt, niemand mehr wiederkehrt. Andere von uns – und zuletzt Martin – sollten ihm ebenfalls viel zu früh und sicherlich nicht freiwillig folgen. So lebt zum Beispiel von den drei Poeten auf dem ersten Foto heute keiner mehr.

„Magical Mystery Tour“. Timothy Leary hat das „Magische Theater“ aus Hermann Hesses Roman Steppenwolf als idealen Reiseführer ins Seelenreich der Weltenträume entdeckt. Für manchen von uns waren damals psychedelische Eskapaden auch nur die Einstiegsdroge zu immer größeren Tramp-Touren kreuz und quer durch Europa. Rausch als Reise und umgekehrt! Unsere surrealen Trip-Poeme und satirischen Polit-Tiraden publizierten wir unter anderem in den von uns mitbegründeten Heidelberger „Straßentexten“ sowie in mehreren anderen Literaturzeitschriften im süddeutschen Raum. Aus der Resonanz in der Szene blieb mir lediglich in Erinnerung, dass ich für irgend so eine regionale Rockband Texte schreiben sollte. Stattdessen erschienen einige meiner poetischen Produkte auf dem Wiener Chanson-Album Der Kinderkönig von einem jungen unbekannten Sänger namens – Gerald Uhlig. Unser vielbegabter Kunststückstapler.

Gerald hatte in jener Zeit am renommierten Max-Reinhardt-Seminar in Wien sein Studium der Schauspielkunst und des Kulturmanagements begonnen. Für seine erste Schallplatte ließ er unter anderem Martins und meine Gedichte vertonen und trug sie dann in ironischen Anklängen an die ganze Wiener Morbidezza von Hofmannsthal bis André Heller pracht- und  schmachtvoll vor. Einer meiner Texte auf dieser Platte lautete „Duft der großen, weiten Welt“ und war eine Parodie auf die damals populäre Filterzigarette Camel. Sie begann mit dem Aufgesang:

 

Das Leben ist wie eine Zigarette,

die Seele atmet ihr Nikotin

und qualmt in einer ewigen Kette,

süchtig nach einem tieferen Sinn.

 

Gerald travestierte meine dekadente Parabel recht jovial mit dem kabaretistischen Refrain „Wir gehen meilenweit im Stil der neuen Zeit … oh frohen Herzens genießen“ und schloss mit meinem moribunden Abgesang:

 

Und die Gräber sind die Aschenbecher

für die abgebrannten Kippen,

ins Jenseits eingebrannte Löcher,

veräschert die einst roten Lippen.

 

Das war unser Wiener Requiem aus Schall und Tabakrauch. Zu jener Zeit fanden wir das gut, zumal wir beide, der arme Poet und sein singender Interpret, damals selbst mehr oder weniger nikotinsüchtige Kettenraucher waren. (Ein Vierteljahrhundert später bekam ich für das ganze Gequalme die medizinische Quittung: streuender Zungenkrebs.)

Doch zu jener Zeit war ich noch mit Leib und Seel ein stilbewusst schmauchendes Filter-Kamel. Dergestalt zog ich hinaus in die weite Welt, beziehungsweise fuhr mit dem D-Zug die Donau entlang bis nach Wien, um dem singenden Kinderkönig in der alten Habsburg-Metropole meine Aufwartung zu machen. In gewisser Weise war es auch eine nostalgische Heimkehr, denn dort hatten um die Jahrhundertwende schon meine zwei Großväter dem letzten Monarchen als königlich-kaiserliche Soldaten gedient. Bestimmt hatten auch sie sich dabei zwischen Prater und Burgtheater in so manch „süßes Mädel“ verguckt. Vor allem mein Großvater mütterlicherseits, der zeitlebens ein großer Liebhaber der Wiener Tradition von „Wein, Weib und Gesang“ gewesen ist, war für solche Ausschau gern zu haben. Ich weiß es, denn er war auch noch im hohen Alter ein rechter Venusnarr, der sich an der weiblichen Schönheit nicht sattsehen konnte. „Die holde Weiblichkeit“, so lautete das Leitmotiv seines oft intonierten Lobgesangs. Doch letztendlich hielt auch er das christliche Streben, die katholische Andacht vor der holden Gottesmutter, für den sichersten Weg ins Ewige Leben.

Wiener Verwandtschaften: Es hatte sich bald herausgestellt, dass auch meine „schöne Fremde“ insgeheim ein „süßes Mädel“ war – trotz all ihrer transatlantischen Mischkulanz. Auch ihr Großvater mütterlicherseits stammte aus der alten Habsburger Kaiserstadt. Als junger Bursch hatte er jedoch dort eine sozialistische Veranstaltung besucht und musste danach bei Nacht und Nebel vor den Gesetzeshütern der monarchischen Ordnung ins Ausland fliehen, immer weiter, bis er schließlich in der Neuen Welt gelandet war. So zumindest erzählte er es seinen dortigen Nachfahren. Auf alle Fälle traf nun auch seine Enkelin wenige Tage nach meiner Ankunft in Wien ein. Und so waren wir beide wieder zurückgekehrt in die Welt der Ahnen, in die Kaiserstadt ihrer Jugendträume. Jessmarntjosef, was sollte jetzt aus uns werden! Drei Wiener Großväter! Die erwarteten von uns bestimmt den Himmel auf Erden. Genau so war das damals. Oder so könnt‘ es zumindest gewesen sein. Aber vielleicht bildete ich’s mir auch nur wieder mal ein. Tatsache blieb, im zeitlosen Weltenrund waren auch unsere drei alten Jung-Wiener ein nostalgisch metaphysischer Männerbund.

Nur der vierte Großvater tanzte aus der Reihe. Er war der Italiener, dessen Muttersprache in Bruchstücken auch noch in seiner kalifornischen Enkelin weiterlebte, denn sie hatte einen Schwung italienischer Redewendungen samt einiger Kinderreime von ihrem Vater übernommen. Es war jedoch der Glanz ihrer dunklen Augen, in dem der ganze Zauber Süditaliens, der uralten Heimat ihrer mittelmeerischen Vorfahren, noch einmal so wunderbar aufleuchtete. Die Welt ist mein Augenzeuge. Und ganz blind bin ich ja auch nicht.

 

Das Licht der Augen,

wie sie leuchten und funkeln,

und wie sich alles im Lichte dreht,

ehe alles wieder im ewigen Dunkeln,

im endlosen Nichtsein

untergeht.

 

Aber bevor dies alles wieder sang- und klanglos versinkt, wäre auch noch Cyndi Lauper als Zeugin zu zitieren. Auch sie ist eine amerikanische Halbitalienerin, und so kennt sie sich in den entsprechenden Familientraditionen bestens aus:

 

“Oh daddy dear,

you know,

you are still number one,

but girls, they want to have fun!”

 

Commedia dell‘ Arte und Wiener Volkstheater. Diese zwei Traditionen vereinte meine Habsburger Heimkehrerin auf wunderbare Weise, sah ich sie so fröhlich tanzen, lustige Gesichter schneiden und mit mir durch die Wiener Altstadt strabanzen. Und stimmte mal wieder die kalifornische Schwingung, dann kam sie so richtig in kakanische Stimmung, wurde zur böhmischen Komödiantin, zur venezianischen Pulcinella und passionierten Venusvagantin, warf sich vergnügt in kecke Posen, hüllte sich in Wunderblusen sowie aus bunten Pluderhosen, kurzum sie war

 

zu jedem süßen Mädelstreich

gut aufgelegt und gern bereit,

jedoch, ich sag’s am besten gleich,

hier schweigt des Sängers Höflichkeit.

 

Nur dieses noch:  Herrlich war sie, ganz famos, und der gute, alte Teufel, ja wo steckte der den bloß?! Nur du und ich, wir beide … und Schubidu und Tandarei … unter den Linden auf der Heide … oh Spielmann, oh Spielfrau … eh ich’s vergesse … das Glück der Liebe, die Kunst der Lieder, sie sollen steigernd sich vereinen zum Rausch der Sinne, zum Klang der Glieder … So wollten es schon die Minnesänger auf der Walz durch die weite Welt, ebenso die Stürmer und Dränger durch Berg und Tal und Wald und Feld. So ahnten und wussten es schon immer der Mond und die Sterne in ihrem nächtlichen Schimmer und so weiß es die Königin der großen Nacht in ihrer funkelnden Himmelspracht, mit der sie das Weltall strahlend durchschauert, zur Freude all jener, die weltentrunken, all jener mystischen Euphoriker und allen voran die

 

Wiener Philharmoniker

Mit ihren schwelgenden Walzergeigen

wogen sie donauselig dahin und daher,

Wien wird ein wiegender Liebesreigen

und Nachtmusik wird Weltenmeer.

Was bleibt

ist eine schöne Muschel

an einem fremden Strand,

ein leises, rauschendes Getuschel

und Sternenglanz und Meeressand.

Und

im Kaffeehaus

„Unter den Linden“

rühr ich in leeren Tassen

und such die verlorene Zeit zu finden,

um sie noch einmal in Worte zu fassen.

 

Theatrum Mundi: Eine Tragikomödie. Der unbestrittene Meister dieses theatralischen Wechselspiels ist unser Hofmannsthal’scher Tor- und Todesheld. Ich kenne wenige Menschen, deren Mienenspiel im Stimmungswechsel solch emotionale Extreme widerspiegelt, wie das bei Gerald der Fall ist. Die zwei Bildbände zum Café Einstein, die den raschen Aufstieg des Kaffeehauses zu einem kulturellen Zentrum Berlins illustrieren, bringen dieses Schauspiel in zahlreichen Fotos auch immer wieder zum Ausdruck. In jener Zeit wurde es zudem noch weiter dramatisiert durch die wachsende Agonie des in seinem Körper immer rabiater ausbrechenden Dämonen Morbus Fabry.

Doch damals in Wien war Gerald noch ganz der übermütige Felix Krull, das „Glückskind“ und der „Kostümkopf“, wie er bei Thomas Mann im Buche steht. Im Grunde waren wir alle mehr oder weniger Spielfiguren im Spielraum zwischen Realität und Phantasie. Geralds Selbstinszenierung schloss zum Beispiel einen Zigeuner, wenn nicht gar einen Zigeunerbaron mit ein, den er in seiner Ahnengalerie ausfindig gemacht haben wollte. Wurde er überschwänglich, dann war es ein Kinderspiel, sich seine kreative Euphorie mit dem Crescendo eines Zigeuner-Zymbalons melodramatisch noch weiter auszumalen. In Wien konnte man solche  Vorstellungen aus der Luft greifen. Während Geralds Zeit am Max Reinhard Seminar war auch noch Jean Louis Barrault, die Éminence Grise des französischen Films, in der Wiener Theaterwelt aktiv, und so ist es gut möglich, dass dessen berühmter Film Les Enfants du Paradis auch für den Albumtitel Der Kinderkönig direkt oder indirekt Pate gestanden hat. Wie dem auch sei, als der mögliche Nachfahr eines Pusta-Primas auf den Spuren eines pikaresken Pseudo-Aristokraten Thomas Mann’scher Provenienz hatte er genug Edelmut und blaues Schauspielblut, um sich spielerisch zum Kinderkönig aufzuschwingen. Und unsere drei nostalgischen Patriarchen, die Großväter aus der Jahrhundertwende, sie hatten in ihm ihren musikalischen Mogel-Monarchen. Auf diese Weise verbummelten wir unsere Zeit in Wiener Kaffeehäusern und Künstlerkneipen, zogen durch laue Sommernächte von Theaterstück zu Theaterstück und wer  Ohren hatte zu hören, dem war der Himmel über Wien mal wieder eine einzige Nachtmusik. Oder man hätte auch sagen können:

 

„Schläft ein Lied in allen Dingen,

die da träumen fort und fort,

und die Welt hebt an zu singen,

triffst du nur das Zauberwort.“

 

Das war Eichendorffs magische Weltformel, die sich in unserer Generation zu verwirklichen begann wie nie zuvor. Die Jugendbewegung der Sechziger und Siebziger Jahre entfaltete sich bekanntlich als ein internationales Kulturphänomen, das von einer einzigartigen musikalischen Schwarmintelligenz getragen war. Eine bunte Schar von Musikern aller Gattungen verwandelte unsere Lebensgefühle immer wieder in erregende Rhythmen und bewegende Melodien. „In the Summer Time, when the Weather is High“ von Mungo Jerry war zum Beispiel eines dieser Lieder, das den Zeitgeist jener flitternden Sommerzeit einfing wie einen Schwarm flatternder Schmetterlinge. Wir hatten die Gruppe damals live in Südfrankreich erlebt. Open-Air-Konzerte, das waren High-Time-Happenings. Und immer wieder besangen Pop- und Rocksongs diese Hoch-Zeit zwischen dem Woodstock-Festival und dem Beginn der Aids-Epidemie als einen langen, sorglosen „Summer of Love“.  Das Leben, es war ein farbenfroher Wanderzirkus, grad so wie die amerikanische Vagantentruppe The Living Theater es in ihren Schauspielen vorführte. Ihr bekanntestes Theaterstück hieß „Paradise Now“. And that was our daily destiny: Eden forever, from here to eternity!

Gerald mit Lynne und Lisa

Gerald mit Lynne und Lisa

 

Geralds Lisa war sogar eine richtige Vollblut-Wienerin und so hatten wir beide gleich zwei „süße Mädel“ aus der „schönen Fremde“. Hier auf diesem Bild waren wir gerade bei Catherine in der Provence, meiner ersten Sommerliebe, wo wir für ein paar Tage Zwischenstation gemacht hatten. Auch sie hatte längst einen neuen Geliebten und so hieß es rundum

Bienvenue

Welcome, Willkommen!

 

Und das mit weit offenem Hemd in heroisch-galanter Manier, grad so wie ein französisches Musketier. Offenherziger konnte man zur Welt und ihrem Welttheater nicht einladen. Und da diese lockende Welt letztendlich eine Offenbarung des Verborgenen ist, ein irdisches Gleichnis für das ewig verhüllte Sternengeheimnis, geht der fesche Bursch unseren zwei braven Mädeln mit gutem Beispiel voran:

 

Oh bon chance, mon Delacroix,

bon chance

avec ta liberté

sur les barricades,

oh honi soit qui mal y pense.

 

Auf gut Deutsch,

 

Welch Erdenglück und Sonnenglanz

im schönen Schauspiel der Frau Welt

und ihrem bezaubernden Schleiertanz.

 

Entrez Mesdames, entrez Messieurs, voilà „Life is a Cabaret“, so lautet eine Maxime des  Amerikanischen Traums. Sie stammt sicherlich aus der Welt der Revue-Shows rund um den Broadway von Manhattan. Dort auf der Upper Westside sollten wir schon wenige Jahre später fast ein ganzes Jahrzehnt leben.

Das Mienen- und Maskenspiel der Weltenbühne und ihrer Lust- und Trauerspiele, in den Gesichtern der Menschen sind ihre Theatertexte auf vielfache Weise eingeschrieben:

 

„Masken, Masken, dass man Eros blende,

wer erträgt sein strahlendes Gesicht…“

 

So lauten die ersten Zeilen von Rilkes Gedicht „Eros“. Diese Verse erinnern mich an den jungen Gerald und unsere zwei süßen Mädel. Immer wieder sah ich in ihren schönen Gesichtern dieses strahlende Aufleuchten, das Rilke im Verlauf des Gedichts als den Anfang eines „namenlosen Schauders“ beschreibt. Mein Gott! So konnte man in solchen magischen Momenten ausrufen, und es war sicherlich nicht die Anrufung des christlichen Gottessohnes oder seines mosaisch donnerzornigen Gottvaters. Es war Eros, der heidnische Liebesgott der arkadischen Antike und ihrer panerotischen Sonnenwelt. Thomas Mann hatte in seiner Novelle Der Tod in Venedig in der jugendlichen Figur Tadzios die mythische Lichtgestalt des Eros-Gottes evokativ und schließlich explizit heraufbeschworen und Luchino Visconti hatte sie in seiner Verfilmung durch einen bildhübschen, ephebisch-androgynen Schauspieler auf kongeniale Art und Weise verkörpern lassen. So wie die Filmkritik den Hollywood-Komödien von Ernst Lubitsch den sogenannten „Lubitsch-Touch“ zugeschrieben hat, so könnte man von Viscontis Eros-Visionen den „Tadzio Touch“ ableiten. Zudem scheint mir diese erotische Epiphanie nichts anderes zu sein als die antik sinnliche Reinkarnation der katholisch übersinnlichen Madonnenvision.

Vom Stoßgebet zum Lobgedicht. Ersteres war angesagt, wenn in meiner jugendlich mittelalterlichen Schreckenszeit mal wieder der Teufel an die Tür klopfte. Später ließ sich dieser christliche Brauch des Heulen und Zähneklapperns gut umfunktionieren in die orphische Tradition des Rühmens, so wie es Rilke in seinen Sonetten an Orpheus vorgeführt hatte. Als Beispiel für meine Preislieder kann vielleicht das damalige Gedicht „Das Leben soll leben“ herhalten, nicht zuletzt auch deshalb, weil es eine recht persönliche Nachgeschichte hat.

 

Das Leben soll leben, soll überleben,

hier, jetzt, nicht irgendwann, irgendwo,

Gott hat mir darauf sein Wort gegeben,

nimm mich beim Wort, ich will es so.

 

Das war der letzte Vierzeiler in einer langen Reihe von Strophen, die unsere Lebensreise als eine Achterbahn durch Raum und Zeit, Zukunft und Vergangenheit beschreibt. Ich hatte dieses lyrische Karussell seinerzeit in Heidelberg Gerald regelrecht auf den Leib getextet, ihm zudem das Gedicht gewidmet, und die Heidelberger „Straßentexte“ hatten es in ihrer zweiten Ausgabe dann auch mitsamt der Widmung abgedruckt. In späteren Jahren, als wir uns regelmäßig in Berlin wiedersahen, hat Gerald diese Zeilen immer wieder rezitiert, vor allem, als wir mehr oder weniger glaubten, dass der Tod uns zwei Toren so schnell doch noch nicht haben konnte. Wir zwei waren dem Sensenmann anscheinend tatsächlich noch einmal von der Schippe gesprungen. Mich zum Beispiel hielten Mediziner nach meiner zweiten Zungenoperation vorerst für kuriert und so streckte ich entsprechend Schnitter, Tod und Teufel

 

zu ihrem schwarzromantischen Graus

frisch und frech und fröhlich frei

meine geheilte Zunge heraus.

 

Und auch Gerald ließ sich nicht lumpen und gab der Welt, was sein Überleben anging, umfassend Auskunft: Und dennoch lebe ich – Mein Kampf mit einer rätselhaften Krankheit. So heißen seine Morbus-Fabry-Memoiren, die vor wenigen Jahren auf den Markt kamen und seitdem nicht nur in den Medien sondern auch in diversen Ministerien immer wieder Beachtung und Aufmerksamkeit finden. Und wieder die langen Diskussionen und dieses Mal ist es der lange Marsch durch die gesundheitspolitischen Institutionen und immer rund um die gestundete Zeit und wie man‘s auch dreht und wie man’s auch wendet, immer kürzer wird die Strecke unserer Vergänglichkeit.

„Wir gehen meilenweit …“ Als die Lieder des Kinderkönigs im Herbst 1977 auf den Markt kamen, waren einige von uns allerdings schon über alle Berge. Martin war nach West-Berlin gezogen, wo er sich unter anderem in der jungen Literaturszene engagierte, doch bald zog er weiter nach Bangkok, wo er bis zu seinem Lebensende vorwiegend leben sollte. Und auch ich war noch im gleichen Jahr vor der deutschen Wirklichkeit ausgerissen, genauer, vor dem drohenden Ende der Studentenzeit und ihrer unwiederbringlichen Narrenfreiheit. Ich brauchte mehr Zeit, ich brauchte mehr Raum, und so suchte ich das Weite im vielberufenen amerikanischen Traum, im großen Land der Freiheit und seiner unbegrenzten Möglichkeiten – den Bedenken aller Frankfurter Schulmeister und ihrer Heidelberger Nachdenker zum Trotz. Und das im entschiedenen Alleingang, denn insgeheim bin ich auch Friedrich Schiller, diesem freiheitsliebenden Schwaben, beziehungsweise seinem hochgesteckten Hochzeitsziel gefolgt: „Drum prüfe, wer sich ewig bindet ….“.

Wie bald habe ich diesen langweiligen Ratschlag bereut und gewünscht, ich hätte auf die Stimme meines Freiherrn aus der Welt jenseits der böhmischen Wälder gehört. Hatte er doch sein Gedicht „Heimweh“ ausdrücklich mit dem Hinweis begonnen:

 

„Wer in die Fremde will wandern,

der muss mit der Liebsten gehn.“

 

Vielleicht konnte Eichendorff die Reue seines narrischen Ausreißers und schicksalsblinden Taugenichts nachempfinden. Jedenfalls war ich mit der „Liebsten“ bereits ein halbes Jahr später im weihnachtlichen New York und seinem verschneiten Hinterland wieder glücklich vereint. Von dort aus zogen wir schon im folgenden Sommer weiter in den fernen Westen, in anderen Worten, in die verheißene „schöne Fremde“ am kalifornischen Ende der sogenannten Westlichen Zivilisation, dort, wo Städte und Straßen  Namen tragen wie „Arcadia“, „Paradise“ und „Camino del Cielo“.

„At first flash of Eden, we race down to the sea“, so hießen uns die Doors willkommen mit ihrem Lied „Waiting for the Sun“. Und als sie über dem „Golden State“ aufging von La Jolla in San Diego bis zur „Golden Gate Bridge“ in San Francisco, da war es sonnenklar: „California Dreamin‘“, das war der Traum von Amerika auf seinem absoluten Höhepunkt. The Mamas and Papas von San Francisco hatten ihn in eine wunderbare Hymne verwandelt, welche die rockenden Rhythmen der rollenden Brandung und die rauschende Energie ihrer wogenden Wellen einfing wie keine andere kalifornische Melodie. Ein halbes Jahrzehnt sollten wir an dieser vielbesungenen Westküste der Neuen Welt verbringen und in Städten wie San Diego, San Francisco und Santa Barbara leben, ehe wir schließlich wieder an die Ostküste zurückkehrten. Nie mehr stand die Sonne so hoch am tiefblauen Himmel wie in diesen letzten Jahren unserer langen, weltverbummelten Jugendzeit.

Kaum hatten wir uns in Kalifornien einigermaßen eingelebt, stand auch schon Martin mit seinem Freund Harald vor der Tür. Über die Sierra Nevada waren sie gekommen. Hatten nach langen Tramp-Touren die Halbwüsten von Texas, New Mexico und Arizona hinter sich gelassen, um sich schließlich zwei Wochen bei uns von ihren Strapazen zu erholen. Was für zwei ungleiche Weggefährten! Während der erste gern grübelte, sprudelte der zweite nur so vor Lebensfreude. Für Martin schien damals noch Schopenhauers pessimistische Weltvorstellung die philosophische Bestätigung für eine insgesamt missratene Wirklichkeit zu sein. Adorno und vor allem Hegel versprachen jedoch potentielle, wenn nicht gar auf lange Sicht utopische Weltverbesserung . Das kritisch systematische Durchdenken ihrer dialektischen Geschichtsphilosophie war Martin jedenfalls auch noch nach dem Studium weiterhin wichtiges, intellektuelles Exerzitium. Dass er ohne die Bücher seiner großen Vordenker reisen musste, war ihm Grund zu wiederholter Klage. Heimweh nach Heidelberg. Dort standen zumindest die gesammelten Werke griffbereit, und hier waren sie so unendlich weit. Ebenso die Dichterrunden rund um die verrauchten Mitternachtsstunden. Und nicht zu vergessen, die ganze deutsche Romantik mitsamt ihrer bundesrepublikanischen Rebellion … Oh gute Revoluzzerzeit, oh alte Burschenherrlichkeit!

 

Ein letztes Prosit, ein letzter Spontispruch

vielleicht wird ja alles noch einmal wahr

als sentimentales Erinnerungsbuch.

 

Jedoch damals in Santa Barbara galt noch immer der Ruf der Romantik, der Lockruf der Ferne: Auf zu neuen Ufern.

Martin, mon cher – au bord de la mer! Selbst noch am sonnigen Strand schien er im Kopf kulturphilosophische Probleme zu wälzen. Wie er so nachdenklich in schwarzen, hochgekrempelten Klamotten durch die Brandung stakte, erinnerte er mich an Gustav Aschenbach in Tod in Venedig. Visconti hatte solch Mann’schen mis en scènes noch weitere musikalische Glanzlichter aufgesetzt, vor allem in dem bewegenden, elegisch euphorischen Adagietto aus Gustav Mahlers fünfter Symphonie. Jahrzehnte später sollte auch noch unser Kaffeehauskönig diese kalifornischen Impressionen mit einem passenden Poem bereichern:

 

“der strand

ist der ort

des letzten aufbegehrens

der welle

vor ihrem tod.“

 

„Welle“ heißt dieses Gedicht aus der Sammlung Alphabet der Fische. Glaubt man an Reinkarnation, dann war Gerald bestimmt ein Fisch in einer früheren Inkarnation. Seitdem ich ihn kenne, war er vom Wasser angezogen und kaum am Meer angekommen, stürzte er sich regelrecht in die Fluten, als erkannte er wieder sein ursprüngliches Element und wollte so schnell wie möglich heimkehren in den großen Meeresmutterschoß. Gremium matris terrae nennen die Kulturanthropologen der matriarchalen Mythografie diese schöpferische und unerschöpfliche Unterwelt der archaischen Großen Mutter. Vielleicht war er ja nur zurückgekehrt, um auch einmal das Alphabet der Menschen, die Buchstaben ihrer hohen Bildung – und bodenlosen Barbarei – zu erlernen und zu erfahren. Auf alle Fälle war er ein unentwegter Wassermann und somit ein berufener Herold des am fernen Meereshorizont aufziehenden „Age of Aquarius“.

Von dieser meeresmythischen Erscheinung gibt es auch ein sprechendes Lichtbild – allerdings ex negativo. Als Gerald uns Mitte der Neunziger Jahre anlässlich des Yoko-Ono-Projekts in Amerika besuchte, fuhren wir an einem Nachmittag mit noch anderen Freunden zusammen an den grauverhangenen Atlantik. Es war Ende November und als Gerald in seinem langen Mantel weit von uns entfernt so allein am stürmischen Meerestrand stand, da erinnerte er mich sehr an das Gemälde „Mönch am Meer“ von Caspar David Friedrich. In diesem tableau vivant ahmte mal wieder das Leben ein Kunstwerk nach. Zudem war es ein Sinnbild vom Fisch aus dem Wasser, dem die glückliche Rückkehr verwehrt ist. Hier war kein Jubelsprung ins nasse, erfrischende Element möglich. Vielmehr stand Gerald, ein frostiger Hagestolz, erstarrt am kalten Meeresstrand.

Genau besehen ist Geralds Bild an der Ostküste ein winterliches Spiegelbild zu Martins sommerlicher Promenade an der Westküste. Es sind Bilder und Einbildungen, die Vergangenes erneut vergegenwärtigen und verlebendigen. Während Gerald schon ganz vermummt am eisigen Atlantik steht, und Martin in schwarzer Existenzialistenkluft noch nachdenklich durch die schäumende Brandung des Pazifik geht, vergnügt sich schon der Rest von uns  – „in the summer time when the weather is high“ – frei nach Adornos Minima Moralia ganz ohne Kleider und moralischen Anstand im rauschenden Wasser und tuschelnden Dünensand. Voilà, mes amis, les enfant du paradis. Und hin und wieder huschte ein Schmunzeln durch das Mienenspiel von Schopenhauers standhaftem Stoiker und Thomas Manns letztem Melancholiker.

Martin hatte in jungen Jahren eine gute Erbschaft gemacht und bereits bei seinem ersten Besuch in Kalifornien zeichneten sich seine Pläne ab, den Rest seines Lebens mit Weltreisen zu verbringen. Noch wusste ich nicht, dass auch mir nach meinen dreizehn Lehrjahren an verschiedenen Universitäten in Europa und Amerika noch einmal genauso viele Wanderjahre von Universität zu Universität bevorstehen würden. In Amerika nennt man solche Wandergelehrten auf der Suche nach einem festen Lehrstuhl „gypsy scholars“ Und so manche dieser akademischen Nomaden haben auf derartigen Wanderschaften nicht nur die Wanderlust sondern auch noch ihre dazugehörigen Liebsten verloren.

 

Not us

We were the traveling dream team,

I was the wandering gypsy scholar

and she my wandering gypsy queen.

 

But sometimes like in Santana’s

magical musical mystery tours

of fruits and nuts and bananas

 

we turned into a witches’ brew

of psycho-babble, gender-bubble

and nothing but real double trouble.

 

Oh Madonna,  ma Belladonna … oh meine Tollkirsche, ich darf’s nicht vergessen, … denn manchmal, um ganz ehrlich zu sein … da war mit dir gar nicht gut Kirschen essen.

 

My Drama Queen

mein süß-saures Mädel,

oh mia ragazza obstinata,

testa dura, dicker Schädel.

Yes, you did – oh no, I didn’t!

Aus heitrem Himmel nichts als Streit,

and this time I will tell you clearly,

to hell with „Sängers Höflichkeit“!

“Oh Gott im Himmel”

give peace a chance

in our families’ ancient romance!

I’m not your Goddess, I’m not your mother,

your “Sündenpfuhl”, your “Glockenspiel” ,

and for Christ’s sake, I’m not your father,

„wer das nicht weiß, der weiß nicht viel“.

 

Oh stop it,

being so hot and cool!

You stop it,

being your grandfather’s royal fool!

Hey Honey,

girls just want to have fun,

but this is not funny!

(Und statt Molto Vivace  … verteilte sie … eine Wiener Watsche!)

Oh blöde Ziege … oh sturer Bock … nur ein Esel würd’ sich strecken … the milk was spilled and now I knew … mit mir war auch kein Honigschlecken … and we were riders on the storm, crazy horses on a furious flight … everything turned upside down and the world became …

Walpurgis Night

but then we grabbed the clouds by the horn

and helter skelter we rode out the storm

because we knew from way back when

tomorrow

the sun would shine again

“Waiting for the Sun”

“waiting for you

to come along

to tell me what went wrong”.

„Der irre Spielmann“, so lautet ein anderes Eichendorff’sches Wanderlied mit großem, geschichtlichem Spannungsbogen, denn es ruft noch einmal die jahrhundertealte Tradition der fahrenden Spielleute herauf. Sie begann mit den vagantischen Scholaren und Musikanten im hohen Mittelalter, führte in der deutschen Klassik und Romantik vor allem gen Italien und erreichte schließlich in diesem Spielmannslied ihre imaginäre Endstation:

 

„Ich möchte reiten ans Ende der Welt,

wo der Mond und die Sonne hinunterfällt.

 

Wo schwindelnd beginnt die Ewigkeit,

wie ein Meer so erschrecklich still und weit,

da sinken alle Ströme und Segel hinein,

da wird es wohl endlich auch ruhig sein.“

 

Der Stille Ozean an der Westküste Amerikas markiert in der Tat das Ende der Welt, zumindest aus westlicher Sicht. Hier gehen die letzten Strahlen der abendländischen Sonne unter und hier beginnt die „Ewigkeit wie ein Meer“. An einem sonnigen Nachmittag saßen wir hier mit Freunden am Meeresstrand. Wir waren alle ziemlich high auf Magic Mushrooms, welche die Indios Mittel- und Südamerikas zu essen pflegen, um sich in andere Bewusstseinszustände zu versetzen.

Welch poetisch psychedelisches Panorama,

die ganze kalifornische Realität

eine einzige Fata Morgana.

 

Diese Welt der Trance und der Träume erinnert an Fitzcarraldo und Aguirre, der Zorn Gottes, Werner Herzogs kinematografische Fantasien über die spanisch-portugiesische Kolonialzeit in Mittel- und Südamerika. In ihnen verkörpert Klaus Kinski zusehends verrückter werdende Fantasten, die in den Siebziger Jahren zu internationalen Kultfiguren des Neuen Deutschen Films wurden. Während Fitzcarraldos Passion, im amazonischen Regenwald ein Opernhaus zu bauen, noch relativ vage Richard Wagners Wahnfried auf dem Grünen Hügel assoziiert, evoziert der eroberungswütige Aguirre letztendlich unverleugbar Hitlers geschichtlichen Größenwahn. Mit seiner in jedem Film blonder werdenden Mähne veranschaulicht Kinski zunehmend den progressiven Degenerationsprozess des „böhmischen Gefreiten“ zur „blonden Bestie“, diesem philosophischen Fabelwesen Nietzsche’scher Provenienz, in dem der dahergelaufene Schmierenkomödiant zum geifernd schnaubenden Raubtier mutiert. Fitzcarraldos Passagierschiff, das Indios durch den amazonischen Dschungel ziehen, und Aguirres abgetakeltes Floß, das durch heimtückische Urwaldgewässer treibt, sind allegorische „Trunkene Narrenschiffe“, welche die Wunsch- und Wahnwelt ihrer untergehenden Besatzung geradezu halluzinatorisch vor Augen führt. Am Ende ist der Konquistador Aguirre ein groteskes Charakterwrack, eine menschlich-unmenschliche Ruine, aus der alle guten Geister entflohen sind.

Aguirre

agent provocateur de Dieu,

artiste maudit sans pareil

sur le Bateau Ivre

de Rimbaud.

 

Diese poetisch-cinematografische Odyssee stellt unter anderem auch eine psychopathologische Parabel dar für die sukzessive Verwandlung kreativer Energien in destruktives Chaos. Blicke ich zurück in die Lebensgeschichte einiger meiner Weggefährten, so muss ich mit zunehmendem Staunen wenn nicht gar Entsetzen feststellen, wie manche ihre Lebensläufe mehr und mehr zu seelischen Irrfahrten verkommen. Aus ihrem jugendlichen Witz wurde im Laufe der Jahre wachsende Wut, aus ihrer Jugendfreude wurde Altersschwermut, wenn nicht sogar schon beginnende Demenz. Die mit Galgenhumor nennen diese geistig schleichende Verdüsterung den „Schwarzen Tod“. Derartig dräuende Nachtmeerfahrten erinnern mich an einen Song von King Crimson, der mir seit Anfang der Siebziger Jahre nachgeht, als wir ihn aus dem alten Bauernhaus in der Provence über die umliegenden Felder schallen ließen. Der klagende Rockgesang aus jenem heiteren Landschaftsbild hallt mir heute noch im Ohr: „Confusion will be my epitaph“.

 

„Do not go gentle into that dark night,

rage, rage against the dying of the light.”

 

Dylan Thomas richtete diese berühmt gewordenen Verse an seinen sterbenden Vater. Jim Morrisons Song „Light my Fire“ ergänzt dieses Gedicht als ein Fackellied, das nicht nur das Entfachen der Leidenschaft beschreibt, sondern auch ihr letztes Leiden und Zerbrechen auf dem Scheiterhaufen der Gefühle darstellt: „ … and our love becomes a funeral pyre.“ Morrisons Song endet mit dem mehrfachen, ekstatisch-agonalen Refrain „Try to set the night on fire.“

Unser jahrelanger Lieblingslied von den Doors war jedoch “Touch Me“, das wir beide oft imitierten und vor allem parodierten, nicht zuletzt, weil wir vom Können des Rockkönigs, vom dröhnenden Drang seines dionysischen Donnergesangs so weit entfernt waren. Und ohne Back-Up-Band geht schon gleich gar nichts. Jedenfalls ist „Touch me“, wohl das älteste Zauberwort der Menschheitsgeschichte. Michelangelo hat es in seinem berühmten Fresko in der Sixtinischen Kapelle visuell gestaltet, nämlich in der Berührung zwischen Adam und Gottvater, und Thomas Mann hat es in der Maske erotischer Schönheit literarisch zum Ausdruck gebracht. Morrisons „Touch Me“ ist die musikalische Variante dieses Zauberwortes und gewissermaßen auch die Endversion zu Michelangelos biblischer Schöpfungsvision, nämlich das erotisch-apokalyptische Finale, das in einer Strophe zum Ausdruck kommt, die sicherlich zu den melodramatischsten der Rockmusik, ja der Musikgeschichte überhaupt zählt:

 

„I’m gonna love you

till the stars fall from the sky!“

            „If the doors of perception were cleansed, everything would appear as it is, infinite.” Dieser Ausspruch William Blakes, des großen Maler-Dichters der englischen Romantik, hatte nicht nur die Drogenliteratur der modernen Subkultur beeinflusst. Blakes „Doors of Perception“ hatte auch den Doors ihren Namen gegeben. Ihre Lieder beschwören nicht nur immer wieder den Weltenrausch herauf, sondern auch die Erwartung neuer Offenbarungen und nicht zuletzt die Erinnerungen an versunkene Erfahrungen. In anderen Worten, es sind die Welten, die vor allem Poeten und Propheten immer wieder imaginieren. Am besten hat dies in jüngster Zeit wohl Durs Grünbein zum Ausdruck gebracht, der bedeutendste deutsche Dichter seiner Generation, der nach dem Berliner Mauerfall geradezu über Nacht zum poetischen Shooting Star des vereinten Deutschlands aufgestiegen war. Seine Texte erscheinen seit einigen Jahren in hervorragender Übersetzung von Michael Eskin in dem von ihm mitbegründeten New Yorker Verlag Upper West Side Philosophers. Auch dieses Projekt ist ein programmatischer, transatlantischer Brückenschlag. Seit rund zwanzig Jahren sind wir gute Freunde, doch das ist eine andere Geschichte. Jedoch soll hier unserer Freundschaft am Beispiel seines als „Illumined Night“ übersetzten Grünbein-Gedichts ein sprechendes Denkmal gesetzt werden. Letzteres stellt auch eine gute Synopse von Grünbeins poetisch-poetologischer Weltanschauung dar und soll daher im Folgenden in  drei Teilen zitiert werden.

„Poetry – what was it again?

A portal of bygone emotions.”

Remember

my sweet girl, my gypsy queen,

ma Bella Donna Dell’Acqua,

remember those days

now so far away

when life and love

was an infinity pool on a hot summer day.

“Verse is a diver, it pulls you below as it looks for the treasures

on the sea floor, out there in the brain. It conspires with the stars.”

Remember

my good old friends,

Gerald and Martin, my fellow travelers across the oceans …

die vielen magischen Momente

unserer langen, transatlantischen Freundschaft,

unsere Reisen durch die Städte und Länder der Alten und Neuen Welt.

„What survives are poems. Songs that mortality sings.

A travel guide … on the flight … from humanity’s night.”

(Durs Grünbein, Illumined Night)

 

***

 

“These fragments I have shored against my ruins.” So steht es in T.S. Eliots großem, epischen Gedicht „The Waste Land“.

 

Life

a mess

a mystery

a work in progress

between medieval misery

and mythic-modern ecstasy.

Eine Irr- und Wallfahrt

zwischen

Jammertal und Venusberg

und was noch zu vollenden bliebe,

wäre das Wunder der großen Liebe

als sternefunkelndes Gesamtkunstwerk.

Herz und Scherz und Weltenschmerz … Impressionen, Reflektionen … Quintessenzen, Kristallisationen …

 

Werfen und Geworfensein, Sein und Zeit, Zufall und Notwendigkeit. Es hätte ja auch alles ganz anders kommen können auf dieser Lebensreise zwischen kindlichem Teufelswahn und jugendlicher Achterbahn, Gottes Allmacht und Himmelsgestirn und der Verschwörung im Gehirn … dort, irgendwo zwischen Stumpfsinn, Genie und Wahnsinn, Genom, Tumor und Karzinom ….

 

Spielplan und Schauspiel, eine Weltgeschichte für Götter samt ihrer Spötter und Dämonen im Diesseits und Jenseits der Äonen. Seid verdammt, seid erlöst, seid umschlungen, Millionen. Und wie viele müssen hier auf Erden auf gute Freundschaften verzichten, auf das Abenteuer erhörter, verrückter Liebesgeschichten …

 

„The world is my oyster.“ So heißt es diesseits des Atlantik, wenn man sich in der Welt wohlfühlt. Im Schoß der Frau Welt geborgen, ausschweifend in ihrem bunten Rock, so wusste man es jenseits des Atlantik zur großen Hochzeit des Barock … Heimweh und Fernweh … und zwischen Heidelberg und Wien, zwischen Bangkok und Berlin …

 

between here and there and the universe

we are homebound to Mother Earth

when and how, we have no clue,

but we are all on the road to Timbuktu,

back to the dark lady with the big belly button

in the heart of darkness, the dark continent

of our beginning and our end.

***

 

“Wer in die Fremde will wandern … „ Innere Stimmen, äußere Stimmen, im Grunde sind wir alle von Sinnen, wenn es um den rechten Weg und um die richtige Zukunft geht. In meinem Falle hatte der alte Eichendorff sicherlich Recht behalten, irgendwo dort in fernen Weiten, im ewigen Kreislauf der Gezeiten. Vielleicht hatte er ja meinem ertrunkenen Idol abgelauscht, dass mein Seinsmaß noch nicht voll, vielleicht den Lebensströmen zugerauscht, wohin meine Reise gehen soll. Auf alle Fälle wurde mir in den letzten Jahren immer klarer, dass ich wohl unwiderruflich in der Neuen Welt gestrandet war – und hier jetzt zu Hause bin. Und so erinnere ich mich gerne und immer wieder an Eichendorffs romantische Wanderlieder und nicht zuletzt an Morrisons lockend rockendes Heimkehrlied aus jener längst verflossenen Zeit:

„I found an island in your arms,

a country in your eyes.”

 

(“Break on Through to the Other Side”)

 

To be continued.

 

 

 

Zitierte Literatur

 

Eichendorff, Joseph von. Gedichte. Gütersloh: Bertelsmann, o.D.

 

Grünbein, Durs: Mortal Diamond. Poems. Translated by Michael Eskin. New York: Upper West Side Philosophers, 2013

 

The Doors Complete. Miami, Florida: Belwin, 1983.

 

Uhlig, Gerald. Alphabet der Fische. Zeichnungen, Fotografien, Gedichte. Berlin: Lardon, 2004.

 

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Jun 11 2013

Christine Cosentino

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Volker Brauns  Erzählung  Die hellen Haufen:  eine närrische Geschichte.

Wie positioniert sich 22 Jahre nach der Wende  ein ehemals intensiv engagierter Systemkritiker, der bei aller Kritik dem realsozialistischen Staat von einst die Treue hielt? Was ist geblieben? Im Jahre 2011 veröffentlichte der DDR-Autor Volker Braun (Jahrgang 1939) das schmale Bändchen Die hellen Haufen [1], ein närrisches Historienspiel, in dem das dichterische Ich in die Rolle eines Narren schlüpft, um den Gedanken ungenutzter politischer Chancen neu zu durchdenken und zu durchleuchten.

Sowohl in der DDR als auch im vereinigten Deutschland klopfte Braun durch die Jahre hindurch kritisch-ironisch eine als ungenügend erlebte Realität nach den in ihr verborgenen historischen Möglichkeiten, dem Anderen, dem “Eigentlichen”, dem “Wirklichgewollten”, ab.  Nicht selten schöpfte er zu diesem Zweck das im Narr/Clown/Harlekin-Bild inhärente Potential protestierenden Widerspruchs aus. Im Enthüllen eines Widerspruchs  zwischen weitgespanntem Vorhaben und trister Wirklichkeit kündet das “Auftreten dieser Figur” —  so heißt es in Daemmrichs Motivgeschichte  — generell  “Unsicherheit in der Verwirklichung jeder absoluten  (meine Kursivierung) Zielsetzung der Pläne der anderen Figuren an.”[2]

Das Narrenmotiv  ist in der literarischen Tradition vielfältig. Es steht im Spannungsfeld zwischen Törichtem und Mutigem, Unterhaltung und Kritik und Un-Sinn als Unsinn am Sinn. In Brauns Schaffen  lässt sich die Narr/Clown-Maske  in dreifacher Brechung beobachten:  der Narr, der sich als provokanter Kritiker der realsozialistischen Gesellschaft begreift;  der Narr, der sich als betrogener Ausgegrenzter in der ihm fremden Nachwendegesellschaft fühlt,  als  —  so  heißt es von philosophischer Warte  —  “die [aus ihrer Gesellschaft] herausgetretene Kreatur schlechthin”[3];  und letztlich: der närrische Träumende, der von einer ihm liebgewordenen absoluten utopischen Zielsetzung  nicht lassen kann.  “Das liebe Zimmer der Utopien/ Entlässt den Gast in den Unsinn”[4], hieß  es entsprechend in dem Gedichtband Tumulus aus dem Jahre 1999. Sicherlich suggerieren letztere Zeilen einen Verlust der Illusionen; trotzdem aber wird das immer noch “liebe” Zimmer als etwas Kostbares erinnert.

Drei Beispiele für das Narrenmotiv  in Brauns Schaffen seien gegeben. Zu DDR-Zeiten legte der noch sehr junge Autor die Maske des Clowns an, um die Verwirklichung  einer  absoluten Zielsetzung am Fehlverhalten einer verkrusteten Funktionärskaste zu messen. In einem Essay heißt es dazu:

Der aufwühlendste Widerspruch zwischen den Leuten, die

in die sozialistischen Revolutionen verwickelt sind, ist der

neuartige zwischen den politisch Führenden (die bewußt

die Umgestaltung der Gesellschaft organisieren oder bewußt

oder unbewußt hemmen) und den Geführten (die bewußt

oder unbewußt die Pläne realisieren oder kritisieren).[5]

Im poetischen Gewand des Gedichts “Meine Damen und Herren”(1964) wird der Clown zum enthüllenden Kritiker, der seinem Publikum, den Geführten, dienen will:

Ich kann mich verhüllen oder entblößen, wie Sie wollen

Ich kann auf den Haaren laufen oder noch besser

Auf zwei Beinen wie ein Clown

Entscheiden Sie sich […]

Noch kann ich Ihnen dienen.[6]

Zwanzig Jahre nach der Wende, im Jahre 2009, greift Braun in einem kurzen Text auf das Potential des Lächerlichen und Sinnwidrigen zurück, das im Narrenmotiv angelegt ist. Sarkastisch enthüllt er in der Notiz “Der Übernarr”  eine fortwährende Ortlosigkeit des unmündigen ostdeutschen Bürgers im vereinten Deutschland.

Die Neukonstituierung gründet auf Materialismus, Sich-Anbiedern und weinerlichem  Duckmäusertum. Unter der Maske der Narrheit formuliert der Dichter unangenehme Wahrheiten. Er baut Ambivalenzen und Spannungen auf, die in der Notiz selbst nicht aufgelöst werden, die mithin vom ostdeutschen Bürger verarbeitet werden müssen:

Vor dem neuen Eigentümer zieht er die Mütze, um nachher

entlassen zu werden. Dafür kriegt der mit dem Turban sein

Fett weg, denn so viel Macht hat er. – Wehmäulig, duckmausend,

das ist die Gesundheit; anmaßend angepaßt, das ist die

Konfektion; das weitere Weltbild: halb gewalkt. So kommt

alles zusammen. Natürlich, warum nicht? Jede Zeit hat ihr

Wesen. Wie der Mensch über sich (und andere) hinaus will,

so auch der Narr. Man kann vom Übernarr sprechen.[7]

In der kürzlich erschienenen Erzählung  Die hellen Haufen (2011) benutzt Braun das Narren-Motiv in komplexer Form in dreifacher Brechung: der Narr, ein Ich-Sprecher,  ist einmal Chronist, der faktengetreu über ein Nachwende-Ereignis des Aufbegehrens in Bischofferode (Thüringen), einen Hungerstreik, berichtet. Weiterhin wird der Narr zum kritisch-ironischen  Spötter, der die Gründe nennt, warum die Protestierenden sich demütig mit einer mageren Abfindung abspeisen lassen:  “Das Kämpfen war ihnen von Partei & Regierung abgewöhnt worden” (H 58). So gleicht dann auch der kleine “Haufen” einem lächerlichen Aufzug sich ausgrenzender törichter Einzelgänger, die der Umwelt ein ungewöhnliches Entertainment-Spektakel liefern: “Geduckt in die gelben Regenjacken schienen es Clowns zu sein. Ein Narrenzug (die Polizisten eingeschlossen), pfeifend, eine Karnevalsrotte, man applaudierte diesen Artisten, aber keiner kam mit” (H 21).  Last but not least, präsentiert sich dann der Narr, der diesen Widersinn nicht akzeptiert,  als Träumer, der in einem politischen, auf historischer Folie der Bauernkriege konzipierten  närrischen “Was-wäre-wenn-Spiel”[8] mit einer neuen utopischen Wahrheit aufwartet. Er fiktionalisiert den lokal isolierten Hungerstreik zur mächtigen Solidaraktion der von Existenzangst gebeutelten Arbeiter, die sich zu einem weit um sich greifenden Aufstand ausdehnt: “Wenn er seine Wahrheit hat, so nicht, weil er gewesen wäre, sondern weil er denkbar ist” (H 9).  Erdachtes wird Reales.  Zu erinnern ist an Brauns “Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000”, in der er ebenfalls die multiplen Brechungen des Narrenmotivs  bemüht, um Stellung  zu beziehen:

Ich habe vor Jahren, unter anderen Verhältnissen, Büchner zitiert,

um einen Sprengsatz zu legen; jetzt in seinem Namen herzitiert zu

sein, muß mich wieder unterminieren. Ich stehe vor Ihnen auf dem

gefährlichen Boden, wo man Stellung bezieht, wo Absichten wurzeln,

wo ein Narr die Arbeit macht, der scheitern will, und Gelingen ist

Scheitern.[9]

Braun greift hier mit dem Versatzstück “närrisches Gelingen, das Scheitern ist” auf das Thema zurück, das ihn während seiner ganzen dichterischen Karriere beschäftigt hat: entschwindende und entschwundene utopische Horizonte in einer “unlebbaren Gegenwart”, in der der Einzelmensch grausam wieder auf sich selbst zurückgeworfen ist. Beredte Titel aus Brauns Kurzprosa wie Das Nichtgelebte (1993), Das Wirklichgewollte (2000) haben auf der Folie älterer Titel, etwa “Das Eigentliche” (1972) oder Die unvollendete Geschichte (1975), unverkennbar Signalcharakter. Der Narr, ein spöttischer Realist, scheint im Jahre 2011 den Glauben an die ihm liebgewordenen Utopien verloren zu haben und kann sich dennoch nicht von ihnen lösen:

Man glaubt die Geschichte zu kennen, aber sie hat mehr

in sich, als sich ereignet: auch das Nichtgeschehene,

Unterbliebene, Verlorene liegt in dem schwarzen Berg.

All das Ersehnte, nicht Gewagte, und die alte Lust  zu

handeln (H 9).

Die helle Vision vom nicht Gewagten, das sich in der Phantasie des Dichters zum Gewagten wandelt, spiegelt sich bereits in dem an die Bauernkriege gemahnenden Titel der Erzählung Die hellen Haufen. Brauns “Haufen […] sind hell, als würden sie zu lichteren Zeiten gehören”[10], meint der Kritiker Michael Opitz. Deutlich steht dieser Titel in Intertextualität zu dem früheren Gedicht “Ist es zu früh. Ist es zu spät”, das dem Bauernführer Thomas Müntzer gewidmet ist: “Der Sommer ist vor der Tür/ Die hellere Zeit.”[11] Daß das Erkämpfen dieser  helleren Zeiten künftigen Generationen überlassen ist, läßt sich einem vorangestellten Motto, einem Zitat von Ernst Bloch entnehmen: “Was wir nicht zustande gebracht haben, müssen wir überliefern.”

Braun beginnt die aus drei Teilen bestehende Erzählung mit einem Bericht über lokale Ereignisse während der Zeit der Schließungen und Abwicklungen.  Die beiden ersten Teile bewegen sich im Kontext faktischer Gegenwart. Braun  ändert allerdings die Namen von Ortschaften, ebenfalls die Namen von Politikern in der unmittelbaren Nachwendezeit Anfang der neunziger Jahre. Den großen Bergbau-Kombinaten in der entschwundenen DDR — zu ihnen gehörten auch die von Bischofferode und Mansfeld — droht von Seiten der alten Bundesrepublik mächtige Konkurrenz. In Bischofferode — im Text  Bitterode genannt  —  treten Kumpel der Grube “Thomas Müntzer” in den Hungerstreik, nachdem die Treuhand beschlossen hatte, das Werk stillzulegen. Dann kommt es zum Marsch zur Treuhand in Berlin, der weder zu neuen Arbeitsplätzen noch zu Solidaritätsaktionen von Seiten anderer Arbeiter führt. Braun erwähnte  diesen Protest der neunzehn Bischofferoder bereits in seiner Büchner-Preis-Rede: “Sie sind entschlossen, aber sie werden nicht mehr, in den Städten, die sie durchqueren, ein Rinnsal des Aufbegehren […] Sie HUNGERN FÜR ARBEIT […] Nach dem heißen Brei der Volksdemokratie die kalten Schüsseln des Kapitalismus.”[12]

Sehr ähnlich geht es  den Mansfelder Bergleuten, von denen allerdings einigen wenigen die Arbeitsstellen erhalten bleiben, weil die Bergwerke abgerissen werden müssen. So werden sie, die Auserwählten, indem sie ihre Arbeitsstätten liquidieren, zu  “Zuhältern der Zukunft” (H 29). Was jahrhundertelang die Existenzgrundlage von Generationen war, landet auf dem Schrotthaufen der Geschichte. Im Kontext der Abwicklungen begegnet der Leser Politikern mit verfremdeten Namen, die jedoch erkennbar sind: der Pfarrer und Bürgerrechtler Schorlemmer ist Schurlamm, der ermordete Treuhandchef Rohwedder ist Rohwetter, die Sozialministerin Regine Brand wird Hilde Brand und der Treuhandchef Schucht wird zum Schufft. Und immer wieder begegnet der Leser dem Revolutionär Mintzer, hinter dessen Namen sich der Organisator der Bauernhaufen aus der Zeit der Bauernkriege des frühen 16. Jahrhunderts verbirgt.  Ebenfalls erwähnt wird wiederholt der Revolutionär Max Hoelz, die zentrale Figur des Mitteldeutschen Aufstandes im März 1921. Der für Braun typische Rückgriff auf die Historie, die Verquickung  gegenwärtiger Rebellionen mit der Arbeiter- oder Bauerngeschichte, erscheint auch hier wieder wirksam eingesetzt.

Im dritten Teil der Erzählung schildert Braun den Aufstand der nicht stattgefunden hat.  Die Arbeiter wagen, was nach Meinung des  Narren nach dem Verschwinden gewohnter sozialer Sicherheiten in den Nachwendejahren hätte geschehen müssen. So ist dann dieser dritte Teil, wie eine Kritikerin meint, eine “Aufarbeitung großer Versäumnisse.”[13] Der Autor verknüpft die blutigen Kämpfe des Bauernkrieges mit den Kämpfen der hungernden Arbeiter von Bischofferode/Bitterode, die in derselben Gegend stattgefunden haben. Die Entlassenen widersetzen sich den Beschlüssen der Treuhand und rebellieren gegen die Umwertung ihrer bisherigen Welt. Die isolierten Ereignisse von Bischofferode und Mansfeld, die in den beiden vorigen Kapiteln folgenlos geblieben waren, eskalieren landesweit: “Die Öffentlichkeit war alarmiert, und der Hungermarsch in Berlin auf Hunderttausend angeschwollen” (H 53). Dieser Aufstand hat seine Statuten:  “Mintzer hatte natürlich die 12 Artikel bei sich, die die schwäbischen Bauern in Memmingen abgefaßt hatten” (H 66); und so werden auf der Folie der “Zwölf Artikel von Memmingen”, der ersten Niederschrift von Menschen- und Freiheitsrechten, die “Mansfelder Artikel  von den gleichen Rechten aller” konzipiert.  Artikel 2 und 3 seien zitiert: “Die Belegschaft bestimmt, was und wofür produziert wird, nämlich was sinnvoll ist” (H 69) und “Nicht den Gewinn maximieren, sondern den Sinn” (H 69). In der Erwähnung des Sinnvollen (Arbeit für alle)  im Angesicht des  Sinnwidrigen in einer profitorientierten materialistischen Gesellschaft (existenzbedrohende Arbeitslosigkeit) spiegeln sich die Visionen des hoffnungslos träumenden Narren, der den Glauben an die Utopie verloren hat, sich ihr aber trotzdem nicht entziehen kann. Mintzers Beifügung einer Fußnote zu den 12 Artikeln evoziert die endlosen Möglichkeiten in der Weite utopischer Horizonte: Die Zukunft ist ein unbesetztes Gebiet. Sie ist offenzuhalten für Anmut und Würde” (H 70).

Der fiktionalisierte gegenwärtige Aufstand steht unter dem Zeichen “KEINE GEWALT”, einer Parole, die den Arbeitern nicht zugute kommt.  Die Gegenkräfte schlagen zu:  die “hellen” Haufen stoßen auf die “schwarzen” Haufen der Regierung. Die Arbeiter begreifen, “daß ihnen Gewalt geschah, aber das war ihr herrlicher begreiflicher Befehl: nicht zu kämpfen und, bis aufs Blut gereizt, bei der irrigen Parole zu bleiben, keine Gewalt” (H 96). Das Ende ist gewaltsam und blutig. Auf einer riesigen Abraumhalde sammeln sich die Aufständischen mit ihren zerfetzten weißen Fahnen;  schließlich, so folgert ein Kritiker, “empfinden sich Volker Brauns Protagonisten selbst  als Abraum der Geschichte.”[14] Der Narr jedoch, der jetzt mit dem Namen “Braun” identifizierte Ich-Sprecher,  protestiert: “Einer aus dem Vogtland, Braun, rief im Jähzorn GEWALT, GEWALT, und es war nicht klar, wollte er konstatieren oder ausrufen” (H 96). Das Statement ist sperrig, spiegelt in seiner Ambivalenz die Gebrochenheit des Narrenmotivs. Spricht der weise Narr, der spöttische-böse beobachtende Kritiker oder gar der Tor, der veraltete Weltanschauungen nicht mehr ernst nimmt, trotzdem aber von ihnen träumt?  In diese  Offenheit greifen die letzten beiden Sätze der Erzählung, denn  hier  scheint der Narr seiner traditionellen Funktion völlig enthoben zu sein. Er kann sich weder mit der Wirklichkeit noch mit der Fiktion so richtig anfreunden, und so lösen sich die Grenzen zwischen Unsinnigem, Widersinnigem und Sinnvollem plötzlich auf. Der Narr   sinniert:

Die Geschichte hat sich nicht ereignet. Sie ist nur, sehr verkürzt

und unbeschönigt, aufgeschrieben. Es war hart zu denken,

daß sie erfunden ist; nur etwas wäre ebenso schlimm gewesen:

wenn sie stattgefunden hätte” (H 97).

Handelt es sich um Frust? Um das Ausprobieren einer als nicht lebensfähig erkannten Utopie? Die Kritik reagierte unterschiedlich. Von “abgelebten Weltsichten”[15] oder  von “kurzatmigen Utopien” ist die Rede: “Volker Braun weigert sich, den Sandkasten einer hart aufgeschlagenen Utopie zu verlassen, er schaufelt weiter im Großartigen und Ungefähren.”[16] Dann wiederum wird die Erzählung als “bitter-schöner  Abgesang auf Zeiten klarer Kampfzonen”[17] gelobt. In der Tat  präsentiert Braun ein närrisches Denkspiel, in dem er träumt. Es ist das Privileg des Dichters zu träumen. Der konsequente Denker und Realist Braun jedoch verschleiert das Träumen: Traum, Alptraum und Phantomschmerz werden eins. In dem Band Auf die schönen Possen erscheint die Utopie entsprechend als Gespenst:

Sie hat nichts Besseres zu tun als nichts

Beschäftigt mit Überleben, von der Hand in den Mund

Ein Gespenst aus der Zukunft arbeitslos […]

Die Verworfene, nichts hat sie zu tun als Besseres.[18]

 


Anmerkungen
[1] Volker Braun, Die hellen Haufen(Berlin: Suhrkamp, 2011). Im Text der Arbeit abgekürzt mit der Sigle H.

[2] Horst S. und Ingrid Daemmrich, Themen und Motive in der Literatur (Tübingen: Francke, 1987)  80.  Stichwort “Narr”.

[3] Joachim Ritter, “Über das Lachen,”   Luzifer lacht. Philosophische Betrachtungen von Nietzsche bis Tabori, hs. v. Steffen Dietzsch (Leipzig: Reclam, 1993) 110.

[4] Braun, “Abschied vom Kochberg,” Tumulus (Frankfurt: Suhrkamp, 1999) 20.

[5] Braun, “Es genügt nicht die einfache Wahrheit,” in: Es genügt nicht die einfache Wahrheit. Notate (Frankfurt: Suhrkamp, 1976) 19-20.

[6] Braun, “Meine Damen und Herren,” in: “Es genügt nicht die einfache Wahrheit. Notate. 16.

[7] Braun, “Der Übernarr,” Sinn und Form, 61/3 (2009):  377.

[8] Cornelia Geißler, “Aufstand gegen die Treuhand. Volker Brauns Erzählung “Die hellen Haufen” ist ein ‘Was-wäre-wenn-Spiel’,” Frankfurter Rundschau 13. 1. 2012.

[9] Volker Braun, Die Verhältnisse zerbrechen. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000 (Frankfurt/M.: edition suhrkamp, 2000) 22.

[10] Michael Opitz, “Volker Braun: Die hellen Haufen. Erzählung,” Deutschlandradio Kultur. Radiofeuilleton/Kritik  19. 10. 2011.

[11] Braun, “Ist es zu früh. Ist es zu spät,” Training des aufrechten Gangs (Halle-Leipzig: Mitteldeutscher Verlag, 1981)  39.

[12] Braun, Die Verhältnisse zerbrechen … 23.

[13] Janina Fleischer, “Salz in der Wunde. Heute erscheint Volker Brauns Erzählung ‘Die hellen Haufen’ – Fiktion eines Arbeiteraufstands,” Leipziger Volkszeitung  10.10.2011.

[14] Dietmar Jacobson, “’Sie waren in der Welt ein Häuflein …,’ Volker Brauns neue Erzählung ‘Die hellen Haufen’ konfrontiert das Wirkliche mit dem Möglichen,” literaturkritik.de, Nr. 3, März 2012.

[15] Sabine Brandt, “Volker Braun: Die hellen Haufen. Abgelebte Weltsichten,” Frankfurter Allgemeine (Feuilleton) 30.11.2011.

[16] Jürgen Verdofsky, “ Auf der Suche nach der Revolution,” Badische Zeitung 11.2.2012.

[17] Angelika Overath, “Ein Totentanz,” Neue Zürcher Zeitung 8. 12. 2011.

[18] Braun, “Die Utopie,” Auf die schönen Possen (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005) 33.

 

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May 25 2013

Christine Cosentino

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Volker Brauns  Erzählung  Die hellen Haufen:  eine närrische Geschichte

Wie positioniert sich 22 Jahre nach der Wende  ein ehemals intensiv engagierter Systemkritiker, der bei aller Kritik dem realsozialistischen Staat von einst die Treue hielt? Was ist geblieben? Im Jahre 2011 veröffentlichte der DDR-Autor Volker Braun (Jahrgang 1939) das schmale Bändchen Die hellen Haufen [1], ein närrisches Historienspiel, in dem das dichterische Ich in die Rolle eines Narren schlüpft, um den Gedanken ungenutzter politischer Chancen neu zu durchdenken und zu durchleuchten. Sowohl in der DDR als auch im vereinigten Deutschland klopfte Braun durch die Jahre hindurch kritisch-ironisch eine als ungenügend erlebte Realität nach den in ihr verborgenen historischen Möglichkeiten, dem Anderen, dem “Eigentlichen”, dem “Wirklichgewollten”, ab.  Nicht selten schöpfte er zu diesem Zweck das im Narr/Clown/Harlekin-Bild inhärente Potential protestierenden Widerspruchs aus. Im Enthüllen eines Widerspruchs  zwischen weitgespanntem Vorhaben und trister Wirklichkeit kündet das “Auftreten dieser Figur” —  so heißt es in Daemmrichs Motivgeschichte  — generell  “Unsicherheit in der Verwirklichung jeder absoluten  (meine Kursivierung) Zielsetzung der Pläne der anderen Figuren an.”[2]

Das Narrenmotiv  ist in der literarischen Tradition vielfältig, steht im Spannungsfeld zwischen Törichtem und Mutigem, Unterhaltung und Kritik und Un-Sinn als Unsinn am Sinn. In Brauns Schaffen  lässt sich die Narr/Clown-Maske  in dreifacher Brechung beobachten:  der Narr, der sich als provokanter Kritiker der realsozialistischen Gesellschaft begreift;  der Narr, der sich als betrogener Ausgegrenzter in der ihm fremden Nachwendegesellschaft fühlt,  als  —  so  heißt es von philosophischer Warte  —  “die [aus ihrer Gesellschaft] herausgetretene Kreatur schlechthin”[3];  und letztlich: der närrische Träumende, der von einer ihm liebgewordenen absoluten utopischen Zielsetzung  nicht lassen kann.  “Das liebe Zimmer der Utopien/ Entlässt den Gast in den Unsinn”[4], hieß  es entsprechend in dem Gedichtband Tumulus aus dem Jahre 1999. Sicherlich suggerieren letztere Zeilen einen Verlust der Illusionen; trotzdem aber wird das immer noch “liebe” Zimmer als etwas Kostbares erinnert.

Drei Beispiele für das Narrenmotiv  in Brauns Schaffen seien gegeben. Zu DDR-Zeiten legte der noch sehr junge Autor die Maske des Clowns an, um die Verwirklichung  einer  absoluten Zielsetzung am Fehlverhalten einer verkrusteten Funktionärskaste zu messen. In einem Essay heißt es dazu:

Der aufwühlendste Widerspruch zwischen den Leuten, die in die sozialistischen Revolutionen verwickelt sind, ist der neuartige zwischen den politisch Führenden (die bewußt die Umgestaltung der Gesellschaft organisieren oder bewußt oder unbewußt hemmen) und den Geführten (die bewußt oder unbewußt die Pläne realisieren oder kritisieren).[5]

Im poetischen Gewand des Gedichts “Meine Damen und Herren”(1964) wird der Clown zum enthüllenden Kritiker, der seinem Publikum, den Geführten, dienen will:

Ich kann mich verhüllen oder entblößen, wie Sie wollen

Ich kann auf den Haaren laufen oder noch besser

Auf zwei Beinen wie ein Clown

Entscheiden Sie sich […]

Noch kann ich Ihnen dienen.[6]

Zwanzig Jahre nach der Wende, im Jahre 2009, greift Braun in einem kurzen Text auf das Potential des Lächerlichen und Sinnwidrigen zurück, das im Narrenmotiv angelegt ist. Sarkastisch enthüllt er in der Notiz “Der Übernarr”  eine fortwährende Ortlosigkeit des unmündigen ostdeutschen Bürgers im vereinten Deutschland. Die Neukonstituierung gründet auf Materialismus, Sich-Anbiedern und weinerlichem  Duckmäusertum. Unter der Maske der Narrheit formuliert der Dichter unangenehme Wahrheiten. Er baut Ambivalenzen und Spannungen auf, die in der Notiz selbst nicht aufgelöst werden, die mithin vom ostdeutschen Bürger verarbeitet werden müssen:

Vor dem neuen Eigentümer zieht er die Mütze, um nachher entlassen zu werden. Dafür kriegt der mit dem Turban sein Fett weg, denn so viel Macht hat er. – Wehmäulig, duckmausend, das ist die Gesundheit; anmaßend angepaßt, das ist die Konfektion; das weitere Weltbild: halb gewalkt. So kommt alles zusammen. Natürlich, warum nicht? Jede Zeit hat ihr Wesen. Wie der Mensch über sich (und andere) hinaus will, so auch der Narr. Man kann vom Übernarr sprechen.[7]

In der kürzlich erschienenen Erzählung  Die hellen Haufen (2011) benutzt Braun das Narren-Motiv in komplexer Form in dreifacher Brechung: der Narr, ein Ich-Sprecher,  ist einmal Chronist, der faktengetreu über ein Nachwende-Ereignis des Aufbegehrens in Bischofferode (Thüringen), einen Hungerstreik, berichtet. Weiterhin wird der Narr zum kritisch-ironischen  Spötter, der die Gründe nennt, warum die Protestierenden sich demütig mit einer mageren Abfindung abspeisen lassen:  “Das Kämpfen war ihnen von Partei & Regierung abgewöhnt worden” (H 58). So gleicht dann auch der kleine “Haufen” einem lächerlichen Aufzug sich ausgrenzender törichter Einzelgänger, die der Umwelt ein ungewöhnliches Entertainment-Spektakel liefern: “Geduckt in die gelben Regenjacken schienen es Clowns zu sein. Ein Narrenzug (die Polizisten eingeschlossen), pfeifend, eine Karnevalsrotte, man applaudierte diesen Artisten, aber keiner kam mit” (H 21).  Last but not least, präsentiert sich dann der Narr, der diesen Widersinn nicht akzeptiert,  als Träumer, der in einem politischen, auf historischer Folie der Bauernkriege konzipierten  närrischen “Was-wäre-wenn-Spiel”[8] mit einer neuen utopischen Wahrheit aufwartet. Er fiktionalisiert den lokal isolierten Hungerstreik zur mächtigen Solidaraktion der von Existenzangst gebeutelten Arbeiter, die sich zu einem weit um sich greifenden Aufstand ausdehnt: “Wenn er seine Wahrheit hat, so nicht, weil er gewesen wäre, sondern weil er denkbar ist” (H 9).  Erdachtes wird Reales.  Zu erinnern ist an Brauns “Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000”, in der er ebenfalls die multiplen Brechungen des Narrenmotivs  bemüht, um Stellung  zu beziehen:

Ich habe vor Jahren, unter anderen Verhältnissen, Büchner zitiert, um einen Sprengsatz zu legen; jetzt in seinem Namen herzitiert zu sein, muß mich wieder unterminieren. Ich stehe vor Ihnen auf dem gefährlichen Boden, wo man Stellung bezieht, wo Absichten wurzeln, wo ein Narr die Arbeit macht, der scheitern will, und Gelingen ist Scheitern.[9]

Braun greift hier mit dem Versatzstück “närrisches Gelingen, das Scheitern ist” auf das Thema zurück, das ihn während seiner ganzen dichterischen Karriere beschäftigt hat: entschwindende und entschwundene utopische Horizonte in einer “unlebbaren Gegenwart”, in der der Einzelmensch grausam wieder auf sich selbst zurückgeworfen ist. Beredte Titel aus Brauns Kurzprosa wie Das Nichtgelebte (1993), Das Wirklichgewollte (2000) haben auf der Folie älterer Titel, etwa “Das Eigentliche” (1972) oder Die unvollendete Geschichte (1975), unverkennbar Signalcharakter. Der Narr, ein spöttischer Realist, scheint im Jahre 2011 den Glauben an die ihm liebgewordenen Utopien verloren zu haben und kann sich dennoch nicht von ihnen lösen:

Man glaubt die Geschichte zu kennen, aber sie hat mehr in sich, als sich ereignet: auch das Nichtgeschehene, Unterbliebene, Verlorene liegt in dem schwarzen Berg. All das Ersehnte, nicht Gewagte, und die alte Lust zu handeln (H 9).

Die helle Vision vom nicht Gewagten, das sich in der Phantasie des Dichters zum Gewagten wandelt, spiegelt sich bereits in dem an die Bauernkriege gemahnenden Titel der Erzählung Die hellen Haufen. Brauns “Haufen […] sind hell, als würden sie zu lichteren Zeiten gehören”[10], meint der Kritiker Michael Opitz. Deutlich steht dieser Titel in Intertextualität zu dem früheren Gedicht “Ist es zu früh. Ist es zu spät”, das dem Bauernführer Thomas Müntzer gewidmet ist: “Der Sommer ist vor der Tür/ Die hellere Zeit.”[11] Daß das Erkämpfen dieser  helleren Zeiten künftigen Generationen überlassen ist, läßt sich einem vorangestellten Motto, einem Zitat von Ernst Bloch entnehmen: “Was wir nicht zustande gebracht haben, müssen wir überliefern.”

Braun beginnt die aus drei Teilen bestehende Erzählung mit einem Bericht über lokale Ereignisse während der Zeit der Schließungen und Abwicklungen.  Die beiden ersten Teile bewegen sich im Kontext faktischer Gegenwart. Braun  ändert allerdings die Namen von Ortschaften, ebenfalls die Namen von Politikern in der unmittelbaren Nachwendezeit Anfang der neunziger Jahre. Den großen Bergbau-Kombinaten in der entschwundenen DDR — zu ihnen gehörten auch die von Bischofferode und Mansfeld — droht von Seiten der alten Bundesrepublik mächtige Konkurrenz. In Bischofferode — im Text  Bitterode genannt  —  treten Kumpel der Grube “Thomas Müntzer” in den Hungerstreik, nachdem die Treuhand beschlossen hatte, das Werk stillzulegen. Dann kommt es zum Marsch zur Treuhand in Berlin, der weder zu neuen Arbeitsplätzen noch zu Solidaritätsaktionen von Seiten anderer Arbeiter führt. Braun erwähnte  diesen Protest der neunzehn Bischofferoder bereits in seiner Büchner-Preis-Rede: “Sie sind entschlossen, aber sie werden nicht mehr, in den Städten, die sie durchqueren, ein Rinnsal des Aufbegehren […] Sie HUNGERN FÜR ARBEIT […] Nach dem heißen Brei der Volksdemokratie die kalten Schüsseln des Kapitalismus.”[12]

Sehr ähnlich geht es  den Mansfelder Bergleuten, von denen allerdings einigen wenigen die Arbeitsstellen erhalten bleiben, weil die Bergwerke abgerissen werden müssen. So werden sie, die Auserwählten, indem sie ihre Arbeitsstätten  liquidieren, zu  “Zuhältern der Zukunft” (H 29). Was jahrhundertelang die Existenzgrundlage von Generationen war, landet auf dem Schrotthaufen der Geschichte. Im Kontext der Abwicklungen begegnet der Leser Politikern mit verfremdeten Namen, die jedoch erkennbar sind: der Pfarrer und Bürgerrechtler Schorlemmer ist Schurlamm, der ermordete Treuhandchef Rohwedder ist Rohwetter, die Sozialministerin Regine Brand wird Hilde Brand und der Treuhandchef Schucht wird zum Schufft. Und immer wieder begegnet der Leser dem Revolutionär Mintzer, hinter dessen Namen sich der Organisator der Bauernhaufen aus der Zeit der Bauernkriege des frühen 16. Jahrhunderts verbirgt.  Ebenfalls erwähnt wird wiederholt der Revolutionär Max Hoelz, die zentrale Figur des Mitteldeutschen Aufstandes im März 1921. Der für Braun typische Rückgriff auf die Historie, die Verquickung  gegenwärtiger Rebellionen mit der Arbeiter- oder Bauerngeschichte, erscheint auch hier wieder wirksam eingesetzt.

Im dritten Teil der Erzählung schildert Braun den Aufstand der nicht stattgefunden hat.  Die Arbeiter wagen, was nach Meinung des  Narren nach dem Verschwinden gewohnter sozialer Sicherheiten in den Nachwendejahren hätte geschehen müssen. So ist dann dieser dritte Teil, wie eine Kritikerin meint, eine “Aufarbeitung großer Versäumnisse.”[13] Der Autor verknüpft die blutigen Kämpfe des Bauernkrieges mit den Kämpfen der hungernden Arbeiter von Bischofferode/Bitterode, die in derselben Gegend stattgefunden haben. Die Entlassenen widersetzen sich den Beschlüssen der Treuhand und rebellieren gegen die Umwertung ihrer bisherigen Welt. Die isolierten Ereignisse von Bischofferode und Mansfeld, die in den beiden vorigen Kapiteln folgenlos geblieben waren, eskalieren landesweit: “Die Öffentlichkeit war alarmiert, und der Hungermarsch in Berlin auf Hunderttausend angeschwollen” (H 53). Dieser Aufstand hat seine Statuten:  “Mintzer hatte natürlich die 12 Artikel bei sich, die die schwäbischen Bauern in Memmingen abgefaßt hatten” (H 66); und so werden auf der Folie der “Zwölf Artikel von Memmingen”, der ersten Niederschrift von Menschen- und Freiheitsrechten, die “Mansfelder Artikel  von den gleichen Rechten aller” konzipiert.  Artikel 2 und 3 seien zitiert: “Die Belegschaft bestimmt, was und wofür produziert wird, nämlich was sinnvoll ist” (H 69) und “Nicht den Gewinn maximieren, sondern den Sinn” (H 69). In der Erwähnung des Sinnvollen (Arbeit für alle)  im Angesicht des  Sinnwidrigen in einer profitorientierten materialistischen Gesellschaft (existenzbedrohende Arbeitslosigkeit) spiegeln sich die Visionen des hoffnungslos träumenden Narren, der den Glauben an die Utopie verloren hat, sich ihr aber trotzdem nicht entziehen kann. Mintzers Beifügung einer Fußnote zu den 12 Artikeln evoziert die endlosen Möglichkeiten in der Weite utopischer Horizonte: Die Zukunft ist ein unbesetztes Gebiet. Sie ist offenzuhalten für Anmut und Würde” (H 70).

Der fiktionalisierte gegenwärtige Aufstand steht unter dem Zeichen “KEINE GEWALT”, einer Parole, die den Arbeitern nicht zugute kommt.  Die Gegenkräfte schlagen zu:  die “hellen” Haufen stoßen auf die “schwarzen” Haufen der Regierung. Die Arbeiter begreifen, “daß ihnen Gewalt geschah, aber das war ihr herrlicher begreiflicher Befehl: nicht zu kämpfen und, bis aufs Blut gereizt, bei der irrigen Parole zu bleiben, keine Gewalt” (H 96). Das Ende ist gewaltsam und blutig. Auf einer riesigen Abraumhalde sammeln sich die Aufständischen mit ihren zerfetzten weißen Fahnen;  schließlich, so folgert ein Kritiker, “empfinden sich Volker Brauns Protagonisten selbst  als Abraum der Geschichte.”[14] Der Narr jedoch, der jetzt mit dem Namen “Braun” identifizierte Ich-Sprecher,  protestiert: “Einer aus dem Vogtland, Braun, rief im Jähzorn GEWALT, GEWALT, und es war nicht klar, wollte er konstatieren oder ausrufen” (H 96). Das Statement ist sperrig, spiegelt in seiner Ambivalenz die Gebrochenheit des Narrenmotivs. Spricht der weise Narr, der spöttische-böse beobachtende Kritiker oder gar der Tor, der veraltete Weltanschauungen nicht mehr ernst nimmt, trotzdem aber von ihnen träumt?  In diese  Offenheit greifen die letzten beiden Sätze der Erzählung, denn  hier  scheint der Narr seiner traditionellen Funktion völlig enthoben zu sein. Er kann sich weder mit der Wirklichkeit noch mit der Fiktion so richtig anfreunden, und so lösen sich die Grenzen zwischen Unsinnigem, Widersinnigem und Sinnvollem plötzlich auf. Der Narr sinniert:

Die Geschichte hat sich nicht ereignet. Sie ist nur, sehr verkürzt und unbeschönigt, aufgeschrieben. Es war hart zu denken, daß sie erfunden ist; nur etwas wäre ebenso schlimm gewesen: wenn sie stattgefunden hätte” (H 97).

Handelt es sich um Frust? Um das Ausprobieren einer als nicht lebensfähig erkannten Utopie? Die Kritik reagierte unterschiedlich. Von “abgelebten Weltsichten”[15] oder  von “kurzatmigen Utopien” ist die Rede: “Volker Braun weigert sich, den Sandkasten einer hart aufgeschlagenen Utopie zu verlassen, er schaufelt weiter im Großartigen und Ungefähren.”[16] Dann wiederum wird die Erzählung als “bitter-schöner  Abgesang auf Zeiten klarer Kampfzonen”[17] gelobt. In der Tat  präsentiert Braun ein närrisches Denkspiel, in dem er träumt. Es ist das Privileg des Dichters zu träumen. Der konsequente Denker und Realist Braun jedoch verschleiert das Träumen: Traum, Alptraum und Phantomschmerz werden eins. In dem Band Auf die schönen Possen erscheint die Utopie entsprechend als Gespenst:

Sie hat nichts Besseres zu tun als nichts
Beschäftigt mit Überleben, von der Hand in den Mund
Ein Gespenst aus der Zukunft arbeitslos […] Die Verworfene, nichts hat sie zu tun als Besseres.[18]

 


 

Endnoten

[1] Volker Braun, Die hellen Haufen (Berlin: Suhrkamp, 2011). Im Text der Arbeit abgekürzt mit der Sigle H.

 

[2] Horst S. und Ingrid Daemmrich, Themen und Motive in der Literatur (Tübingen: Francke, 1987)  80.  Stichwort “Narr”.

[3] Joachim Ritter, “Über das Lachen,”   Luzifer lacht. Philosophische Betrachtungen von Nietzsche bis Tabori, hs. v. Steffen Dietzsch (Leipzig: Reclam, 1993) 110.

[4] Braun, “Abschied vom Kochberg,” Tumulus (Frankfurt: Suhrkamp, 1999) 20.

[5] Braun, “Es genügt nicht die einfache Wahrheit,” in: Es genügt nicht die einfache Wahrheit. Notate (Frankfurt: Suhrkamp, 1976) 19-20.

[6] Braun, “Meine Damen und Herren,” in: “Es genügt nicht die einfache Wahrheit. Notate. 16.

[7] Braun, “Der Übernarr,” Sinn und Form, 61/3 (2009):  377.

[8] Cornelia Geißler, “Aufstand gegen die Treuhand. Volker Brauns Erzählung “Die hellen Haufen” ist ein ‘Was-wäre-wenn-Spiel’,” Frankfurter Rundschau 13. 1. 2012.

[9] Volker Braun, Die Verhältnisse zerbrechen. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000 (Frankfurt/M.: edition suhrkamp, 2000) 22.

[10] Michael Opitz, “Volker Braun: Die hellen Haufen. Erzählung,” Deutschlandradio Kultur. Radiofeuilleton/Kritik  19. 10. 2011.

[11] Braun, “Ist es zu früh. Ist es zu spät,” Training des aufrechten Gangs (Halle-Leipzig: Mitteldeutscher Verlag, 1981)  39.

[12] Braun, Die Verhältnisse zerbrechen … 23.

[13] Janina Fleischer, “Salz in der Wunde. Heute erscheint Volker Brauns Erzählung ‘Die hellen Haufen’ – Fiktion eines Arbeiteraufstands,” Leipziger Volkszeitung  10.10.2011.

[14] Dietmar Jacobson, “’Sie waren in der Welt ein Häuflein …,’ Volker Brauns neue Erzählung ‘Die hellen Haufen’ konfrontiert das Wirkliche mit dem Möglichen,” literaturkritik.de, Nr. 3, März 2012.

[15] Sabine Brandt, “Volker Braun: Die hellen Haufen. Abgelebte Weltsichten,” Frankfurter Allgemeine (Feuilleton) 30.11.2011.

[16] Jürgen Verdofsky, “ Auf der Suche nach der Revolution,” Badische Zeitung 11.2.2012.

[17] Angelika Overath, “Ein Totentanz,” Neue Zürcher Zeitung 8. 12. 2011.

[18] Braun, “Die Utopie,” Auf die schönen Possen (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005) 33.

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Oct 31 2012

Christine Cosentino

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“Der kraftlose Schwung der Gehemmten”:  Zum Thema der Sprachlosigkeit in Lutz Seilers Short Story “Na?”

Kurzprosa nach dem Vorbild der amerikanischen Short Story – wie auch immer variiert – blüht auf dem deutschen Büchermarkt  seit der Wiedervereinigung.  Das Ineinander von verhaltenem Sich-Vorwärtstasten und passivem  Gewährenlassen mache  “die Form der kurzen Erzählung so attraktiv für den Schriftsteller. Und für den Leser”[i] beobachtet Volker Hage.  So mancher  Autor stieß während eines  längeren US-Aufenthaltes auf dieses spezifische Genre, sei es  als Student,  Stipendiat oder als Writer in Residence an Universitäten oder Stiftungen. Ingo Schulze setzte 1998 mit seinen Simple Storys für die Problematik der zusammenwachsenden deutschen Staaten in der Literatur einen neuen Ton, dessen  Frequenz sich aus dem Zusammenspiel der Misstöne ergab, die thematisch  dem Genre der amerikanischen Short Story innewohnen. Autoren wie u.a. Antje Rávic-Strubel, Julia Schoch, Angela Krauß, Judith Hermann oder Jakob Hein folgten Schulzes Spuren.

Im  Jahre 2003 ging der Lyriker Lutz Seiler in die USA, wo er drei Monate lang als Writer in Residence in der Villa Aurora in Los Angeles verbrachte.  Vier Jahre später trat er beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb erstmals mit einer Erzählung,  “Turksib”,  an die Öffentlichkeit und wurde einhellig zum Sieger gekürt. Nur kurze Zeit später, 2009, erschien sein Prosaband Die Zeitwaage[ii], der vierzehn teilweise  autobiografisch geprägte, melancholisch getönte,   Kurzgeschichten versammelt.  Thematik  und Komposition der einzelnen Texte lassen das amerikanische Muster erkennen.  Durchaus zuzustimmen ist dem Kritiker Jens Jessen, der generell, dann aber auf Seiler bezogen,  bilanziert,  die  Short Story “sei die Gattung der Kommunikationsverweigerung (gegenüber dem Leser) und der Kommunikationsstörung (zwischen den Figuren). Das nun kommt Lutz Seiler ideal zupass.”[iii]  Seilers Geschichten sind  in der Tat unspektakuläre Momentaufnahmen über verstörte Verlierer und energielose  Verzagte, die ihrer Verlorenheit mit Sprachlosigkeit  gegenüberstehen. Auch andere Kritiker stellten Seilers Anlehnung an die Short Story heraus, seinen Variantenreichtum, seine “Sicherheit in der Benutzung und Abwandlung der klassischen Short Story-Architektur, die nachhaltig beeindruckt.”[iv]

“Misfits” nannte  der Kritiker Tobias Wolff solche  Art von  Anti-Helden für den  Kontext der amerikanischen Short Story. Die Texte Ernest  Hemingways,  Raymond Carvers, Richard Fords oder Ann Beattys seien “a chronicle of misfits trying to break out of  ‘submerged population groups’ […] stories about people who led lives neither admirable nor depraved, but so convincing in their portrayal that the reader had to acknowledge kinship.”[v] Sehr ähnlich beleuchtet Seiler Menschen, die sich mit “kraftlosem Schwung”  (258) in  Verlustsituationen bewegen, Situationen, deren  Handlungsarmut  zum Spiegel von Hoffnungslosigkeit und Antriebsschwäche der Protagonisten wird.  Befragt nach dem seltsamen Titel seines Bandes, äußerte sich der Autor zum Instrument einer Zeitwaage,  die  die Ganggenauigkeit einer Uhr misst. Es ginge “um Momente, die schwanken, die herausfallen aus dem Ablauf der Zeit.  Die Lücken im Ablauf, wo uns etwas besonderes passiert, uns etwas zustößt mit einer Notwendigkeit, die wir selbst vorher nicht sehen konnten. Man fühlt sich unter Umständen hilflos dem ausgesetzt, aber es passiert etwas Entscheidendes.”[vi] Der Leser begegnet auf Schritt und Tritt in Seilers  Short Stories Menschen, die aus der Zeit gefallen  oder aus dem Takt geraten sind.

Wer jedoch annimmt, daß der 1963 in Gera geborene, in der DDR sozialisierte Autor per Rückblende  im DDR-Milieu verwurzelten Trübsinn aufwärmt und Historisches aufzuarbeiten versucht, geht fehl. Seiler geht es nicht um die Rekonstruktion östlichen Selbstbewußtseins. Es handelt sich  weder um Bewältigungsliteratur im Sinne Ingo Schulzes, Julia Schochs oder Monika Marons,  noch um bitter satirisch philosophische Auseindersetzungen, wie  Volker Braun oder Thomas Brussig sie betrieben.  “Ich habe die DDR nicht im Sinn gehabt bei diesen Erzählungen”,  erklärt der Autor im oben bereits erwähnten Interview. Er fährt fort: “ Es ging nie um Rekonstruktion von DDR-Zuständen oder DDR-Geschichte. Es ging immer um diese besonderen Momente, die unabhängig von Gesellschaftsformationen zu existieren scheinen.” (“Interview)  Keineswegs also  präsentiert  Seiler  Auseinandersetzungen bzw.  Abrechnungen  mit den  “Kollateralschäden des Sozialismus”, wie der Kritiker  Jens Jessen meint (Jessen). In einem Video-Gespräch widersetzt sich Seiler dieser Interpretation mit Nachdruck: “Überhaupt nicht!”[vii].  In Seilers  amerikanisch eingefärbten Kurzgeschichten  dominiert das exemplarisch  Existentielle  im Leben  verwundeter Menschen in Zäsursituationen. Zwar ist die DDR  als Folie oder Lokalkolorit hier und da  in den vierzehn Geschichten der Zeitwaage  deutlich gegenwärtig, aber es  geht  um psychische Wunden der Helden/Antihelden, um Existentielles, Trauma generell, dem  der  Mensch in Ost oder West, Nord oder Süd,  jenseits jeglicher ideologischer  Grenzen ausgesetzt sein  kann.  Themen wie  Einsamkeit, Tod, Verlust,  unfaßbare Unglücksfälle oder schmerzliche Lebenszäsuren stehen im Vordergrund.  In diesem Sinne sind die Seilerschen Figuren von allem Historischen losgelöst und besitzen einen hohen Grad an Universalität.   Stilelemente aus dem  Short Story-Reservoir, die der Thematik  eines traumatischen Bruchs entgegenkommen, sind  eine  äußerst komprimierte Sprache, der ausschnitthafte, enge Blick,  die kleine Geste, Lakonie, die vielen  Lücken, die zu füllen sind,  das Verschweigen des Wesentlichen, die  Handlungsarmut  und die vielen Verstörung  auslösenden  Konfliktsituationen  wie Wendepunkte bzw. Momente eines Umschlags. Seiler integriert und variiert dergleichen Kompositionselemente  kreativ in seine  Texte.

Alle im Band Die Zeitwaage versammelten Geschichten zeigen Menschen in Sprachnot, Menschen, denen es die Sprache verschlagen hat über einen Verlust, von dem sie nicht sagen können oder wollen, worin er besteht. Das, was sie quält, bleibt im Vagen.  Sie belassen es bei vagen  Äußerungen.  Hier spürt man deutliche Affinitäten zu Raymond Carver. Ingo Schulze wies in seinem Vorwort zu Carvers übersetztem Band Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden[viii] (What we talk about when we talk about Love) auf jene nicht näher definierten, inneren Verletzungen und Verwirrungen, die fassungslos und sprachlos machen, auf das, “wofür [der Sprechende] keine Worte hatte.”[ix] Einer der Seilerschen Texte,  betitelt “Na?”,  sticht innerhalb dieser Thematik der Wortlähmung oder Wortlosigkeit  hervor, denn hier wird gar nicht mehr um Sprache gerungen; die Sprache ist verkümmert, nicht mehr vorhanden, auf eine semantische Partikel reduziert, die einem Film entliehen ist.   Kommunikation, wo sie überhaupt noch angestrebt wird, stützt sich auf Nichteigenes, auf das Sprachreservoir bekannter Filme.  Die Handlung in der Geschichte  “Na?” —  der minimalistische  Titel suggeriert es — ist  ungewöhnlich karg, der Text selbst nur wenig mehr als vier Seiten lang, mit einem (Anti)-Helden, von dem man nur weiß, daß er K. heißt  und ein Haus, vielleicht auch zwei Kinder hat.  Das Eigentliche, die Konfliktquelle, wird verschwiegen. Die sich im abgekürzten Namen andeutende, an Kafka erinnernde  Entpersönlichung spricht für sich selbst.

Die Handlung bewegt sich vorrangig um die Beobachtung einer sterbenden Amsel, die K. auf einem Pfeiler der Einfahrt zu seinem Haus sieht, als er am frühen Morgen heimkehrte. Der schwarze Vogel ist realiter vorhanden in diesem fiktiven Bereich. Sieht man ihn jedoch auf der Folie von K.’s Verzagtsein und seiner inneren Kälte, so ließe sich eine symbolische Ebene entdecken. Der Aberglaube mißt der Amsel magische Kräfte zu: ihr Angang kann Unglück bedeuten; ihr Singen auf einem Hauszaun Tod.[x] Das Registrieren der kleinsten Details dieses sich dem Ende nähernden Vogellebens — das schrille Pfeifen,  das Starrende, die kraftlosen Bewegungen  — zeugt von einem hoch entwickelten Einfühlungsvermögen des Autors und der Figur,  die aus sinnlicher Verbundenheit mit Naturphänomenen aus der Tier- und der Pflanzenwelt schöpft. Auch die hohe Empfindlichkeit Naturgeräuschen gegenüber besticht.

Als “Buch der Bilder”[xi]  bezeichnet Welf Grombacher daher Seilers Band. Man spürt die Stimme eines Lyrikers,  der sich mit der Veröffentlichung der Zeitwaage nun auch als Prosaist bewährt.  Seiler kombiniert in seinen Prosatexten  — in  seiner Art von Short Stories —  durchaus souverän zwei Haltungen, die Welt zu sehen. Er äußert sich in oben erwähntem Interview über Lyrik und Prosa:

Indem ich Prosa schreibe, sehe ich anders, höre ich anders, achte ich
auf andere Dinge. Man ist mehr dabei, genau zu beobachten, auf
Dialoge zu hören. Wie bewegen sich Leute? Welche Gesten machen
Menschen, wenn sie sprechen? Das alles  ist  anders als  in der Lyrik. […] Man versucht, das stärkste Bild abzuschöpfen, möglichst nicht so
genau hinzusehen, um etwas ankommen zu lassen, mit dem man
nicht gerechnet hat. Es gibt in der Lyrik mehr irrational Elemente.[xii]

Und in der Tat wird das Bild der Amsel  “abgeschöpft” und als  Psychogramm ausgeschöpft: “Es war das Versteinerte, Unverwandte im Auge des Vogels” (258), das die eigene Bewußtseinslage projiziert. Der  Todeskampf des erschöpften Vogels, sein Zucken und seine Starre in der vereisten Landschaft, werden zum Spiegel der inneren Erstarrung der  verzagten  literarischen Figur.  Der Grund für diese Vereinsamung wird nicht angegeben. Es heißt nur kurz: “Schließlich war es nicht unbedingt nötig, am frühen Morgen in die Garage zu fahren, nicht unbedingt nötig, nach Hause zu kommen, schoß es ihm sinnlos durch den Kopf.” (258) Man vermutet eine Trennung, vielleicht auch Tod, eine verstörende Begebenheit, die das Leben entscheidend geprägt hat. Oder ist der Keim der Apathie  gar  im Charakter selbst angelegt, ohne den verstörenden Wendepunkt?  Es  bleibt im Vagen.  Zwar  ermahnt  sich  K. müde zum Weitermachen;  die sich in seiner Gestik spiegelnde Kraftlosigkeit  jedoch widerspricht dieser Selbstermunterung: “’Irgendwie muß es immer weitergehen, mein Lieber.”‘  Er hatte das halblaut gegen die Frontscheibe gesagt; mit einem gewollten kraftlosen Schwung stieg er aus.” (258)

Während eines stummen Dialogs mit dem Vogel  —  beide starren sich an  —  erinnert sich K. an die “ wenigen Vogelkadaver”  im Garten, die die früher Kinder gefunden hatten. Clara, man nimmt an,  es ist seine Tochter,   ist traurig über den Tod der Vögel und die Knochen, die sie findet.  K. will sie trösten, nimmt sie in den Arm.  Doch ist es wirklich eine Erinnerung  oder handelt es sich vielmehr  um Wunschdenken, um eine Phantasie, in der dem Sprach- und Gefühlsgelähmten  menschliche Annäherung gelingt und die Wortlähmung aufgehoben wird?  Oder handelt es sich  bei dieser Geste, vielleicht auch  imaginierten  Geste, gar um Unterlassenes, Nichteingelöstes, um das, was der Kritiker Jens Jessen als  “die Schuld der Gehemmten” (Jessen)  nennt? Die zärtliche Geste der Tochter Clara gegenüber erscheint urplötzlich nur Ausschnitt aus einem Film zu sein:  “das alles schien einem vertrauten, oft gesehenen Film zu entstammen, einem Film, in dem jemand, der ihm ähnlich sah, tröstliche Dinge erfand.” (256) Und dann, “während die Amsel sich von der Tanne herunter auf die kleine Hecke stürzte (ohne Pfeifton) und dort reglos hängenblieb” (258), erinnert sich K.,  wie er und Bruno, vermutlich sein Sohn, aus dem Wagen in der Garage stiegen und zum Eingang zurückliefen, um das Tor zuzumachen. Er  reflektiert:  “Bis zum Tor war er frei:  Ein Atemholen, ein Aufschub, eine Lücke von zehn, zwölf Sekunden, in dem ihm nichts und niemand etwas anhaben konnte.” (259) Beide schlendern zurück zum Haus.  K. strich Bruno übers Haar und sagte : “Na?”  Ist diese kurze Zeitspanne der Gemeinsamkeit, der Berührung,  ein Akt der Befreiung von der Beklemmung?  Wieder rätselt der Leser. Welche Probleme birgt das Haus? Und hat diese Episode versuchter Nähe überhaupt stattgefunden? Oder entstammt sie vielmehr der Phantasie, dem, was hätte sein können.  K.  “erinnert” sich: beim Zurückschlendern zum Haus

schob er seine Hand in Brunos Nacken oder fuhr ihm durchs Haar
oder machte etwas Ähnliches, irgend etwas, das ebenfalls jenem
alten, oft gesehenen Film entstammte, wo es  eine vollkommene
Vertrautheit symbolisieren sollte, und im Grunde zeigte der Film noch
mehr: die Bereitschaft,  alles zu geben, falls es nötig sein würde. (259)

Nähe und Gemeinsamkeit gehören in den illusorischen Bereich  eines Films. Begleitet von der sterbenden Amsel, die neben ihm durchs Gestrüpp ruckt, öffnet K. die Haustür, und der Film endet: “Das Licht ging an, er betrat das Haus und war allein.” (260) Seilers Held ist ein Verlassener, der sehnsüchtig an Alltagsrituale oder Sicherheiten glauben will und nicht kann. Er ist allein, ein Gescheiterter, aus dem Takt Gefallener.

Fast alle Geschichten der Zeitwaage  spiegeln  Sprachhemmungen und Kommunikationsstörungen solcher oder ähnlicher Art. Die Anti-Helden sind nicht fähig auszudrücken., was sie quält oder bewegt: so begegnet der Leser einem Stotterer,  der psychisch und physisch Kommunikationsprobleme hat und am liebsten allein ist  (“Der Stotterer”);  oder einem Schachspieler, der seiner ebenfalls brillant spielenden Freundin gegenüber unehrlich und verklemmt ist, denn er verschweigt, daß er selbst spielen kann (“Gavroche”);  oder in zwei miteinander verzahnten Geschichten steht ein Ehemann im Zentrum, der nicht die Kraft hat, seiner sich von ihm trennenden Ehefrau  mündlich oder  schriftlich  mitzuteilen, was ihn bewegt: er will etwas sagen, in einem Brief, setzt an, aber er weiß nicht, was er sagen soll, er verstummt (“Frank”;  “Im Geräusch”).

Die  bereits erwähnten, bewußt/unbewußten Affinitäten zu  Raymond Carver sind deutlich spürbar , denn  unter den vielen amerikanischen Autoren, die sich dieses sich stetig wandelnden Genres der Short Story bedient haben, kann man Raymond Carver sicherlich  als Meister der Thematik des Schweigens oder Nicht-Redenkönnens, als Meister der Gestaltung von Unsagbarem  bezeichnen. Einige Beispiele aus dem Band  Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden seien erwähnt. In dem Text  “Warum tanzt ihr nicht?” verkauft  ein  älterer angetrunkener Mann zu Schleuderpreisen Möbel an ein ebenfalls angetrunkenes  junges Paar; er tanzt mit der jungen Frau und diese merkt: “Sie müssen verzweifelt  sein, oder so” (25) […] Sie erzählte es jedem. Da war noch mehr an der Geschichte, und sie versuchte, es sich ein für alle Mal von der Seele zu reden. Nach einiger  Zeit gab sie den Versuch auf.” (26) Dieser  —  laut  Ingo Schulze —  “wortreichen Sprachlosigkeit”  steht die “wortlose Sprachlosigkeit” gegenüber, denn für das als unsagbar Gefühlte lassen sich keine Worte finden. So drängt  in der  Trennungsgeschichte, “Alles klebte an ihm”,  eine  junge Frau ihren Vater, von seiner kaputten  Ehe zu erzählen, die doch  einmal harmonisch war,  aber: “Die Dinge verändern sich, sagt er. Ich weiß nicht, wie sie das tun. Aber sie tun es, ohne dass man es merkt oder dass man es möchte.”  Er bricht ab, und auch der Tochter fehlen die Worte:  “Ja, das stimmt. Nur … Aber sie sagt den angefangenen Satz nicht zu Ende. Sie läßt das Thema fallen.” (150)  Und in der wohl eindringlichsten, nachhaltig auf den Leser wirkenden  Trennungsgeschichte, “Nur eins noch”,  will der von seiner Familie verlassene Ehemann, der ein Trinker ist,  noch irgend etwas sagen: “’Ich will nur noch eins sagen’.  Aber dann fiel ihm nicht ein, was in der Welt das sein könnte.” (175).

Bei Seiler dominiert  die Wortlähmung  oder —  wie  in “Na?” —  das  von der Persönlichkeit losgelöste, dem Film entliehene  Wort; komplementiert wird diese Kommunikationsstörung mit  dem “Abschöpfen” eines Bildes, dem Suchen  nach in ihm gespeicherten Bewußtseinslagen  oder mit einfühlendem  Registrieren  von Sinneseindrücken, vorrangig von  Geräuschen.  Seilers  kurzer Text “Na?”  kombiniert hoch entwickelte Wahrnehmungsempfindlichkeit der Natur gegenüber mit einer äußerst verdichteten kargen  Handlung, die dem Leser ein weitgespanntes Interpretationsfeld einräumt.  Es ist Short Story-Prosa eines Lyrikers.


 

Anmerkungen

 

[i] Volker Hage, “Mehr als verdient. Wenn Schriftsteller sich bescheiden: Immer mehr deutsche Autoren entdecken den Charme von Kurzgeschichten und Erzählungen,” Der Spiegel,  15.3.2010.

 

[ii] Lutz Seiler, Die Zeitwaage. Erzählungen (Frankfurt/M: Suhrkamp, 2009).  Seitenzahlen für Zitate im Text der Arbeit.

 

[iii] Jens Jessen, “Die Schuld der  Gehemmten: Lutz Seilers meisterhaft schwermütige Erzählungen,” zeit-online, http://www.zeit.de/2009/42/L-B-Seiler-neu

 

[iv] Elmer Krekeler, “Seiler wiegt die Zeit,” Welt-online, 15. Januar 2010.

 

[v] The Vintage Book or Contemporary Short Stories. Hg. Tobias Wolff. New York 1994. Xiii

 

[vi] Interview mit Lutz Seiler, “Während ich schreibe muß ich immer sprechen,” 25. Oktober 2010,   http://planet.interview.de/interview-lutz-seiler-26102010.html

 

[vii] Porträt: Lutz Seiler (VIDEOS) boersenblatt.net 15. Oktober 2009 www.boersenblatt.net/343387/template/b4-tpl-video/

 

[viii] Raymond Carver, Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden, mit einem Vorwort von Ingo Schulze, ”Endstation, Sehnsucht”, übers. v. Helmut Frielinghaus (Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag, 2002). Zitate aus dem Band im Text der Arbeit.

 

[ix] Ingo Schulze, Vorwort: “Endstation, Sehnsucht,” 10.

 

[x] Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 10 Bände, hrs. v. Hans Bächthold-Stäubli (Berlin, 1927)  Band 1, pp. 372-74.

 

[xi] Welf Grombacher, “Lesen – Hören – Sehen: Buch der Bilder – Prosa eines Dichters,” Freie Presse  5. Februar  2010.

 

[xii] “Währen ich schreibe, muß ich immer sprechen”

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Oct 31 2012

Volker Sielaff

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Die Dinge
Es ist nur dieser kleine Ausschnitt im Hof
ein Stück Aussicht, die ich habe von meinem
Fenster. Wenn der Platz unter der Birke

verwaist ist, künden die herumliegenden Dinge
von zahllosen, vorläufig aufgekündigten
Anwesenheiten, ein alter Kessel ohne

Klang. Dann füllt er sich mit Wasser, Stimmen.
Die Kinder kommen in den Hof gelaufen, nehmen
was geduldig wartete unter der Birke, in Besitz.

 

Gullivers Reisen
Wer bin ich, wenn sie mich fragt
wer ich war als Kind?
Dieser, Jener, ein Dritter?

Bin ich der, der mich beschreibt,
von dem es hört aus meinem Mund,
wenn ich erzähle, von wem?

Wachse ich mir
rückwärts selbst entgegen,
verkleinere ich mich, heute

Zwerg und morgen
wieder Riese neben ihr –
der bestimmt wann es ins Bett geht,
Zähneputzen nicht vergessen?

Nicht mal dieses Foto
kann ich ihr zeigen, irgendwo
muß es ja geblieben sein

so unbeschadet aller Zweifel
daß der Dargestellte
ich gewesen sein werde,
als Kind.

 

Selbstporträt mit Zwerg
Unwahrscheinlich,
daß eine Leine voll bunter Wäsche
zu einem Mythos taugt, oder einem Zwerg
mit ausgeschlagenen Zähnen ein Anrecht
auf Ewigkeit gäbe, nur weil er darunter
seinen Rumpelstilzchen-Blues anstimmt,

ebenso unwahrscheinlich,
daß ehrliches Lügen oder dein lügnerisches
Schweigen aus ein und demselben
Stamm sprießen, daß deine Fragen geradewegs
in die Hölle führen, ins gelobte Land, warum also
nicht darauf antworten; seit Tagen

bringst du mich um das Wichtigste,
meine Gewißheit, dieser oder jener
zu sein, oder doch der, dem die Antworten
wie Pilze aus der Tasche fallen, unwahrscheinlich
das alles, und zuallererst, daß ich es bin,
der so, von sich selber, spricht.

 

Zeit
Von dieser Reise weiß ich mehr als du.
Zu klein warst du, um Bilder zu bewahren,
deine Erinnerung war noch ohne Gefäß, ganz
aufgehoben in einem Unten zwischen Bald
und Noch Nicht. Die Gänse im Domhof
zeigte ich dir, später auf Fotografien, wir
steckten unsere Köpfe durch die Gitter,
keiner war keinem im Weg, obwohl der Platz
voller Touristen war, die beglückt
auf die Gänse starrten, so als wären
sie ihretwegen gekommen, nicht
um die Sarkophage aus Marmor
in Augenschein zu nehmen, vor uns
sprudelte der Brunnen, da war ich
noch klein, sagst du, wann immer
ich dir die Fotografien zeige
von der Kathedrale La Seu, wie
kam das Licht in den Körper (deinen?)
durch die bemalten Glasfenster des Doms?,
welche Wege geht Licht, was erzählt es,
wovon wir träumen? Ich trug dich
die Straßen auf und ab, das Licht
schaukelte in uns wie eine Flüssigkeit
in einer verschlossenen Flasche, die
erst später geöffnet werden wird, beim
Betrachten der Bilder, in einem Sommer,
später.

Aus: Selbstporträt mit Zwerg, Verlag luxbooks, 2011.

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Oct 31 2012

Bas Böttcher

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Schnappschüsse
Schnappschüsse
(Bas Böttcher zum Andenken an H. A.)

Nimm diesen Fotoapparat
Nimm diese Kamera
Schau wie der Spiegel sein Reflex-Spiel treibt
mit Brennweite, Blende und zweiunddreißig Gigabyte

Für die vorübergehende Schönheit, die anhaltende Zeit
sie passiert dir, sie passiert dich
im Vorbeigehen ein Blitzen, das bleibt
So erscheint sie dir und so erscheint sie allen
im Begriff zu strahlen, gleich ihr verfallen

Finde Motive, mach Fotos
Drücke den Auslöser
für die Fortfolge von hell aufbrennenden
keine Sekunde dauernden
jede Hundertstel beginnenden und endenden Momenten

Knips das
Sonne-steht-im-Gegenlichtadrette-
Silhouette-stichtaus-
Massen-in-der-Bahn-zur
Morgen-Frühschicht-hervor-Jetzt

Knips das
Matt-im-Schatten-schlafen-legen
satt-und-schlapp-die-Trägheit-pflegen
rasten-und-die-Lider-zufalln
lassen-unterm-Baum-Jetzt

Knips
Beim-Blick-aus-Flugzeugfensterglänzt-
der-Flügel-Fliegerschattenauf-
den-Wolken-und-nkreisrunder-
Regenbogen-drum-Jetzt

Fokussier die Fortfolge von hell aufbrennenden
keine Sekunde dauernden
jede Hundertstel beginnenden und endenden Momenten

Und so viel du auch knipst
es bleiben Pixel gebannt auf Chips

Und die vorübergehende Schönheit, die anhaltende Zeit
sie passiert dir, sie passiert dich
im Vorbeigehen ein Blitzen, das bleibt
So erscheint sie dir und so erscheint sie allen
im Begriff zu strahlen, gleich ihr verfallen

(Aus: Bas Böttcher – Vorübergehende Schönheit – Buch & CD bei Voland & Quist – 2012)

 
Abheben
Vom Abheben

Ticket gebucht
Koffer gepackt
Pässe gesucht
Urlaub gemacht
 
Und wie Entdeckergeist, EC-Karte und Reise-Arznei
ist meine eine sie bei jedem Flugzeugstart dabei
 
Ob Neapel oder Nepal, ob Sonne oder Schneefall
ob Bali oder Bari, ob Strand oder Safari
individual oder mit Pauschale, Hauptsache
ich treff meine Flugsicherheitsbeauftragte
mit dem scharfen Blick einer Raubkatze
 
Sie
inspiziert die Taschen
und durchwühlt die Sachen
konfisziert die Flaschen
tippt versiert die Tasten
korrigiert Lidschatten
mit milder Stimme und lieblichem Lachen
Fragt ohne Verlegenheit leicht und frei
Haben Sie Flüssigkeiten dabei?
 
Mit dem scharfen Blick einer Raubkatze
meine Flugsicherheitsbeauftragte
in dieser Uniform, in dieser reizenden Aufmache
 
Keine Bräunung am Strand ohne Durchleuchtung am Fließband
Kein Sonnendeck, kein Reisegepäck ohne Taschencheck
Keine Wellen, keine Korallen ohne Kontrollen
Kein Lichtschutzfaktor ohne Metalldetektor
Dem New Yorker Urban-Glam kommt zuvor der Körperscan
 
Mit dem scharfen Blick einer Raubkatze
meine Flugsicherheitsbeauftragte
in dieser Uniform, in dieser strengen Aufmache
 
Und ohne sie flögen wir nicht
verlören wir schlicht
Bye bye schöne Aussicht
Es zögen Gewicht
und Schwerkraft uns runter ohne besagte
Flugsicherheitsbeauftragte
 

(Aus: Bas Böttcher, Vorübergehende Schönheit Buch & CD bei Voland & Quist – 2012)

 

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