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Apr 23 2012

Julian Reidy

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Mehr als ein ‚unendlicher Spaß’: Figurationen von David Foster Wallace in Clemens Setz’ Erzählung Kleine braune Tiere. Von Interauktorialität, Intertextualität und Selbstmorden

 

     „The truth is that the hours before a suicide are usually an interval of enormous conceit and self-involvement.“

– David Foster Wallace

„This was not an ending anyone would have wanted for him, but it was the ending he chose.“

D. T. Max

 Schon bevor sein Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes 2011 den Preis der Leipziger Buchmesse gewann, galt der 1982 geborene österreichische Autor Clemens Setz als „jüngste Hoffnung der deutschen [sic] Gegenwartsliteratur“[1] oder sogar als deren „Hoffnungskind“[2]. Im gleichen Atemzug wird Setz oft als „Nachfolger“[3] des amerikanischen Kultautors David Foster Wallace gehandelt, der sein „Vorbild[]“[4] sei[5]. Der vorliegende Aufsatz soll Clemens Setz’ literarische Bezugnahme auf David Foster Wallace anhand einer Erzählung aus Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes beleuchten, nämlich Kleine braune Tiere. Zu zeigen ist zum einen, dass und in welcher Weise die Erzählung auf Wallace anspielt. Zum andern soll untersucht werden, wie in Kleine braune Tiere der Suizid – natürlich spezifisch der Suizid des David Foster Wallace, der in Setz’ Erzählung in vielfacher Weise figuriert – konzeptualisiert wird, und zwar sowohl im Spiegel medialer Reaktionen auf Wallaces Tod als auch anhand von Positionsbezügen zweier Personen, die Wallace nahe standen: seines Freundes Jonathan Franzen und seiner Witwe Karen Green. Ausgegangen wird von der Arbeitshypothese, dass Wallaces Freitod in Kleine braune Tiere in vielschichtiger, ambivalenter und, wie im Zuge einer sehr kurzen kulturgeschichtlichen Kontextualisierung der Selbstmordproblematik offenbar wird, eben gerade nicht stereotyper Weise reflektiert wird.

Die Erzählung Kleine braune Tiere, welche der Rezensent Franz Haas nicht zu Unrecht als „wirkliche[s] Herzstück“[6] des Erzählbands betrachtet, handelt vom „Genie“[7] Marc David Regan. Dieser wurde „1986 in Manchester geboren“ und ist ein „begnadete[r] Universalpoet unter den Spieleprogrammierern“; schon als Kind wollte er „Schriftsteller“[8] werden, war im vorpubertären Alter bereits literarisch produktiv und studierte dann „Mathematik“[9]. Vor seinem Selbstmord nahm er, im Liebeskummer, „voller Verzweiflung und Selbstmitleid“, die Arbeit an einem „Computerspiel“[10] namens „Figures in a Landscape[11] auf. Das Spiel, „surreal[]“[12] und grotesk, ist originell und schwierig. Es löst schon „kurz nach Erscheinen“ im Jahr 2007 „interdisziplinäre Begeisterungsstürme“[13] aus, und erlangt „ungeheuren Einfluss […] auf die künstlerischen und intellektuellen Sphären des frühen 21. Jahrhunderts“[14]. Einer der Hauptgründe für die Faszination, welche Figures in a Landscape innewohnt, ist laut dem Erzähler das mysteriöse „letzte Level“ des Spiels: „Bis heute weiß niemand, wie man das letzte Level von Figures in a Landscape direkt im Gameplay erreicht. Man bleibt bestenfalls im vorletzten Level stecken […]“[15]. Regan nimmt das Geheimnis des letzten Levels mit ins Grab: Er begeht 2008[16] Selbstmord. Die Erzählung endet mit einem Symposion zu Regan, in dessen Verlauf es zur Kontroverse um das letzte Level kommt. Konrad Lauffer, ein etablierter Regan-Forscher, der gemäß dem Erzähler schon 2007 ein „Standardwerk“ mit dem Titel „Kafka, Lynch, Regan[17] veröffentlicht hatte, glaubt das Mysterium entschlüsselt zu haben: Im Quellcode von Figures in a Landscape verstecke sich ein bislang unentdeckter Abschnitt, der nach der Kompilierung ein neues Level – vermutlich das sagenumwobene letzte Level – ergebe, nämlich einen schmalen Raum mit blauen Wänden. Der Spieler, erkennbar an den am unteren Rand des Bildschirms schwebenden Händen, konnte nicht mehr viel tun, als sich vor und zurück zu bewegen. Zu erledigen gab es in dem Raum nichts […]. Die Lebensenergie des Spielers in diesem letzten Level war […] zu einem grauen Balken erstarrt, der niemals, auch nicht mit der Zeit, abnahm. Es war eine Welt ohne Tod, ein Jenseits, vergleichbar mit dem weißen Raum am Ende von Stanley Kubricks Film 2001: A Space Odyssey, in dem einer der Astronauten wohnt, isst, altert, sich zum Sterben hinlegt und dann wieder aufsteht.[18]

Diese Entdeckung wird zunächst als Sensation gefeiert. Nach Lauffer aber hält eine amerikanische Musikwissenschaftlerin namens Maggie Phillips, Autorin einer Regan-Biographie, einen Vortrag, in welchem sie eine laut dem Erzähler „gewagter[e]“[19] Erklärung für das letzte Level vorbringt: Der „blaue Raum aus dem Programmcode sei zwar ganz interessant, aber es gebe doch eigentlich keinen Beweis dafür, dass es sich dabei tatsächlich um das letzte Level handle. Wahrscheinlich sei es lediglich ein Rest, ein frühes Experiment“[20]. Phillips liest einen Brief aus der Feder von Regans Freundin vor, die den Toten entdeckt hatte. Der Brief schildert die letzten Stunden des Künstlers und seinen Selbstmord:

Und da ist er gelegen, alles voller Blut, die schönen neuen blauen Fliesen [im Badezimmer, Anm. v. J. R.], alles voll. Es war furchtbar. […] Ich sage Ihnen, Ms. Phillips, alles war voller Blut, sogar der Rattenkäfig, der offen stand, und die verwirrten Tiere waren am Boden, ganz durcheinander und mit klebrigen Pfoten, denn das Badezimmer, müssen Sie wissen, ist ein ganz schmaler Raum, wo die Wände einem immer ganz nah sind, egal wo man steht. Nachdem ich begriffen habe, was geschehen ist, ist mir schlecht geworden, und dann bin ich sofort aus der Wohnung geflüchtet […]. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, ich bin immer noch böse auf ihn. Er hätte das nicht tun sollen, nicht so, auf diese Art. Und wenn ich daran denke, dass er in seiner letzten Stunde lieber seine beschissenen Nager um sich gehabt als mich – ich sage Ihnen, dann wird mir heute noch schlecht.[21]

 

Der bislang unbekannte Brief wird auf dem Symposion als „‚Entdeckung’“ gefeiert, Lauffer ist blamiert und zertrümmert vor seiner Abreise „einige Gegenstände in seinem Hotelzimmer […], das übliche Programm eben, wie es bei Paradigmenwechseln häufig zu beobachten ist“[22] – wobei nicht ganz klar wird, inwiefern diese Schilderung von Regans Todesumständen die Frage nach dem letzten Level beantwortet, beziehungsweise Konrad Lauffers Hypothese vollumfänglich entkräftet. Überhaupt entsteht nicht der Eindruck, dass Maggie Phillips vertrauenswürdiger ist als Lauffer. In ihrer Regan-Biographie zitiert sie einmal eine Notiz Regans, die laut dem Erzähler in den gesammelten Letters and Journals nicht zu finden sei[23], und der erwähnte Brief von Regans Freundin könnte, so argumentieren „Zweifler“[24], von Phillips fingiert worden sein – diese Zweifel werden in der Erzählung in der Tat nicht entkräftet. Zudem exzerpiert der Erzähler aus dem in Fn. 16 erwähnten Sammelband ein Chat-Protokoll, in welchem ein User namens Edgar11 behauptet, einen „narrow blue room filled with little brown animals“[25] entdeckt zu haben, nachdem er in die Flammen seines brennenden Hauses gesprungen sei – nur wer den von Phillips zitierten Brief kennt, kann vom „narrow blue room“ mit den „little brown animals“ (Regans Ratten) wissen; es ist also nicht ausgeschlossen, dass Phillips unter einem Pseudonym online ihre Thesen zu Regans Tod verbreitete.

Wie dem auch sei: In dieser grotesken und komplexen Erzählung ist David Foster Wallace mehrfach repräsentiert. Zunächst tritt er in derselben Funktion auf wie in den Rezensionen zu Clemens Setz’ Werk, und zwar als Vorbild. Marc David Regans „Meisterwerk[]“ sei, so der Erzähler gleich zu Beginn von Kleine braune Tiere, für „unsere[] Epoche“ ebenso paradigmatisch wie „Ulysses für den modernen, Gravity’s Rainbow für den postmodernen, Infinite Jest für den postpostmodernen“[26] Roman. Ab diesem Punkt aber kommt es zu einer Art Doppelung: Der ‚echte’ David Foster Wallace mag in der Erzählung als Autor des Romans Infinite Jest präsent sein, aber in der Figur des Marc David Regan tritt er auf noch prägnantere Weise in Erscheinung, allerdings in verklausulierter Form. Die Parallelen sind sehr zahlreich. Mit Wallace teilt Regan einen Vornamen. Wie Wallace galt auch Regan schon als Kind als „Genie“[27] mit vielseitiger Begabung: Der junge Regan wirkt als Dichter und Mathematiker und schließlich als Programmierer eines Computerspiels; der junge Wallace war ein begabter Tennisspieler, studierte später Englisch und Philosophie, wobei er sich auch mit mathematischen Arbeiten einen Namen machte[28], und erhielt 1997 ein MacArthur Fellowship. Regan hegt ein großes „Mitgefühl für Tiere“[29] und stirbt in der Gesellschaft seiner geliebten Ratten (also ‚kleiner brauner Tiere’); Wallace war ein fast schon fanatischer Hundefreund und nahm sich das Leben, während er allein mit seinen Hunden zu Hause war[30]. Die Hauptfigur in Figures in a Landscape heißt „John Brel“[31], „[m]öglicherweise“[32], so der Erzähler, in Anspielung auf den Sänger Jacques Brel, den Regan mochte – in Infinite Jest gibt es einen Charakter namens Michael Pemulis, dessen Namen Wallace höchstwahrscheinlich ebenfalls einem Musiker entlehnte[33]. Konrad Lauffers „Standardwerk“[34] über Regan trägt den Titel Kafka, Lynch, Regan – sowohl über Franz Kafka als auch über David Lynch schrieb Wallace vielbeachtete Aufsätze[35]. Zudem stirbt Regan wie Wallace im Jahr 2008 durch Suizid, wobei wie im Falle von Wallace die Leiche von der Lebensgefährtin gefunden wird. Sogar auf einer Meta-Ebene figuriert Wallace im Text: Der Titel von Setz’ Erzählung lässt sich nämlich nicht nur als Anspielung auf die dem Suizid beiwohnenden Ratten lesen, sondern evoziert auch Wallaces Verlagshaus Little, Brown Books[36]. Das Erbe beider Künstler umfasst schließlich jeweils ein gigantisches und ‚schwieriges’ Hauptwerk von „ungeheure[m] Einfluss“[37]Figures in a Landscape, respektive den in der Erzählung erwähnten Roman Infinite Jest –, das in der Fachwelt hitzig und kontrovers diskutiert wird. Alles in allem figuriert David Foster Wallace in Setz’ Kleine braune Tiere gleichsam als biographisches Subjekt, und zwar in so vielschichtiger und fast schon penetranter Weise, dass man der Erzählung ein hohes Maß an „Interauktorialität“ im Sinne Ina Schaberts attestieren muss: Hier wird in der Tat geradezu eine „menschliche Begegnung zwischen dem in einem gelesenen Text wahrgenommenen Autor und dem Autor eines nachzeitigen Werks“[38] gestaltet.

Hinzu kommt ein starker intertextueller Konnex zwischen Kleine braune Tiere und Infinite Jest. Dass die titelgebenden ‚kleinen braunen Tiere’ womöglich mit Wallaces Verlag assoziiert sind, wurde bereits erwähnt. Mit Wallace – und spezifisch Infinite Jest – ist aber vielleicht auch die wichtige Rolle der Farbe Blau in Setz’ Erzählung zu erklären. Denn wie oben erwähnt besteht nicht nur das von Konrad Lauffer angeblich entdeckte letzte Level von Figures in a Landscape aus einem „schmalen Raum mit blauen Wänden“[39], auch das Badezimmer, in dem sich Regan das Leben nimmt, ist mit „schönen neuen blauen Fliesen“[40] ausgestattet. Infinite Jest könnte hier als Prätext gedient haben: Nicht genug, dass die Farbe Blau in Wallaces Roman geradezu leitmotivisch verwendet wird und dabei konsistent negativ konnotiert ist[41], auch ein Selbstmordversuch in – ausgerechnet – einem blauen Badezimmer wird bei Wallace geschildert. In der betreffenden Szene zieht sich die drogensüchtige Joelle in Molly Notkins Badezimmer zurück, „getting ready to have Too Much“[42] (und zwar Kokain). Der Fluss außerhalb des Badezimmers ist dabei „vividly blue“[43]; „pale blue“[44] und „baby-blanket blue“[45] ist der Rauch, welcher den „chunks“ der Droge in der Alufolie entsteigt, und blau ist auch das Badezimmer: Das „intricately grimed electrical outlet“ hat den „light sharp tint of a heated sky’s blue“[46], und die Badewanne ist „lacquer[ed] in blue“[47]. Auch im weiteren Verlauf des Romans ist Blaues negativ besetzt. So wird beispielsweise die grotesk-tragische Geschichte einer Familie erzählt, deren Sohn versehentlich ein Glas „Nestlé[] Quik laced with the sodium cyanide his Dad kept around for ink for drafting“ trinkt und sogleich, „blue-faced“[48], stirbt. Der Vater findet den Jungen, versucht Mund-zu-Mund-Beatmung, und stirbt seinerseits an den Giftspuren im Mund seines Sohns, ebenfalls „bright blue“[49] im Gesicht. So geht das weiter, bis alle anderen Familienmitglieder „keeled over and blue“[50] sind. Auch in einem Flashback des zur erzählten Zeit schon toten James Orin Incandenza Jr. spielt die Farbe Blau eine wichtige Rolle: Incandenza erinnert sich daran, wie er 1963 seinem Vater helfen musste, die Gründe für das entnervende Quietschen des elterlichen Ehebetts zu eruieren. Im bemerkenswert blauen Schlafzimmer der Eltern – „blue carpet“, „blue pillowcases“[51] – erleidet der Vater aufgrund seiner nicht näher spezifizierten „illness“[52] einen Schwächeanfall. Auch hier ist die Farbe Blau mit Krankheit und Tod assoziiert. Wenig später im Roman begegnet ein veritabler Überfluss von Blauem:

 

The following things in the room were blue. The blue checks in the blue-and-black-checked shag carpet. Two of the room’s six institutional-plush chairs […]. […] [T]wo of the […] lamps […] were blue […]. […] The premie violets in an asymmetrical sprig in a tennis-ball-shaped vase on the coffee-table were arguably in the blue family. And also the overenhanced blue of the wallpaper’s sky […].[53]

 

Der beschriebene Raum ist das Wartezimmer vor dem Büro von Charles Tavis, dem Direktor der Tennisakademie, in welcher große Teile von Infinite Jest spielen. Die Wartenden – Michael Pemulis und Hal Incandenza – wurden zum Direktor gebeten, um für bestimmte Missetaten bestraft zu werden. Dieser blaue Raum ist somit ebenfalls der Schauplatz negativer und bedrohlicher Ereignisse. Schließlich erlebt Don Gately auf einem Drogentrip – verursacht durch blaue Pillen[54] – eine äußerst unangenehme Vision: „One dream consists only of the color blue, too vivid, like the blue of a pool“[55].

Schon eine kursorische Durchsicht von Infinite Jest (denn es gäbe noch mehr ‚blaue’ Stellen) zeigt also, dass die Farbe Blau in Wallaces Text oft und jeweils in mehr oder weniger stark negativ konnotierter Weise aktualisiert wird. Die Selbstmordszene in Kleine braune Tiere wird so als doppelter Verweis auf Wallace (den Autor) und Infinite Jest (sein Werk) begreifbar: Auf der Ebene der Interauktorialität ist es gleichsam David Foster Wallace selbst, der sich in Setz’ Erzählung das Leben nimmt (da Regan mit Wallace assoziiert ist und die Parameter seines Suizids, abgesehen von der Todesart, mit denjenigen von Wallaces Suizid übereinstimmen). Auf der Ebene der Intertextualität ist die Suizidszene gemäß der Wallaceschen ‚Farbenlehre’ in Infinite Jest gestaltet, also im bei Wallace negativ besetzten Blau gehalten – und zudem ist sie eng an der Schilderung von Joelles Suizidversuch in Infinite Jest entlanggeführt, der sich ja ebenfalls in einem blauen Badezimmer abspielt.

Die vielfältigen Bezüge zwischen David Foster Wallace, Infinite Jest und Kleine braune Tiere sind damit zumindest ansatzweise erklärt. Begriffe man die Erzählung des Österreichers als simple verspielte Hommage an das amerikanische Vorbild, so könnte man die Analyse an diesem Punkt denn auch beenden. Aber Setz’ Auseinandersetzung mit Wallace ist vielschichtig, und Kleine braune Tiere ist wie überhaupt Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes mehr als nur ein „Abenteuerspielplatz für Germanisten“[56]. Neben Interauktorialität und Intertextualität ist nämlich noch eine weitere Facette von Kleine braune Tiere zu untersuchen, und zwar die Art, wie der Suizid von Regan / Wallace inszeniert und durch die Erzählinstanz bewertet wird. An dieser Stelle ist daher ein kurzer Exkurs über David Foster Wallaces Selbstmord und einige Reaktionen auf diese Tat angebracht. Diese sollen in der Folge mit der Konzeptualisierung des Freitods in Kleine braune Tiere verglichen werden.

Nach Wallaces Suizid am 12. September 2008 verliehen Kollegen und Leser zunächst ihrem profunden „shock“[57] Ausdruck, denn der Schriftsteller hatte sich nie öffentlich über seine schweren Depressionen geäußert. Ergänzt wurde der unmittelbare „shock“ zumeist durch Ausführungen über Wallaces Genialität und Einzigartigkeit – die Welt hatte einen besonders wichtigen Künstler vor der Zeit verloren, und so trauerte eine Redakteurin, mit der Wallace zusammengearbeitet hatte, den „books we’re not going to get to read“[58] nach, und die Autorin Laura Miller fragte gar ganz grundsätzlich: „What will we do without him?“[59] Diese Äußerungen – „shock“ und Trauer über das radikal vernichtete Potenzial des Selbstmörders – entsprechen ungefähr dem Reaktionsmuster, das Ursula Baumann in ihrer Studie über den Suizid herausarbeitet: Selbstmorde, so Baumann, lassen grundsätzlich „viele Fragen offen“ und wirken für die Hinterbliebenen immer auch existenziell „verstörend“ („What will we do without him?“), da der Suizidant die „Frage, ob das Leben lebenswert sei, […] für sich selbst negativ entschieden“[60] hat. Topisch an den Reaktionen ist zudem der implizite oder explizite Wunsch, der Suizidant hätte noch ein wenig länger durchhalten mögen, gekoppelt an die Hoffnung, dass sich dadurch seine Situation verändert hätte: Die erwähnte Redakteurin hätte sich von Wallace noch weitere Bücher erhofft, und auch der Wunsch von Wallaces Schwester Amy – „if only he could have held on a little bit longer“[61] – fällt in dieses Paradigma (allerdings zieht sie diesen Wunsch noch im gleichen Zitat verständnisvoll zurück). Man fühlt sich an Madame de Staëls Diktum erinnert, wonach „der Tugend sich entzieh[t]“, wer „sich das Leben [nimmt] im Unglück“, denn diese Handlung heißt „den Freuden sich entziehen, die diese Tugend uns würde gegeben haben, wenn wir durch ihre Hülfe über unsere Mühen gesiegt hätten“[62]. Mit ähnlichem Duktus kommentierte Bettina Brentano die Selbsttötung Karoline von Günderrodes:

 

Nein, es kränkt mich und ich mache ihr Vorwürfe […], daß sie die schöne Erde verlassen hat; sie hätt noch lernen müssen, daß die Natur Geist und Seele hat und mit dem Menschen verkehrt und sich seiner und seines Geschicks annimmt und daß Lebensverheißungen in den Lüften uns umwehen; ja, sie hat’s bös mit mir gemacht, sie ist mir geflüchtet, grade wie ich mit ihr teilen wollte alle Genüsse.[63]

 

Für das Bedauern verpasster Chancen und verschwendeten Potenzials angesichts der „harten Faktizität“[64] des Suizids finden sich also geistes- und literaturgeschichtlich prägnante Beispiele. Stereotyp an den Reaktionen auf Wallaces Selbstmord ist aber auch die Tendenz, den Toten zu verklären und zu überhöhen. Miller beschwört Wallaces „kindness and generosity“[65], auch Ito lobt die „kindness“[66] des Autors, die Schwester Amy schildert ihn als kinderlieb[67], Wallaces Agentin Bonnie Nadell bezeichnet ihn als „sweet“[68], und sie alle betonen, dass diese guten Eigenschaften selbst durch Wallaces schwere psychische Krankheit kaum beeinträchtigt worden seien, wodurch der Tote in der Retrospektive natürlich um so ‚kinder’ und ‚sweeter’ erscheinen muss. Wenn man wollte, könnte man hier wiederum auf Madame de Staël verweisen, die schrieb, dass „die größten Eigenschaften der Seele […] durch das Leiden enthüllt“[69] werden – Wallaces Tat, dies implizieren die zitierten Reaktionen, war durchaus vereinbar mit seinen „größten Eigenschaften“, namentlich seinem guten Charakter und seinen herausragenden schöpferischen Fähigkeiten. In ihrer Extremform könnte diese wiederum topisch-romantische Sichtweise gar besagen, dass Wallace ‚zu gut’ für dieses Leben und für sein Leiden war und dass noch seine letzte Handlung gleichsam als eine Art Kunstwerk begreifbar sei: Als „Tat“, um es mit Alber Camus auszudrücken, die sich vorbereitet „wie ein bedeutendes Werk“[70].

Von mindestens zwei Personen, die Wallace nahestanden, gab es allerdings auch andere Positionsbezüge. Gegen Romantisierung und Heroisierung, gegen „[a]dulatory public narratives of David“, die eben immer auch mit einem gewissen Pathos implizieren, dass „this world was never meant for one as beautiful as you“[71], wendet sich zunächst Wallaces langjähriger Freund Jonathan Franzen. Ihm geht es um Differenzierung: Wallace sei nicht homogen, „unitary“, gewesen, nicht einfach nur ein „beautiful and supremely gifted human being“, sondern

 

[f]lickering beneath his beautiful and moral intelligence and his lovable human weakness was the old addict’s consciousness, the secret self, […] an entire secret life devoted to suicide. […] [T]he David whom I knew less well, but still well enough to have always disliked and distrusted, was methodically plotting his own destruction and his revenge on those who loved him.[72]

 

Franzen unterstellt Wallace, dass er in seinen schwächsten Momenten den Selbstmord wohl nicht nur als Erlösung vom Leiden, sondern auch als „career move“ begriffen habe: Das sei „the kind of adulation-craving calculation that he loathed in himself and would deny […] that he was conscious of making, and would then […] laughingly or wincingly admit that, yeah, O. K., he was indeed capable of making“[73]. Auch diese Beobachtung lässt sich kulturtheoretisch untermauern, und zwar mit einem Verweis auf Jean Amérys bekannten Essay über den Freitod, in welchem er den Begriff der „trans-suizidären Intentionen“[74] prägte: Eine Bezeichnung für mit dem Suizid verfolgte Absichten, die über die Selbsttötung hinausgehen, also eben beispielsweise Suizid als „career move“. Diese Deutung von Wallaces Freitod erinnert an Emile Durkheims bekannte Suizidtypologie, besonders an den von Durkheim so genannten „egoistische[n] Selbstmord“[75]. Bei diesem Suizidtyp führt „[e]xzessiver Individualismus […] nicht nur“ zum „Wunsch, dem Leben ein Ende zu machen, sondern er formt diesen Wunsch aus tausend Bausteinen“[76] – zu denen auch Amérys „trans-suizidäre[] Intentionen“ gehören können.  Franzen selbst analysiert in seinem Aufsatz anhand von Daniel Defoes Robinson Crusoe „how sick and crazy radical individualism really is“[77], und krankhafter Individualismus war es denn in seiner Deutung auch, der Wallace den Suizid als „career move“ erwägen ließ. „David“, so resümiert Franzen, habe sich durch seinen Freitod in einem noch näher zu erläuternden gleichsam diskursiven Sinn seinen Freunden und seiner Familie entzogen und sich der Welt der Leser und Kritiker überantwortet: Er habe „chosen to leave the people who loved him and give himself to the world of the novel and its readers, and I was ready to wish him well in it“[78]. In ähnlicher Weise äußert sich Wallaces Witwe, die Künstlerin Karen Green:

The only other time she has talked to a newspaper was at the opening of her last art show when she spoke to a journalist from the New York Times. ‘I did it on the basis that her story would not include the words ‘hanging’ or ‘discovered body,’ she says now. ‘I’m an idiot, of course they did all that. I know journalism is journalism and maybe people want to read that I discovered the body over and over again, but that doesn’t define David or his work. It all turns him into a celebrity writer dude, which I think would have made him wince, the good part of him. It has defined me too, and I’m really struggling with that.’[79]

Die Stellungnahmen von Franzen und Green haben eine andere Qualität als die oben diskutierten topischen Reaktionen auf Selbstmorde. Sie suggerieren nämlich, dass der Tod des Suizidanten für die ihm am nächsten Stehenden nicht nur eine verstörende Verlusterfahrung darstellt, sondern dass ihr Verhältnis zu ihm durch den Suizid auch transformiert wird. Franzen deutet die Krankheit seines Freundes als eine Art inneren Dämon, der Wallace den Suizid als „career move“[80] nahelegte und ihn so auf immer den Freunden entfremdet habe; er sei jetzt Teil der „world of the novel and its readers“[81] oder, in Greens Worten, ein „celebrity writer dude“, was es sehr schwer mache „to remember tender things tenderly“[82]. Diese Beobachtungen zeigen, um auch an dieser Stelle den Konnex zur relevanten Theorie herzustellen, dass eine zentrale Feststellung von Jean Améry in Hand an sich legen womöglich zu präzisieren ist: Améry spricht von der „Grundtatsache, daß der Mensch wesentlich sich selbst gehört – und dies außerhalb des Netzes gesellschaftlicher Verstrickungen, […] das ihn zum Leben verurteilt“[83]. Dass es selbstbestimmte Suizide gibt und dass dem Menschen die Verfügungsgewalt über das eigene Leben zusteht, ist unbestritten. Die Schilderungen von Franzen und Green zeigen aber, dass der Suizidant – in diesem Falle einer mit hohem Bekanntheitsgrad – zumindest nach der vollzogenen Tat eben nicht mehr „sich selbst gehört“: Ein Selbstmord wie derjenige von David Foster Wallace wird gedeutet, kritisiert und interpretiert, und das hat signifikante und noch zu spezifizierende Konsequenzen für die Hinterbliebenen.

Wir konnten zeigen, dass David Foster Wallaces Freitod einerseits eher stereotype Reaktionen zeitigte – Verstörung, Verklärung des Toten, den Wunsch, er hätte noch durchhalten und zuwarten mögen –, dass andererseits aber Jonathan Franzen und Karen Green eine Problematik artikulierten, die in der einschlägigen Literatur (so beispielsweise bei Améry) kaum reflektiert wird: Der Suizid eines bekannten Künstlers wie Wallace, so Franzens und Greens Beobachtung, erschwert den Trauerprozess der Hinterbliebenen stark, da er die Qualität ihrer Beziehung zum Suizidanten verändert. Der Tote wird gerade durch die Art seines Todes gleichsam zum Diskursobjekt – Franzen spricht von den verzerrenden „adulatory public narratives“ über Wallace –, und die Rede über ihn schafft Interferenzen, die den Erinnerungsprozess stören, welcher für die Trauerarbeit gemäß Freud essenziell ist:

 

Worin besteht nun die Arbeit, welche die Trauer leistet? […] Die Realitätsprüfung hat gezeigt, dass das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und erläßt nun die Aufforderung, alle Libido aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen. Dagegen erhebt sich ein begreifliches Sträuben […]. Dies Sträuben kann so intensiv sein, dass eine Abwendung von der Realität und ein Festhalten des Objekts durch eine halluzinatorische Wunschpsychose […] zustande kommt. Das Normale ist, dass der Respekt vor der Realität den Sieg behält. Doch kann ihr Auftrag nicht sofort erfüllt werden. Er wird nun im einzelnen unter großem Aufwand von Zeit und Besetzungsenergie durchgeführt und unterdes die Existenz des verlorenen Objekts psychisch fortgesetzt. Jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen.[84]

 

Die Aufarbeitung der „einzelne[n] […] Erinnerungen und Erwartungen“ an den Toten gestaltet sich für Franzen und Green schwierig, weil die Erinnerungen selber im Zuge der öffentlichen Reaktion auf Wallaces Tod unzuverlässig geworden sind – die Situation wird mithin noch komplexer als sie ohnehin ist, denn quälend ist nicht mehr ‚nur’ der Verlust des geliebten Menschen, sondern auch der öffentlich geführte Diskurs über diesen Verlust, sowie natürlich das Wissen um die Tatsache, dass der geliebte Mensch diesen Diskurs durch den Suizid bewusst in Kauf genommen hat. In Karen Greens Worten:

 

‘I think I’m supposed to buck up and be the professional widow,’ she says, with another quick laugh, ‘and I have found that very hard. Very hard. I mean one day you are a couple living in a little house and watching The Wire box-set for the third time, and letting the dogs do their antic stuff, and then suddenly you are supposed to be functioning as the great writer’s widow. That wasn’t how we lived when David was alive. I felt about him like I would if I had been married to a sweet school teacher. So I ignored everything for a long time. Until now, really.’[85]

 

Das Verdienst der Erzählung von Clemens Setz – um nach diesem langen Exkurs wieder auf unseren eigentlichen Gegenstand zu sprechen zu kommen – besteht nun vielleicht darin, dass sie diese verschiedenen Facetten der Selbstmordproblematik ihrerseits reflektiert. Regans Freundin, die einzige betroffene Angehörige, die zu Wort kommt, ist „böse“ auf den Suizidanten, ist aus der gemeinsamen Wohnung „geflüchtet“ und „möchte auch nie wieder dorthin zurück“[86]. Diese wiederum eher stereotype Reaktion – die Freundin empfindet Regans Selbstmord im Wesentlichen als Zurücksetzung ihrer Person, auch weil Regan „in seiner letzten Stunde lieber seine beschissenen Nager um sich gehabt hat als mich“[87] – wird ergänzt durch die Schilderung des durch und durch grotesken Symposions über Regan. Im Rahmen dieser wissenschaftlichen Tagung widerfährt nämlich Marc David Regan dasselbe wie David Foster Wallace: Er wird zum puren Diskursobjekt; die ‚private’ Dimension seines Todes verschwindet mit der Freundin aus der Erzählung und wird ersetzt durch die nie enden wollende Befragung seines Lebens und seines Werks durch Wissenschaftler wie Lauffer und Phillips.

Das von Lauffer angeblich entdeckte letzte Level von Figures in a Landscape steht metaphorisch für diesen Zustand: Der Spieler befindet sich, wie gesagt, in einem „schmalen Raum mit blauen Wänden“, der offenkundig mit Regans Suizid im blauen Badezimmer assoziierbar ist, und kann „nicht viel mehr tun, als sich vor und zurück zu bewegen“ – „[e]s war eine Welt ohne Tod, ein Jenseits, vergleichbar mit dem weißen Raum am Ende von Stanley Kubricks Film 2001: A Space Odyssey, in dem einer der Astronauten wohnt, isst, altert, sich zum Sterben hinlegt und dann wieder aufsteht“[88]. Und obwohl Maggie Phillips Lauffer mit ihrem Vortrag sogleich blamiert, ist, wie bereits erwähnt, auch der Wahrheitswert ihrer Thesen strittig: Selbst die Authentizität des von ihr zitierten Briefs kann sie laut dem Erzähler nicht belegen, sondern eben nur „behaupte[n]“[89] – das Symposion führt nicht zu befriedigenden Einsichten in Regans Kunst und die Umstände seines Todes. Am Ende der erzählten Zeit, die auf das Ende des Symposions fällt, ist Regans ‚Diskurswerdung’ perfekt, und paradoxerweise weiss man weniger über den ‚echten’ Regan als zu Beginn: Er ist gleichsam verschwommen und eingegangen in den todeslosen ‚blauen’ Raum (pseudo-)wissenschaftlicher Debatten und Spekulationen, an Symposien und natürlich „[i]m Internet“[90]. Davon zeugen auch die vom Erzähler laufend zitierten (und gut erfundenen) Titel wissenschaftlicher Publikationen zu Regan[91]. Setz zeichnet hier den Prozess der ‚Rezeption’ und Interpretation von David Foster Wallaces Suizid in sehr luzider Weise nach: Der Freitod einer ohnehin öffentlichen Person wie Wallace oder eben Regan verursacht nicht nur den typischen privaten Schmerz, sondern kann einen Diskurs über den Toten und die Motive des Suizids in Gang setzen, dem eine große Eigendynamik innewohnt. So entstehen, um Franzens treffenden Begriff zu übernehmen, „narratives“, welche dem Toten womöglich keineswegs gerecht werden (man denke an Karen Greens Bedauern über Wallaces Transformation zu einem „hip dead writer dude“) und den Hinterbliebenen die Trauerarbeit erschweren. Interessant ist aber auch, dass Setz’ Erzähler Regans Selbstmord abschließend ganz ähnlich interpretiert wie Franzen den Suizid von David Foster Wallace: Als eine Art „career move“ nämlich. Angesichts der Verschwörungstheorien über Regans Ableben und das letzte Level von Figures in a Landscape sinniert der Erzähler, „dass es zu [Regan] gepasst hätte“, sogar noch den eigenen Tod zu fingieren, denn „[w]enn er schon seinen echten Tod nicht überleben konnte, wollte er wenigstens sehen, wie eine mögliche Nachwelt aussehen würde“ – auch Regan, dies die Implikation, ging wohl nicht ohne „trans-suizidäre[] Intentionen“[92] in den Tod.

Im Zuge unserer Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass es sich bei Clemens Setz’ Erzählung Kleine braune Tiere im Grunde um eine enorm facettenreiche und komplexe Auseinandersetzung mit der Person, dem Werk und dem Suizid des David Foster Wallace handelt. Der Amerikaner figuriert so prominent und vielgestaltig in der Erzählung, dass man geradezu mit Goethe von „wiederholten Spiegelungen“ sprechen könnte, die „das Vergangene nicht allein lebendig erhalten, sondern sogar zu einem höheren Leben empor steigern“[93]. Wallace firmiert in der Erzählung nämlich nicht nur als Teil einer Referenzstruktur – wodurch er „lebendig erhalten“ würde –, sondern sein Leben und Schaffen wird auf mehreren Ebenen reflektiert, sodass es eben gleichsam zur von Goethe postulierten ‚Steigerung’ kommt: Wallace ist zum einen, wie wir anhand von Ina Schaberts Begriff der Interauktorialität zeigen konnten, als biographische Entität, als realer Autor in Setzens Text präsent – über Daten, biographische Parallelen zwischen Regan und Wallace, Anspielungen, aber auch ganz explizit über die Erwähnung von Infinite Jest zu Beginn von Kleine braune Tiere. Zum andern weist Setz’ Erzählung starke intertextuelle Bezüge zu Infinite Jest auf, die wir am blauen Farbmotiv festmachen konnten, welches in beiden Werken eine tragende Rolle spielt. Als besonders ergiebig erwies sich aber die Beobachtung, dass Kleine braune Tiere nicht zuletzt eine Art Meta-Reflexion (oder ‚wiederholte Spiegelung’) über Wallaces Selbstmord zur Darstellung bringt. Wir konnten zunächst aufzeigen, dass der Tod des amerikanischen Autors nicht nur kulturgeschichtlich stereotype Reaktionen von Lesern, Kritikern und Angehörigen zeitigte: Hinterbliebene wie Wallaces Witwe Karen Green und sein Freund Jonathan Franzen konstatierten außerdem eine Art Verlust zweiter Ordnung, als Resultat der medialen Verarbeitung oder ‚Diskursivierung’ von David Foster Wallace. Ein kurzer Rekurs auf Freuds Begriff der Trauerarbeit demonstrierte, wie verheerend sich solche retrospektive Stilisierungen oder „narratives“ auf die Trauer- und Erinnerungsarbeit von Freunden und Angehörigen eines (prominenten) Suizidanten auswirken können. Clemens Setz, so der Befund am Ende dieses Aufsatzes, antizipierte Greens und Franzens Gedankengänge (denn Kleine braune Tiere ist vor Franzens Aufsatz und dem Artikel über Karen Green erschienen): Er zeichnete am Beispiel von Marc David Regan – erwiesenermaßen eine an Wallace geschulte Figur – die Eigendynamik nach, die ein derart vielbeachteter Freitod zu entwickeln vermag.

Kleine braune Tiere mag ein verspielter, vielleicht gar etwas manieristischer Text sein, dessen penetrante Autoreferenzialität und verschachtelte Anspielungsstruktur den Leser schwindeln lassen – er ist aber definitiv nicht nur eine Attraktion, ein ‚unendlicher Spaß’, auf einem „Abenteuerspielplatz für Germanisten“[94], sondern insgesamt eine sehr hellsichtige Auseinandersetzung mit einem der wichtigsten und tragischsten Künstler unserer Zeit, und zwar eingedenk der Ambivalenz dieses Künstlers, und unberührt von jeglichen verfälschenden „narratives“.

In seinem Aufsatz über Wallace nimmt Jonathan Franzen von seinem Freund Abschied, indem er dessen Asche auf der Alejandro-Selkirk-Insel verstreut und nach seiner oben geschilderten kritischen Bearbeitung von Wallaces Selbstmord seinen Frieden mit dem Freund macht: „I felt done with anger, merely bereft“[95]. Das erste Werk, das Karen Green, die Künstlerin, nach dem Tod ihres Ehemannes schuf, war eine „forgiveness machine“[96] (die sie allerdings selbst nicht benutzte). Kleine braune Tiere ist vielleicht nichts anderes als Clemens Setz’ eigene kleine Abschiedsgeste, die sich neben diejenigen von Franzen und Green einreiht. Auch bei Green, Franzen und Setz wird Wallace also letzten Endes zum Diskursobjekt, zum Anlass, Inhalt und Thema von Kunstwerken – aber eben nicht in stereotyper oder verfälschender Weise, sondern stets im Kontext kritischer Reflexion; die drei Künstler erheben Wallace nicht auf ein Podest und machen ihn auch nicht zu einer Karikatur, sondern zum Gegenstand facettenreicher Denkfiguren – ‚wiederholter Spiegelungen’. In diesem Zusammenhang wirkt Setz’ literarischer Abgesang auf Wallace umso berührender, weil Setz Wallace ja gar nicht kannte. Aber er kannte ihn eben doch, kannte ihn, wie Laura Miller, „as a reader knows a writer“, und vielleicht erging es Setz wie ihr: „I thought I could see [Wallace], even if he couldn’t see me, even if he couldn’t (clearly) see himself“[97].

 


 

Endnoten

[1] Radisch, Iris. 2011, „Einsam sind die Hochbegabten“, DIE ZEIT, 10. März.

[2] Kegel, Sandra. 2011, „Am Riesenrad des Lebens gedreht“, FAZ, 17. März. Es sind aber auch gut begründete kritische Voten zu Setz zu vernehmen, die mit Recht auf die durchaus vorhandenen sprachlichen Mängel seiner Texte verweisen. So beispielsweise Wilke, Insa. 2011, „Unter Holzpuppen“, Frankfurter Rundschau, 14. März.

[3] Ebd.

[4] Radisch: keine Paginierung.

[5] Aus seiner Bewunderung für Wallace macht Setz kein Hehl, was besonders aus seinen Beiträgen für den Blog www.unendlicherspass.de deutlich wird. Setz’ gesammelte Postings finden sich unter diesem Link: http://www.unendlicherspass.de/author/clemens-setz/ (3.6.2011).

[6] Haas, Franz. 2011, „Seelenabgründe aus dem Erzählbaukasten“, NZZ, 29. März.

[7] Setz, Clemens J. 2011, Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes, Suhrkamp, Berlin. Hier: S. 257.

[8] Ebd.: S. 258.

[9] Ebd.: S. 259.

[10] Ebd.: S. 261.

[11] Ebd.: S. 256.

[12] Ebd.: S. 269.

[13] Ebd.: S. 271.

[14] Ebd.: S. 277.

[15] Ebd.: S. 278.

[16] Das geht in der Erzählung aus dem Publikationsdatum eines Sammelbands zu Regan: „Vor zwei Jahren“, heisst es, „kurz nach Regans Tod, wurden Auszüge aus Diskussionen auf Foren und Fan-Webseiten zum ersten Mal in Buchform veröffentlicht (In Search of Lost Levels, Oxford University Press, 2008)“ (ebd: S. 278f.).

[17] Ebd.: S. 271, Anm. 13.

[18] Ebd.: S. 280f.

[19] Ebd.: S. 282.

[20] Ebd.; Hervorhebung im Original.

[21] Ebd.: S. 284f.

[22] Ebd.: S. 286.

[23] Ebd.: S. 276, Anm. 17.

[24] Ebd.: S. 283.

[25] Ebd.: S. 279.

[26] Ebd.: S. 256.

[27] Ebd.: S. 257.

[28] Im Essay „Derivative Sport in Tornado Alley“ beschreibt Wallace, wie er „all of a sudden a jones for mathematics“ entwickelte als er sein Studium an „my dad’s alma mater“ aufnahm (Wallace, David Foster. 1998, „Derivative Sport in Tornado Alley“ in A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again, Abacus, London.

Hier: S. 3).

[29] Setz: S. 263.

[30] Wallaces Schwester Amy ist überzeugt, dass Wallace seinen Hunden Bella und Werner einen Kuss gab und sich bei ihnen entschuldigte, bevor er sich erhängte, siehe Lipsky, David. 2010, Although of Course You End up Becoming Yourself. A Road Trip With David Foster Wallace, Broadway Books, New York. Hier: S. xix.

[31] Setz: S. 263.

[32] Ebd., Anm. 6.

[34] Setz: S. 271, Anm. 13.

[35] Siehe Wallace, David Foster. 1998, „David Lynch Keeps His Head“ in A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again, Abacus, London; Ders. 2005, „Some Remarks on Kafka’s Funniness from Which Probably Not Enough Has Been Removed“ in Consider The Lobster, Abacus, London.

[36] Ich bedanke mich bei Julia Strebelow für den freundlichen Hinweis.

[37] Setz: S. 277.

[38] Schabert, Ina. 1983, „Interauktorialität“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, vol. 57, no. 4, S. 679-701. Hier: S. 679.

[39] Setz: S. 280.

[40] Ebd.: S. 284.

[41] Das mag natürlich auch mit der idiomatischen Bedeutung von ‚blue’ im Englischen zusammenhängen, viz. ‚to feel blue’. Verschiedene Fundstellen der Farbe Blau arbeitet auch Greg Carlisle in seiner Arbeit zu Infinite Jest heraus, allerdings ohne die Farbe als Leitmotiv zu benennen und ihre negative Konnotation zu konstatieren (siehe Carlisle, Greg. 2007, elegant complexity. A Study of David Foster Wallace’s Infinite Jest, Sideshow Media Group, Los Angeles & Austin. Hier beispielsweise S. 154; 449).

[42] Wallace, David Foster. 102006, Infinite Jest, Back Bay Books, Little, Brown and Company, New York et al. Hier: S. 238.

[43] Ebd.: S. 236.

[44] Ebd.: S. 239.

[45] Ebd.

[46] Ebd.

[47] Ebd.

[48] Ebd.: S. 436. Als Laie würde ich überdies annehmen, dass eine mit Cyanid gemischte Tinte blau, beziehungsweise cyanblau oder preussischblau ist.

[49] Ebd.: S. 437.

[50] Ebd.

[51] Ebd.: S. 493.

[52] Ebd.: S. 500.

[53] Ebd.: S. 508f.

[54] „[They] began truly binging on Blues, flirting with an O. D.“ (Ebd.: S. 934).

[55] Ebd.

[56] Kegel: keine Paginierung.

[57] Ito, Robert. 2008, „The Last Days of David Foster Wallace“, Salon, 26. Sept.

[58] Zit. n. ebd.

[59] Miller, Laura. 2008, „In Memory of David Foster Wallace 1962-2008“, Salon, 14. Sept.

[60] Baumann, Ursula. 2001, Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar. Hier: S. 276.

[61] Zit. n. Ito: Keine Paginierung.

[62] De Staël, Anne-Louise Germaine. 2007, „Betrachtungen über den Selbstmord“ in Der Selbstmord. Briefe, Manifeste, literarische Texte, Hrsg. Roger Willemsen, Fischer, Frankfurt am Main. Hier: S. 85.

[63] Ebd.: S. 245.

[64] Baumann: S. 276.

[65] Miller: Keine Paginierung.

[66] Ito: Keine Paginierung.

[67] Siehe ebd.

[68] Zit. n. ebd.

[69] De Staël: S. 85.

[70] Camus, Albert. 62004, Der Mythos des Sisyphos, Rowohlt, Reinbek. Hier: S. 12.

[71] Franzen, Jonathan. 2011, „Farther Away. Robinson Crusoe, David Foster Wallace, and the Island of Solitude“, New Yorker, 18 Apr., S. 80. Hier: S. 92.

[72] Ebd.

[73] Ebd.: S. 91.

[74] Améry, Jean. 1976, Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Klett-Cotta, Stuttgart. Hier: S. 17. Das prägnanteste Beispiel, das Améry für die „trans-suizidären Intentionen“ nennt, ist ein literarisches: Das von Schnitzlers Leutnant Gustl, an dem eben nicht primär die Bereitschaft interessant ist, in den Tod zu gehen – also gleichsam die ‚suizidäre Intention’ –, sondern gerade die „trans-suizidäre[] Intention“, in diesem Falle die psychische Deformation, die ihm einen schwammigen Ehrbegriff und die kaiserliche Uniform zur „unerläßliche[n] Voraussetzung allen Daseins“ werden und ihn an „andere[] Gesetze[] eines würdigen Lebens glauben liess“ (ebd.: S. 19).

[75] Durkheim, Emile. 1973, Der Selbstmord, Suhrkamp, Frankfurt am Main. Hier: S. 162.

[76] Ebd.: S. 233.

[77] Franzen: S. 94.

[78] Ebd.: S. 93.

[79] Zit. n. Adams, Tim. 2011, „Karen Green. ‚David Foster Wallace’s Suicide Turned Him Into a ‚Celebrity Writer Dude’, Which Would Have Made Him Wince“. The Observer, 10. Apr.

[80] Franzen: S. 91.

[81] Ebd.: S. 93.

[82] Zit. n. Adams: Keine Paginierung.

[83] Améry: S. 105; Hervorhebung im Original.

[84] Freud, Sigmund. 1975, „Trauer und Melancholie“ in Psychologie des Unbewussten, Hrsg. Alexander Mitscherlich et al., S. Fischer, Frankfurt am Main. Hier: S. 198f.

[85] Zit. n. Adams: Keine Paginierung.

[86] Setz: S. 285.

[87] Ebd.

[88] Ebd.: S. 280f.

[89] Ebd.: S. 285.

[90] Ebd.

[91] Beispielsweise: „Don’t speak to me, or I’ll fucking answer“: Logic and Fuzzy Logic in Figures in a Landscape; Das Nash-Equilibrium im Werk von Marc David Regan; Marc D. Regan: Absurdes Zeitalter im Digitalen Theater; „Mister, we are here to amuse your corpse“ – Eine feministische Studie zu den Frauengestalten in „Figures in a Landscape“; Violence is the Music of the Spheres – A deconstructivist Speedrun Through M. D. Regan’s Figures in a Landscape (Setz: S. 277).

[92] Améry: S. 17.

[93] Goethe, Johann Wolfgang. 2006, „Wiederholte Spiegelungen“ in Sämtliche Werke 14. Autobiographische Schriften der frühen Zwanzigerjahre, Hrsg. Reiner Wild, Carl Hanser, München.

[94] Kegel: Keine Paginierung.

[95] Franzen: 93.

[96] Adams: Keine Paginierung.

[97] Miller: Keine Paginierung.

 

 

BIBLIOGRAPHIE:

 

Primärtexte:

 

Goethe, Johann Wolfgang. 2006, „Wiederholte Spiegelungen“ in Sämtliche Werke 14. Autobiographische Schriften der frühen Zwanzigerjahre, Hrsg. Reiner Wild, Carl Hanser, München.

 

Lipsky, David. 2010, Although of Course You End up Becoming Yourself. A Road Trip With David Foster Wallace, Broadway Books, New York.

 

Setz, Clemens J. 2011, Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes, Suhrkamp, Berlin.

 

Wallace, David Foster. 1998, „David Lynch Keeps His Head“ in A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again, Abacus, London.

 

Ders. 1998, „Derivative Sport in Tornado Alley“ in A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again, Abacus, London.

 

Ders. 102006, Infinite Jest, Back Bay Books, Little, Brown and Company, New York et al.

 

Ders. 2005, „Some Remarks on Kafka’s Funniness from Which Probably Not Enough Has Been Removed“ in Consider The Lobster, Abacus, London.

 

Sekundärtexte und Rezensionen:

 

Adams, Tim. 2011, „Karen Green. ‚David Foster Wallace’s Suicide Turned Him Into a ‚Celebrity Writer Dude’, Which Would Have Made Him Wince“. The Observer, 10. Apr.

 

Améry, Jean. 1976, Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Klett-Cotta, Stuttgart.

 

Baumann, Ursula. 2001, Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar.

 

Camus, Albert. 62004, Der Mythos des Sisyphos, Rowohlt, Reinbek.

 

Carlisle, Greg. 2007, elegant complexity. A Study of David Foster Wallace’s Infinite Jest, Sideshow Media Group, Los Angeles & Austin.

 

Durkheim, Emile. 1973, Der Selbstmord, Suhrkamp, Frankfurt am Main.

 

Franzen, Jonathan. 2011, „Farther Away. Robinson Crusoe, David Foster Wallace, and the Island of Solitude“, New Yorker, 18 Apr., S. 80.

 

Freud, Sigmund. 1975, „Trauer und Melancholie“ in Psychologie des Unbewussten, Hrsg. Alexander Mitscherlich et al., S. Fischer, Frankfurt am Main.

 

Haas, Franz. 2011, „Seelenabgründe aus dem Erzählbaukasten“, NZZ, 29. März.

 

Ito, Robert. 2008, „The Last Days of David Foster Wallace“, Salon, 26. Sept.

 

Kegel, Sandra. 2011, „Am Riesenrad des Lebens gedreht“, FAZ, 17. März.

 

Miller, Laura. 2008, „In Memory of David Foster Wallace 1962-2008“, Salon, 14. Sept.

 

Radisch, Iris. 2011, „Einsam sind die Hochbegabten“, DIE ZEIT, 10. März.

 

Schabert, Ina. 1983, „Interauktorialität“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, vol. 57, no. 4, S. 679-701.

 

De Staël, Anne-Louise Germaine. 2007, „Betrachtungen über den Selbstmord“ in Der Selbstmord. Briefe, Manifeste, literarische Texte, Hrsg. Roger Willemsen, Fischer, Frankfurt am Main.

 

Wilke, Insa. 2011, „Unter Holzpuppen“, Frankfurter Rundschau, 14. März.

 

Internetquellen:
http://www.unendlicherspass.de/author/clemens-setz/ (3.6.2011).

 

http://www.nplusonemag.com/posthumous-gratitude (3.6.2011).

 

 

 

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Apr 23 2012

Brigitte Struzyk

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Vorspiel

 

10. November 1989

In der Herrgottsfrühe  von  Berlin spielt  dort an der Nahtstelle, wo etwas aufhört und doch nichts Rechtes beginnt, die Geigerin  „Ich träumte von bunten Blumen…“, Schuberts Winterreise. Keine Macht reicht  mehr, kein Reich macht mehr etwas aus,  vor allem hier  auf der Ostseite, da, wo sie sind. Dicht neben  der Geigerin  fällt sich begeistert  das Paar  um den Hals vor den noch eingemauerten  Säulen des Brandenburger Tors.  Bis  in die Stiefelabsätze, die scheinbar schwerelos in der Luft schweben, freut sich die herumgewirbelte Frau.

Die drei Menschen werden fotografiert und gefilmt. „Es schrieen die Raben vom Dach“, auf der Reise in den Winter.

Das Bild geht um die Welt.

Zehn  Jahre später kürt das  deutsche Nachrichtenmagazin dieses  Foto zum  Sinnbild für den Fall der Mauer vom  9. November 1989, das österreichische Nachrichtenmagazin druckt das Foto nach, das italienische und das amerikanische folgen. Die Geigerin mit den langen roten Haaren und das Paar, eine kleine Frau mit klarem, glückseligen  Gesicht und ein großer Mann, dessen Rückseite  nur zu sehen ist, sind auf dem Foto scharf hervorgehoben, die Menge im Weichzeichnerverfahren aufgelöst.

„Wer sind diese drei Personen?“ fragten die Redakteure und fanden heraus:

die Geigerin :  Ulla Wasser, am 9. November 1989 vierzig Jahre alt, Mutter der sechzehnjährigen Karotta, Krankenschwester in Ausbildung, und des neunjährigen  Billy, der ungern zur Schule geht. Die Virtuosin  ist  1983 aus der Staatscapelle Berlin entlassen worden,  beide Väter ihrer Kinder sind im Westen, der eine in Wien, der andere in New York.

Das Paar: Marion und Jürgen Schmitz – Marion Schmitz, geborene Wollschläger, Staatsrechtlerin, am 9. November 1989 achtunddreißig  Jahre alt, Mutter der  achtzehnjährigen Katja, die wie die Tochter der Geigerin  zur Krankenschwester ausgebildet wird. Marion Schmitz ist wegen feindlich-geheimdienstlicher Tätigkeit 1988 von den DDR-Behörden abgeschoben worden.  Sie betritt zum ersten Mal nach der Ausbürgerung  wieder Ostberlin. Der Mann: ihr Mann Jürgen Schmitz, Kulturwissenschaftler, 40 Jahre, hatte die kleine Bürgerrechtsgruppe Freiheit und Menschenrecht gegründet und ist  mit der Tochter in Ostberlin geblieben.

Was sie zehn Jahre später tun, blieb unerwähnt. Wir wollen es wissen.

14. November, von Mitte aus auf dem Um-Weg nach Hohenschönhausen

Sonnenbrille auf der Nase, die Hände in den Hosentaschen, Kaugummi kauend, gelegentlich die Lippen spitzend,  schnürt Peter Heinrich, Billys Vater, augenscheinlich ein Mann um die Fünfzig, dessen hohe Backenknochen und große Nase auffallen, im Slalomgang über den Parkplatz am Rande des Reichstagsgeländes, seinen Mietwagen suchend. Unter dem Arm trägt er das Nachrichtenmagazin mit dem fatalen Titelfoto. Eine der Praktikantinnen, eine gestandene Dolmetscherin, der es an Aufträgen mangelt, hat ihm die Zeitschrift gegeben, „Haben Sie das fotografiert?“ gefragt und ihn aus der Fassung gebracht. Schließlich habe er nicht jedes Foto zu verantworten, hat er sie angefahren, so unbeherrscht, wie ihn hier noch keiner gesehen hat  Das Ulla-Foto! Es wird ihm zugeschrieben.

Eine Ausstellung aufzubauen im Reichstagsgebäude könnte für manchen seiner Kollegen ein Traum sein –- den Reichstag  zu  verpacken, ja, aber dort eine Ausstellung zu hängen, wo die Abgeordneten essen und sich mal kurz auf einen Kaffee mit einem Kollegen oder einer Dame von der Presse treffen, die Bilder so zu platzieren, dass der Kaffeelöffel für einen Augenblick stockt und das Gespräch unterbrochen wird, um das zu erreichen, muss der Künstler selbst Hand anlegen, meint Peter Heinrich unwidersprochen, dessen alte Fotos aus DDR-Zeiten nun so gut hängen in der Cafeteria, dass sämtliche Medien darüber begeistert berichtet haben. Am 9. November war die Ausstellungseröffnung, heute schon hat er nachgesehen, ob alle Bilder noch ihre Wirkung zeigen. Seit einer Woche ist er in Berlin, hat aber verbreiten lassen, erst zur Ausstellungseröffnung aus New York herübergekommen zu sein -– er brauchte Konzentration, die er nur  hervorzubringen imstande ist, wenn keine andere Energie an ihm zerrt. Die Hoffnung der Menschen lebt von der dürftigsten Nahrung –- er hat gehofft, nicht behindert zu werden und hat es geschafft. Dabei hat er aber so viel abgenommen, dass ihm nun seine Hose rutscht und er einen Gürtel kaufen muss. Nur in kein Kaufhaus! In kein Menschengetümmel. Das „Bad in der Menge“ zur Ausstellungseröffnung  hat ausgereicht, seine Befürchtungen zu übertreffen. Elvira Wasser hat ihn sich regelrecht geschnappt, in die Zange genommen und auf ihre suggestive Art eine Zusage zur Hohenschönhauser Sonntagsgesellschaft abgepresst. Danach hatte er sich wie ausgesaugt gefühlt und war mit sich selbst uneins. Unversehens  kann ihm noch jemand über den Weg laufen, den abzuschütteln ihm nicht gelingen wird. So wird er in seinen Mietwagen steigen und in eine der Berlin nahen Kleinstädte fahren. Eigentlich liebt er diese Nester, wo Klosterruinen und Stadttore bezeugen, älter als Berlin zu sein.

Etwas oberhalb seines Navigationssystems gibt ihm ein, nach Zehdenick fahren zu sollen. Holzweg der Erinnerung? Ihm gefällt diese Brücke da, so hochgestellt über den Flusskanal oder Fleet oder was von der Havel da abzweigt.

Von einigen der anrainenden Häuser am Ufer des Kanals blättert der Putz, und Peter fotografiert, sich der Rührung erwehrend, die ihn anfliegt, wird ein Eselsohr sichtbar, das Eselsohr, das ihm als Lesezeichen dient, in der Landschaft und im Leben.

Er schaut in die Fenster, eine Frau schließt ihres nachdrücklich und laut. Nicht dass hier auch noch die Fremden hereinschauen!  Bald ist ihm klar, dass es kein kleines Geschäft mehr gibt, wo man einen Gürtel kaufen kann, offenbar gehen sie nicht, sondern fahren sie auch hier schon einkaufen. Vor einem der Versandhausshops, der eine Art Wohnzimmer zu sein scheint, stehen drei Frauen, gute alte Brandenburgerinnen, die erst einmal richtig lachen, als Peter fragt, wo er hier einen Gürtel kaufen könne..

–Jungchen, von welchem Mond bist de denn runter jemacht? Am Sonntag? Sein verstörter Gesichtsausdruck macht die Frauen milde.

–Na, nichts für ungut, juter Mann. Sie kommen wohl von weither?

–Aus New York.

–Da sind na klar am Sonntag die Geschäfte offen. Dit wissen wir ausm Kintopp… Die reizvoll pummlige Frau streicht ihre ondulierten Haare auf Divenart hinter die Ohren.

–Na, vielleicht können wir doch helfen. Und die magere große der drei Frauen gibt ihm den Tipp: Parallel zum Kanal, in der langen Straße, war einmal ein Sattler, der jetzt ein Polsterer ist, aber so ganz genau weiß man allerdings  auch nicht, ob der noch da ist.

Die Klingel ist total verstaubt und leistet Widerstand. Nichts bewegt sich hinter dem erblindeten Fenster, als sie endlich schrillt. Wieder und wieder drückt Peter auf den Knopf, zwischendurch auf den Auslöser seiner Kamera. Das Schild in Sütterlin-Schrift „Sattlerei Weiss“ muss er ablichten, ein Fundstück. Nun, eben kein Gürtel, sondern ein gutes Foto. Wie ein Maschinengewehr rattert unversehens das Hoftor, von einer kleinen alten Frau bewegt.

–Sie wünschen? fragt sie so beschwingt wie in alter Schrift geschrieben.

–Ach, da ist ja jemand, hört sich  Peter sagen.

–Einen Gürtel, ich möchte bei Ihnen einen Gürtel kaufen. Die kleine Frau in ihrem Blaumann schließt das Tor hinter sich.

–Der Laden ist natürlich zu, heute am Sonntag. Komme, komme, junger Mann. Sie huscht an Peter vorbei, den schmalen, grauen Bürgersteig entlang. In der Kurvenkehle, wo nur noch der Bordstein sich von der Straße abgrenzt, kichert sie.

–Das ist vielleicht eng hier. Immer an der Wand lang, nich?  Sie betreten einen winzigen Raum mit hoch ragenden Regalen und einem rechtwinkligen Tresen, der die Sphären voneinander trennt.

Die kleine Frau, so klein wie Peters Mutter in der Sterbezeit, hopst mit dem Hintern auf den Ladentisch, schwingt die Beine hinüber und steht, ganz offiziell und voller Würde, auf der Verkaufsseite vor dem Kunden.

–Einen Herrengürtel?

Peter würde sie am liebsten bitten, das Ganze noch einmal zu wiederholen, nicht für die Kamera, sondern für ihn, damit er es glauben kann, was er da eben gesehen haben will. Obwohl er ihr noch die Antwort schuldig geblieben ist, lächelt sie ihn an und zieht die Unterlippe durchschmierenden die Zähne.

–Das mache ich zweimal am Tag! Schon angelt sie einen Eisenreifen vom Haken, an dem die Gürtelschnallen aufgefädelt sind, wirft mit einem Schwung, dem Elle und Speiche ihres Unterarms Nachdruck verleihen, den ganzen Fang auf die Theke, der sich auffächert zu -zig Riemen.

Jeder ist einzeln zu sehen.

–Gelernt ist gelernt, nimmt sie Peters anerkennendes Staunen ein und streicht über die schmale raue Seite eines Gürtels wie eine Mutter ihr Kind streichelt, das brav seine Butterstulle gegessen hat.

–Das ist wohl mein Gürtel! Darf  ich? Peter zieht ihn durch die Schlaufen seines Hosenbundes und schließt die Schnalle.

–Ja, das scheint er zu sein, stimmt Frau Weiss zu. Nehmse den, der isses.

Wie er sich umspült fühlt von den schmeichelnden Anflügen von wer weiß wann und wo. Was er auf jeden Fall vermeiden wollte und weshalb er bis zu dem Augenblick, da er die Autobahnzufahrt zum Berliner Ring nimmt, entschlossen war, nicht nach Hohenschönhausen zu fahren, die Einladung Elvira Wassers, seiner ehemaligen Beinahe-Schwiegermutter, auszuschlagen –- die kleine Frau Weiss hat ihn umgestimmt. Das Zeitliche wird sie alle segnen. Da wird es wohl gut sein, noch einmal aufzutauchen, schon Billys wegen, der ihm nicht gleichgültig ist. Ja, das hat er mal gedacht, als er noch vernünftig war….Menschlichkeit bedeutet, Abstand halten zu können… sein Leitspruch. Stammte der nicht auch von Ulla?

Er sieht sie im grünen Kleid unter der roten Haarflut in der Klosterruine Geige spielen, hört die Musik, die er mit Ulla verbindet: „Ich träumte von bunten Blumen“.

Als könne er das alles ganz einfach vergessen, schaltet er das Autoradio an und hört seinem Permasender, wo immer geredet wird, nicht zu. Hier in Zehdenick hat er Ulla zum ersten Mal gesehen. Die Brötchen schmierenden Frauen ließen in der Klosterküche die Messer sinken, als Ulla zu spielen begann. Er stellt sie sich vor, und alle haben das Gesicht der alten Handwerkerin, die ihm den Gürtel verkauft hat für den alten Ost-Mark-Preis.  Mit der rechten Hand tastet er die Gürtelschnalle ab. Das Preisschildchen hängt noch am handgebundenen Fädchen. Zauber von sachlicher Zeugenschaft geht von ihm aus, dem Schildchen, das er auf jeden Fall heimführen wird, am Gürtel, den ihm dann hoffentlich seine Frau öffnet und sich dabei auch über diese kleine Überraschung freut. So etwas kann sie.

Man muss das Bild hin- und herdrehen, denn es braucht eine bestimmte Lichtbrechung, damit man auf der blinden Platte den erkennt, dessen Merkmale das Metall einst in sich aufgenommen hat.

Er erinnert sich an viele Lehrsätze seines Gewerbes, der Fotografie, genauer als an die Menschen, mit denen er lebte.

Er kann sich wirklich nur an das erinnern, was durch äußerste Unaufmerksamkeit registriert wurde, deshalb achtlos irgendwo im Speicher liegen bleibt und eines Tages, ungerufen, wieder erscheint… Er ist Fotograf.

Nach langen Jahren der Abwesenheit in der weiten Welt, einer Abwesenheit, die all seine Kräfte aufgefressen und sie als Erfolg verdaut hat, geht er die Oderbruchstraße entlang in Richtung Hohenschönhausen. Das Auto hat er neben der Kippe abgestellt, und als er den Sicherungsblick im Umkreis schweifen lässt, bemerkt er den nackten Appellplatz. Ihm fällt die Fehlstelle nur auf, weil ein neuer Parkplatz hinzugekommen ist, den er ebenso gut hätte nutzen können. Dann stellt er die innere  Linse nach. Erinnerung ist Neusehen der Vergangenheit, das aus einem gegenwärtigen Interesse stammt. Aber das passende Bild verweigert sich. Weder Ullas, noch Karottas, geschweige denn  Billys Gesicht kann er sehen. Davon ist er erschüttert. Ja, rothaarig, mit Sommersprossen… Karotta zum Beispiel sieht „wie geschnitten“ aus, so sagte es ihre polnische Urgroßmutter in Szopenice damals, bei ihrem einzigen gemeinsamen Besuch in Polen. Sie meinte die groteske Ähnlichkeit mit ihrer Schwiegertochter Elvira. Er hat fotografiert und fotografiert. Mit der Erinnerung an diese Reise tauchen wie aus dem Entwicklerbad die Umrisse des „Hiddensee – Fotos“ auf. Darauf sieht er sehr scharf die Verteilung der Sommersprossen auf den Gesichtern von Mutter und Tochter. Bei Karotta sind die unzähligen Sommersprossen so verteilt, dass die dunklen Tupfen das Festland und die hellen Hautfensterchen das Meer darstellen. Sie hat Hiddensee auf der rechten Wange. Bei Ulla ist es umgekehrt. Auf dem Foto sieht es so aus: Die Kinderwange lehnt an der Mutterstirn -– jemand, der nicht zu sehen ist, hält das Kind hoch –- das Seitenverkehrte vom gleichen Inselumriss schließt sich so an, dass die Kinderwange unter der Mutterstirn eine aufgeklappte Draufsicht auf das Eiland bietet.

Karotta war eigen. Rothaarig waren alle, aber das zerbrechlich wirkende Ranke, das, kam es zur Geltung, die Elastizität einer Weidengerte entfaltete, war weder aus Ullas noch aus Vater Wolfs und auch nicht aus dem wasserpolnischen Holz geschnitzt..
Wie geschnitten!“ Wenn Leute angesichts Karottas ausriefen: “Der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten!“, verzog Ulla das Gesicht, als sei ihr jemand auf die Zehen getreten. Was hatte sie nur, liebte sie ihre Tochter nicht, schmeichelte ihr als Mutter der Vergleich mit einem so strahlenden Wesen etwa nicht? — Umgekehrt: Ulla wollte in keiner Beziehung ihrer Mutter gleichen, die Peter als Ursache für all die Verstörtheiten ausmachte, mit denen das Paar nicht leben konnte.

Es war  Elvira Wassers strenges Familien-Regime, ihre Forderung nach Leistung und Hingabe. Darum machte Ulla die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter wütend bis zur Selbstverleugnung.

Und Billy?

Neben Peter, kurz vor der Kreuzung Oderbruch-/ Indira-Ghandi-Straße, hält ein blauer Peugeot. Der Mann hinter dem Steuer kurbelt die Fensterscheibe herunter, legt den Ellenbogen in die Türwange und grüßt.

–Wenn mich nicht alles täuscht, sind Sie Billys flüchtiger Vater! Na, nicht so gemeint, soll nur, na ja. Viel Zeit. Ich bin Werner Freund, alter Kollege und Freund von Elvira und Adolf.

–Ja, richtig, Peter Heinrich, Billys Vater.

–Wollen Sie nicht einsteigen? Sie sind doch nach Hohenschönhausen eingeladen!

Werner Freund, kurz vor der Rente, Schiebermütze auf dem Kopf, macht Anstalten, die Beifahrertür zu öffnen.

–Nein, danke, Herr Freund. Ich bin im Begriff, noch ein paar Schritte zu gehen, habe extra deshalb meinen Wagen an der Kippe abgestellt.

Herr Freund kurbelt das Fenster wieder hoch, tippt mit der Hand an die Mütze und startet. Über die Startgeräusche ruft er.

–Das Kampfgruppendenkmal ist weg!

Obwohl Peter längst abgeschaltet hat, erreicht die Nachricht sein Ohr. Stimmt, denkt er. Das habe ich nicht gesehen. Nur, dass sich etwas verändert hat.

Schlagartig entsteht Ullas Gesicht, sein wütender Ausdruck im letzten Streit. „Du bist auch so ein Kriegstreiber! Du gehst gegen deine polnischen Brüder in den Krieg!“ Ihre letzten Sätze hatten sich in ihm festgefressen.

Damals der Tag im Mai war schön. Das Kloster, alte Mauern, Efeu, eine Insel auf dem kargen Festland, und darüber spannen sich die roten Haare. Ulla auf der Dammhorstbrücke über die Havel. Sogar der Name fällt ihm hier ein. Da gingen sie schon zusammen, hinter Karotta her, die den Braten roch und ningelte.

In der Spreequell–Fabrik nebenan scheppern die Flaschen in der Abfüllanlage. Gegenüber auf dem Jüdischen Friedhof legt Peter einen Stein auf das Grab von Lesser Ury. Er liebt ihn wie ein idealer Sohn seinen vergötterten Vater: Lesser Ury, Maler vor dem Herrn und Meister des Lichts.

Langsam wird er ruhig. Es bewegt ihn, hier zu sein.

Im Vorübergehen wird sein Auge wach.

Jugendliche Fußballfans lauern am Tor.

–Darf ich euch fotografieren?

Sie kommen mit Drohgebärden auf ihn zu, lockern sich in seiner Nähe und lassen sich fotografieren.

–Wer gegen wen?


Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Auszug aus dem Roman Drachen über der Leninallee, dessen vorangestelltes „Vorspiel“ die Fährte legt. Der Roman ist im März 2012 bei Fixpoetry erschienen.

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Apr 20 2012

Billy Badger

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»Zur Ware gibt’s Werbung« Lyrische Werbung und ko-präsente Kommunikation bei Bas Böttcher.

Werben und umworben werden

Ein altes beliebtes Spiel.

–Bas Böttcher.[1]

 

Seit nahezu 15 Jahren genießt der vielreisende Sprechdichter Bas Böttcher sowohl populären als auch kritischen Erfolg. Gleich am Anfang seiner bühnenliterarischen Karriere vermochte Böttcher mit ausgefeilten sprachlichen Tricks das Publikum auf zwei Fronten von seiner poetischen Vorherrschaft zu überzeugen, denn er wurde nicht nur bei bundesweiten Poetry-Slam-Wettbewerben mehrmals zum Sieger gekürt, sondern auch als Teil der Hiphopformation Zentrifugal fast zum Superstar der deutschen Musikszene, dessen Texte weit über die herkömmlichen Rap-Floskeln hinausgingen. Inzwischen ist sein populärer Erfolg so angestiegen, dass er weltweit rund 110-mal im Jahr auftritt.[2] Analog zum populären Erfolg des Bühnendichters fällt die kritische Rezeption seiner performten Lyrik vorwiegend positiv aus. In der kritischen Auseinandersetzung mit seinen multimedialen Texten und Performances bezieht man sich generell an erster Stelle auf formale Eigenschaften seiner Lyrik. Schon 1999 schwärmte z.B. Ingrid Böck von Böttchers Wortgewandtheit:

 

Eingehüllt in poppige und swingende Beats und verschiedenste Soundteilchen, kommen Böttchers Wortspiele, Alliterationen und doppeldeutige Szenenbeschreibungen leicht wie Fische im Aquarium daher.[3]

 

In ihrem Beitrag für die Hannoversche Allgemeine Zeitung findet Kersten Flentner Böttchers „Tracks“ für Zentrifugal ebenfalls „formbewusst [und] handwerklich gekonnt.“[4] Anhand einer breiten Palette formaler Techniken wie z.B. Assonanz, Alliteration, Doppel- und Stabreim erreiche er, so Flentner, einen bemerkenswerten Sprachfluss, den er rhythmisch über den stets präsenten Viervierteltakt lege. Im neuen Jahrtausend spielt das Formale weiterhin eine nicht mindere Rolle in der Rezeption von Böttchers Lyrik. Zehn Jahre später schreibt z.B. Sophie Lübbert in ihrer Rezension der 2009 erschienenen Bände Die Poetry-Slam-Expedition und Neonomade von einem Poeten mit „enorme[m] Sprachtalent, [der] mit Klang, Doppeldeutigkeit und Rhythmus [spielt].“[5]

Hinter der formalen Kulisse von Böttchers Texten finden Rezensenten häufig eine poetische Auseinandersetzung mit den Widersprüchen und Strukturen der Konsumgesellschaft vor. Ein anonymer Korrespondent für die Neue Zürcher Zeitung erkennt an den Texten von Neonomade eine ausgeprägte Konsumkritik, sowie auch einen „Kommentar zur medialen Sprachverwirrung”, und einen kritischen Hinweis auf „die Hypertrophie des Marketing-«Drumherums».[6]

In ihrem kritischen Urteil bringen zwar viele Rezensenten Böttchers Lyrik auf die gleichen formalen und inhaltlichen Nenner, doch das Wechselspiel zwischen Form und Inhalt, das grundlegende Verhältnis zwischen Böttchers thematischen Anliegen und seinem formalen Programm bleibt weitgehend unkommentiert.[7] Im Folgenden zeige ich anhand von zwei ineinander verstrickten Beispielen, wie Böttchers Texte inhaltlich-kodierte Hinweise auf sein literarisches Programm und vor allem sein Verständnis vom Kommunikationspotenzial des Gedichts bieten. Zum einen deutet Böttchers lyrische Auseinandersetzung mit den Strukturen und Widersprüchen der Konsumwelt auf den Warencharakter des Gedichts, das wiederum den gleichen Marktbedingungen unterliegt, wie jedes andere Konsumgut. Als Ware muss das lyrische Produkt anhand gezielter Werbetechniken um sein Publikum buhlen: Diese Werbung soll das Publikum beeinflussen, sich näher mit dem textlichen Inhalt zu beschäftigen, wobei sie eine Reihe von Kommunikationsfunktionen erfüllt. Zum anderen zeigt Böttchers Thematisierung der Liebe in der zeitgenössischen Mobilitätsgesellschaft, dass jene Kommunikation dann die besten Aussichten auf ein Gelingen genießt, wenn sie ohne zeitliche Verzögerung in ko-präsenten Begegnungen zwischen KommunikationspartnerInnen erfolgt.

In seinem Aufsatz „Mal eben überschlagen“ (2001) äußert sich Böttcher zu seinen literarischen Einflüssen. Anstatt große Literaten wie „Günter Grass“ zu nennen, bezieht er sich auf unbekannte „Werbestrategen“ und die eingängigen sprachlichen Strukturen, mit denen die Werbeindustrie so wirkungsvoll hantiert:

 

Viele Personen, die mich geprägt haben, könnte ich gar nicht kennen […]. Sie sitzen nachts am Macintosh in Firmen, die Namen tragen wie „Partner und Partner,“ und brüten über der nächsten Kampagne. Sprüche wie „Tüftel den BigMac!,“ „Black und Decker, Black und Decker, Black und Decker, …“ oder „Jaffa, Jaffa! Ja, phantastisch!“ brannten sich im frühen Alter in meine Gehirnwindungen ein.[8]

 

Dass die Werbung, jene dienende Magd des Kommerzes, ihren Einfluss auf die erhabenste der literarischen Künste geltend machen dürfte, könnte beinahe ketzerisch wirken, doch Poesie und Werbung haben, so Samuel Hayakawa, viel gemeinsam. Wie die Dichtung bedient sich auch die Werbung einer Reihe bekannter rhetorischer und lyrischer Stilmittel wie z. B. Alliteration, Assonanz, Metrik und Reim in seinen verschiedenen Ausprägungen. Zudem bevorzugen beide „literarische Formen“[9] eine eher konnotative als denotative Sprache, wobei mehrdeutige Formulierungen ein differenziertes Geflecht semantischer Ebenen entstehen lassen.[10] Vor allem teilen Werbung und Dichtung den Wunsch, den „Data of everyday experience“ Bedeutung zu verleihen,[11] und inzwischen ist die Werbung eindeutig zum alltäglichen Phänomen geworden. Bietet Böttcher dann mit seinen Texten „einen frischen Blick auf Alltagssituationen,“[12] so ist es kaum verwunderlich, dass in sein poetisches Programm Werbetechniken Eingang finden. Zudem ist es verständlich, dass er das wohl alltäglichste Merkmal der heutigen Wohlstandsgesellschaft in seiner Lyrik thematisiert, und zwar das Phänomen des Konsums, dessen zentralen Impuls er kurz und bündig im wiederkehrenden Imperativ des Refrains von „Dran glauben“ schildert: „Kram kaufen!“[13] Wie in alttestamentarischen Zeiten wird das Kaufmittel beinahe vergöttert: „So wie in Babel in der Bibel lieben People die Piepen.“[14] In „Dran glauben“ wird die Wechselbeziehung zwischen Wohlstand und Konsum mit der mehrdeutigen Zeile „Zum Reichtum gibt’s Schätze“ treffend erfasst:[15]  Zum einen wird Wohlstand durch den Erwerb von „Schätzen“ ermöglicht, zum anderen bedarf der Konsum eines gewissen Wohlstands. Versteht man unter „Schätzen“ Luxuswaren, Produkte, die nicht lebensnotwendig sind, so liest sich diese Zeile als eine poetische Umschreibung des Engelschen Gesetzes, das besagt, dass der Anteil an den Haushaltsausgaben, der mit zunehmendem Einkommen (Reichtum) für lebensnotwendige Güter ausgegeben wird, sinke.[16]

Bas Böttcher: Dran glauben/Bekommbar

Bewegt sich der Konsum zwischen Notwendigkeit und Überfluss bzw. Luxus, so verschwimmen aber auch die Grenzen jener Bereiche, denn besonders in der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben zahlreiche Produkte eine Metamorphose vom Luxusgut zum Massengut erfahren.[17] Analog dazu erfolgte auch in jenen Jahren eine deutliche Erweiterung und Ausdifferenzierung der Produktpalette, so wie die Erschließung neuer Zielgruppen.[18] Wie aus vielen Texten von Böttchers jüngstem Gedichtband Neonomade hervorgeht, finden sich im heutigen Warenangebot nicht nur materielle Güter wie z.B. „ein Plastikschwein made in Taiwan“ (S. 8, Z. 1), „andern Kleinkram“ (S. 8, Z. 2), oder Markenprodukte von Microsoft (S. 8, Z. 12), Pokémon (S. 9, Z. 24), Langnese (S. 27, Z. 25), und Coca-Cola (S. 27, Z. 15, 33), sondern auch Dienstleistungen wie z.B eine „Bräunung,“ die die „Schönheit“ gewährleisten soll (S. 8, Z. 5), oder Telekommunikationsprodukte von „ProSieben“ (S. 8, Z. 34) und „Telekom“ (S. 8, Z. 23). Heutzutage ist, so Böttcher, eben alles „Bekommbar:“ Ob „auf den Grabbeltischen der Großstadt, / […] von der Stange der Straßenstände, / [oder] „in den Restposten der Grossisten“ (S. 10, Z. 1-3), „werden wagenweise Waren vertrieben“ (S. 7, Z. 10). Hiermit weist Böttcher indirekt auf die Rückseite der „Konsummünze,“ und zwar auf die Verkäufer und ihre Marketing-Branche, die darauf angelegt sind, den Konsumenten beim Kaufentscheidungsakt möglichst zu beeinflussen. In „Dran glauben“ bringt Böttcher es lapidar auf den Punkt: „Zur Ware gibt’s Werbung.“[19]

Dass es heutzutage nicht mehr nur um das Produkt selbst geht, sondern um das, was Böttcher als das „Drumherum“ bezeichnet, ist längst ein Faktum unserer Konsumkultur.[20] Der populäre und kommerzielle Erfolg jedes Produkts in der konsumbetonten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts beruht in erster Linie auf erfolgreicher Verpackung, Werbung und Vermarktung, wobei alles zum Produkt wird. In der Musikindustrie erfolgt, so Böttcher, kein Durchbruch ohne aggressive Mitwirkung der Marketingabteilung, denn „zum Popstar [gehört] das Image.“[21] Auch Schönheit ist heutzutage ohne die Imagemanipulation von Bräunungsstudios und Photoshop undenkbar.[22] Sogar Literatur verdankt ihren Erfolg immer mehr der Marketingabteilung des jeweiligen Verlags:

 

Dann steht der Text im Zentrum

und wieder dreht sich alles um

Das Drumherum

 

[…]

 

Promo Kampagnen Skandale Presse

Interview Info Journale Messe.[23]

 

Erfolgreiches Marketing ist allerdings ein dynamischer Vorgang. Um den fortlaufenden Erfolg ihres Produkts zu sichern, müssen Firmen mit den wechselnden Marktbedingungen Schritt halten. Das mehrbändige Nachschlagewerk Encyclopaedia Britannica bietet hiervon ein gutes Beispiel. Während Britannica den Markttrend der frühen 90er Jahre ignorierte, reagierte der neue Konkurrent Microsoft hingegen rechtzeitig auf die Marktbedingungen und hatte mit Encarta, einem Lexikon im CD-ROM-Format, einen Verkaufsrenner, der neue profitable Zielgruppen erschließen konnte. Britannica, dessen Marktanteil ab Anfang des Internet-Zeitalters unter einer rückläufigen Nachfrage litt, musste sich erst – jedoch beinahe zu spät – an die informationstechnischen Änderungen des Internet-Zeitalters anpassen, sich gewissermaßen umetikettieren und das Online-Format begrüßen, um den Abschwung zu stoppen.[24] Eine ähnliche Flaute wurde in jenen Jahren in der Poesie-Sparte der Literatur-Branche verzeichnet. Schon 1988 ging Joseph Epstein in seinem Aufsatz für Commentary der Frage „Who killed Poetry?“ nach.[25] Doch nicht Poesie starb, so Epstein, sondern scheinbar nur deren Kommunikationspotenzial: Es wurden immer mehr Gedichte geschrieben, veröffentlicht, gelesen und kritisiert, jedoch lediglich innerhalb eines immer enger werdenden, vornehm akademischen Kreises.[26] In einer elitären Leere entstand und vermarktete sich eine Dichtung, die sich einem breiteren Publikum allmählich entfremdet hatte: „however much contemporary poetry may be honored, it is, outside a very small circle, scarcely read.“[27]

Schon Jahrzehnte zuvor erkannte der englische Dichter Philip Larkin, dass Poesie ihren einstigen Marktanteil verloren hatte, als sie unter das Seziermesser der Akademie vom Unterhaltungsobjekt zum Forschungsgegenstand umgemodelt wurde.[28] Zum gleichen Schluss kam der in Chicago als Bauarbeiter tätige Freizeit-Dichter Marc Smith, der regelmäßig die Literaturlesungen besuchte, die in kulturellen Einrichtungen, Universitäten und Buchhandlungen stattfanden. Zwar interessierte Smith der „unterschiedliche Umgang mit Sprache,“ doch er konnte nicht nachvollziehen,

 

[wie] jemand etwas, was ihm offensichtlich wichtig erschien, derart schlecht vortragen [konnte], und dieses dann auch noch in einer derart sterilen Atmosphäre eines nüchternen weißen Raums mit Stuhlreihen von derselben Farbe, ohne Bar, ohne flairerzeugende Beleuchtung, und ohne die Möglichkeit, den Rest des Abends angenehm miteinander verbringen zu können.[29]

 

Folglich nahm er sich vor, die Verbindung zwischen dem amerikanischen Volk und „poetry, any poetry“ wieder herzustellen, denn er erkannte „the need to rescue poetry from its lowly status in the nation’s cultural life.“[30] Somit rettete er die Poesie aus dem luftlosen Raum der Akademie, befreite sie von den Fesseln ihrer elitären Zwangsjacke, und machte sie einem breiteren Publikum zugänglich, indem er ihr freien Lauf in den Jazzclubs des Chicagoer Arbeiterviertels ließ. Der demokratische Wettkampfcharakter des „Original Uptown Poetry Slam“ zog, und binnen kürzester Zeit entstanden Ablegerslams in Nordamerika und sogar Europa. Im Marketingsinne hatte Smith mit dem neuen Poesieformat die Versteinerung seines Produkts durch einen inspirierten Produktrelaunch verhindert, und der Poetryszene neues Leben eingehaucht. Ihm gelang es, die Poesie über die Grenzen des Literaturmarktes hinaus umzupositionieren, und durch die Demokratisierung und Heterogenisierung des Marktes neue Zielgruppen für die Poesie zu erschließen. Dank jener Umpositionierung sicherte sich die Dichtung einen legitimen Platz in der heutigen Erlebniskultur. Live-Lyrik wird zur beliebten Alltäglichkeit, nicht nur in den Clubs und Kneipen, sondern auch zu Hause im Fernsehen, denn seit mehreren Jahren genießt die WDR-Sendung Poetry Slam „verblüffend gut[e]“ Einschaltquoten.[31]

Doch die Wiedererweckung des populären Interesses an Lyrik liegt nicht nur an deren Umsiedlung in die Unterhaltungssphäre, sondern auch an einer „massive cultural revolution,“ in der, wie oben schon angedeutet, die Schrift ihre Vorherrschung als Hauptkommunikationsmittel verloren hat.[32] Dieser grundsätzliche Paradigmenwechsel ist in jeder Lebenssphäre zu erkennen, und zeigt sich im Literaturbereich u.a. durch die „neu[e] Rolle des Auditiven in der Lyrik:“[33]

 

Poets of every school now reach more people through oral performance – in person, by broadcast, through video or audio recording – than they generally do through print. Books remain the basic medium for literary poetry, but paradoxically an author’s print readership now heavily depends on attracting an audience initially through oral performance.[34]

 

Als Konsumprodukt hatte sich zwar die Lyrik einem breiteren Publikum entfremdet, doch mit der erneuten Hinwendung zur ursprünglichen Oralität der Poesie vermag das Gedicht wieder „offensiv auf sein Publikum hin[zu]wirken.“[35] Zum gleichen Schluss kommt auch Mediävist Paul Zumthor: „Sprache ohne Stimme [hat] eine gewisse Impotenz.“[36] Gleichsam wie ein Werbeplakat die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und vor allem das dafür geworbene Produkt einfordert, wirbt das Akustische für das Gedicht:

 

Die sensationellen Erfolge von Lesungen der neuen Spoken-Word-Bewegung zeigen, daß aktiv und lebendig gesprochene Lyrik ganz selbstverständlich in der Lage ist, Zuspruch von einem großen Publikum zu bekommen.[37]

 

Insbesondere bewirkt die auditive „Werbekampagne“ die Erschließung der Dichtung einem „unbelesenen Publikum.“[38] Das heißt allerdings nicht, dass im heutigen Literaturmarkt der Dichter sich gezwungen fühlen muss, auf „simplistic poems“ zurückzugreifen,[39] die lediglich unter Rücksichtnahme auf deren Unterhaltungswert entstanden sind. Der zeitgenössische Spoken-Word-Text muss wie jedes andere Konsumgut konzipiert sein, das sich unter den Bedingungen der Marktwirtschaft durchsetzen soll.[40] Zwar müssen Werbung, Marketing, Produktpackung und Image zum Kauf anregen, doch die Qualität und Funktion des gekauften Produkts müssen letztendlich auch überzeugen. Daher gelingen vor allem Texte, denen ein „doppelkodierter“ Charakter zugrunde liegt. Ursprünglich von Charles Jencks auf die postmoderne Architektur angewandt, weist dieser Begriff auf jene designspezifischen Eigenschaften, die das postmoderne Gebäude gleichzeitig zumindest zwei Bevölkerungsschichten ansprechen lassen: „Architekten und eine engagierte Minderheit“ sowie auch „die breite Öffentlichkeit oder die Bewohner am Ort, die sich mit Fragen des Komforts, der traditionellen Bauweise und ihrer Art zu leben befassen.“[41]

Mit seinen Texten stellt sich  Böttcher ähnliche Ansprüche, die bei der schreibtechnischen Umsetzung seiner poetisch-kommunikatorischen Zielsetzung Pate stehen. Wie Shakespeare, den Böttcher als seinen „Super-Held[en] in Sachen performter populärer Poesie“ mehrfach erklärt hat, möchte er „vielschichtig[e] Geschichten fürs vielschichtige Publikum” schreiben und aufführen.[42] Seine Texte sollen sowohl ein „einfaches Publikum […] erreichen, was bei Shakespeare die Groundlings“ waren, als auch „die kulturell anspruchsvollen […] auf einer anderen Ebene des Textes.“[43]

Böttcher möchte jedoch nicht nur ein vielschichtiges Publikum ansprechen, vielmehr ist er bemüht, die vielschichtigen Ansprüche jedes einzelnen Zuhörers zu befriedigen, also dem „doppelten Anspruch“ des Publikums Genüge zu tun, und „zwar den Anspruch auf Anspruch und den Anspruch auf Spaß.“[44] In einem Interview mit Marcus Weber für Deutschlandradio geht Böttcher explizit auf die Doppelkodiertheit seiner Texte ein:

 

Ein Gedicht hat eine äußere Hülle und einen inneren Kern. Und zunächst, von außen, muss es glitzern und funkeln und Energie versprühen. Nur dann kann es einen Zuhörer verführen, auch sein Inneres zu entdecken.[45]

 

Daraus geht hervor, dass die äußere Hülle des Gedichts paradoxerweise ein wichtiger Bestandteil des poetischen Produkts und zugleich die Werbung dafür ist. Als Werkzeug der Werbung erfüllt die lyrische Form zwei Hauptfunktionen: Beeinflussung und Kommunikation.[46] Als Kommunikation hat die Werbung weitere (sich oft überschneidende) Teilfunktionen: Abgesehen von einer reinen Unterhaltungsfunktion erfülle, so Golonka, die Werbung eine Bekanntmachungs-, eine Informations-, eine Suggestions-, eine Image-, und eine Erinnerungsfunktion.[47] Als Bekanntmachungsmittel macht die Werbung auf das poetische Ganze aufmerksam: Lauthals soll sie die Ankunft des Texts am literarischen Markt melden. Doch in einer informationsgesättigten Gesellschaft droht jede (selbst lauthals proklamierte) neue poetische Bekanntmachung in einer „proliferation of competing voices and messages,“  die sich gegenseitig übertönen, verzerren oder aufheben, unterzugehen.[48] Direkt erfahrbar ist dieses Merkmal der heutigen Generation im Wirrwarr der Literaturmesse, auf der Autorenstimmen miteinander um die Aufmerksamkeit des Publikums konkurrieren. Der problembehafteten Aufgabe, im Trubel der Messe die Lyrik „an den Mann oder an die Frau“ zu bringen, steht Böttcher mit seinem Textbox-Projekt direkt gegenüber:[49]

 

Die Textbox erinnert optisch an eine DJ-Box. Der Dichter steht hinter Plexiglas. Per Kopfhörer kann das außenstehende Publikum der Lyrik in Studioqualität lauschen. Selbst im lauten und hektischen Umfeld können sich die Zuschauer auf jede Silbe einlassen. […] Da funktioniert die Textbox als universeller Adapter für Poesie in einer ‚poesiefeindlichen’ Umgebung.[50]

 

Im Gegensatz zum Marktschreier, der die Aufmerksamkeit des Publikums durch Lautstärke zu erregen versucht, bietet der Textbox-Dichter seine Texte nicht lautstark feil, sondern durch eine umgekehrte Werbetechnik versucht er vielmehr, sich optisch und auditiv von der Konkurrenz abzuheben und so einen „Sog“ zu erzeugen.[51] Somit wirkt die Textbox mitgestaltend an der „glitzern[den], funkeln[den] und Energie versprühen[den]“ ästhetischen „Hülle“ des Gedichts,[52] die nicht nur für den poetischen Text wirbt, sondern auch als ihr räumlicher Austragungsort einen grundsätzlichen Bestandteil des poetischen „Gesamtkunstwerkes“ ausmacht, das aus sowohl „gesprochen[em] Wort“ als auch „Szene, Raum und Klangwirkung“ besteht.[53]

Als Informationsvermittler weist die Werbung auf weitere „Produkteigenschaften.“[54] Hierfür sorgen u.a. visuelle und akustische Aspekte des Gesamtkunstwerks, die die formal-strukturelle Gestalt des „mitgelieferten“ Texts zutage treten lassen, und inhaltliche Botschaften verstärken. Für sein „Text-, Hör- und Filmbuch,“ Die Poetry-Slam-Expedition, inszenierte Böttcher z.B. zwei seiner jüngsten Texte als so genannte „Poetry-Clips.“ Besonders auffällig an der Inszenierung von „Dran glauben“ ist der Beitrag von sich regelmäßig wiederholenden szenischen bzw. filmischen Elementen zum formalen (Werbe-)Charakter des Werkes und folglich auch zur dessen Rezeption. Indem dem Publikum hier der Rückgriff auf einen strukturgebenden Schrifttext fehlt, bieten derartige filmische Mittel hilfreiche Hinweise zur Gliederung und zum mnemonischen Festhalten der poetischen Informationen. Während auf der Makroebene die Aufteilung des Texts in Strophe und Refrain durch Schnitte, Soundeffekte, Perspektive, Farbe und Tonqualität unterstrichen wird, sorgt auf der Mikroebene eine Reihe ausgefeilter filmischer Mittel für die sinnliche Übertragung der texteigenen Struktur. Schnitte (in untenstehender Wiedergabe der dritten Strophe durch das Zeichen | markiert) heben nicht nur die Gliederung formaler Elemente hervor, sondern sie dienen auch zur Unterstreichung und folglich auch zur Rezeption der mehrdeutigen inhaltlichen Gegenüberstellungen, die die zweite Hälfte jeder Strophe ausmachen:

 

Zur Ware | gibt’s Werbung. |

zum Blondieren | die Färbung, |

zum Traum | gibt’s die Deutung, |

zum Glück gibt’s | die Täuschung |.[55]

 

Bei Live-Performances spielen visuell- und akustisch-formale Elemente wie  Handgestik, Lautstärke, Betonung und Vortragstempo ebenfalls wichtige Rollen als Vermittler von formalen und inhaltlichen Informationen des Texts. Somit überschneidet sich die Informationsfunktion der Werbung mit deren Suggestionsfunktion, denn anhand dieser vermag die Werbung „mit Sprache, Bildern, Farben, [und] Musik […] emotionale Kräfte frei[zusetzen],“[56] die zur Entstehung einer Stimmung beitragen, die wiederum den inhaltlichen „inneren Kern“ des Texts unterstützt und ihm einen semantischen Mehrwert verleiht. Dass besonders im nicht deutschsprachigen Ausland Böttcher bemüht ist, jeglichen potenziellen semantischen Verlust mit einer breiten Palette an „Werbetechniken“ wettzumachen, die eine eindeutige Suggestionsfunktion erfüllen, geht z.B. aus der Pressemitteilung des „Stockholmer Poesifestival“(2007) deutlich hervor:

 

[Böttcher’s] aesthetics can be described as a fusion of genres, the performances are illustrated by video projections […]. Bas Böttcher regards his texts as “sensuous occurrences. They occur at discotheques, libraries, stages, in literature and at festivals”. The performance on stage has a central place in his poetry making and he emphasizes tone, rhythmic and lingual dynamics as essential elements to create an atmosphere and frame of mind. We will see him in a performance accompanied by picture projections and sound art.[57]

 

Im Interview mit Maike Lipczinsky deutet Böttcher selber auf die stimmungschaffende Funktion der Sprache:

 

wenn ich mehr sanfte Wörter wähle, die nicht so persekutiv sind, dann erziele ich auch eine geschmeidige Stimmung, genauso wie wenn ich dann Passagen habe wie „plus pausenlosen Basspuls ins Publikum pumpen;“ das ist mehr eine persekutive Sprache, da hat man pointierte Wörter und vermittelt auch wieder eine Stimmung, gleichzeitig sprechen sie auch wieder für sich.[58]

 

Besonders jene Art von „verschachtelten und überaus amüsanten Satzkaskaden voller Assonanzen und Stabreime“ schafft Böttcher seinen nachhaltigen Ruf als „Sprachakrobaten.“[59] Diese image-schöpfende Funktion der Werbung sorgt des Weiteren dafür, dass das dafür geworbene lyrische Produkt sich von seinen Konkurrenten am heutigen Konsummarkt abhebt.

Schließlich hat die Werbung eine Erinnerungsfunktion, indem sie sich so gestaltet, dass sie der Zielgruppe durch das mehrfache Wiederholen von und innerhalb der Werbebotschaft möglichst in Erinnerung bleibt. Hier wirkt die vielfache, formatübergreifende Veröffentlichung seiner Texte besonders effektiv. Texte wie z.B. „Nach dem Loop: Leben;“ „Liebeserklärung an eine Chinesin;“ und „Dran glauben“ u.v.a. werden weltweit auf Bühnen, in Schulen und bei Literaturveranstaltungen live performt. Als Youtube-clips werden sie jeweils bis zu 15 000 mal im Jahr aufgerufen. Sie kommen ins Fernsehen, werden in Lyriksammlungen und Gedichtbänden abgedruckt, und erscheinen auf CDs und DVDs. Als Mp3-Dateien sind sie stets unterwegs: Sie werden heruntergeladen, auf Festplatten gespeichert und per MP3 von einem iPod, iPad, oder Smartphone zum nächsten weitergegeben. Somit genießen Böttchers Texte eine ausgesprochen hohe Marktpräsenz. Innerhalb der poetischen Werke an sich erfüllen texteigene, formale Strukturen der ästhetischen äußeren Hülle eine weitere Erinnerungsfunktion. Da Böttchers Lyrik „definitiv für die Bühne“ geschrieben wird[60] und sich der mündlich vorgetragene Text im Performance-Raum leicht verflüchtigen kann, findet Böttcher es „sinnvoll, wiederholende Elemente einzubauen, weil die Zuhörer nicht […] noch mal zurückspringen können.“[61] Somit bedient sich Böttcher einer breiten Palette an Stilmitteln, die im Grunde auf Wiederholungen von unterschiedlich langen Laut- und Wortelementen basieren.

Als größtes iteratives Element seiner Texte zählt der Refrain, den er aus dem Popbereich entlehnt. Wie in rund der Hälfte der Texte in Neonomade wechseln sich auch in „Merktext“ ähnlich aufgebaute Strophen mit einem gleich bleibenden Refrain ab:

 

Man merkt nichts mehr!

Nichts merkt man mehr!

Und keiner merkt, dass man nichts merkt,

denn keiner merkt mehr, dass da was bemerkenswert wär.[62]

 

Parallelismen prägen den Charakter vieler seiner Texte. In „Dran glauben“ z.B. bestehen die Strophen aus 2 Parallelismen: einem 2-zeiligen, in dem nicht nur die ersten fünf Wörter beider Zeilen miteinander übereinstimmen, sondern beinahe alle Lauteinheiten (siehe unten); und einem 4-zeiligen, in dem Zeile für Zeile die Form erhalten bleibt und nur die jeweiligen Substantive ausgewechselt werden. Die letzte Zeile jeder Strophe bildet ein wiederkehrendes Element, das den darauf folgenden Refrain vorwegnimmt, und dabei wie ein dazu gehörender Auftakt wirkt:

 

Häng deine Hoffnung an ein Plastikschwein made in Taiwan,

häng deine Hoffnung an ein Pflasterstein und andern Kleinkram.

Zur Show gibt es Kitsch,

zum Popstar das Image,

zur Schönheit die Bräunung,

zum Glück gibt’s die Täuschung.[63]

 

Weitere auf Wiederholung beruhende Stilmittel sind hier ebenfalls vorhanden: Binnenreim, Endreim, Assonanz und Alliteration tragen alle zur berechenbaren Regelmäßigkeit der Strophe bei. Derartige Wiederholungen dienen, so Ruth Crosby, der Rezeption einer solchen inhärent flüchtigen literarischen Kommunikationsform, indem sie der Sprache Struktur und Kohärenz verleihen.[64] Leicht begreifliche auditive Muster spielen seit jeher eine rezeptions- und folglich reflektionsfördernde Rolle in der oralen Dichtung, indem sie, so Dana Gioia, eine erhöhte Zuhöreraufmerksamkeit erzielen und zur mnemonischen Speicherung der aufgenommenen Informationen beitragen.[65] Walter Ong betont ebenfalls die mnemonische Rolle metrischer Muster in der oralen Dichtung:

 

to solve effectively the problem of retaining and retrieving carefully articulated thought, you have to do your thinking in mnemonic patterns, shaped for ready oral recurrence. Your thought must come into being in heavily rhythmic, balanced patterns, in repetitions or antitheses, in alliterations and assonances, in epithetic and other formulary expressions, in standard thematic settings […], in proverbs which are constantly heard by everyone so that they come to mind readily and which themselves are patterned for retention and ready recall, or in other mnemonic form. Serious thought is intertwined with memory systems.[66]

 

Erfolgt die formale „Eigenwerbung“ eines mündlich vorgetragenen Gedichts, indem sie die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Anwesenheit des lyrischen Produkts am poetischen Markt erweckt, so kann sie „einen Zuhörer verführen, auch [das Innere des Gedichts] zu entdecken.“[67] Dieses fundamentale Prinzip der Werbung ist im Grunde auch jene Funktion der Form, die, nach Kirk Pillow, aus Kants Kritik der Urteilskraft hervorgehe: „beautiful form renders reflection upon content possible. […] beauty induces reflection.“[68] Lässt man sich jedoch von der „schönen“ lyrischen Werbung „verführen,“ so muss auch die Qualität des dafür geworbenen Produkts überzeugen. Folglich darf das Gedicht nicht nur „appetitlich“ ausschauen: Vielmehr muss der Käufer nahrhafte Inhalte im „inneren Kern“ des poetischen Produkts vorfinden, die ihm – in den Worten von Jan Wagner – nicht „mit knurrendem Magen nach Hause geh[en]“ lassen.[69]

An dieser Stelle kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück, und zwar zur Frage nach der Übereinstimmung von Form und Inhalt in den Texten von Bas Böttcher. Inhaltlich befassen sich seine Texte nicht selten mit den formalen Eigenschaften des Konsummarkts und dessen Produkten. In „Reklame“ wird z.B. das Verhältnis zwischen Werber, Werbung und Umworbenem thematisiert:

 

Werben und umworben werden

Ein altes beliebtes Spiel

Komm her zu mir, mein Sonnenschein

Persil, Persil, Persil.[70]

 

 

Das Überschreiben des Texts mit „Reklame“ liefert nicht nur einen Hinweis auf das thematische Anliegen des Gedichts, sondern es legt auch zugleich eine intendierte Bezeichnung des gesamten darauf folgenden, lyrischen Gegenstands nahe, und zwar die Gleichsetzung von Gedicht und Reklame. Denn formal gestalten sich Gedichte wie jedes andere dafür geworbene Konsumprodukt am heutigen Markt: Sie sind „attraktiv im Sinne von anziehend“ verpackt, so dass ihre Ästhetik ihnen einen effektiven Marktzutritt versichert.[71] Somit dient die äußere ästhetische „Hülle“ des zeitgenössischen Sprechgedichts als Transportmittel für den „inneren [lyrischen] Kern.“ Insofern wird das poetische Werk als Einheit aus Behälter und Inhalt, sowie Transportierendem und Transportiertem konzeptualisiert, was wiederum die Struktur einer weiteren, poesie-theoretischen Metapher entspricht. Mit der Flaschenpostmetapher, einer der gängigsten Tropen einer weit zurückreichenden literarischen Tradition, geht oft das Bild eines Schiffbrüchigen einher, der „seine versiegelte Flasche den Wellen übergibt, daß sie sie führen zu denen, die den Inhalt vernehmen können.“[72]

So unterschiedlich die Dichter, Schriftsteller und Philosophen sind, die die Flaschenpost-Trope literarisch verwerten, so unterschiedlich schätzen sie auch das Kommunikationspotenzial des Gedichts ein. Während die einen mit verzweifelter Hoffnung ihre Flaschenpost der Willkür eines sturmgepeitschten Ozeans übergeben, hegen wiederum andere eine unerschütterliche Zuversicht, dass ihre poetische Botschaft empfangen wird.[73] Wie dem auch sei, muss der herkömmliche Flaschenpostdichter mit der Nachträglichkeit seiner Sendung rechnen, die weder ihren Weg, noch die Dauer bis zu ihrer Auffindung kennt.[74] Milo Dor wie auch seinerzeit Bertolt Brecht nimmt die verzögerte Ankunft seiner Flaschenpostsendung in Kauf und richtet sie an künftige Generationen:

 

Es genügte vollkommen, daß irgendein junger Mensch, vielleicht meine Enkelin oder mein Enkel, eines Tages eines meiner Hefte in die Hand nimmt, meine Schrift zu enträtseln versucht und dabei nachzudenken beginnt. Um ihnen die Arbeit zu erleichtern, werde ich alles auf dem Computer abschreiben und eine saubere Diskette hinterlassen. Heutzutage ersetzen Disketten die Flaschenpost.[75]

 

Im Gegensatz zum herkömmlichen Bild eines sesshaften Schriftdichters, der „sich in den Elfenbeinturm zurückzieh[t],“[76] und schon in der Brandung seiner sturmumtosten Insel sich von seiner lyrischen Kommunikation trennt, die dann zeitliche und räumliche Distanz überbrücken muss, um in die Hände eines unbekannten Adressanten zu gelangen, ist der Sprechdichter, der seine poetische Nachricht auditiv-performativ überträgt, zur Mitreise verpflichtet. Erst am fremden Ufer trennt sich dieser von der Botschaft. Anstatt nachts vom einsamen Weg seiner Flaschenpost durch einen windgefegten Ozean zu träumen, vermag der zeitgenössische Sprechdichter zuzuschauen, wie seine lyrische Botschaft beim Rezipienten ankommt:

 

man [setzt] Texte in die Welt […], die dann ihre eigenen Wege gehen, […] man setzt etwas in die Welt […]  – wie so eine kleine Flaschenpost, die man ins Meer wirft und guckt, wo sie dann eben ankommt.[77]

 

Somit erfolgt der Versand der poetischen Flaschenpost im Hier und Jetzt: Eine Echtzeit-Übertragung, die vor allem ein intimeres Dichter-Publikum-Verhältnis durch effektive Kommunikation anstrebt. Live vorgetragen, ist der Text, so Böttcher, viel direkter und unmittelbarer:[78] Nicht nur die zeitliche Distanz zwischen Dichter und Publikum wird auf ein Minimum reduziert, sondern auch der räumliche Abstand schwindet, so dass die poetische Interaktion in einer „ko-präsenten Begegnung“ erfolgt.

Nach John Urry ist derartige „Ko-präsenz“ notwendig für eine erfolgreiche Kommunikation, denn „Face-to-face conversations are produced, topics can come and go, misunderstandings can be quickly corrected; commitment and sincerity can be directly assessed.“[79] Direkt erfahrbar wird die kommunikative Wirksamkeit der Ko-präsenz am Beispiel von Böttchers Textbox:

 

Es entsteht eine Intimität. Der Zuhörer ist nur 2-3 Zentimeter vom Sprecher entfernt, alles dazwischen ist elektronisch. Man hat das Mikrofon, und dann eben den Klang der Stimme direkt auf dem Ohr und auf diese Weise kann man eben dem Messe-Besucher auf einmal ins Ohr flüstern und da ganz schöne Effekte erzielen und die Poesie eigentlich unter ganz idealen Bedingungen zu Wirkung kommen lassen.[80]

 

Der Stellenwert ko-präsenter Begegnungen in Böttchers poesietheoretischen Schriften spiegelt sich inhaltlich in vielen seiner literarischen Texte wider. Wie Andrea Bartl in ihrer Einführung zu Transitträume: Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ausführt, machen viele zeitgenössische Gedichte – insbesondere Liebesgedichte – Mobilität und Transitorisches zum Gegenstand.[81] Am Beispiel von Albert Ostermeiers Gedicht „come together“ zeigt Bartl, wie Mobilität „zum Motor der Ausgrenzung und zur Möglichkeit der Integration“ wird.[82] Ebenso wird in Böttchers lapidarem Gedicht „In Bahnen“ das Liebesverhältnis durch ein Pendeln zwischen Nähe und Distanz geprägt.[83] Vor allem zeichnet sich die Beziehung zwischen dem Protagonisten und einer Du-Figur durch fehlende Ko-Präsenz und ausbleibende Kommunikation aus. Der nomadische Lebensstil des Protagonisten treibt einen trennenden Keil zwischen jenem Berufsreisenden und seiner eher sesshaften, zurückbleibenden Geliebten. Kommunikation wird erschwert: Allein fährt der Protagonist „leise nach Hause,“ und wenn nach einem kurzen Aufenthalt „die Wagen […] nach Plänen aus Bahnhöfen raus[rollen],“ kann auch die Du-Figur nur schweigen:

 

„Bitte zurückbleiben!“

Du schweigend am Gleis

Im riesigen Bahnhof.[84]

 

Was Böttcher hier in den prägnanten Zeilen von „In Bahnen“ skizziert, wird in Böttchers Erstlingsroman Megaherz (2004), einem Prosatext mit „Rap-Poetry-Eruptionen,“ genauer ausgearbeitet.[85] Der Klappentext schildert die Protagonisten, Linus und Ariane:

 

[Sie] sind Vielflieger im siebten Himmel. Er ist international gebuchter DJ, sie Stewardess mit besonderen Aufgaben. Sie treffen sich, so oft es geht, in verschiedenen Metropolen der Welt. Doch die Sehnsucht nach einander wird durch die häufigen Trennungen zu groß.[86]

 

Der Roman beginnt mit einem allzu kurzen Augenblick der ersehnten physischen Ko-Präsenz des DJs Linus Thürmer und der Flugbegleiterin Ariane Szygety. Doch derartige Begegnungen erfolgen nur selten, so dass die Protagonisten die fehlende physische Ko-Präsenz durch „Teleliebe“ virtuell ergänzen müssen (S. 19). Anhand der modernen Mobiltelekommunikation verschaffen sie sich „ne LiveSchaltung“ zueinander, wobei Linus „im Elektronenfluss mit HyperPulsFrequenz / unbegrenzt und ungebremst in [Arianes] Hörmuschel zum Telekuscheln“ kommt (S. 19). Obwohl sich „offensichtlich zich Lichtjahre Luftlinie trenn,“ bleiben sie „beide tight wie Barbie und Ken“ (S. 19). Doch diese anfängliche Zuversicht mündet im Laufe des Romans in Zweifel und Frust: „Die ständige Distanz zwischen mir und Ariane ging mir auf die Nerven. […] Es musste im Zeitalter der Echtzeitübertragungen doch irgendwie möglich sein, über größere Entfernungen hinweg absolut eng zusammenzubleiben“ (S. 45). Auf Dauer erweist sich jene virtuelle Kommunikation als kein zuverlässiger Ersatz für die physische Ko-Präsenz, denn nicht immer gelingt es Linus, eine Live-Verbindung zu seiner Geliebten herzustellen. Hebt Ariane z.B. nicht ab, so muss sich Linus „damit zufrieden [geben], [s]einen poetischen Erguss auf ihrer Voice-Mailbox zu entladen,“ und somit seine lyrische Liebesbotschaft verzögert zu übermitteln (S. 18). Charakteristisch für derartige soziale Interaktionen, denen eine face-to-face Kommunikation fehlt und folglich auch der „access to the eyes of the other” ist der allmähliche Abbau von Intimität und vor allem Vertrauen.[87] Dies zeigt sich in der Entscheidung des Protagonisten, sich in Arianes Mailbox „reinzuhacken,“ um “sie einfach von ner anderen Seiten kennen [zu lernen]“ (S. 35).

Gegen Ende des Romans bemühen sich die Protagonisten um eine Rückgewinnung der Nähe: Sie tauschen  eine voneinander unabhängige, und daher distanzschaffende Mobilität, die ihre Beziehung bislang prägte, gegen einen gemeinsamen, distanzüberbrückenden und kommunikationsfördernden Nomadismus ein. Die gleiche Motivation prägt Böttchers Versuch, performte Lyrik unter „idealen Bedingungen“ zu Wirkung kommen zu lassen.[88] In ko-präsenten Begegnungen kann er an das Publikum eine Lyrik direkt übermitteln, die er als Konsumgut vermarktet. Als Einheit aus Werbung und dafür geworbener Ware dient das lyrische Werk nicht nur als ästhetisches Mittel zur Beeinflussung der „Kaufentscheidung,“ sondern auch als vielseitiges Produkt, das die Qualitätsansprüche der lyrischen Verbraucher nachhaltig befriedigen kann.

 


Endnoten

 

[1] Böttcher, Bas. Dies ist kein Konzert. Dresden & Leipzig: Voland & Quist, 2006. S. 18. Print & Audio CD.

[2] Alexander, Constantin. „Massenerfolg Poetry Slam: Dichter dran am Kommerz.Spiegel Online 8. April 2009. Web. 4. August 2010.

[3] Böck, Ingrid. „Die Freuden des jungen B.“ Focus Magazin 38 (1999) 20. September 1999. Web. 3. Februar 2011.

[4] Flentner, Kersten. „Die laute Lyrik.“ Hannoversche Allgemeine Zeitung 22. Aug. 2000: Feuilleton. Print.

[5] Lübbert, Sophie. „Shakespeare war gut.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung 24. Apr. 2009. Web. 27. Mai 2011.

[6] „Bas Böttcher: Pop-Poetry-Pioniere.“ Neue Zürcher Zeitung 9. Dezember 2009. Web. 11. Mai 201.

[7] Anders, Petra. „Lyrik des Augenblicks – der Live-Poet Bas Böttcher.“ Deutschunterricht 6 (2007): 46-51. S. 47. Print.

[8] Böttcher, Bas. „Mal eben überschlagen.“ Bas Böttcher. Poetry Slam Expedition. Hrsg. Peter Bekes und Volker Frederking. Braunschweig: schroedel, 2009. 60-65. Print, Video-DVD, Audio-CD.

S. 60-63. Print.

[9] Nach Aldous Huxley ist „Advertising […] one of the most interesting and difficult of modern literary forms.“ Zitiert nach Hayakawa, Samuel Ichiye. „Ads, like poetry, use rhythm, ambiguity to sway us: Hayakawa.“ Advertising Age 19. Aug. 1974: 36. Print.

[10] Hayakawa. „Ads, like poetry, use rhythm, ambiguity to sway us.“

[11] Hayakawa, Samuel Ichiye. Language in Thought and Action. 4th ed. New York: Harcourt Brace Jovanovich, 1978. S. 238. Print.

[12] Lübbert. „Shakespeare war gut.“

[13] Böttcher, Bas. Neonomade. Dresden & Leipzig: Voland & Quist, 2009. S. 8. Print & Audio-CD.

[14] Böttcher. Neonomade. S. 7.

[15] Böttcher. Neonomade. S. 8.

[16] Reith, Reinhold. „Einleitung.“ Luxus und Konsum: Eine historische Annäherung. Hrsg. Reinhold Reith, und Torsten Meyer. Münster: Waxmann, 2003. 9-27. S. 11. Print.

[17] Reith. „Einleitung.“ S. 10.

[18] Reith. „Einleitung.“ S. 12.

[19] Böttcher. Neonomade. S. 8.

[20] Böttcher. Neonomade. S. 22. Vgl. Lamb, Charles W., Joseph F. Hair Jr., und Carl McDaniel. Essentials of Marketing. Mason, OH: Cengage, 2009. S. 288. Print.

[21] Böttcher. Neonomade. S. 8, Z. 4.

[22] Böttcher. Neonomade S. 8. Z. 5; S. 11, Z. 14.

[23] Böttcher. Neonomade 22. Z.  6-15.

[24] Lamb, Hair und McDaniel. Essentials of Marketing. S. 12.

[25] Epstein, Joseph. „Who killed Poetry?“ Commentary 86.2 (1988): 13-20. Print.

[26] Gioia, Dana. „Can Poetry Matter?“ Atlantic Monthly (Mai 1991): 94-106. S. 94. Print.

[27] Epstein. „Who killed Poetry?“ S. 15.

[28] Larkin, Philip. Required Writing: miscellaneous pieces, 1955-1982. London: Faber & Faber, 1983. S. 81. Print.

[29] Patzak, Rayl. „Der Siegeszug der lebenden Gedichte. Die Entwicklung des Poetry Slams in den USA und dem Rest der Welt.“ Poetry Slam: Was die Mikrofone halten. Hrsg. Ko Bylanzky und Rayl Patzak. Riedstadt: Ariel, 2000. S. 135. Print.

[30] Conniff, Richard. “Please audience, do not applaud a mediocre poem.” Smithsonian Journal 23.6 (1992): 77-86. S. 78. Print.

[31] Böttcher, Bas. „Weil du gemeint bist, Oma – Interview mit dem WDR-Poetry-Slam-Moderator Jörg Thadeusz“ 26. April 2007. Web. 9. März 2011. Vgl. Sherry, John F., und John W. Schouten. „A Role for Poetry in Consumer Research.“ Journal of Consumer Research 29 (2002): 218-234. S. 218. Print: „After languishing through the 1970s and 1980s as a neglected genre, poetry is reemerging as a voice of the people in places as diverse as cafés, personal Web sites, public buses and subways, state fairs, and presidential inaugurations.“

[32] Gioia, Dana. Disappearing Ink: Poetry at the End of Print Culture. Saint Paul: Graywolf Press, 2004. S. 3. Print.

[33] Korte, Hermann. Deutschsprachige Lyrik seit 1945. Stuttgart: J.B. Metzler, 2004. S. 257-258. Print.

[34] Gioia. Disappearing Ink 20.

[35] Böttcher, Bas. „Ausgesprochen wirksam! Plädoyer für die Wiederentdeckung der akustischen Dimension von Dichtung.“ Jahrbuch der Lyrik 2005. Hrsg. Christoph Buchwald und Michael Lentz. München: Beck, 2004. 159-164. S. 163. Print.

[36] Zumthor, Paul. Oral Poetry: An Introduction. Minneapolis: UMP, 1990. S. 4. Print.

[37] Böttcher. „Ausgesprochen wirksam!“ 163-4.

[38] Böttcher. „Ausgesprochen wirksam!“ 164.

[39] Middleton, Peter. Distant Reading: Performance, Readership, and Consumption in Contemporary Poetry. Tuscaloosa, Alabama: University of Alabama, 2005. S. 27. Print.

[40] Stewart, Bill. Packaging as an Effective Marketing Tool. Leatherhead, UK: CRC, 1996. S. 79. Print.

[41] Jencks, Charles. „Die Sprache der postmodernen Architektur.“ Wege aus der Moderne. Hrsg. W. Welsch. Weinheim: VCH Acta humaniora, 1988. 85-94. S. 85. Print.

[42] Böttcher. „Mal eben überschlagen;“ vgl. Badger, Billy. „»Der Anspruch auf Anspruch und der Anspruch auf Spaß« Postmoderne Züge in Bas Böttchers literarischem Programm.“ Neophilologus 94 (2010): 317-332. S. 322. Print.

[43] Böttcher, Bas. Interview. „Den Versen auf den Fersen: Poesie ist machbar, Herr Nachbar! Welttag der Poesie.” Deutschlandradio Kultur 21. März 2007. Web. 2. Nov. 2007.

[44] Böttcher, Bas. „Neugier genügt“ 1. Feb. 2007. Web. 26. Apr. 2007; vgl. Badger. „Der Anspruch auf Anspruch und der Anspruch auf Spaß.“

[45] Böttcher, Bas. Interview mit Marcus Weber. „Vom Rapper zum Poeten“ 2006. Web. 1. Nov. 2007.

[46] Golonka, Joanna. Werbung und Werte: Mittel ihrer Versprachlichung im Deutschen und im Polnischen. Wiesbaden: VS, 2009. S. 23. Print.

[47] Golonka. Werbung und Werte. S. 23.

[48] Leeder, Karen. „The Address of German Poetry.“ German Life and Letters 60.3 (2007): 277-293. S. 292. Print.

[49] Brunke, Timo. Interview mit Arte TV. „Interview mit dem Performance-Poeten Timo Brunke. Der Dichter im Terrarium“ 23. März 2007. Bekes und Frederking. Poetry Slam Expedition S. 78.

[50] Böttcher, Bas. Interview mit Axel Krommer und Petra Anders. „Interview mit Bas Böttcher.“ Deutschunterricht 6 (2007): 49. Print.

[51] Brunke. Interview mit Arte TV. Bekes und Frederking. Poetry Slam Expedition. S. 78.

[52] Böttcher. Interview mit Marcus Weber.

[53] Bertschi, Stefan, und Ingo Starz, Hrsg. Einlageheft. Anna Blume trifft Zuckmayer: 60 legendäre Dichter in Originalaufnahmen. München: Hörverlag, 2004. S. 72. Print. Vgl. Zumthor 60.

[54] Golonka. Werbung und Werte. S. 23.

[55] Bekes und Frederking. Poetry Slam Expedition. DVD.

[56] Golonka. Werbung und Werte. S. 23.

[57] „Bas Böttcher.” Pressemitteilung für das 2007 Stockholms Poesifestival. Kein Datum. Web. 9. Mai 2008.

[58] Böttcher, Bas. Interview mit Maike Lipczinsky. „Der Blick aufs Alltägliche, aber aus einer etwas anderen Perspektive.“ Verbalträume: Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. Andrea Bartl. Augsburg: Wißner, 2005. 285-299. S. 289. Print.

[59] „Berliner Rap-Poet Bas Böttcher in Saarbrücken. Offizieller Botschafter für das Jahr der Geisteswissenschaften 5. Juli, 14.00 Uhr, Bühne am St. Johanner Markt“ kein Datum. Web. 9. Mai 2008.

[60] Böttcher, Bas. Interview mit Klaus Thies. „Lyrik-Akrobat“ 2006. Web. 21. Sept. 2007.

[61] Böttcher. Interview mit Maike Lipczinsky. S. 292.

[62] Böttcher. Neonomade. S. 11.

[63] Böttcher. Neonomade. S. 8; Unterstrichen sind hier die Lautübereinstimmungen der ersten beiden Zeilen.

[64] Crosby, Ruth. “Oral delivery in the Middle Ages.” Speculum 11 (1936): 88-110. S. 107. Print; Finnegan, Ruth. Oral Poetry. Bloomington: Indiana University, 1992. S. 103. Print.

[65] Gioia. Disappearing Ink. S. 13.

[66] Ong, Walter. Orality and Literacy: The Technologizing of the Word. London: Methuen, 1982. S. 34. Print.

[67] Böttcher. Interview mit Marcus Weber.

[68] Pillow, Kirk. „Form and Content in Kant’s Aesthetics: Locating Beauty and the Sublime in the Work of Art.“ Journal of the History of Philosophy 32.3 (1994): 443-459. S. 457. Print.

[69] Wagner, Jan. „Vom Pudding: Formen junger Lyrik.“ Text + Kritik 7 (2006): 52-67. S. 64. Print.

[70] Böttcher. Dies ist kein Konzert. 18.

[71] Böttcher, Bas. Interview mit Armin Kratzert. Lesezeichen. 6. Juli 2009. Web. 30. Mai 2010.

[72] Arthur Schopenhauer zitiert nach Marwedel, Rainer. „Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte.“ »Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte« Essays und Feuilletons (1923-1933). Hrsg. Theodor Lessing. Darmstadt: Luchterhand, 1986. 9-51. S. 9. Print.

[73] Badger, Billy. „»Wie so eine kleine Flaschenpost«: die Flaschenpost-Metapher bei Bas Böttcher.“ German Studies Review 33.1 (2010): 73-92. S. 73. Print.

[74] Körte, Mona. „Flaschenpost. Vom ‚Eigenleben’ jüdischer Erinnerungsarchive.“ Jüdische Intellektuelle im 20. Jahrhundert. Hrsg. Ariane Huml und Monika Rappenecker. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003. 275-296. S. 275. Print.

[75] Dor, Milo. Wien, Juli 1999. Wien: Zsolnay, 1997. S. 56-57. Print.

[76] Brecht, Bertolt. Bertolt Brecht. Arbeitsjournal 1. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1973. S. 406. Print.

[77] Böttcher. „Neugier genügt.”

[78] Böttcher, Bas. Interview mit Rolf S. Wolkenstein und Ann Kathrin Weldy. ARTE-TV 14. Okt. 2007. Web. 27. Mai 2011.

[79] Urry, John. „Social Networks, Travel and Talk.“ British Journal of Sociology 54.2 (2003): 155-175. S. 164. Print.

[80] Böttcher. „Neugier genügt.”

[81] Bartl, Andrea. „Transitliebe, Transitkunst: Das Thema der Mobilität in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur am Beispiel von Albert Ostermaiers Gedicht come together. Zur Einführung in diesen Band.“ Transitträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. Andrea Bartl. Augsburg: Wißner, 2009. 9-22. S. 12. Print.

[82] Bartl. Transitträume. 20; Ostermaier, Albert. Autokino. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2001. S. 14. Print.

[83] Böttcher. Neonomade. S. 23.

[84] Böttcher. Neonomade. S. 23. Z. 13-15.

[85] Böttcher, Bas. Interview mit Maike Lipczinsky. S. 287.

[86] Böttcher, Bas. Megaherz. Hamburg: Rotbuch, 2004. Print.

[87] Urry. „Social Networks, Travel and Talk.“ S. 164; vgl. Tully, Claus, J., und Dirk Baier. Mobiler Alltag: Mobilität zwischen Option und Zwang – Vom Zusammenspiel biographischer Motive und sozialer Vorgaben. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006. S. 76. Print.

[88] Böttcher. „Neugier genügt.“

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Apr 13 2012

Erwin Messmer

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In Bratislava
   
Die Postbeamtin am Schalter, ein junges hübsches Ding, würdigt mich eines verächtlichen Blicks. Dass ich es überhaupt wage, ihr unter die Augen zu treten! Dieser Vorwurf findet seine prägnante Artikulation im giftig gezischten Wort Prosim. Das heisst eigentlich Bitteschön, aber das Wörterbuch ist nicht zuständig für Stimmungen. Die Hand, welche mir die verlangte Telefonkarte durch den Spalt unter der schützenden Glaswand schiebt, ist die Verlängerung ihres Unwillens, und die Finger, die meinen Geldschein in eine heftige Rutschpartie über die Schalterfläche jenseits des Glases versetzen, sind inkarnierte Verwünschungen. Nech sa paci. Diese typisch slowakische und eigentlich kaum übersetzbare Höflichkeitsformel heisst wörtlich Auf dass es Ihnen gefalle, hier aber meint sie: Und nun geh zum Teufel! Mein auf Slowakisch vorgebrachtes Dankeschön fällt schon nicht mehr in ihren Kompetenzbereich, sie hat sich abgewandt. Nach Abschluss der ihr offenbar so verhassten Transaktion ist der Kunde, den sie eben noch als Feind behandelt hat, für sie Luft.
Stunden später hat sich Bratislavas Altstadt die schillernde Maske des Sommerabends übers Gesicht gestülpt. Die Gassen beginnen im erregten Stimmgewirr des Feierabends zu schwimmen, und die kleine Postbeamtin sitzt vielleicht mit Freunden in einem der überfüllten Strassencafés, frisch geduscht und fein parfümiert. Das dezente Rouge ihrer Lippen vermischt rosa Wortkaskaden mit dem rehbraunen Glanz flirtender Augen.
Ich stecke mein zerlesenes Wörterbuch, das langsam aus dem Leim zu fallen droht, in die Tasche. Wende meine Aufmerksamkeit dem Leben zu, lasse es an mir vorbeiziehen und um mich herum sprudeln und dudeln und blödeln, lausche dieser ultimativen Fremdsprache, dieser internationalen Inselsprache des Festes, umspült vom grauen Meer des werktätigen Alltags, diesem Esperanto des Feierabends, für das es kein Wörterbuch gibt und das, durch tausend Missverständnisse hindurch, doch jeder, freilich jeder in seiner Weise, auf Anhieb versteht.

   
   

In den Friesenländern

Ostfriesland liegt in Deutschland, ziemlich weit oben, am Meer. Aber nicht an der Ostsee, sondern an der Nordsee, und nicht im Osten des nördlichen Deutschland, sondern ganz im Gegenteil: im Westen. Dennoch heisst es Ostfriesland. Zugegeben: Ostfriesland liegt auch östlich. Von Holland aus betrachtet. Aber was hat Deutschland schon mit Holland zu tun, sieht man von den ewigen Rivalitäten der beiden Fussballnationen einmal ab. Ob es auch ein Westfriesland oder ein Südfriesland gibt, ist ungewiss. Die Existenz von Nordfriesland hingegen ist verbürgt. Sein Name leuchtet sogar ein, im Gegensatz zu demjenigen von Ostfriesland. Denn auch Nordfriesland liegt an der Nordsee und zieht sich bis nach Flensburg, der nördlichsten Stadt Deutschlands, hinauf. Klar, es liegt auch südlich von Dänemark, und vielleicht lag die Versuchung nahe, das Gebiet statt Nordfriesland Südfriesland zu nennen. Aber die Nordfriesen hatten gut aufgepasst und liessen sich von den Dänen nicht übers Ohr hauen. Sie benannten ihr Gebiet aus ihrer eigenen Perspektive, wichen also in diesem Punkt von den Ostfriesen ab. Vielleicht gibt es deswegen keine Nordfriesenwitze.
Ansonsten aber weisen die beiden Friesenländer viele Gemeinsamkeiten auf. Beide liegen an der Nordsee, und beide verfügen über idyllische Inseln, die, dem Festland vorgelagert, als sogenannte Perlen der Nordsee aus den meerblauen Touristenprospekten grüssen. Zwar kann Nordfriesland zusätzlich auch noch mit seinen Halligen auftrumpfen, unverdeichten Inseln, auf denen die Dörfer, in mehrere Häusergruppen eingeteilt, von Warften herunter trotzen, künstlich aufgeschichteten Hügeln zum Schutz gegen die Sturmfluten. Dafür haben die Ostfriesen ihren Ostfriesentee, mit Sahne und Kluntje. Die spezielle, von den Ostfriesen kreierte indische Mischung ist die einzige Teeart, die klassischerweise mit flüssiger Sahne statt, wenn überhaupt, mit Milch gereicht wird. Der Tee wird über die Kluntje, weisse Kandiszuckerwürfelchen, gegossen, wobei das geübte Ostfriesenohr ein kurzes leises Knistern vernimmt. Zuletzt giesst man etwas Sahne darüber. Der Teelöffel, der listigerweise immer mitgereicht wird, darf keinesfalls benutzt werden, das wäre eine ostfriesische Teetodsünde. Zuerst trinkt man sich nämlich durch die Sahneschicht hindurch, um die Magenwände gegen die leicht aggressiven Teewirkstoffe gleichsam zu schmieren, dann folgt die Mittelstation des feinherben Tees, und zum Schluss genehmigt man sich, gewissermassen als Nachtisch, die sahnig-teeig-kluntjesüsse Restbrühe. Ein besonderer Reiz besteht darin, dass dieses Menü mehrmals wiederholt werden kann, denn der Ostfriesentee wird im Kännchen gereicht, und dieses immer auf dem Stöfchen, einem von Kerzenenergie gespeisten Wärmegestell aus Gusseisen, Kupfer oder Porzellan.
Ost- und Nordfriesland verfügen beide über schöne Dünen, die aber selbstverständlich nirgends betreten werden dürfen – eine Variante des ostfriesischen Teelöffels! Auch das Wattenmeer ist eine gesamtfriesische Spezialität, die auf der Welt einmalig daliegt. Jeden Tag zweimal, bei Ebbe, entwässert sich der Meeresboden in Ufernähe kilometerweit, die verankerten Schiffchen stehen plötzlich auf dem nackten Grund, Wasservögel hüpfen auf dem glanzgrauen Schlick und picken sich ihre Mahlzeit heraus. Barfuss lässt sich da schön in die Unendlichkeit wandern, und so mancher leichtsinnige Tourist landete da auch wirklich, – christlich gesprochen: in der ewigen Glückseligkeit – weil er sich von einem plötzlichen Küstennebel oder von der unvermittelt wieder einsetzenden Flut überraschen liess.
Wattwandern ist für den Einzelgänger eigentlich aus Sicherheitsgründen verboten. Dafür gibt’s geführte Wattwanderungen. Das kommt dem deutschen Naturell, das schon seit je zu geselligem Gruppenwesen einerseits und zu disziplinierter Reglementierungstreue geneigt hat, sehr entgegen. Man kann sich beispielsweise keine Nation vorstellen, die den Dünenschutz und die mit Betretungsverbot belegten Ruhezonen für die zum Teil selten gewordenen Vogelarten im Wattenmeer so rigoros überwachen würde wie die Deutschen. Auch die Einhaltung der täglich sich ändernden Badezeiten – nur bei Hochwasser darf gebadet werden – ist am überwachten Badestrand zwingend, will man, wie übrigens die meisten deutschen Urlauber, aufs Baden im nicht besonders prospektblauen Meer nicht gänzlich verzichten. Dafür gibt es den Strandwärter mit seiner Trillerpfeife, der ausserhalb der Badezeiten unauffällig am Strand hin und her marschiert. Während der Badezeit aber thront er auf einem an die Jagd gemahnenden Hochsitz und dirigiert die allzu übermütigen Badegäste vermittelst eines Warnhorns und wild gestikulierend buchstäblich in ihre Schranken: Abschrankungen aus Seilen nämlich, an denen auch nicht herumgeturnt werden darf. Der Strandwärter ist zur Badezeit ein Schwimmdirigent vor dem tosenden Orchester der Brandung.
Auch die Anschriften und Hinweistafeln an Geschäften und Lokalen lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass die Friesenländer zu Deutschland gehören. Vor der Inselfleischerei macht ein Schild darauf aufmerksam, dass es heute Kesselfrische Fleischwurst gebe. Was wohl bedeutet, dass auf dieser Insel als Inbegriff der Frische ein Kessel gilt, und dass die Wurst, ohnehin des Deutschen Leibgericht, hier tatsächlich noch aus Fleisch besteht. Ein paar Schritte weiter stossen wir auf das Teehandelskontor: ein simples Teegeschäft. Der Deutsche liebt eben respekteinflössende Vokabeln, gerade auch im Urlaub, den er mit Ernst und düsterem Verantwortungssinn bestreitet.
Obwohl die beiden Friesenländer zu Deutschland gehören, sprechen die älteren Leute dort nicht Hochdeutsch, sondern, wohl in Anlehnung an die flache Landschaft, Plattdeutsch oder schlicht „Platt.“ „Kiek in“ heisst soviel wie „Komm herein“, „klönen“ heisst „sich unterhalten“ usw. Sprachliche Tücken lauern den aus südlicheren Gefilden Hergereisten deutscher Zunge überall auf. So grüsst ihn der Ostfriese mit dem scharf hervorgestossenen Laut Moin! Es ist aber Abend. Und auf dem Reiseprospekt aus dem Hamburger Reisebüro hat er gelesen: Fähre ab Harlesiel Tiedengebunden. Ein komischer Ortsname, dieses Harlesiel Tiedengebunden, dachte er bei sich, aber schliesslich befindet man sich schon halb in Skandinavien, und da ist sprachlich alles möglich. Nach eingehendem Studium der Landkarte konstatierte der Reisende entnervt, dass dieser verfluchte Ort Tidengebunden nirgends eingetragen war. Immerhin fand er, nach nochmaliger Arbeit mit der Lupe, den winzigen Punkt Harlesiel. Tidengebunden werde demnach wohl der Ortsteil mit dem Hafen sein, mutmasste er, also endlich losgefahren, in Harlesiel kannst du dich immer noch durchfragen! Aber die Kartenleserei hat ihn soviel Zeit gekostet, dass er in Harlesiel, das aus zwei, drei Häusern und einer Schifflände besteht, gerade noch zusehen kann, wie sich das Schiff mit den winkenden Passagieren an Bord in Bewegung setzt – inselwärts. Morgen wieder, knurrt der lederhäutige Ostfriese am Schalter. Eine Unterkunft ist auf dem Festland nirgends zu finden, in der Saison erst recht nicht. Nicht für eine Nacht!, heisst es lakonisch und schon ist die Tür der Pension wieder zu. Friesisch herb, diese Ostfriesen, wie laut Werbeslogan das Bier aus Jever. Im Schlafsack unter einer Pappel den Morgen erwartend – zum Glück fährt das erste Schiff schon um sieben Uhr – prägt der südliche Gast sich das neu gelernte Wort ein: Tide heisst die Gezeiten, Ebbe und Flut. Und Tidengebunden bedeutet demnach: gebunden an die täglich sich ändernden Gezeiten. Nur bei Flut kann gefahren werden, das leuchtet ein, selbst in der sinistren Ambiance unter dem wenig ausladenden Dach dieser Pappel, durch deren undichtes Laubwerk jetzt die ersten Regentropfen dringen.

   
   
Korken. Ein Ratschlag fürs Leben

Wenn du einen Wein entkorkst, erwartungsfroh eine kleine Probe ins Glas giesst, dieses schwenkst und daran riechst, misstraue nicht deiner ersten kleinen Irritation. Denn du bist leicht zusammengezuckt, der Wein hat Korken, das war dein erster Eindruck. Und dennoch entblödest du dich nicht, nun auch noch einen Schluck davon zu nehmen, ihn prüfend auf der Zunge und im Gaumen zu verteilen und ihn unschlüssig zu schlucken. Nun, vielleicht braucht der Wein etwas Luft, das Essen steht auf dem Tisch, die Gäste sitzen da, genussbereit. Und überdies ist es eine Flasche im Magnum-Format. Teure Sache. Der Wein muss gut sein, und er ist es auch.
Du irrst dich. Stell die Flasche weg, steig in den Keller und hol dir eine neue. Doch schon servierst du den Wein, schenkst ein, man stösst an, alle trinken, niemand sagt etwas, und beim ersten und zweiten Schluck bist du erleichtert. Es war ein Irrtum, der Wein ist in Ordnung. Er ist es nicht. Nicht mehr nach dem dritten oder vierten Schluck, und beim zweiten Glas bist du bereits am Verzweifeln. Der erste Eindruck täuscht nie. Eine neue Beziehung sollte niemals ihren Gang nehmen, wenn diese erste Irrititation aufgetreten ist, ein Geschäft keinesfalls abgeschlossen werden nach diesem leichten Zusammenzucken beim ersten Händedruck mit dem künftigen Partner, und wenn die Etikette noch so verlockend aussieht.
Alles Beschönigen hilft nichts. Am Ende ist es ein Drama. Ehescheidung, Konkurs, Nachlassstundung, Betreibung, Depression, psychiatrische Klinik. Suizid ist nicht ausgeschlossen.
Du hast eine gute Nase. Vertraue ihr!

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Dec 12 2011

Wolfgang Müller

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Thea Dorn und Richard Wagner, Die deutsche Seele. München: Knaus Verlag, 2011. 560 Seiten



Nach der totalitären Barbarei des Nationalsozialismus ist die Frage nach einer tieferen deutschen Identität in Geschichte und Kultur jahrzehntelang entweder verdrängt oder in der Dimension verkürzt worden. (Richard Wagner in Thea Dorn und Richard Wagner in einem Interview mit dem Tagesspiegel am 9. 11. 2011)

Gesellschaften brauchen als Halt eine untergründige Verbundenheit, die wir einfach mal Seele nennen. (Thea Dorn: Thea Dorn und Richard Wagner in einem Interview mit dem Tagesspiegel am 9. 11. 2011)

Es ist einem merkwürdigen Seelenhaushalt geschuldet, daß man oft wenig beachtet, geschweige denn achtet, was man wie selbstverständlich besitzt, daß einem aber teuer wird, worüber man nicht verfügen kann oder was im Verschwinden begriffen ist. Und so steht es wohl mit den Deutschen, die sich gerade wieder einmal, auf das besinnen, was ihre Identität ausmachen könnte, da sie sich anschicken, nun endgültig zu Europäern und Weltbürgern zu werden, ein Prozeß, der, von den 5-10% Supernationalisten in den braun eingefärbten Gruppierungen und kleinen Parteien einmal abgesehen, nicht nur Hoffnung sondern auch ein wenig Melancholie wenn nicht gar eine Portion “deutscher Angst” hervorruft. Es ist daher nur verständlich, daß das Interesse an der Gesamtgeschichte deutscher Kultur über die 12 Jahre nazistischer Barbarei hinaus, die berechtigterweise in der Literatur nach dem 2. Weltkrieg einen vorderen Platz eingenommen haben und seit Mitte der sechziger Jahre im Geschichtsunterricht an Schulen dominierten, stark zunimmt. Wer waren, wer sind wir, wohin bewegen wir Deutschen uns, das sind Fragen, die nicht mehr nur Intellektuelle bewegt.  Kein Wunder dann, daß in den vergangenen 10 – 15 Jahren die Zahl der Ausstellungen, wie etwa die große Ausstellung des Deutschen Historischen Museums im Jahre 1997 “bilder und zeugnisse der deutschen geschichte” oder die zahlreichen Preußenausstellungen sowie Publikationen, deren Spektrum von Tageszeitungen bis zu Büchern reicht, und verschiedenen Fernseh- und Radioendungen zur Integration in den letzten gestiegen ist  und Menschen aller Schichten anspricht.  Trotzdem läßt sich gerade bei der jüngeren Generation noch immer ein großer Mangel an Kenntnissen über die eigene Geschichte feststellen, vor allem ein Mangel an offenen und versteckten Zusammenhängen von Fakten, die man, wenn man wollte, in “on- und off-line”Lexika nachlesen könnte.

In ihrem Buch Die deutsche Seele geht es Thea Dorn und Richard Wagner in 64 sehr verschiedenen Einzelbeiträgen zu von ihnen alphabetisch geordneten Stichwörtern gerade um diese Zusammenhänge, z. B. die zwischen Abendbrot, Abgrund, Angst, deutscher Musik, Mutterkreuz, Weibern, Wurst und Zerrissenheit, die sie kenntnisreich und teils ironisch gebrochen zum “Klingen” bringen. Dabei sehen sie diese Zusammenhänge, die sie auch als “Seele” begreifen, als ein spezifisch deutsches Lebensgefühl, das in vielen Jahrhunderten durch äußere Gegebenheiten und Leistungen ihrer Könige, Politiker, Generäle, “Dichter und Denker”, Handwerker, Arbeiter und Bauern zu dem geworden ist, was es heute ist. Fast wie nebenbei  entstand mit ihrem Buch so eine gut zu lesende Kulturgeschichte deutschen Denkens und Fühlens.

Sehr sympathisch ist, daß die Autoren das Adjektiv “deutsch” in Die deutsche Seele nicht etwa eingeengt politisch und eingezäunt in die jeweiligen deutschen Grenzen sehen. Es geht in Die deutsche Seele nicht um ein geographisch begrenztes oder staatspolitisch eingegrenztes Gebiet etwa die äußeren Grenzen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, des Deutschen Bundes oder des vereinten Deutschlands in den Grenzen von 1914, sondern es geht um den Anteil an gemeinsamen Erfahrungen, die bis in andere Teile der Welt hineinreichten, wie auch diese in Hinterpommern, Mecklenburg, Bayern, Kärnten, Pommern usw, ihren Niederschlag fanden. Und es geht in ihem Buch um die relativ neuen Erfahrungen nach dem zweiten Weltkrieg.

Man merkt es den Texten an,  es ist viel Nachdenken, Diskussion und Arbeit in sie eingegangen.  Die Autoren schürfen und graben tief, um der “deutschen Seele” auf den Grund zu gehen. Kein Wunder, daß einige der längsten Beiträge den Stichwörtern Bergwerk, Bergfilm, Abgrund und Musik, der reinsten Kunstform, gewidmet sind.

Bei diesem gelungenen ambitionierten Unterfangen entsteht so etwas wie ein anregender, unterhaltsamer, intelligenter, ja sogar heiter-ironischer feuilletonistischer Spaziergang durch das Erbe der Kultur-, Politik- und Geistesgeschichte deutschsprachiger Lande, ein Spaziergang auf den die Autoren wohl vor allem jene mitzunehmen hoffen, die oft nur noch den Satz “Das ist mal wieder typisch deutsch” in seiner negativen Konnotation im Ohr haben.  Doch ist es weit gefehlt anzunehmen, das es sich bei “Die deutsche Seele” um ein deutschtümelndes Buch handelt. In die Texte Dorns und Wagners ist viel Liebe eingegangen, aber auch einige Ironie und Skepsis, so daß als Fazit bleibt, was Thea Dorn als das Bekenntnis einer Deutschen im letzten Stichwort des Buches, “Zerrissenheit”, schreibt:

Gemütlich ist meine Heimat, trotzdem kan ich es nicht lassen: es zieht mich hinaus in die Ferne. Die Kompaßnadel kreist. Osten, Westen, Norden, Süden, ich bin nach allen Seiten offen. […] In meinen Paß ist mit unsichtbarem Stempel gedruckt: Weltbürger. Wohnhaft in Hinterzarten. […] Laßt mir meine Zerrissenheit. Sie ist das Beste, was ich habe.

Es ist eine Zerrissenheit, in der man sehr wohl seine Heimat zu finden vermag.


Wolfgang Müller

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Nov 23 2011

Autoren, Glossen 33/2011

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Michael Augustin ist ein deutscher Autor und Radiojournalist. Außerdem ist er überzeugter Bremer und überwiegend glücklicher Werder Bremen Fan.

Hans Bender ist als Herausgeber der Akzente zu Ruhm gekommen. Er ist ein legendärer Anthologist, Autor und Lyriker. Geboren in Nachkriegsjahr 1919 in Mühlhausen lebt und arbeitet er heute in Köln.

Mirko Bonné ist Lyriker, Romancier und Übersetzer von Gedichten und Prosa. Er lebt in Hamburg.

Gabriele Eckart ist eine deutsche Autorin und “Professor of German and Spanish” an der “Southeast Missouri State University”.

Wolfgang Ertl war Professor für deutsche Sprache und Literatur an der “University of Iowa” und widmet sich seit seiner Emeritierung seiner alten Liebe, der Malerei, die man vor allem in verschiedenen Ausstellungen in New England sehen kann.

Gabriele Haefs ist eine deutsche Autorin und Übersetzerin aus dem Norwegischen, Dänischen, Schwedischen, Englischen, Niederländischen und Gälischen. Für ihre Übersetzungen aus dem Norwegischen ist sie zur Trägerin des norwegischen Verdienstordens seiner Königlichen Hoheit, Ritter 1. Klasse ernannt worden. Sie lebt in Hamburg.

Britta Kallin ist “Associate Professor of German” an der “School of Modern Languages, Georgia Institute of Technology” in Atlanta.

Uwe Kolbe ist ein deutscher Autor, vor allem Lyriker, der in Berlin lebt.

Günter Kunert ist einer der bedeutendsten deutschen Autoren und Grafiker. Ursprünglich Berliner, lebt er seit seiner Ausreise aus dem Staat der Arbeiter und Bauern in Kaisborstel.

Helga Kurzchalia ist eine Berliner Psychologin und Autorin.

Erwin Messmer lebt als Musiker, Autor und freier Publizist in Bern. Außerdem ist er Lehrer am Konservatorium in Freiburg im Uechtland.

Wolfgang Müller ist Herausgeber und Direktor des Kade Centers am Dickinson College. In Berlin aufgewachsen, lebt er seit mehr Jahren, als er sich vorstellen kann, in Carlisle, Pennsylvanien.

Dirk von Petersdorff ist ein deutscher Lyriker, Essayist, Buchautor, Journalist, Künstler und Professor an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Allerdings findet man ihn im akademischen Jahr 2011/2012 eher in Berlin, wo er z. Zt. Fellow am Wissenschaftskolleg ist.

Arne Rautenberg ist ein deutscher Schriftsteller, Kulturjournalist und Künstler. Er lebt in Kiel.

Jay Julian Rosellini ist “Professor of German” an der Suffolk University in Boston.

Nyk de Vries ist Musiker und Autor von Lyrik und Kurzprosa in Friesischer und Holländischer Sprache. Er wurde in Nordborgum, Friesland, geboren und lebt heute in Amsterdam.

Reinhard Zachau ist Professor in “the Department of German” und “Chair of the Film Studies Program” an der University of the South in Sewanee, Tennessee.

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Nov 22 2011

Michael Augustin

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In Flensburg

Flensburg ist ja eine alte Frontstadt. Oder besser gesagt: eine, die immer wieder von den Fronten überrollt worden ist, mal von Norden her, mal vom Süden, die mal dänisch, mal deutsch sein musste und daher bis auf den heutigen Tag anregend international geblieben ist. Man sieht es und hört es der Stadt an, und deshalb bin ich – nach vielen Jahren – gern mal wieder hier als Gast (um so lieber) des Festivals folkBALTICA, zu dem Musikanten aus diversen Ostseeländern und –regionen angereist sind. Und als mir aus dem Fahrstuhl des nicht unbedingt luxuriös zu nennenden Künstlerhotels, in dem auch ich untergebracht bin mit Tänzern, Sängern, Fiedlern, Kind, Kegel und Entourage, die ehemalige Staatspräsidentin der Republik Lettland, Frau Vike-Freiberga, entgegentritt, erscheint mir selbst das irgendwie normal hier an der Flensburger Förde, die ja, zumindest auf Dänisch, ein echter Fjord ist. Ein Buchantiquariat ist mir wärmstens empfohlen worden, das ich auch prompt aufsuche zwischen den Konzerten, um darin für fast zwei Stunden zu versinken, nachdem ich mir selber das Versprechen abgenommen habe, heute mal kein Geld darauf zu verwenden, den ungezählten zu Hause wartenden Druckwerken ein weiteres hinzu zu schleppen, auch nicht das kleine Büchlein von Alfred Kerr, das der 1923 veröffentlicht hat: seinen miniaturesken Bericht einer Reise in die Metropolen New York und London, die er unternommen hatte als einer der ersten deutschen Autoren nach dem verheerenden Weltkrieg eins. In London hat er seinen alten Freund, den irischen Schriftsteller George Bernard Shaw besucht und mit ihm über das kriegsverwundete und -zertrümmerte Europa gesprochen und über die bessere Zukunft, o je. Ich schnuppere, blättere, lese mich fest, aber ich werde das Büchlein nicht kaufen, obwohl es natürlich sehr bewegend ist zu lesen, was Alfred Kerr in jener fernen Nachkriegszeit über London schreibt. Ausgerechnet über London, die Stadt also, die ihm und seiner Familie nur zehn Jahre später als Exilort dienen wird, was er aber noch nicht wissen kann, als er dieses Buch schreibt. Im Gegensatz zu mir, der ich nun in diesem Buch lese – in einem gewissen historischen Abstand, der in diesem Fall sogar ein wenig schlauer macht. Alfred Kerrs Tochter habe ich erst kürzlich kennen gelernt, in Edinburgh, wohin man uns beide als Gastleser zum dortigen Festival eingeladen hatte. Eine ungemein freundliche ältere Dame, die von einer nicht enden wollenden Schlange kleiner Kinder belagert wurde, denen sie, nie ohne erst ein wenig mit jedem und jeder geplaudert zu haben, eine Widmung in das ihr zum Signieren hingehaltene Buch setzte. In Deutschland ist sie berühmt geworden durch ihr Kinderbuch Als Hitler mein rosa Kaninchen stahl. Sie, Judith Kerr, war damals noch gar nicht geboren, als ihr Vater seinen Reisebericht veröffentlichte, 1923, den ich jetzt also tatsächlich wieder ins überladene Regal schiebe, weil ich immer noch fest entschlossen bin, heute kein Buch zu kaufen, sondern ausschließlich zu blättern, zu schmökern und zu schnuppern. Auch im hohen Regal ganz hinten, wo der fusselbärtige Antiquar und seine ständig (raucher)hustende Frau spinnengleich hocken. In diesem Regal freilich stinkt es nach Jauche. In und aus dieser offensichtlich für besonders liebe Kunden vorgehaltenen Spezialabteilung. Hier sind sie frech versammelt, die schmieralischen Lebensspuren des Reichsfischfütterministers Hermann Göring, der auf Ostseetörns bei der leisesten Dünung immer das Kotzen kriegte und sich über die Reling lehnen musste. Bücher aus dem Dunstkreis der Rosenberg, Grimm, Goebbels, Hess und anderer Spießgesellen des Adolf von Braunau und seines Nachfolgers, des Herrn Dönitz, der Anno 45 ein paar elende Tage lang, als offizieller Führernachfolger Flensburg zur virtuellen Reichshauptstadt machte. Aber hier im Allerheiligsten des Altbuchhändlers stehen in Reih und Glied mit den alten Kämpfern auch nagelneue Bücher für die bräunlich besprenkelte Leserkundschaft: frisch gedruckte Lügenstatistiken und andere Wahrheiten über Deutschland, die unser geknebeltes und entmündigtes, führerlos dahin treibendes Volk nicht wissen darf, solange die Verräter desselben an der Macht bleiben und so weiter und so fort. Ich mache auf dem Absatz kehrt und marschiere hinüber zu der Stelle, wo ich Alfred Kerrs Büchlein zurück ins Regal gestellt habe, schnappe es mir, wende mich an den Antiquar und – nun ja – kaufe das Buch. Dass Sie bei diesem Dreck hier überhaupt atmen können, wundert mich sehr, sage ich, als ich bezahlt habe und deute auf das Nazi-Regal, ich würde dran ersticken! Doch der Antiquar grinst nur, während seine Frau sich hinter einem kakophonischen Hustenanfall versteckt und ich mit Alfred Kerr in der Jackentasche den Laden verlasse, hinaus in die frische salzene Luft, die von der Förde herüberweht.

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Nov 22 2011

Gabriele Eckart

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Intertextual Traces: Cervantes’s The Ingenious Don Quixote of La Mancha in GDR Poetry

In Peter Wawerzinek’s novel Rabenliebe (2010), the first-person narrator remembers his childhood mostly spent in GDR orphanages. To survive spiritually, he read novels of chivalry and identified with their protagonists. Finally, he read Don Quixote: “Ich beginne im Kellerloch mein Rittertum. Ich verschlinge Cervantes’ Don Quijote. Ich lache und leide mit dem irren Ritter.” / (“In the hole in the basement, I begin my knight-errantry. I am devouring Cervantes’s Don Quijote. I laugh and suffer with the crazy knight.”) (110) Due to the widespread reading of Cervantes’s most famous novel, which was easily available in the GDR and also published in special editions for children,[1] as well as due to its surprising up-to-dateness, there are many references to Don Quixote of la Mancha in GDR literature. In the following, four representative examples found in poetry will be examined.

The beginnings of the reception of Cervantes’s texts in the GDR clearly follow the idealistic line, as it is expressed, for instance, in Robert Kukowka’s essay on Cervantes, published in 1947 in the Berliner Hefte für geistiges Leben and promoted by the Soviet authorities. Kukowka reads Cervantes’s novel as the “Lob der Narrheit, die nicht davon lassen will, daß der Mensch geboren ist, um aus dem Geiste zu leben und im Geiste zu verharren, sollte sich auch aller Trug der Welt zu seiner Versuchung verbünden!” / (“praise of folly that does not want to let go the fact that man is born to live through the spirit and to remain in it, even if all the delusions of the world should come together to tempt him otherwise”) (793). According to this interpretation, Don Quixote is a hero who with complete devotion follows a utopian dream. His misreading of reality is not denied; however, it is excused, as P.E. Russell showed examining idealistic interpretations of Don Quixote. A typical excuse is, for instance, that Quixote interprets reality “like a poet, in a symbolic or metaphorical way” (96). A literary example of such an idealistic interpretation in the GDR is Erich Arendt’s poem “Don Quixote” published in 1952 in the volume Bergwindballade. Arendt was a soldier in the Spanish army fighting on the side of the republic against Franco during the Spanish Civil War (Werner 165). Like many soldiers of the International Brigades, he had a very positive vision of Don Quixote whose adventures took place in the country for which he was fighting. After the war was lost, Arendt fled from Spain to France and later to South America. In 1950, he returned to Germany. Having joined the Communist Party in 1926, he settled in the East. The following poem, “Don Quijote,” was first published in his volume Bergwindballade(1952).

Als ob die Welt sich nie verändert, reitet er
und fordert vor die Lanze Mächtige und Riesen.
Ihn trifft die Gegenwart, sturmroher Flügel, schwer.
Er reitet traurig, lächelnd fort, läßt nicht von diesem

großherzigen Traum, der reine Fernen schaut durch Wind
und Dunkelheit und Gram. Enttäuschung läßt ihn weinen
wohl, wenn er irrt und irrt. Die er befreit, sie sind
ihm Feinde schnell. Und jagen ihn mit Spott und Steinen.

Und neben ihm, Gefährte seines Leids und Menschentraumes,
zieht Sancho Pansa, der den großen Träumer lehrt,
daß nur sein Lächeln reift, zu Volk und Tag gekehrt.

So reiten sie im Staub glücklosen Erdenraumes
und finden, wenn die Welt umstürzt und uns verheert,
kämpft doch, von keinem Staub und Graun versehrt,
kämpft unser Lächeln durch die Zeiten, die es mühsam ändert.

(He rides as if the world would never change
challenging powerful men and giants with his lance.
The stormy-rough vanes of the present hit him hard.
Sadly smiling he rides on, not willing to abandon this

generous dream that discerns clear distances through wind
and darkness and sorrow. Disappointments make him cry
no doubt when he roams and roams; those whom he liberates
soon become his enemies, pursuing him with scorn and stones.

And at his side, companion in his grief and dreams,
rides Sancho Pansa who teaches the great dreamer
that his smile can only mature if turned toward people and the day.

And thus they ride in the dust of luckless realms
and find that when the world is overturned and ravaging us,
our smile, unharmed by dust and horror,
battles the ages that it alters with great effort.) (41)

An important indication of the fact that this poem on the Spanish protagonist symbolizes the poet’s search for a utopia that goes beyond the “verordnete[n] Utopie” / (“imposed utopia”) (Strebel 1) of a classless society in the GDR, is Arendt’s use of the word “Gefährte” / (“companion”) and not “Genosse” / (“comrade”) for Sancho Panza. Another indication is the adjective “großherzig” / (“generous”) to describe the “Traum” / (“dream”) that corresponds to the personification of “unser Lächeln” / (“our smile”) in the last verse. That this personified smile will continue the fight after the soldier is dead represents the lyrical ego’s firm belief that the cause of the Spanish republic will be successful one day, that Quixote’s dream of the return of the Golden Age or something similar to it will come true in the future. Heinz Czechowski, who knew Arendt well, remembers:

Als Expressionist in der Tradition von August Stramm hatte er begonnen, dann eine kurze klassizistische Phase im Banne Bechers durchgemacht, jedoch schon sehr bald spanischen und lateinamerikanischen Wurzeln nachgespürt. Seine Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg und die Zeit seiner Emigration in Kolumbien bewirkte mehr und mehr jene Welthaltigkeit, welche vor allem sein Spätwerk bestimmt. / (As an Expressionist in the tradition of August Stramm he had started out; then he went through a short classicist period in the spell of Becher; however soon he started to discover his Spanish and Latin American roots. His participation in the Spanish Civil War and the period of his emigration to Columbia caused increasingly that great richness that marks his late work.) (137)

In its content and form, this poem is an example of the short classicist period in Arendt’s career before he found his unique style based on free verse that made him famous. Although he continued to play with motives of Hispanic literature in this later period, he never wrote another Don Quixote poem. Disillusioned from experiencing real existing socialism in the GDR, the poet abandoned his commitment to communism that once had inspired him to join the German communist party.

A sonnett by Manfred Streubel, probably written in the late 1960s, but only published after the Fall of the Wall, interprets Don Quixote very differently. He is transformed into a fanatic and unscrupulous bard who, to the relief of the lyrical ego, dies from a heart-attack before he can do more damage. Without doubt, the poem is an example of the satirical line of Don Quixote-interpretations that started during Enlightenment and is, as Varela Iglesias showed, still very much alive in the twentieth century. As Anthony Close pointed out, the adventage of this tradition is that it fully appreciates Cervantes’s mastery of comic fiction. The disadventage is that, as Javier Herrero argued, those who read Don Quixote only as a parody and satire are “incapaz de reconocer el amor y la simpatía que Cervantes sentía por el héroe” / (“unable to recognize the love and sympathy that Cervantes felt for his hero”) (quoted in Varela Iglesia 68). In Streubel’s poem that has the form of an obituary by Sancho Pansa about his master Don Quixote who recently passed away, there is no trace of love and sympathy for the man. Cervantes’s warm humor has turned into sarcasm in Streubel’s poem; Don Quixote has lost the aura that Arendt had bestowed on him approximately twenty years earlier; Streubel stripped the figure of its transcendent meaning and reduced it to a dangerous buffoon for satirical purposes:

Sancho Pansas Nachruf

“Kopf ab!” – fauchte der empörte Dichter.
Denn er witterte in mir Gefahr.
Ach, mein Gönner wurde jäh mein Richter.
Weil ich offen andrer Meinung war.

Ach, er wollte mich zum Teufel schicken –
Wild verkrallt in Kragen und Revers.
Und mit blutig unterlaufnen Blicken
Nahm er auch noch meine Freunde her.

Schäumend ging er auf die Barrikade.
So: zu heilgem Amoklauf erstarkt:
Zerrte er die Sünder zum Schafott.

Ach, der Recke kannte keine Gnade –
Mit sich selber. Sense. Herzinfarkt.
Ruhe sanft, mein armer Don Quichote.

(Sancho Panza’s obituary notice

Off with your head! the outraged poet hissed
because he suspected me being dangerous.
Suddenly, my patron became my judge
because I openly had a different opinion.

Ah, he wanted to send me to the devil –
wildly clawed at his collar and lapel.
And with bloody underlined eyes
he also attacked my friends.

Foaming, he climbed on the barricade.
So: Strenghtened for the holy run amuck
he dragged the sinners to the scaffold.

Ah, the knight didn’t know any mercy –
with himself. Out. Heart attack.
Sleep well, my poor Don Quixote.) (15)

The last line is the peak of sarcasm. In reality, the lyrical ego that speaks in the poem (Streubel disguised as Sancho) feels deep relief about the fact that the Don is dead. Cervantes’s Don Quixote is a generous man; again and again he forgives Sancho for his criticism that is based on the attempt to wake up his master from his blindness to reality. When Sancho and the squire of the Knight of the Wood talk about their masters, Sancho says about Quixote: “He has nothing of the rogue in him. On the contrary, he has a soul as simple as a pitcher; he could do no harm to anyone” (613). Consequently, Sancho deeply mourns Quixote’s death. By contrast, Streubel’s Quixote is not generous; his madness cannot be justified as a noble poetic creation for whatever idealistic goal; the man is mean and vindictive. Who is this unnamed bard who is portrayed as a fanatic chivalric knight with addled brains and an incredible ruthlessness? It’s the poet Kurt Barthel (1914-1967), called Kuba. As Jürgen Serke states:

Es war jener Kuba, der […] stalinistische Agitpropverse schrieb und als Sekretär des Schriftstellerverbands eine widerliche Rolle spielte, so daß ihn Alfred Kantorowicz den “neuen Horst Wessel” nannte. Bertolt Brecht schlug in seinem Gedicht “Die Lösung” dem Sekretär des Schriftstellerverbandes Kuba, der der Bevölkerung nach dem [Arbeiteraufstand am] 17. Juni 1953 vorwarf, sie habe sich das Vertrauen der Regierung verscherzt und müsse nun doppelt gut arbeiten, vor: “Wäre es da / Nicht einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?” / (It was that Kuba who […] wrote Stalinist propaganda poetry and played such a disgusting role as the secretary of the writers’ organization that Alfred Kantorowicz called him “the new Horst Wessel.” Bertolt Brecht suggested in his poem “The Solution” to Kuba, the Secretary of the Writer’s Union, who had critized the East German population [after the workers’ revolt] on June 13, 1953 for having forfeited the confidence of the government and therefore had to redouble its efforts at work: “Would it / not be easier in that case for the government / To dissolve the people / And elect another?” (140)

Communism is Kuba’s cause. His behavior results from what Jorge Semprún has termed “la ciega confianza en la inevitabilidad del comunismo” / (“the blind trust in the inevitability of communism”) (187) – a conviction that, as Semprún showed in his Autobiografía de Federico Sánchez (1977), is religious, not based on the belief in God, but on the belief in an Hegelian “Espíritu-de-Partido” / (“spirit of the Party”) (Semprún 132).

In 1951, Kuba discovered the eighteen-year-old Manfred Streubel’s talent. As Serke states, after Kuba had helped Streubel to publish his poetry, the young poet became renown in the GDR. For his first volume Laut und leise (Loud and Soft) (1956), Streubel received very positive reviews in the GDR press. However, after Stalin’s death and Khrushchev’s famous speech about the crimes of Stalinism on the XX Parteitag of the KPdSU, Streubel and his friends started to discuss the reality in the GDR from a more critical point of view. Encouraged by his sponsor, Kuba, and to express openly what he thought, in 1956 at the Congress of Young Artists in Karl-Marx-Stadt, Streubel delivered a speech in which he mentioned the deep skepticism of GDR readers towards GDR literature. Including himself in the group of writers whom he criticized for the hollow inflation of humanist concepts, he said: “Wir haben uns einen großen Teil Vertrauen [der Menschen] verscherzt. Wodurch? Wir haben gute Begriffe inflationiert: Frieden, Freundschaft, Heimat bedeuten nichts mehr. […] Lassen wir das hohle Pathos.” / (“We forfeited a big part of the trust [of the people]. By what? We have inflated good concepts: peace, friendship, home country – they do not mean anything any more. […] Let us stay away from the bathos.”) (Serke 141)

His friends delivered similar critical speeches in which they criticized, for instance, the rigid Kulturpolitik of the SED. The Party considered Streubel’s and his friends’ speeches as “konterrevolutionäres Verhalten” / (“counter-revolutionary behavior”) (Serke 141). The powerful Kuba, who had encouraged Streubel and his friends to speak freely, screamed: “Wir werden mit euch verfahren wie Mao Tse-tung. Lockt sie heraus mit ihren Bekenntnissen […] und danach Kopf ab! Genauso machen wir es mit euch, ihr verdammten Strolche!” / (“We will deal with you as Mao Tse-tung does. Entice them to come out with their confessions […] and afterwards off with their heads! That’s exactly what we will do with you, you scamps!”) (Serke 142) As Wulf Kirsten remembers:

Der Politbarde Kurt Barthel […] hatte den naiven, offen in die Zukunft blickenden Jüngling Streubel in eine Falle gelockt. Ein Schurkenstück ohnegleichen. Während andere in jenen Jahren nach Bautzen oder Workuta kamen für Abweichungen vom rechten Wege, wie ihn Väterchen Stalin vorgezeichnet hatte, kam er mit einer Todesdrohung und dem Schrecken davon. Diese frühe existenzerschütternde Erfahrung, die er auf dem Treffen junger Künstler in Chemnitz machte, blieb ihm zeitlebens eingebrannt. Später erfuhr er, wie berechtigt seine Furcht vor einer Verhaftung gewesen ist. Der begabte junge Dichter, der sich – aufgefordert, sich ruhig kritisch zu äußern – von seinem Mentor Kuba aus der Reserve locken ließ, musste dies büßen. Für ein Jahrzehnt verschwand er in der Versenkung, ehe er aus dem Nichts wieder auftauchte. Als Prügelknabe vom Dienst sollte er auch späterhin noch oft herhalten müssen. / (The political bard Kurt Barthel […] had lured the naïve youth who was looking into the future with open eyes into a trap. An unequalled villany. While others in those years were sent to Bautzen or Workuta for deviations from the right path as Daddy Stalin had marked it out, he [Streubel] got away with a death threat and a scare. This early experience he had had at the Meeting of Young Artists in Karl-Marx-Stadt, shaking his very existence, remained burned-in for the rest of his life. Later, he found out how legitimate his fear of his arrest had been. The talented young poet who – asked to speak out freely without worry – had allowed his mentor Kuba to lure him out of his cautious silence, had to atone for it. For a decade, Streubel was a persona non grata before he reappeared out of nowhere. Also later on he often had to serve as a punching bag whenever one was needed.) (55)

As a consequence of Kuba’s intrigue, Streubel’s carrier in the GDR came to a halt for over ten years in which he was not allowed to publish. As Rudolf Scholz remembers: “Förderer und Gönner zogen sich zurück. Desillusionen und Defizite summierten sich” / (“Benefactors and sponsors withdrew. Desillusionment and deficits were summing up”) (37-8). In 1992, Streubel committed suicide after the mysterious visit of a tall, slim, dark haired stranger whom the police was never able to identify (Serke 131). Streubel was researching the death of his father in a secret Soviet prison camp in East Germany at that time.

Christa Wolf portrayes Kuba more sympathetically as the tragic victim of his own idealism:

Der Dichter KuBa […] hatte an [die kommunistische Utopie] geglaubt und uns an sie glauben gemacht und war außer sich geraten, als unser Glaube nachließ, und war zusammengebrochen, als sein unverrückbarer Glaube ihm mit Hohn und Spott vergolten wurde. Ich konnte in den Hohn nicht einstimmen und kann es bis heute nicht. / (The poet Kuba […] had believed [in the communist idea] and he had made us believe in it; and he was beside himself when our belief weakened, and he had collapsed when he got repayed for his belief with disdain and scorn. I couldn’t join in this disdain and can’t do it until today.) (83)

However, that Wolf cannot laugh about Kuba as bitterly as Streubel does in “Sancho Pansas Nachruf”, might have to do with the fact that she did not have to pay so much for having known Kuba. Her career was not destroyed by the man’s fanaticism that drove him to incredible unscrupulousness.

To interpret a fanatic communist as a Don Quixote is legitimate as can be seen in Gustav Regler’s depiction of communist party officials in the French camp Le Vernet who, according to the narrator, were Quixotes although they had nothing of the “charm and gallantry and gentleness of heart” (Regler 335) of Cervantes’s protagonist. As Elisabeth Frenzel stated, a quixotic figure is blind to reality as the consequence of “Lektüre oder einer fixen Idee” / (“reading or an obsession”) (116). In Kuba’s case, both come together. The uncritical reading of communist literature, Marx’s and Lenin’s works as well as of party brochures, had caused Kuba’s obsession with the idea of a classless society; and both the reading and the obsession made him blind to the present he lived in. Gazing into the desired future that was pictured in his books in all glory, the man was unable to see the reality around him, including the chasm that Streubel had pointed out between GDR readers and the writers who indulged in “hohle[m] Pathos” / (“bathos”) (Serke 142). Furthermore, Kuba himself was one of those writers, as his “Kantate auf Stalin” / (“Song for Stalin”)[2] (1949) demonstrates. Although Streubel did not mention Kuba’s name when he criticized GDR writers for their “bathos,” Kuba might have taken the criticism as a personal attack.

As Elisabeth Frenzel also stated, Don Quixote who fantasizes “zum fahrenden Ritter und Kämpfer gegen das Unrecht bestimmt zu sein” / (“to be chosen to be a knight-errant and fighter against injustice”) often creates the “Mißstände” / (“nuisances”) (112) that he wants to abolish. In Kuba’s case this is important. To transform reality in the name of his utopian dream, he is riding into battle to kill Streubel and his friends, whom he fantasized to have become class-enemies. As an outcome, he makes the GDR reality worse than it already is.

Another of Frenzel’s reflections on Cervantes’s Don Quixote is relevant in this context: “Die Illusion einer in die Wirklichkeit umgesetzten Kunstwelt gerät da an ihre Grenzen, wo gutgläubige Mitspieler aus der ihnen vorgespiegelten Wirklichkeit Folgerungen und Ansprüche ableiten zu können glauben” / (“The illusion of a fictional world transformed into reality reaches its limit at the point at which partners acting in good faith think they could infer conclusions and claims from this fictional reality”) (120). Sancho, for instance, when he finally has become the governeur of an island, has to quit after the obstacles have grown too monstrous due to an intrigue by the evil Duke and Duchess. Since Streubel and his friends were in the role of the “gutgläubigen Mitspieler” / (“partners acting in good faith”), by believing Kuba that they could speak freely at the Congress of Young Artists, they committed the fatal error of criticizing aspects of the life in the GDR and suggesting improvements. At this point, the game of the “umgesetzte Kunstwelt” / (“fictional world transformed into reality”) was over for them.

The transition from Erich Arendt’s poem “Don Quijote” to Manfred Streubel’s “Sancho Pansa’s Nachruf” seems to be an allegory for the history of the communist experiment in the GDR – the transition from an idealistic commitment to the promised land without classes in the future to dangerous foolishness. How dangerous it was for the individual you can understand by reading Streubel’s poem; just identify with Sancho who still after the Don’s death can feel the shudder in his bones!

According to Luis Astrana Marín, “in the seventeenth century [Don Quixote] was greeted with an outburst of laughter, in the eighteenth, with a smile, and in the nineteenth, with a tear […]” (quoted in Durán and Rogg 127). In the GDR, things seemed to have gone the opposite way around since the Spaniard was first greeted smilingly (Arendt) and, approximately twenty years later, with laughter (Streubel). The following example of Don Quixote’s reception is a poem by Wilfried Bonsack (born in 1951). In his poem “Keine Ode: Aber auch an Dulcinea” / (“Not an Ode, but also for Dulcinea”), published in 1982, the Spanish protagonist is greeted with a tear:

eingemauert
in diese zerbissene Zeit
tanzt der
vergessene clown
den tango des monsieur capone

cervantes
der grüngreise papst
auf der windmühle gekreuzigt
und bei den weinschläuchen begraben
knüpft labyrinthe
aus transparentem papier

(walled in
in this broken time
the forgotten clown
dances
the tango of monsieur capone

cervantes
the green-old pope
crucified on the windmill
and buried next to the wineskins
knots mazes
from transparent paper) (36)

Interestingly, Bonsack speaks of both in this poem, the protagonist Quixote and his creator, Cervantes. The expression “walled in” indicates that the context is probably that of the GDR. According to the first stanza, Don Quixote, a “forgotten clown,” seems very sad; he is without doubt the protagonist of Part Two of Cervantes’s novel whom the cruel practical jokes of the Duke and Duchess have led to a great melancholy. That he dances “the tango of monsieur Capone” might refer to Al Capone, the gangster boss, who transcribed the song “Mama Mia” while he was imprisoned in Alcatraz. In the second stanza, the poet shows the author Miguel de Cervantes crucified on a windmill — the very object that Quixote attacked, believing it to be a ferocious giant. Why is Cervantes crucified in the GDR? It’s probably because he is a utopian in an anti-utopian age. But, how can it be that the real existing socialism in the GDR is described as antiutopian? To be crucified in a socialist country because you cannot stop following your utopian dream? Furthermore, why did the poet chose the word “crucified” instead of “shot” or “driven into suicide”? “Crucified” evokes the figure of Jesus. The situation hinted at in the poem reminds us of Fyodor Dostoevsky’s Grand Inquisitor in The Brothers Karamzov (1880) according to whom Jesus, if he returned today, would have to be eliminated because his presence would interfere with the mission of the church. It seems that by 1982, the time when Bonsack wrote the poem, most people in the GDR had woken up from the illusion of a “sozialistische Menschengemeinschaft” / (“socialist society of human beings”)[3] and saw reality as it was. The joke that Marx “würde sich im Grabe umdrehen” / (“would turn around in his grave”) if he witnessed what was done in his name was common. Who continued to be a believer (not in the dogma, but in the possibility of changing reality) could end up being crucified as it happens to Cervantes in Bonsack’s poem. Christa Wolf in Stadt der Engel (2010) describes what happened to East German communists after most people of that country had stopped believing:

Als die “große Sache” vor ihren Augen zusammenbrach, reagierten sie jeder und jede auf seine oder ihre Weise: mit Verzweiflung, mit Abwehr, mit Depression, Wut und Schweigen, mit Leugnung der Tatsachen, mit Selbsttäuschung. Und mancher von ihnen mit Dogmatismus und Rechthaberei / (when the “great cause” collapsed in front of their eyes, they all reacted in their own way: with desperation, with defense, with depression, fury and silence, with denial of facts, with self-deception. And some of them with dogmatism and bossiness) (87).

The last, “dogmatism und bossiness,” is Kuba’s reaction as described in Streubel’s poem. While “depression” is very likely the reaction of Bonsack, who identifies with Don Quixote after he woke up from his fantasy world in the end of Cervantes’s novel. Why is Cervantes called a “pope”? It’s probably because his messages are still up-to-date; Don Quixote of la Mancha “regularly appears high on lists of the greatest works ever published” (“Don Quixote” 1). That makes Cervantes into a kind of authority or “pope” to those who are believers in the possibility of change. The oxymoron “grüngreis” used as an adjective to characterize this “pope” seems to make sense: “grün” means fresh; “greis” means very old; could it signify that, according to Bonsack, Cervantes’s messages, although they are very old, are still fresh, relevant in the GDR during the early 1980s? And “to knot mazes” – how could we interpret this image? I would suggest the following reading: Cervantes, although crucified in the GDR, must have been resurrected. He is present in that country — writing books that are labyrinths, not so easy to read for the censor, especially since they are written on “transparentem Papier” / (“transparent paper”).

In Arendt’s poem, Quixote is a romantic hero; the name Knight of the Lions that Quixote gave himself after the adventure with such an animal, would fit. In Bonsack’s poem, the name Knight of the Sad Countenance, as the defeated Don Quixote calls himself according to Sancho’s suggestion, is more appropiate. Therefore, it is correct to state that Bonsack greets him with a tear.

The following poem “Quichote und die Windmühlen” by Hinnerk Einhorn (born in 1944), written shortly before the fall of the Wall, is more difficult to interpret; its message is ambivalent because Quixote can be read as a hero fighting against injustice or as a lunatic who is just dreaming of such a fight:

Und streckt ihr auch Arme aus
mehr als Briareus
ihr nennt euch Riesen?
ich biete die Stirn

Jeder Furz treibt euch um
jedes göttliche Flüstern
Feigherzige
stellt euch

Eure Kalkgräten knack ich
ich stutz euch im Sturm
euch hab ich
ja hab euch

Hilf Sancho! Wo bin ich?
Ihr Mühlen, euch zeig ichs (82)

(Even though you stretch out your arms
more than Briareus
you call yourself giants?
I challenge you

Every fart makes you restless
every divinely whisper
Fainthearts
surrender

I’ll crack your fossil bones
I’ll break you by force
I got you
Yes, you I got

Help, Sancho! Where am I?
You, mills, I will show you) (82)

In this poem, Don Quixote challenges the windmills that represent the powerful GDR authorities. Cervantes’s famous windmills had served before as a useful metaphor in the context of anti-Stalinist literature. In an advertisement for Peter Weiss’ Notizbücher 1971-1980, it is said that the author is “mal ein Don Quichotte, der seine Lehren gegen die riesigen Windmühlen kommunistischer Machtpolitik führt, mal ein melancholischer Zweifler an allen Doktrinen” / “at times a Don Quichotte who raises his teachings against the huge windmills of communist power politics, at other times a melancholic man who doubts all doctrines” (Weiss 271). In Einhorn’s poem, these windmills stretch their arms even more than Briareus — according to Greek mythology Briareus is one of the three ferocious giants with a hundred hands and fifty heads who helped to overthrow the Titans. This image (based on the substitution of windmill vanes by arms of a giant), taken from Cervantes’s famous episode in part one of Don Quixote, indicates how strong these “windmills” are. However, the expression “eure Kalkgräten” / (“fossil bones”) – probably a hint at the old age of most of the members of the GDR Politbüro – states that just the opposite is true; the “giants” appear to be strong, but they are not; their bones are brittle. Therefore, challenging them is not as mad as it seems; you have a chance to win. “Jeder Furz treibt euch um” / (“Every fart makes you restless”) can be interpreted as a reference to the paranoia of many East German officials as, for instance, Erich Mielke, the head of the Stasi, and his fellow ideologues. Ludwig Harich, who met Einhorn after the Fall of the Wall in the West when he read from his volume of poetry Quichote und die Windmühlen (the book has the same title as the poem analyzed here), reads line 13 in which Quixote asks Sacho for help: “Don Quichote und Hinnerk Einhorn brauchen ihre praktisch denkenden und arbeitenden Nachbarn, um im Leben zurechtzukommen.” / (“Don Quixote and Hinnerk Einhorn need their practically thinking and working neighbors to cope with life.”) (113) This reading hints at the identity of Einhorn, the poet, and the poem’s lyrical ego, Quixote. The knight-errant performs as a GDR dissident who challenges those in power with a cocky self-assurance and quixotic bravery. However, a closer look at line 13: “Help, Sancho! Where am I?” undermines such a reading. The lyrical ego might as well be a patient in an insane asylum — his brains so severely addled that he is incompetent to fight against whatever authority; his bravery is just wishful thinking.

Do we laugh, smile or cry about Einhorn’s Quixote? We do not cry because there is no melancholia in this Quixote’s heart; instead, we smile or laugh about him, according to our interpretation. If we choose to laugh (interpreting the lyrical ego as a lunatic), our laughter would be without the spiky sarcasm of Streubel’s poem where Quixote is dreaming of a glowing future so strongly that he commits crimes in the present as means to an end. In no way is Einhorn’s Don Quixote portrayed as a dangerous man; he is rather viewed as benign. And, most importantly, this Quixote is not one of those Kubas who tried to enforce the laws of their revolutionary fiction in the GDR without consideration of their suitability. Just the opposite is true; Einhorn’s Quixote tries to fight against the Kubas – either in reality or just in his wishful thinking.

To summarize, the examination of four GDR poems published between 1952 and 1989 reveals that Varela Iglesias is right in stating that Don Quixote is “obra proteica susceptible de numerosas interpretations” / “a proteic work that can be interpretated in numerous different ways” (45). Arendt sees the Spanish protagonist romantically as a modern knight-errant who is bravely undoing wrongs in the name of a better future. Streubel portrays Quixote satirically as a dangerous lunatic who is disregarding friendship and common sense for the sake of his fantasy world. In Bonsack’s poem, Quixote is a melancholic man – a clown, whom nobody wants any more. His creator, Cervantes, is being crucified in the GDR and, after resurrection, writes critical literature striving for a change in reality, fooling the censor. Einhorn, on the other hand, portrays Quixote as a self-assured GDR dissident, although the poem can be read differently, as a parody of such a figure. In all four poems, the authors use the famous Spanish protagonist to articulate their point of view regarding the historical period in which they live.


   

Notes
1 In 1957, the editorial Junge Welt published a comic book about Don Quixote. The Spanish protagonist was presented again to the GDR public in 1981 in the journal Mosaik – a journal that, as Gernot Gabel stated, “schnell einen Kultstatus unter jungen und alten Lesern der DDR erlangt hatte” / (“quickly had reached a cult-status among young and old GDR readers”) (52). It would be interesting to compare presentations of Don Quixote in East- and West German Childrens’ literature.

2 Kuba’s “Kantate auf Stalin” (music by Jean Kurt Forest) was comissioned by the SED Kulturabteilung in 1949. The work was supposed to teach people about “den großen Revolutionär und Staatsmann Josef Stalin” / (“great revolutionary and statesman Joseph Stalin”) (“Kantate” 1). Die Sätze sind für Chor, Solostimmen, Orchester, und das Finale auch für Tanzensemble geschrieben.

3 The term was coined by Walter Ulbricht (1893-1973).
   
Bibliography

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Bonsack, Wilfried M. “Keine Ode. Aber auch an Dulcinea.” Karl Bongardt (Ed.) Spuren im Spiegellicht.  Berlin: Union Verlag, 1982.

Close, Anthony.  Cervantes and the comic mind of his age.  Oxford: Oxford UP, 2000.

Czechowski, Heinz.  Die Pole der Erinnerung.  Düsseldorf: Grupello, 2006.

“Don Quixote.”  Wikipedia.  [Online.]  >http://en.wikipedia.org/wiki/Don_Quixote<  9/16/2010.

Durán, Manuel.  Rogg, Fay R.  Fighting Windmills: Encounters with Don Quixote.  New Haven: Yale UP, 2006.

Einhorn, Hinnerk.  Quichote und die Windmühlen.  Halle: Mitteldeutscher Verlag, 1989.

Frenzel, Elisabeth.  “Mißverstandene Lektüre.  Musäus’ Grandison der Zweite und Wielands Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva – zwei deutsche Donquichottiaden des 18. Jahrhunderts.”  Theodor Wolpers.  (Ed.)  Gelebte Literatur in der Literatur.  Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1986: 110-133.

Gabel, Gernot.  Don Quijote’s Spuren in Deutschland: Materialien zur Rezeptionsgeschichte.  Köln: Kleine Schriften der Universitäts- und Stadtbibliothek, 2005.

Harig, Ludwig.  “Was soll mir Poesie.”  Hinnerk Einhorn.  Voyage au Paradis: Texte einer deutschen Wende. Merzig: Gollenstein, 2000, 112-4.

Kirsten, Wulf.  “Ich höre ihn lachen.  Ich sehe ihn staunen.” Manfred Streubel.  Gedenkminute für Manfred Streubel (1932-1992).  Dresden: Buchlabor, 1993, 55-58.

“Kantate.”  Der Spiegel 48/1949 [Online.]  >www.Spiegel.de/spiegel/print/d-44439024.html<  6/5/2011

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Strebel, Volker.  “Czechowski randaliert wieder.”  [Online.] >http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10197<  1/31/2011

Streubel, Manfred.  Gedenkminute für Manfred Streubel (1932-1992).  Dresden: Buchlabor, 1993.

Varela Iglesias, Fernando.  “Realismo e idealismo en la recepción del Quijote.  Una visión pendular.”  Klaus-Dieter Ertler, Alejandro Rodríguez Díaz. (Eds.)  El Quijote hoy: La Riqueza de su Recepción.  Madrid: Iberoamericana, 2007: 43-77.

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Weiss, Peter.  Die Ästhetik des Widerstands.  Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988.

Werner, Klaus.  “Über die ‘authentische Natur des Menschen’ in den Kämpfen der Zeit: Spanienzeugnisse Erich Arendts, von Sylvia Schlenstedt aufgefunden.”  Siegfried Rönisch.  DDR-Literatur ’86 im Gespräch.  Berlin: Aufbau, 1987: 164-72.

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Wolf, Christa.  Stadt der Engel.  Berlin: Suhrkamp, 2010.


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Nov 21 2011

Jay Julian Rosellini

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Neues Serbien? – Neuer Handke?

„Der Rakija der Gegend war naturrein …“ [1] „Kdo si? Wer bist du?“[2]

Die vorliegende Arbeit ist der dritte und voraussichtlich letzte von drei Beiträgen zu Peter Handke und seinem poetischen sowie politischen Verhältnis zum ehemaligen Jugoslawien. In den letzten Jahren konzentrierte sich die Analyse zunächst auf Unter Tränen fragend[3] und Rund um das große Tribunal[4], anschließend auf Die Tablas von Daimiel[5] und Die Morawische Nacht[6]. Als mutmaßlicher ‚verkappter Rechter’ und ‚blinder Jugoslawien- bzw. Serbienfanatiker’ steht Handke seit den neunziger Jahren im medialen Brennpunkt. Das jüngste Kapitel dieser Kontroverse dreht sich um den Reisebericht Die Kuckucke von Velika Hoča (2009) und das Theaterstück Immer noch Sturm (2010). Unten wird der Frage nachgegangen, inwiefern sich Handkes Umgang mit dem Thema (Ex-)Jugoslawien (einem Thema, das von seiner andauernden Identitätssuche kaum zu trennen ist) in den beiden Werken gewandelt hat. Vorneweg muss aber die Feststellung stehen, dass das von vielen angefeindete Land Serbien zumindest ansatzweise neue Wege geht. Nach Jahren von Intrigen und Trotzreaktionen Belgrads wurde der bosnisch-serbische General Ratko Mladić im Mai 2011 endlich verhaftet und bald danach nach Den Haag ausgeliefert, wo der Kriegsverbrecherprozess gegen ihn vorbereitet wird.[7] Kaum mehr als einen Monat nach der Verhaftung Mladićs wurde bekannt, dass die EU nun dazu bereit ist, Verhandlungen über einen Beitritt Serbiens anzuberaumen[8], und die serbische Regierung redet wieder mit Vertretern des seit 2008 abhängigen Kosovo (auch wenn das den Nationalisten in Serbien nicht behagt).[9] Solche diplomatischen Winkelzüge werden kaum von den meisten EU-Bürgern wahrgenommen, aber am 3. Juli 2011 erschien das ‚neue Gesicht’ Serbiens millionenfach auf Bildschirmen und am Tag danach im Druck: Gemeint ist das große Tamtam nach dem Wimbledon-Sieg des vielgereisten Tennisspielers Novak Djoković. 100.000 Fans begrüßten ihren „Nole“ auf dem Belgrader Nikola-Pašić-Platz [10], und Boris Tadić, der Präsident Serbiens, sagte sogar: „Ich würde ihm sofort den Posten als Präsidenten überlassen.“[11]

Trotz der Abgrenzungsversuche der Ultras in Serbien – und nicht nur dort – macht sich, besonders unter Jugendlichen, eine gewisse Sehnsucht nach dem größeren Kulturraum Jugoslawien bemerkbar.[12] Ohne solche Dinge zu überbewerten,[13] lässt sich sagen, dass solche (wenn auch noch schwache) Anzeichen einer gewissen ‚Leichtigkeit des Seins’ im Jahr 2006 („Serbia’s Darkest Year“[14]) undenkbar gewesen wären. Ist das aber eine Welt, womit sich Peter Handke anfreunden kann?

Im Mai 2008 brach Handke erneut zu einer Erkundungsreise auf. Als Kontrastprogramm zu seiner Begegnung mit Radovan Karadžić (1996) und seiner Teilnahme als Redner am Begräbnis von Slobodan Milošević (2006) ging es diesmal wieder zu den ‚kleinen Leuten’, den namenlosen Bewohnern der serbischen Enklave Velika Hoća im Kosovo. Die „Nachschrift“, d.h. der Bericht über die Reise, sollte diesmal aus einer ungewohnten Perspektive verfasst werden:

Das Vorhaben, anders als all die Male zuvor, bestand bei diesem Besuch freilich nicht nur aus dem bloßen Dabeisein, Mitfeiern, Anschauen und Zuhören. Es drängte mich, den und jenen einzelnen im serbischen Kosovo ausführlich, sozusagen systematisch, in der Rolle des Reporters oder meinetwegen Journalisten, zu befragen, und die Antworten dem entsprechend mitzuschreiben. [Die Kuckucke …, 8f.]

Da sich Handke auch diesmal vor Medienkritik nicht scheut (zu den Zielscheiben gehören die FAZ, der Spiegel, die Süddeutsche und Die Zeit[15]), ist man angesichts des geplanten Rollenwechsels verblüfft. Dahinter steckt aber eher eine taktische Überlegung als ein grundlegender Sinneswandel, denn mit ‚Dichtern’ wissen viele Menschen nichts anzufangen:

Ich gäbe mich als „Journalist“ aus, was sofort seine Wirkung täte … (ihnen aber nur nicht mit der Tatsache ‚Schriftsteller’, ‚writer’, ‚shkrimtar’ oder gar ‚Dichter’, ‚poet’ kommen – das hieße im Handumdrehen Mißtrauen, oder bestenfalls Verständnislosigkeit, auch das eine reiche Erfahrung). [56f.]

Es dürfte allerdings keine Überraschung sein, dass Handke seinen Plan in den meisten Fällen nicht ausführt: Es gibt nur ein „regelrechtes Interview“, und dies nennt der Autor „die einzige künstliche, oder gar gekünstelte Situation während der ganzen Zeit in Velika Hoća“. [80f.] Handke lenkt freilich von seinen höchstpersönlichen Schwierigkeiten mit dem ‚Systematischen’ ab, indem er bemerkt: „Die Leute von Velika Hoća schienen sich mit dem Reden, und mehr noch mit dem Erzählen leichter zu tun, wenn ihnen keine Richtung vorgegeben wurde.“ (47) Wie gestaltet sich dann das gut eingeübte „Dabeisein, Mitfeiern, Anschauen und Zuhören“ (vgl. oben) im Kosovo?

Die Autoreise nach Velika Hoća, wo Handke „nicht bloß einmal, schon gewesen war“ (9), beginnt in Belgrad und führt über die geteilte Stadt Kosovska Mitrovica, wo die „Berichterstatter aus den westlichen Metropolen“ im Café „Dolce Vita“ auf Neuigkeiten warten (21). Anders Handke, der die friedliche Atmosphäre im Ort so einfängt: „Sich verstärkende Sonne und zunehmendes Blauen, sirrende Mauersegler, schwirrende Spatzen, trippelnde Tauben, die Gehsteige zwar brüchig, aber überall ritzenfrisch gekehrt, die Busse zwar rumpelig, aber klinkenrein gewaschen.“ (22) Sogar die „fremdländischen Soldaten“ (22) werden diesmal als Teil des Friedens [16] akzeptiert. Der Wanderer möchte auf der albanischen Seite „Neuland“ (23) entdecken und wird beim Passieren der Brücke von französischen bzw. (schwarz-)amerikanischen Posten in Ruhe gelassen (keine Ausweiskontrolle). Dieser ‚albanische Ausflug’ lässt aufhorchen, denn Handke ist an und für sich kein ‚Freund’ der Kosovo-Albaner, da sie u.a. bei den „Märzunruhen“ von 2004 (17) ihre kosovarisch-serbischen Nachbarn terrorisiert und deren Häuser, Kirchen, und Klöster zerstört haben.[18] Handke schaut sich im Laden die merkwürdige Landkarte „Ethnic Albania“ an, und der Leser früherer Jugo-Schriften des Autors erwartet, dass expansionistische Pläne der Albaner angeprangert werden, doch er wird eines besseren belehrt. Es heißt einfach, „[Es] schien solche Geographie für die Ortsansässigen etwas Selbstverständliches und Unschuldiges zu sein […].“ (28) [19] Allerdings führt das Fehlen von „zerstörten orthodoxen Kulturdenkmälern“ auf der Karte „Harta e Kosovës – Map of Kosova“ zu schweren Vorwürfen gegen die angeblich untätigen KFOR-Truppen und zur Verwendung des Begriffs „Pogrom“ (statt „Unruhen“). (28f.) Bezeichnend ist es aber, dass Handke und seine Begleiter später am „Gedenkturm für die Schlacht vom Kosovo Polje = Amselfeld im Jahre 1389“ (35) einfach vorbeifahren, und sie halten sich auch nicht in Priština auf, wo ein Gebäude mit dem „Riesenporträt des Staatsgeburtshelfers Bill Clinton“ geschmückt ist (35). Es geht weiter durch „das weithin grünende Ländchen Kosovo“ (35). Abgesehen von der Verkleinerungsform ist die Wahl der Bezeichnung „Land“ wohl keine zufällige, da Handke Kultur und Landschaft zu würdigen weiß, den neuen „fremden Staat“ (7)[20] aber kaum.

Bei der Ankunft in Velika Hoča und danach hört man überall Kuckucksrufe, und sie sind deshalb so deutlich, weil wegen der mangelnden Arbeit keine Fahrzeuge fahren. Es ist ein regelrechtes „Kuckuckswelttreffen“ (39)[21], und dieses Zusammenkommen der Vögel betont die Einsamkeit der Menschen in der serbischen Enklave: Nicht einmal zum Nachbardorf bestehen noch Kontakte (da dessen Bewohner albanisch sind). (48f.)[22] Den verbliebenen Serben geht es denkbar schlecht: Wegen Wasserknappheit lässt sich Landwirtschaft kaum noch betreiben, und viele Weinstöcke in der bekannten Weingegend sind „verrottet“ (54). Die ansässigen Handwerker haben kein Auskommen, und es gibt nicht einmal einen Bäcker – das Brot „wurde angeliefert von einer albanischen Fabrik“ (71).[23] Handke ist insgesamt bemüht, die Bodenständigkeit und Naturnähe der Enklavenbewohner zu betonen (auch wenn junge Männer kaum in Erscheinung treten). Ein von ihm interviewtes Ehepaar z.B. weiß von albanischen Schikanen zu erzählen („Strafzoll“, „Halsabschneidegesten“ – 84), aber „fürsorglich“ begleitet es den Interviewer zu einer Stelle „hinter dem Quellfelsen, wo an dem Wasser Myriaden kleiner lila Schmetterlinge gaukelten, bei ihrem Auffliegen lila der ganze Luftraum“ (85). Man erfährt daraufhin, dass die beiden eigentlich Flüchtlinge aus einem Nachbardorf sind, d.h., ihren ureigenen Platz in der Landschaft haben sie aufgeben müssen. Aus Handkes Sicht ist ein solches Schicksal niemandem zumutbar. Mit diesem Glauben hängt die wichtigste historisch-politische Passage des Buchs zusammen. Handke bestreitet, dass die Serben ihr Recht auf kosovarisches Territorium noch mit „der doch längst verjährten, außerdem (gegen die Türken) verlorenen Schlacht auf dem Kosovo Polje, dem Amselfeld, anno 1389“ (93f.) begründen. Niemand habe das ihm gegenüber angesprochen, und besagtes Recht sei anderer Art:

Wenn einer der Bewohner der Enklave überhaupt von seinem Recht sprach, dann von einem, das abzuleiten war von der Gegenwart und einer sie begründenden, lebendigen, unverjährten Vergangenheit, von dem Leben auf diesem Boden und dessen Bearbeiten durch den da Ansässigen jetzt, jetzt und jetzt im Verein mit dem Vorleben und Vorverarbeiten der Eltern, der Großeltern, der Urgroßeltern, der Vor- und Vorvorfahren. Dieses Recht braucht keine Legende und schon gar keinen Mythos. (94, Herv. von mir)

Er fährt dann fort: „Das Recht auf das Land kam aus dem Jetzt und dem Hier.“ (94) Nun, wer wäre heutzutage nicht gegen ethnische Säuberung oder Vertreibung irgendeiner Art? Das Problem dabei ist, dass Handke in diesem Kontext die Vertreibung bzw. Massenflucht der Kosovo-Albaner im Verlauf des Kosovo-Krieges 1998/99 nicht thematisiert. Auf der individuellen Ebene empfindet der Autor durchaus Mitleid mit den Kosovo-Albanern – festgehalten im eindringlichen Bild einer alten Frau („lautloses Grauen, welches schon seit einer gleichsam unvordenklichen Zeit in der Frau wirkte und bei meinem Anblick ihr akut in die Augen trat“ – 59), aber die Weigerung eines „Einverständis[ses] … mit der Geschichte“ (100) darf nicht zum Abschied von der Geschichte führen.

Handke liefert ein Porträt des örtlichen Popen, der im Verlauf des 1999er Bombenkriegs „wahnsinnig“ wurde und sich erst langsam erholte, aber es ist die Frau des Popen, die Wichtiges zu erzählen hat. Sie schildert das Leben unter der NATO-Besatzung, und zwar sehr differenziert: Anders als die Deutschen, Franzosen und Italiener hätten sich die Holländer „besonders brutal verhalten“ (74). Vor allem die „Kommandantin“ habe den Enklavenbewohnern „den Menschenstatus“ abgesprochen (75). Vor Ort wurde vermutet, dieses Verhalten hänge mit früheren Ereignissen zusammen. Die holländischen Truppen seien so vorgegangen,

[…] weil das eine Art Rache sein sollte für die massakrierten Muslimtausende seinerzeit nach dem Fall von Srebrenica, tausend Kilometer nordwestwärts jenseits der Drina, in Bosnien, wo die holländischen UNO-Soldaten im Juni 1995 die Massaker durch die bosnoserbischen Paramilitärs tatenlos hatten geschehen lassen.(75)[24]

Für den Handke-Leser ist nicht diese Vermutung von Interesse, sondern die Tatsache, dass der Autor das Wörtchen „angeblich“[25] nicht einfügt. Anders als vor Jahren lässt er keinen Zweifel mehr daran, dass das Massaker von Srebrenica passiert ist. Dies hatte er zwar schon früher gesagt, aber nicht in seinen Werken, sondern in Interviews. Die oft gehörte Behauptung, Handkes Jugoslawien-Bild sei unwandelbar, lässt sich angesichts dessen nicht mehr aufrechterhalten. Auch das sonst so negative Österreich-Bild wird hier zumindest teilweise revidiert. Eine alte Witwe hat eine Pension aus Österreich, und der Dorfschuster, der „jahrzehntelang“ da oben gearbeitet hatte, war „immer noch voll des Lobs über diesen besonderen Westen und seinen Arbeitgeber“ (70). Noch wichtiger ist der Hinweis, dass junge Österreicher zu den „KFOR-Freiwilligen“ gehören, die „die Serben von Velika Hoča beschützten“ (86).
Der Umgang der Literaturkritiker mit den Kuckucken ist ein kleines Lehrstück. Obwohl das Wort „Unrecht“ (im Hinblick auf den serbischen Verlust des Kosovo) im Buch nur einmal vorkommt (55),[26] behauptet Lothar Müller, Handke stehe „hier wie stets in seinen Reisebüchern aus dem Balkan an und auf der Seite der Serben“.[27] Das mag seine Richtigkeit haben, sagt aber nicht viel aus, da diese Serben nicht als Täter, sondern als Opfer auftreten, deren menschliches Leid nicht wegzureden ist. Michael Martens fragt gleich zu Beginn seiner Besprechung: „Wird es nun also wieder einen Skandal geben, mit allen Pauken und Trompeten des deutschen Feuilletons?“[28] Er fährt allerdings fort: „Handkes neues Buch taugt nur dem zum Ärgernis, der partout eines daraus machen und das Spiel von Empörung und Gegenempörung mitspielen will.“ In der Tat hat Handke nicht wenige Kritiker gefunden, die sich sonst nicht für Literatur interessieren. Er stehe, so Martens, zwar in der „Tradition einer schwärmerischen deutschsprachigen Serbienliteratur“, aber diesmal habe er „allein von sich“ erzählt, wenn auch wunderschön. Es stimmt zwar, dass die Enklavenserben eher skizziert als porträtiert werden, aber das Buch dreht sich um Handkes spezielle Perspektive, nicht um ihn selbst. Helmut Böttiger stellt zu Recht fest, dieser Text sei „nicht von Polemik oder von Wut geprägt, sondern von Trauer und Melancholie“, und er findet keine Spur von „serbischem Nationalismus“.[29] Der Wechsel im Tenor ist tatsächlich unübersehbar. Schließlich soll der (anonyme) Kommentator des ORF zu Wort kommen, der eine seit Jahren typische Formulierung anbietet: „Es sind geglückte Handke-Sätze, denen man sich nicht entziehen kann. Peter Handkes Pro-Serbien-Kurs muss man deswegen noch lange nicht mittragen.“[30] Die Kuckucke von Velika Hoča ist nicht – wie frühere Bücher des Autors – von einem „Pro-Serbien-Kurs“ geprägt, wohl aber von einem „Pro-Serben-Kurs“. Es geht um Leiden und Isolation der Kosovoserben, nicht um Politik, und deshalb paraphrasiert Handke nicht Slobodan Milošević, sondern Sophokles: „Vieles war unvergleichlich, nichts aber unvergleichlicher als ein Mensch, ein solcher oder ein solcher.“ (93)[31]

In den Kuckucken geht es um eine kleine Welt – nicht das ehemalige Jugoslawien, nicht Serbien, nicht Kosovo, sondern ein kleines Dorf. Die Hinwendung zum Mikrokosmos setzt sich in Immer noch Sturm fort, was sowohl den Standort als auch das Personal betrifft. In diesem Theaterstück, das im August 2011 bei den Salzburger Festspielen zur Urauffürung kam, befindet man sich auf dem Kärntner Jaunfeld (einem Siedlungsgebiet der Kärntner Slowenen unweit Bleiburg / slowen. Pliberk), und die handelnden Personen stammen alle aus Peter Handkes Familie: die Großeltern, die Geschwister der Mutter, die Mutter selbst und das „Ich“ (aka Handke selbst als zunächst ungeborenes, dann junges Kind sowie erwachsener ‚Zeitreisender’). Die Dialoge sind eine Erfindung des Dramatikers, und die Biografien der Charaktere wurden teilweise geändert. Wie schon so oft sucht Handke sich selbst, indem er versucht, mit seinen Vorfahren ‚ins Gespräch zu kommen’. Darüber hinaus hat er diesmal aber auch ein historisch-politisches Anliegen, nämlich die Verherrlichung des antifaschistischen Widerstandskampfs der Kärntner Slowenen im Zweiten Weltkrieg.

Immer noch Sturm stellt vielleicht keine grundsätzliche Wende im Hinblick auf Handkes Beschäftigung mit dem Jugoslawien-Thema dar, aber eine neue Dimension lässt sich nicht übersehen, nämlich der (endgültige?) Abschied von der Utopie einer jugoslawischen Heimat als Ersatz für die als äußerst problematisch empfundene österreichische Identität. Brachte die Filmemacherin Helke Sander vor Jahren eine „allseitig reduzierte Persönlichkeit“ auf die Leinwand, [32] so malt Handke im Jahr 2011 – mehr als fünfzehn Jahre nach seiner „winterlichen Reise“ nach Serbien – das Bild einer doch sehr reduzierten persönlichen Utopie, deren Bestandteile Familie, Landschaft, und Sprache sind. Jonglierte ein Rechtslastiger, ein Ewiggestriger mit solchen Elementen, so gingen linke Beobachter zweifellos gegen derartig Reaktionäres auf die Barrikaden. Was hier vorliegt, ist aber eher der Versuch, eine Art friedlicher Bodenständigkeit, ein Zuhause ohne Ressentiments zu kreieren, sozusagen eine ‚Heimat für Fortschrittliche’. Eine Traumlandschaft wird gegen den Alptraum Geschichte (W. Benjamins Engel schwebt über dem Ganzen) ausgebreitet.

Die Handlung des Stückes – wenn man dieses Familienporträt im Bernstein der (streckenweise absichtlich falschen) Erinnerungen als Handlung betrachten darf – vollzieht sich im Großen und Ganzen in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Reise zu den Verstorbenen geht mit einer Antipathie der Gegenwart gegenüber einher. Die Hauptfigur, das „Ich“, möchte, dass die Verwandten „auferstehen“[33], denn: „Ich verehre euch. Warum? Weil ihr Hasenherzen wart, aber tapfere. Als gehörten Hasenherzen und Tapferkeit zusammen. Und nie auch wart ihr die Angreifer.“[34] Diese Verquickung ortet Handke bei den Partisanen, die gegen den Nationalsozialismus kämpften. Ihr Widerstand war gleichzeitig ihr ‚Eintritt in die Geschichte’, der aber nur widerwillig akzeptiert wurde, wie Onkel Gregor erklärt: „Wehe dem Volk, nicht wahr, welches Geschichtsvolk wird: vom Opfervolk zum handelnden und siegreichen geworden, zwingt es ein anderes Volk in die Rolle des Opfervolks, nicht wahr.“ (152)[35] Mit anderen Worten: Handkes Vorfahren und die anderen Vertreter ihres kleinen Kulturkreises fühlten sich trotz Diskriminierung auf den ‚leeren Blättern’ der Geschichte, die für den Philosophen Hegel völlig uninteressant waren, einigermaßen wohl. Besagte Vorfahren gehörten aber in Wirklichkeit nicht zu den Partisanen, also muss der Dramatiker ihr Leben umdichten: Nicht nur Gregor (als Partisan: Jonatan) geht in den Wald, sondern auch seine Schwester Ursula (nom de guerre: Snežena [Schneefrau]), die nach erlittener Folter stirbt.[36] In Wahrheit starben Gregor und sein Bruder Johannes als Wehrmachtssoldaten im Zweiten Weltkrieg, und der andere Bruder Georg, der die Kriegsgefangenschaft überlebte, wurde in der Nachkriegszeit trotz seiner slowenischen Abstammung Gemeinderat der deutschnationalen FPÖ – und Antisemit.[37] Seine Familie kann man nicht aussuchen, heißt es. Genau das hat Handke aber in diesem Werk getan, was ihm als ‚Träumer’ natürlich zusteht. Nicht allen wird es einleuchten, dass das die geeignetste Art und Weise ist, die historische Leistung der Partisanen zu würdigen, denen das postfaschistische Österreich zumindest teilweise die Rettung seiner nationalen Ehre verdankt.

Im Bericht über Velika Hoča bleibt Jugoslawien eine Randerscheinung. Wird es ausnahmsweise erwähnt, dann ohne Beschönigung (vgl. den Hinweis auf die Klassenunterschiede „in den Jahrzehnten der stolzen alljugoslawischen Blütezeit“ 64). In Immer noch Sturm ist das Land zunächst eine Quelle slawischen Brauchtums (vor allem für Gregor) und dann das bewunderte Zentrum des Widerstands gegen das NS-Regime. Allmählich stellt sich aber heraus, dass das einst große Land Jugoslawien nicht mehr als neue Heimat taugt. Gleich am Anfang des Stückes sagt der desorientierte Zeitreisende, „Jugoslavija, das gibt es doch seit einer Ewigkeit nicht mehr“(13). Sein Onkel Gregor studierte in den dreißiger Jahren Obstwissenschaft in Maribor und galt seitdem als slawophil. Ihm gegenüber sagt die oft bissige Ursula etwas, was man als Selbstkritik Handkes auffassen könnte: „Der mit seinem ewigen Jugoslawien. Seinen höchstpersönlichen Traum hat er, voreilig, wie er ist, uns allen aufzwingen wollen.“ (40) Gregor selbst macht im Stück eine Wandlung durch: angesichts der Zustände unter der britischen Besatzung ab 1945 (die Kärntner Slowenen wurden wieder bzw. noch diskriminiert) verkündet er: „Das Neue Jugoslawien die einzige Möglichkeit“. Er fährt aber gleich darauf fort:

[…] zu meinem Kummer, zu meinem Leidwesen! Denn ich gehöre hierher, und hierher zieht es mich seit jeher, nur hier bin ich glücklich gewesen, wenn je. Mein Herz ist im Jaunfeld. Das Neue Jugoslawien, es ist bloß der letzte Ausweg. Ist es einer? Nein, denn würde ich das Jaunfeld verlassen, wäre es um unser Anwesen, unsere Liegenschaft, unsere Wirtschaft geschehen. (144)

Etwas präziser: „[…] hier sind wir zuhause, nicht jenseits der Karawanken, nicht in Slowenien, nicht in Jugoslawien […] Zuhause sind wir hier, allhier, im Jaunfeld, zwischen Saualpe und Petzen, in unserem Kärnten, v naši Koroški.“ (145) Mit Bezug auf die eigentliche Heimat wird der slowenische Ausdruck mehr als einmal gebraucht: „lepa Koroška“ [das schöne Kärnten] bzw. „naša lepa Koroška“ [unser schönes Kärnten]. Die Heimat ist die Sprache – oder umgekehrt.

Da wird es aber schwierig, denn das „Ich“ im Stück beherrscht die slowenische Sprache in ihrer Jauntaler Ausprägung (Podjuna, 38) nicht, was ihm übelgenommen wird.[39] Die einzige Figur, die kein Freund des Slowenischen ist, ist der Onkel Valentin, der sich auch von den Partisanen distanziert. Sein Nachkriegswohlstand (hier nimmt er wohl den Platz des ‚FPÖ-Onkels’ ein) verdanke er der Tatsache, dass er sich „von unserer Haus- und Sippensprache, der vermaledeiten, losgesagt“ hat. „Ja, verdammt soll sie sein, diese Sprache […]“. (14) Das „Ich“ muss dagegen zusehen, wie es in der Kindheit als „Bankert“ beschimpft wird, weil der abwesende Vater ein Deutscher ist, etwa so: „[…] übersetz das deinem Bankert, Schwester“ (so Gregor auf S. 34). Dieser „Windelscheißer“ (79) werde „in alle Ewigkeit nie ein Laut in unserer heiligen Muttersprache“ von sich geben (80). Warum ist das so wichtig? Die Mutter erklärt es gleich am Anfang: „Keiner in der Gegend hat so gesprochen wie wir. Keiner im ganzen Land spricht so wie wir, wird so gesprochen haben wie wir“ (14). Wer also anders spricht, gehört nicht dazu, hat folglich keine Heimat – oder auf jeden Fall nicht diese Heimat, was vom Großvater unmissverständlich klargemacht wird: „Mit eurer Fremdsprache [d.h. Hochdeutsch, JR] habt ihr unsere heilige Heimatluft entheiligt!“ (22) Eine typische Verwünschung (wiederum gegen das „Ich“ als Kind lanciert) stammt von Gregor: „Wärst du doch in Wilhelmshaven oder Osnabrück geblieben. Zurück mit dir nach Reinbek, Wandsbek, Lübeck, Gott mit dir!“ (135) Das „Ich“ (als Erwachsener) will aber unbedingt dazugehören, also begrüßt es alle Verwandten gleich zu Beginn zweisprachig, z.B. so: „Guten Tag, Großmutter, stara mati, dober dan.“ (11) Die Kenntnisse des „Ich“ sind aber noch beschränkt[40]: Als Gregor aus seinem legendärem „Obstbaumbuch“ vorliest, muss die Mutter übersetzen (24f.). Diese besondere regionale Sprache wird als eine Friedensmacht hingestellt, denn: „Jenseits der Sprache bricht die Gewalt los. Höchste Gewalt tötet die Sprache, und mit ihr den Einzelnen, dich und mich. In der Sprache bleiben. Auf ihr beharren!“ (140) Was hier natürlich mitschwingt, ist Handkes Vorstellung der Literatursprache als Mittel gegen die Schrecken der Geschichte.

Ein Art und Weise, eine untergehende oder bedrohte Kultur zu retten, ist das Benennen und Beschreiben von Gegenständen, Menschen und Schauplätzen. Dies ist ein Vorgehen, das fast alle Handke-Werke prägt (der rastlose Wanderer merkt sich eben alle Details, was nicht jede[r] könnte), und es prägt auch Immer noch Sturm, obwohl dieser Text nicht episch, sondern dramatisch sein soll. Handkes Akribie ist bewundernswert, aber sie strapaziert den Leser/Zuschauer sehr – manchmal zu sehr. Da gibt es z.B. eine Liste von charakteristischen Hausnamen auf dem Jaunfeld: „’Beim Schoißwohl’, ‚Beim Faulhaber’, ‚Beim Pruntzer’ […]“ (137) Es folgen dann weitere dreizehn Namen. Bei Naturbeschreibungen erfährt man manchmal auch mehr als genug, z.B. so:

[…] Und das Glimmerflimmern auf dem Grund der Bäche hier. Und auf dem Grund der Bäche, wo diese langsamer fließen, die Schatten der Wasserläufer oben. Und auf dem Grund der Bäche, wo diese schneller fließen, die Schatten der oben dahinflitzenden abgefallenen Blätter zusammen mit den in der Tiefe dahinrollenden Kieselsteinen […] (138)[41]

Auch die schönen „Orts- und Flurnamen“ werden gewürdigt, und das Bemerkenswerte dabei ist, dass sowohl die slowenischen als auch die ‚deutschen’ vorkommen ([…] ob Pliberk oder Bleiburg, ob Saualpe oder Svinjska planina, ob Diex oder Djekse, ob Altendorf oder Stara vas […]“ – 137f.). Als Handke diese Doppelnamen anführte, war der nach zähen Verhandlungen erreichte Kärntner ‚Ortstafelkompromiss’ noch nicht ‚fix’, wie die Österreicher sagen. Es ist durchaus im Sinne Handkes, dass die beiden Formen der Ortsnamen – bei allem Einsatz fur das Slowenische – friedlich nebeneinander stehen.

Wie steht es am Ende mit der ‚kleinen Utopie’ des Zusammenlebens im Kreis der Jaunfelder Familie? Bereits in der ersten Szene hat die Mutter das „Ich“ belehrt, dass sein Unterfangen zum Scheitern verurteilt ist: Die Verwandten würden zwar bei ihm bleiben, sagt sie, aber „[…] du, Sohn: bist du bei uns geblieben? Wirst du bei uns bleiben? Hast du uns nicht immer wieder abtun wollen? Uns loswerden?“ Er sei ein „Vaterloser“[42], der bei seinen Vorfahren „Ersatz, Halt und Licht“ suche.(12) Obwohl Handke das bäuerliche Leben in der Provinz idealisiert, war seine Entscheidung, Schriftsteller (und auch Weltreisender) zu werden, nicht dazu angetan, einen Verbleib in dieser Provinz zu ermöglichen. Es ist der jüngste Onkel Benjamin – derjenige, der aus einer „höheren Schule“ flieht, „gleich heim in den Stall zu seinen seichenden, furzenden, scheißenden Tieren, nichts wie heim in den heimischen Dialekt“ (31) – der vielleicht als Handkes Sprachrohr dient: „Ekel vor meiner ewigen Sehnsucht. Und Ekel vor meinem, unserem ewigen Heimweh“ (28). Peter Handke ist nicht aus der ‚höheren Schule’ geflohen (obgleich er vom Priesterseminar auf ein humanistisches Gymnasium überwechselte), aber in der Ferne ist es ihm, dem Gebildeten, nicht gelungen, eine zweite Heimat zu entdecken. Er schaut zwar heimwärts[43], findet aber das, wonach er sich sehnt, nur im Traum bzw. in der Beschreibung seines Traums. Das erklärt vielleicht seine Unterstützung derjenigen, die ihre eigene Heimat verloren haben, aber es erklärt nicht, warum er nicht alle Heimatlosen bzw. Vertriebenen auf eine Stufe stellt. Diesbezüglich ist ein allmählicher Wandel allerdings nicht zu übersehen.
Als Immer noch Sturm im Herbst 2010 in Buchform erschien, wurde die Rezeption bis zu einem gewissen Grad verzerrt, weil Handkes einstiger Besuch bei Karadžić in den Medien wieder thematisiert wurde. Dieser Besuch war zwar länger bekannt,[44] aber in der neuen Handke-Biografie von Malte Herwig [45], woraus Exzerpte im Herbst 2010 erschienen, gab es mehr Details dazu. In der Süddeutschen Zeitung wiederholte man die Behauptung von Norbert Gstrein, Handke hätte anlässlich des Besuchs in Pale den „höchsten oder jedenfalls einen hohen Orden der unseligen Republika Srpska bekommen“.[46] Ein solcher Orden kommt in Herwigs Biografie nicht vor, und Handke sagte 2010 im Gespräch mit Ulrich Greiner: „Das hat es nie gegeben, ebenso wenig wie die Rose, die ich auf den Sarg von Milošević gelegt haben soll.“[47] Herwig berichtet, was ihm Karadžić vom Treffen mit Handke erzählte: „Er befragte mich über den Krieg, die Ereignisse im Vorjahr in Srebrenica, die Hintergrunde des Konflikts und die Leiden der bosnischen Bevölkerungsgruppen.“[48] Die meisten Journalisten erwähnen, dass Handke für Salzburger Freunde (bosnische Muslime) den Auftrag ausführte, eine Liste von vermissten Verwandten mit der Bitte um Nachforschungen zu übergeben, aber sie sagen entweder nichts dazu oder tun es als naiv ab. (Bald nach Handkes Besuch verschwand Karadžić von der Bildfläche, und über die Vermissten war nichts zu erfahren.) Die bittersten Worte zu dieser ganzen Affäre fand Thomas Assheuer in der ZEIT. Nachdem er Handke ‚Lob’ gezollt hatte („der empfindsamste Schriftsteller deutscher Zunge“; einer, „der in seinen Büchern die Steine weinen hört“ – d.h. einer, der das Weinen der Menschen nicht hört), wetterte er gegen den Suhrkamp-Verlag, der einen Mitarbeiter als „Eskorte“ beigesteuert und damit seine „Prinzipien“ verraten habe.[49] Eine solche Doppelattacke ist wohl ein Unikum im Feuilleton der Nachkriegszeit.

Ein Kritiker hat behauptet, die gedruckte Ausgabe von Immer noch Sturm sei „überall freundlich besprochen“ worden.[50] Es kommt aber darauf an, was man unter „freundlich“ versteht. Für Hubert Spiegel handelt es sich um „ein mal leichthändiges, mal schwerblütiges Alterswerk“, ein Traumspiel à la König Lear, im „fotzelnden Familiensound“ vorgetragen.[51] In seiner Besprechung wird der historische Rahmen des Partisanenkampfs kaum beachtet. Dagegen versucht Thomas Steinfeld, die privaten und historischen Aspekte zu würdigen: das Werk sei einerseits „ein luftiges Denkmal der Nähe wider die Zeit“, andererseits: „Eine Figur zieht sich durch das gesamte Werk: Es ist der Partisan.“[52] Wie in den letzten Jahren ist es immer noch möglich, von ‚zwei verschiedenen Handkes’ zu reden, wie das in der Welt geschah: Immer noch Sturm beweise zwar die „ungebrochene poetische Kraft“ des Autors, doch „spätestens mit seiner – mindestens geschmacklosen – Teilnahme am Begräbnis von Milošević 2006 hatte Handkes Selbstdemontage als Intellektueller einen Höhepunkt erreicht“.[53] Eine solche Kritik klingt aber recht harmlos, wenn man die Einschätzung des nachgeborenen (Jg. 1968) Germanisten Jurgen Brokhoff liest. Dieser sieht bei Handke eher eine Einheit: „Seine auf vermeintliche Nebensächlichkeiten ausweichende, literarische Mittel einsetzende Ideologie gehört, gerade weil sie so subtil verfährt, zu den problematischsten Entgleisungen eines deutschsprachigen Autors nach dem Zweiten Weltkrieg.“ Mit anderen Worten: Handke sei keineswegs naiv, sondern auf böswillige Art berechnend; von einem Autor „solchen Ranges“ könne „eine Gefahr“ ausgehen.[54] Dies ist sicher die kolossalste Überbewertung der Macht der Literatur seit geraumer Zeit. Darüber hinaus nimmt Brokoff überhaupt nicht wahr, dass Handke in puncto Jugoslawienkonflikt längst nicht mehr der vorbehaltslose ‚Serbenfreund’ von 1996 ist. Sigrid Löffler, die Handkes Laufbahn seit langem begleitet und den Autor auch öffentlich verteidigt hat,[55] erblickt in Immer noch Sturm ein „privates Mysterienspiel“ im Rahmen eines „Menschheitsdramas“. Es sei „Handkes persönlichster und autobiografisch aufgeladenster Text – jenes Werk, auf das die zahllosen Slowenien-Verweise in seinem Œuvre von Anbeginn an abzielten.“[56] Zusammenfassend muss man sagen, dass sich die kritische Auseinandersetzung mit – nicht die beweihräuchernde Bewunderung von – Peter Handke auf jeden Fall lohnt. Von denjenigen aber, die diese Auseinandersetzung aus der Welt schaffen wollen (wie etwa der Wiener Kolumnist Hans Rauscher, der sich dafür einsetzte, das Publizieren von Handkes politischen Stellungsnahmen zu verbieten — [57]), geht tatsächlich eine Gefahr aus.

Postskriptum

Am 12. August 2011 wurde Immer noch Sturm im Rahmen der Salzburger Festspiele auf der Perner-Insel in Hallein uraufgeführt. (Ursprünglich war eine Premiere am Wiener Burgtheater unter der Regie von Claus Peymann geplant.) Regisseur war der Bulgare Dimiter Gotscheff, und das Ensemble stammte vom Hamburger Thalia Theater. Als Begleitprogramm boten die Festspiele und das Stefan Zweig Centre Veranstaltungen zum Thema Slowenen/Slowenisch in Österreich. Jens Harzer, der die Rolle des „Ich“ im Drama spielte, las in der Edmundsburg aus dem Buch der Namen, das u.a. das Schicksal der Kärntner Slowenen im antifaschistischen Partisanenkampf dokumentiert.[58] Dies sollte offensichtlich viel mehr als ein Theaterereignis sein: Anvisiert war eher eine Verquickung von Geschichte, Kultur und Politik, und zwar erst wenige Monate nach der Einigung im Kärntner Ortstafelstreit, der über fünfzig Jahre dauerte. (Die ersten Ortstafeln wurden vier Tage nach der Urauffuhrung aufgestellt.) In einem Kommentar des Wiener Standard wurden Poesie und Politik direkt miteinander in Verbindung gebracht: „In Kärnten wird die Ortstafellösung gefeiert, bei den Salzburger Festspielen Peter Handkes Stück Immer noch Sturm. Bei beiden Inszenierungen geht es um die Bedeutung der slowenischen Minderheit in Österreich.“[59]

An dieser Stelle kann auf die Einschätzung von Gotscheffs Inszenierung nicht eingegangen werden, obwohl man anmerken kann, dass es sowohl Lob („Großes Gegenwartstheater auf der Höhe von Max Reinhardts Träumen“[60]; „Welttheater – in vielerlei Bedeutung des Wortes“[61]) als auch Tadel („Ein ambitioniert scheiternder Abend“[62]; „Eine Salzburger Urverhunzung“[63]) gab. Im Rahmen dieser Arbeit ist wichtiger, wie man Handkes Umgang mit der Geschichte beurteilte. Einerseits konnte man die Symbiose von „Geschichtsbeschreibung und Geschichtserträumung“ goutieren[64] oder sogar „die klugen geschichtspolitischen Gedanken Handkes“[65] preisen. (Eine solche Formulierung wäre in den 90er Jahren und lange danach schwerlich aufgetaucht.) Andererseits hörte man auch wohlbekannte Töne: „Um Aufklärung […] geht es nicht, sondern um den Vorrang poetischer Weltaneignung vor der Vernunft. […] Zweifel sind angesagt an der Möglichkeit zum Dichterfürstentum.“[66] Insgesamt gab es kaum Stimmen gegen Handkes Versuch, den Kärntner Slowenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Handke habe die Slowenen „zum Sprechen gebracht“[67], er richte unseren Blick zu Recht „auf einen blinden Fleck. Einen Fleck mitten in Europa“.[68] Woher diese Einhelligkeit? Wie oben geschildert wurde, gehörten die Slowenen fast immer – ob südlich oder nördlich der Karawanken – zu den Opfern der Geschichte. Ihre einzige ‚Aktion’ war der Kampf gegen die Nazis, etwas, was nur Ewiggestrige kritisieren würden. Man kann sich also reinen Gewissens für sie einsetzen. (Dass dieser Einsatz eine scharfe Kritik am Österreich der Nachkriegszeit einschließen muss, ist für manche Beobachter ein zusätzlicher Reiz.) Anders steht es um die Serben, die sich zwar auch – mit mehr Erfolg – gegen Hitler auflehnten, dafür aber in den Kriegen zur Zeit der Auflösung Jugoslawiens ihren ‚guten Ruf’ verspielten. Als sich Handke für sie einsetzte – zuletzt im Kosovo, wo die (wenn auch allmähliche) „Vernichtung einer Kultur“[69] auch zu registrieren ist, erntete er eher Unverständnis, wenn nicht Verleumdungen. Die Serben (wie übrigens auch die Deutschen und Österreicher) sind eben Opfer und Täter, und das macht den Umgang mit ihnen und ihrer Geschichte außerordentlich schwierig.

Nach der Uraufführung von Immer noch Sturm gab es Applaus, Begeisterung und gar Jubel, zumindest nach den Berichten der anwesenden Theaterkritiker. (Der Verfasser war leider nicht dabei.) Auch Peter Handke erschien auf der Bühne, und es ist faszinierend, wie sein Auftritt beschrieben wurde: Es war, „als wäre er befreit von schwerer Last“.[70] Für das Publikum sei Handke „wie der heimgekehrte verlorene Sohn“.[71] Er habe „ruhig, ja: heiter“ gewirkt.[72] Angesichts der zum Teil heftigen Kontroversen der letzten Jahre kommt das einem Wunder gleich. Ob sich die momentane Versöhnung zwischen Autor, Lesern/Zuschauern und Kritikern anhalten wird, lässt sich keinesfalls vorhersagen. Eines lässt sich jedoch feststellen: Wer das Wort „Heimat“ nur mit Glacéhandschuhen (wenn überhaupt) anfasst, wird wachsam auf Handkes nächsten Fehltritt warten.[73] [Nach der Fertigstellung der vorliegenden Arbeit erschien ein weiteres Handke-Werk zu dieser Thematik, das leider nicht mehr berücksichtigt werden konnte: Die Geschichte des Dragoljub Milanovic. Salzburg: Jung und Jung Verlag, 2011].

Endnoten

1 Peter Handke, Die Kuckucke von Velika Hoča. Eine Nachschrift (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009), 90. Weitere Seitenangaben im Text der Arbeit.

2 Peter Handke, Immer noch Sturm. (Berlin: Suhrkamp, 2010), 104. Weitere Seitenangaben im Text der Arbeit.

3 Peter Handke, Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000).

4 Peter Handke, Rund um das große Tribunal (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003). Vgl. dazu Jay Rosellini, „’Das Handwerk des Berichtens’: Die Medienkritiker Handke und Gstrein als Balkan-Kundschafter“, Glossen 21 (2005). [http://www2.dickinson.edu/glossen/heft21/rosellini.html]

5 Peter Handke, Die Tablas von Daimiel: ein Umwegzeugenbericht zum Prozess gegen Slobodan Milošević (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006).

6 Peter Handke, Die Morawische Nacht. Erzählung (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008). Vgl. dazu Jay Rosellini, „Die Literaten und die Auflösung Jugoslawiens: Noch einmal zu Handke und Gstrein” Glossen 29 (2009). [http://www2.dickinson.edu/glossen/Heft29/Artikel29/Rosellini-Handke-Gstrein.html]

7 Zu diesem Ereignis vgl. u.a. folgende Berichte und Kommentare: Caroline Fetscher, „Ratko Mladić: Der
Mördergeneral“, Der Tagesspiegel, 27. Mai 2011; Andrej Ivanji, „Das Ende einer jahrelangen Flucht“, Der Standard, 27. Mai 2011; Thomas Mayer, „Wandel durch Annäherung“, Der Standard, 28./29 Mai 2011; das Dossier „INTERNATIONALE STRAFGEREICHTSBARKEIT“, Der Standard, 4. Juli 2011; „Mladić weist alle Vorwürfe zurück“, Frankfurter Rundschau, 3. Juni 2011; „Wir haben nichts zu verbergen“ [Gespräch mit dem serbischen Präsidenten Boris Tadić], Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Juni 2011; Michael Martens, „Die bosnische Banalität des Bösen“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Mai 2011.
Nach der Festnahme Mladićs konnte auch der angeblich letzte gesuchte Serbe, Goran Hadžić, verhaftet und nach Den Haag gebracht werden. Vgl. Adelheid Wölfl, „Serbien stellt Den Haag zufrieden“, Der Standard,
21. Juli 2011. Präsident Tadić betonte, Serbien habe nun seine „moralischen Pflichten“ erfüllt.

8 Vgl. “Beitrittsverhandlungen mit Serbien ab März 2012“, Der Standard, 2./3. Juli 2011.

9 Vgl. Thomas Roser, “Kosovo-Serbien: Ende der Eiszeit“, Die Presse, 3. Juli 2011.

10 Ein Video findet sich auf Djokovićs eigener Webseite (http://www.novakdjokovic.rs)

11 Thomas Roser, “Serben feiern ihren Sieger: ‚Djoković for president’“, Die Presse, 4. Juli 2011. In der Politik ist alles freilich etwas komplizierter als auf dem Tennisplatz: Als ein kanadischer Tournee-Sprecher den Serben als „Kroaten“ vorstellte, regte er sich nicht auf (vgl. „Novak Djoković: ‚Croate or Serb – it’s the same thing“ – http://www.youtube.com/watch?v=pHxsHShCb5w&feature=related), aber er hat vor heimischem Publikum betont, dass Kosovo ein Teil Serbiens ist (vgl. „Novak Djoković – Kosovo is Serbia“ – http://www.youtube.com/watch?v=5oBg9FyX00k&feature=related). Djokovićs Vater stammt aus dem Kosovo, nahe Kosovska Mitrovica – einer Gegend, die Handke gut kennt.

12 Vgl. Olivier Guez, „Wachtraum vom Vielvölkerstaat. Eine Reise in die Jugosphäre“, FAZ, 7. Juli 2011. Eine solche Sehnsucht wäre durchaus im Sinne Handkes, aber ihn dürfte betrüben, dass die Literatur seit der Auflösung Jugoslawiens eher ein Nebenschauplatz geworden ist. Vgl. Norbert Mappes-Niediek, „Literatur in Ex-Jugoslawien. Der Geist weht frei, aber schwach“, Frankfurter Rundschau, 24. Juni 2011. Mappes-Niediek berichtet auch von den gescheiterten Versuchen, Sprachbarrieren aufzubauen.

13 Die gewalttätigen Auseinandersetzungen im August 2011 an der Grenze zwischen Serbien und dem Kosovo veranschaulichen, wie sehr alles noch im Fluss ist. Vgl. Andrea Mühlberger, „Ausschreitungen im Kosovo. Hürden auf dem Weg zum friedlichen Zusammenleben,“ ARD-Bericht vom 29. Juli 2011. http://www.tagesschau.de/ausland/kosovo492.html; Andrej Ivanji, “Serbien kritisiert NATO und EU”,
Der Standard, 1. August 2011; Karl-Peter Schwarz, “Kosovo-Krise. Altbekanntes einmal anders”, FAZ, 31. Juli 2011.

14 Vgl. Erich Wiedemann und Renate Flottau, „Back to the Balkans. Serbia’s Darkest Year“, Spiegel Online, 13, Juli 2006. (>http://www.spiegel.de/international/spiegel/0,1518,426518,00.html<). Der Titel des deutschen Originals klang noch düsterer: “Serbien: Absturz in die Hölle“, Der Spiegel 28/2006.

15 Man vergesse aber nicht, dass Handke einst zwar gegen die “Rotten der Fernfuchtler” wetterte, gleichzeitig jedoch beteuerte: “Nichts gegen so manchen – mehr als aufdeckerischen – entdeckerischen Journalisten, vor Ort (oder besser noch: in den Ort und die Menschen des Orts verwickelt), hoch diese anderen Feldforscher!” Aus: Peter Handke, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996), 122. Der ‘Journalist’ Handke rechnet sich zweifellos zu Letzteren.

16 „[…] ein einziges Wundern, daß das nicht auch schon in der Zeit vorher so hätte sein konnen […]“. (26)
Hier erlaubt es sich der Dichter Handke, Politik und Geschichte auszuklammern. Das darf man sicherlich beklagen oder als Naivität abtun, aber den Dichtern – anders als den politischen Kommentatoren – sollte solches Träumen gegönnt sein, zumindest in der Literatur.

17 Im Spiegel war von „gewaltsamen Übergriffen von Kosovo-Albanern“ die Rede (vgl. „Unruhen im Kosovo“, Spiegel Online, 26. Juli 2004 [>http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,310541,00.html<]).
Jenseits von Geschichte und Politik erwähnt Handke – kaum zufällig – die „Süßigkeiten […], für welche die albanischen Zuckerbäcker einmal über die Grenzen Jugoslawiens hinaus bekannt gewesen waren“ (57).
Er versäumt es auch nicht, das albanische Wort für Kuckuck („qyqe“) anzugeben (55). Als einer, der sich für die Sprache von Minderheiten einsetzt (Paradebeispiel: das Kärntner Slowenisch) ist schon die bloße Erwähnung eines albanischen Wortes ein Zeichen von Respekt vor der albanischen Kultur.

18 Vgl. “Nach schweren Unruhen im Kosovo: ‚Wir räumen mit denen auf’“, Süddeutsche Zeitung, 18. März 2004. In diesem Artikel steht auch, dass serbische Extremisten in Belgrad und Niš „die letzten Moscheen“ demoliert hätten.

19 Vielleicht ist es aber auch so, dass Handke das heikle Thema “Großserbien” nicht anfassen wollte.

20 Noch ein Beweis dafür ist die Tatsache, dass serbische Wahlplakate ohne Kommentar beschrieben werden – vielleicht deshalb, weil die eine Variante, nämlich „Serbien zuerst!“ [34], Erinnerungen an den verstorbenen österreichischen Politiker Jörg Haider wachrufen müsste, dessen Spruch „Österreich zuerst“ lautete. (Es braucht kaum hinzugefügt zu werden, dass Handke kein Haider-Freund war.)

21 Nebenbei erwähnt Handke, „jemand“ habe ihm erzählt, dass das Fehlen der Kuckucke in nördlicheren Regionen mit dem Klimawandel (er sagt „Klimaerwärmung“) zusammenhänge. (89) Dies sei noch eine Hypothese, betont der Nabu-Vogelschutzexperte Markus Nipkow. Vgl. Hanno Charisius, „Der Kuckuck kommt zu spät“, Süddeutsche Zeitung, 10. April 2008.

22 Handke postuliert, einem Journalisten würden die Albaner sagen, sie würden „das befeindete Volk des benachbarten Enklavendorfs […] im Rahmen des Beieinander in einem großen Europa“ gelten lassen. (57)
Der Traum von EU-Geldern deutet darauf hin, dass die Konflikte weniger auf ethnische Unterschiede als auf Armut zurückzuführen sind.

23 Dieses Detail wäre ein guter Gegenstand für die Rezeptionsforschung: US-amerikanische Leser, die fast nur noch Brotfabriken kennen, würden sich fragen, warum es überhaupt erwähnt wurde.

24 Im Juli 2011 wurde der niederländische Staat zu Schadensersatzzahlungen verurteilt. Vgl. Helmut Hetzel, „Srebrenica: Niederlande verurteilt“, Die Presse, 5. Juli 2011.

25 Handke wirft den Journalisten vor, jedes gegen Serben verübte Unrecht durch den Gebrauch des Wortes “angeblich” in Zweifel zu stellen. Vgl. Die Kuckucke …, S. 10.

26 Es ist auch nicht Handke, der dieses Wort in den Mund nimmt, sondern einer der „jungen Freiwilligen aus Mitteleuropa“ (95).

27 Lothar Müller, “Die Kino-Klappsitze im Container ‚Rambouillet’“, Süddeutsche Zeitung, 11. März 2009.

28 Michael Martens, “Zum Balkan mit dem Kuckuck“, FAZ, 16. März 2009.

29 Helmut Böttiger, „Sehnsucht nach dem mythischen Kindheitsland“, >http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/946200/<.

30 “Die Kuckucke von Velika Hoca. Zwiegespräch mit den Bewohnern“, ORF-Rundfunksendung vom 3.Mai 2009. >http://oe1.orf.at/artikel/214859<

31 Der Satz bezieht sich auf eine trickreiche SPIEGEL-Reporterin, die sich als „christlich-albanische Sympathisantin“ in die Enklave einschlich und Fotos machte, um dann von einem “Hort von Kriegsverbrechern” zu berichten. (92)

32 Helke Sander (Reg.), REDUPERS. Die allseitig reduzierte Persönlichkeit, Spielfilm, BR Deutschland, 1977.

33 Dies wünscht er sich freilich nicht zum ersten Mal. Handke betont das selbst: „”Aber das habe ich im Roman ,Die Wiederholung’ doch längst getan. Und im Stück ,Über die Dörfer’ natürlich auch. Unter-schwellig schwingt meine Familiengeschichte immer schon mit…” Aus: „Treffen im Traumreich der Sprache. Peter Stephan Jungk spricht mit Peter Handke über Obst, Familie und über Handkes großes neues Stück Immer noch Sturm“, Die Welt, 23. Oktober 2010. Online unter >http://www.zeitzug.com/index.php?option=com_content&view=article&id=890&Itemid=267<

34 Der heutige Kinogänger kann nicht umhin, bei dieser Beschreibung an die “Hobbits” aus der Herr-der-Ringe-Trilogie zu denken.

35 Der Großvater bringt es auf den Punkt: „In unserem Haus keine Geschichte!“ (108) Er war im Ersten Weltkrieg an der Isonzo-Front im Einsatz, und das hat ihm – verständlicherweise – gereicht.

36 Vor ihrem Tod gesteht Ursula, dass Sie nicht zum Kämpfen geeignet ist (“[…] dort, wo getötet wird, gleichwie, gehöre ich nicht hin. Das ist nicht meine Welt.“ – 112), obwohl sie früher beteuert hat, als
Partisanin habe sie einen Platz bei der „Vorhut“ der Geschichte (96). Als ‚fromme Partisanin’ („Wenn ich unsere Partisanenlieder singe, habe ich zugleich einen Rosenkranz zwischen den Fingern.“ – 114) erinnert sie einen an Wolf Biermanns Oma Meume, die einst für den Sieg des Kommunismus betete. Ihr Bruder Valentin will mit den Partisanen nichts zu tun haben („[…] Undeutsche Umtriebe? Im Handumdrehen ausgetrieben […]“ – 82), und die „Mutter“ bleibt auch skeptisch (vgl. S. 89). Es kann also nicht behauptet werden, Handke hätte seine ganze Familie als ‚Heldengeschlecht’ glorifiziert.

37 Vgl. dazu Georg Pichler, Die Beschreibung des Glücks: Peter Handke; Eine Biographie (Wien: Ueberreuter, 2002), 16. In Immer noch Sturm überlebt Gregor den Krieg, Ursula nicht. Eigentlich überlebte Ursula, nicht ihr Bruder.

38 Im Stück wird eine potentielle neue Heimat kärntnerisch-slowenischer Aussiedler als „Neujaunfeld“ oder „Nova Podjuna“ bezeichnet (88).

39 Zu seiner Sonderstellung in der Jugend hat Handke Folgendes erzählt: „Die slowenischen Jungen schlossen sich zusammen und sprachen untereinander slowenisch, und ich kam auch aus einer slowenischen Familie, beherrschte die Sprache aber nicht.“ Aus: Thomas Steinfeld, „Im Gespräch – Peter Handke: Du mit deinem Jugoslawien“, Süddeutsche Zeitung, 27. November 2010.

40 Handke will aber schon vorführen, was er kann. Gregor/Jonatan erinnert seinen Vater daran, dass er und die anderen Kinder nicht „ich“ sagen sollten. Das „Ich“ sei „in der Endung des Zeitworts“ versteckt. (105f.)
Im Slowenischen werden die Personalpronomen im Präsens normalerweise ausgelassen. Das gilt für alle Pronomen, aber das Verschwinden des „Ich“ soll wohl andeuten, dass die Gemeinschaft in dieser Kultur (und auch noch bei den Partisanen) wichtiger als das Individuum war bzw. ist,

41 Am Ende der Winterlichen Reise wird der Sinn dieser Methode erörtert: Der Autor glaubt, „daß gerade auf dem Umweg über das Festhalten bestimmter Nebensachen, jedenfalls weit nachhaltiger als über ein Einhämmern der Hauptfakten, jenes gemeinsame Sich-Erinnern, jene zweite, gemeinsame Kindheit wach wird.“ (134) Damals regten sich viele Kritiker darüber auf, dass Handke zu Kriegszeiten Details wie die „andersgelben Nudelneste[r]“ (71) in Serbien erwähnte.

42 Das “Ich” behauptet zwar, er könne “die Vaterlosigkeit nur empfehlen“ (156), aber das klingt – trotz des Vergleichs mit Parzival, der ohne seinen Vater Gahmuret aufwachsen musste – nicht sehr überzeugend bzw. überzeugt. Gahmurets Abenteuer als Ritter waren auch eine andere Erbschaft als die Teilnahme von Handkes Vater am Zweiten Weltkrieg.

43 In deutscher Übersetzung heißt der Titel von Thomas Wolfes erstem Roman Look Homeward, Angel (1929) Schau heimwärts, Engel. In Wunschloses Unglück erwähnt Handke, er habe mit der Mutter zusammen Wolfe gelesen. Vgl. Peter Handke, Wunschloses Unglück (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974), 67.

44 Der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein hatte bereits 2008 in einem Interview davon geredet. Vgl. „Eine Figur, die sich verrannt hat“ [Gunther Nickel interviewt Norbert Gstrein], 21. August 2008.
Online: > http://volltext.net/magazin/magazindetail/article/4492/< Gestrein sprach damals von einer „Don-Quichotterei von einem der ganz großen deutschsprachigen Schriftsteller“. Vgl. dazu auch Harald Klauhs, „Die toten Augen auf dem Tisch“, Die Presse, 15. August 2008. Darin sagt Gstrein: „Handke, das meine ich nicht denunziatorisch, hat etwas von einem Märchenerzähler gehabt, Jugoslawien ist für ihn ein Sehnsuchtsland gewesen, und er hat den Jugoslawen nicht verziehen, dass sie ihm dieses Sehnsuchtsland in der Realität zerschlagen haben.“

45 Malte Herwig, Meister der Dämmerung. Peter Handke: Eine Biographie (München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2011), 280ff. Vgl. den Auszug „Peter Handkes Besuch bei Radovan Karadzic. Die Gedichte des Dr. K.“, FAZ, 29. Oktober 2010.

46 Lothar Müller, “Peter Handke. Neue Biographie. Winterliche Reise zum Tyrannen“, Süddeutsche Zeitung, 30. Oktober 2010.

47 Ulrich Greiner, “Eine herbstliche Reise zu Peter Handke nach Paris“, Die Zeit, 48/2010 (1. Dezember).

48 Malte Herwig, Meister der Dämmerung, a.a.O., 282. Es handelt sich um einen Brief aus dem Gefängnis von Den Haag vom 30. November 2009. (Vgl. Herwigs Anmerkung 123, S. 353.)

49 Thomas Assheuer, “Besuch bei Karadzic. Eskort-Service. Warum besucht ein Suhrkamp-Lektor einen Massenmörder?“, Die Zeit, 45/2010 (4. November). Der „Höhepunkt des konspirativen Treffens“ war laut Assheuer die Verleihung des Ordens.

50 Thomas Steinfeld, „Du mit deinem Jugoslawien“ (s. Anm. 39).

51 Hubert Spiegel, „Enkel Lear auf der Wunschtraumheide”, FAZ, 5. November 2010.

52 Thomas Steinfeld, “Ein luftiges Denkmal der Nähe wider die Zeit. Poetischer Partisan gegen den Teufel der Geschichte“, Süddeutsche Zeitung, 18. November 2010.

53 anon., “Handke und die Reise zu dem Kriegsverbrecher Karadzic”, Die Welt, 31. Oktober 2010. Dem Artikel sind zahlreiche Fotos vom Massaker in Srebrenica beigefügt.

54 Jürgen Brokoff, “Peter Handke als serbischer Nationalist – Ich sehe, was ihr nicht fasst“, 15. Juli 2010. Dieser Artikel erschien vor der Veröffentlichung von Vor dem Sturm. Die wohl schärftse Replik auf Brokoffs Urteil stammt von Hans-Dieter Schütt: „Ja, von diesem Dichter geht Gefahr aus. Die FAZ warnt vor Peter Handke“, Neues Deutschland, 14. Juli 2010. Schütt kann „Unmut unter diensthabenden Moralisten“ nicht ertragen, und „der einseitige westliche Blick auf die serbisch-kroatischen Spannungen, das zweierlei Maß im Umgang mit etwa Milošević und Tudjman“ ist ihm (und Handke) zuwider.

55 Vgl. z.B. ihre Stellungnahme zur Kontroverse um die Aberkennung des Heine-Preises: Jean-Pierre Lefèbvre und Sigrid Löffler, „Handke und kein Ende. Warum wir aus der Jury des Heinrich-Heine-Preises austreten“, Süddeutsche Zeitung, 2. Juni 2006. Darin heißt es: „Peter Handke ist einer der bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Das Programm seines Lebens ist zugleich das Gesetz seines Schreibens: die Arbeit an einer bewussten Blickänderung auf die Welt. In seinen Balkan-Texten prallt dieser Anspruch des Andersdenkens und Andersschreibens seit jeher auf den formierten journalistischen Konsens darüber, wie die jugoslawischen Sezessionskriege zu sehen und zu beurteilen seien. Entgegen diesem Konsens hält Handke daran fest, dass die Auflösung Jugoslawiens nicht die Lösung des Problems ist, dass darin vielmehr ein Verlust liegt, der auch benannt werden darf. Aber eben diese hartnäckige Abweichung eines einzelnen Schriftstellers will man nicht dulden.“

56 Sigrid Löffler, “Peter Handke – Immer noch Sturm“, Sendung im Kulturradio rbb vom 11, Oktober 2010.
Online: >http://www.kulturradio.de/rezensionen/buch/2010/peter_handke___immer.listall.on.printView.true.html<
Auch Malte Herwig spricht von einer gewissen Kulmination: „Das Werk hat lange Wurzeln. Den Titel hat Handke sich bereits vor 20 Jahren in seinem Tagebuch vorgemerkt.“ Aus: „Peter Handke. Stille Post vom toten Paten“, Die Zeit 39, 2010 (23. September).

57 Vgl. Hans Rauscher, “Verbotsgesetz für Peter Handke?”, Der Standard, 14. Juli 2005. Darin vergleicht er Handke mit den „nicht wenigen westeuropäischen Autoren […], die Stalin und (in viel geringerem Ausmaß) Hitler auf den Leim gegangen sind“. Die Standard-Leser, die Rauschers Artikel kommentierten, trugen zu einer notwendigen Diskussion bei, die von einem Verbot abgewürgt worden wäre.

58 Das Buch der Namen. Die Kärntner Opfer des Nationalsozialismus, hrsg. von Wilhelm Baum, Peter Gstettner, Hans Haider, Vinzenz Jobst und Peter Pirker (Klagenfurt: Kitab, 2010). Das Lesen von Namen ist eine bekannte Praxis bei Holocaust-Gedenkveranstaltungen. Zur Salzburger Reihe „Jenseits der Grenze“ vgl. Norbert Mayer, „Salzburger Festspiele: Peter Handkes tiefe Wurzeln“, Die Presse, 15. August 2011 und Christian Weingartner, „Wider das Vergessen“, Der Standard, 16. August 2011.

59 Alexandra Föderl-Schmid, “Angekommen im eigenen Land”, Der Standard, 17. August 2011.
Interessanterweise erschien ein paar Wochen vor der Uraufführung ein Buch über die Legende um den Wehrmachtssoldaten Josef Schulz, der sich geweigert haben soll, jugoslawische Partisanen zu erschießen. Vgl. Michael Martens, Heldensuche. Die Geschichte des Soldaten, der nicht töten wollte (Wien: Paul Zsolnay, 2011). In einem Interview sagte Martens dazu: „Der Balkan ist in der Erinnerung der Deutschen an den Zweiten Weltkrieg ein Nebenkriegsschauplatz.“ Die Erinnerung der Österreicher sieht sicher anders aus. Vgl. Rüdiger Rossig, „Wehrmachtslegende in Serbien“ [Interview mit Michael Martens], TAZ, 27. Juli 2011.

60 Ronald Pohl, “Handkes große Bühnenpoesie”, Der Standard, 13. August 2011.

61 “Nachtkritik: Immer noch Sturm”, Salzburger Nachrichten, 13. August 2011.
Online: >http://www.salzburg.com/online/thema/schauspiel/Nachtkritik-Immer-noch-Sturm.html?article=eGMmOI8V66bEjr19ORYrPkwDWHQDiklsxPh5nug&img=&text=&mode=&<

62 Hartmut Krug, “Wichtigtuer auf dem Schnipselteppich“ Deutchlandradio Kultur, Sendung vom 12. August 2011, 23.05 Uhr. Online: > http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/1529728/<

63 Ulrich Weinzierl, “Gerechtigkeit für Peter Handke!”, Die Welt, 15. August 2011.

64 “Nachtkritik”, a,a,O. (s. Anm. 61).

65 Karin Fischer, “Selbsterforschung im Bühnenformat”, Deutschlandradio Kultur, 13. August 2011.
Online: > http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/1528685/<

66 Uwe Mattheiss, “Wahrheit liegt im Schmerz”, TAZ, 15. August 2011.
Auf dem gleichen Gelände bewegt sich Gerhard Stadelmeier: „Handke hat in seinen Büchern und Theaterstücken der Welt bisher immer seine heilende Weihe-Hand aufgelegt, wobei dann aus dem völkermörderischen Jugoslawien schon mal die allerheiligste Nation werden konnte.“ Vgl. G.S., „Vorfahrtsregelung fur Vorfahren“, FAZ, 16. August 2011.

67 Hans Haider, “Die Slowenen zum Sprechen gebracht”, Wiener Zeitung, 15. August 2011.

68 Peter von Becker, “Seine Toten leben länger”, Der Tagesspiegel, 15. August 2011.

69 Diese Worte benutzte Regisseur Gotscheff im Hinblick auf Immer noch Sturm. Vgl. „Halb Traumspiel, halb Autobiografie“, Kulturzeit heute, Sendung von 3sat, 12. August 2011. Online: >http://www.die-schönsten-opern-aller-zeiten.de/page/?source=/kulturzeit/specials/156053/index.html. Das Video – bei dem auch Handke auftritt – findet man unter >http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=26354<.

70 Norbert Mayer, “’Immer noch Sturm’: Handkes poetische Familiensage”, Die Presse, 14. August 2011.

71 Dirk Pilz, “Es fällt kein Apfel weit vom Stamm”, Neue Zürcher Zeitung, 15. August 2011.

72 Ronald Pohl, “Der rasende Sippen-Kaspar” [!], Der Standard, 16. August 2011.

73 Zwei Vertreter dieser Spezies sind unter den Theaterkritikern zu finden: „’Immer noch Sturm’ ist, wieder einmal, ein hyperpersönliches Handke-Heimatstück.“ Aus: Dirk Pilz, „Kein Vorwärts, kein besser.“ Frankfurter Rundschau, 15. August 2011. Oder so: „[…] die – darf man das so sagen? – Heimaterde im Kärntner Jaunfeld […]“ Aus: Uwe Mattheis, „Wahrheit liegt im Schmerz“, a.a.O. (s. Anm. 66). Ja, das Wort Heimat darf (d.h.: sollte) man verwenden – gerade als eine(r) mit einem ‚progressiven’ Weltbild. Dass Heimatliebe nicht mit Fremdenfeindlichkeit einhergehen muss, versteht sich von selbst.

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Nov 21 2011

Nyk de Vries

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Prosagedichte/ Ultra short stories

Lippenherpes

Das Schlimmste wird immer von etwas noch Schlimmerem überschattet. Nachdem ihr Bein abgefahren worden war, hörte man von Hansina kein Wort mehr über ihren Lippenherpes. Aber das Jammern ist in ihrem Fall eine Familienkrankheit, und als ich sie in den Alpen die Pfade hochschob, sah ich, wie ihre Hand doch wieder Richtung Mund fuhr. Blitzschnell machte ich einen Sprung nach vorne, und ehe ich mich versah, küssten wir uns so heftig, wie ich noch nie zuvor einen Menschen geküsst hatte. Ein besonderer Augenblick, der uns leider vermiest wurde, da im selben Moment Jesus Christus auf Erden wiederkehrte.

Gemüsekarren

Es war früh am Morgen. In der Ferne sah ich ein großes schwarzes Kreuz, aber als ich mit meinem Fahrrad fast dagegen geknallt war, war’s nur ein verkohlter Baum. Ich setzte mich, nahm eine Flasche Fanta hervor, mein Lieblingsgetränk, und nach etwa einer Viertelstunde sah ich, dass ein kleines Wägelchen herannahte. Es war ein Gemüsekarren. Der Lenker hielt an, stieg ab und schmiss den Inhalt, Blumenkohl, Rüben, Paprika und Salatköpfe samt und sonders in den Wassergraben. Verdutzt schaute ich zu, obwohl ich durchaus verstand, was sich da tat. Ich kannte es von einem Freund aus dem Showbizz. Man entwickelt einen Hass auf alles, was man verkauft.

Zimmer

Es gab ein Zimmer in einer Stadt, um das ich mich immer herumschlich. Es lag in der Nähe meiner Liebsten. Sie wusste nicht, dass ich dort manchmal die Treppe hochstieg. An der Wand hingen Fotos aus der Vorkriegszeit. Ich sprach einmal mit einem alten friesischen Schriftsteller darüber. Der sagte: ‚Ich kenne das Zimmer, ich sollte es mir eigentlich mal wieder ansehen, aber so weit wirds wohl nicht mehr kommen, fürchte ich.’ Er hatte recht. Er starb während der Olympischen Spiele. Das Zimmer gibt es immer noch – die Treppe hoch, links in den Gang. Jeder kann sich wohl mehr oder weniger ausdenken, was alles darin herumsteht.

Szene

Architekten verteidigen Architekten. Anwälte verteidigen Anwälte. Stenotypisten verteidigen Stenotypisten. Künstler verteidigen Künstler. Ich verteidigte dich, bis wir uns trennten, du dich mit einem Stuckateur davonmachtest und wir in unterschiedliche Lager gerieten. Ich war am Boden zerstört, aber wollte doch auch die Welt sehen. Ich bemerkte Unterschiede und verstand auf einmal, warum überall im Lande die gleichen Häuser standen, die Strassen voll waren von den gleichen Autos, die Festivals voll von den gleichen Festzelten. Ich zog es vor, das Verteidigen fortan sein zu lassen. Ich nahm die Abzweigung und verließ die friesische Subventionsszene.

Karneval
Ein dunkler Wagen fuhr heran und ein kleines Mädchen stieg aus. Man reichte ihr ein Täschchen und fröhlich, als kleiner Clown verkleidet, hüpfte sie über den Schulplatz. In der Schule stellte sich heraus, dass Karneval erst nächste Woche war. Das Mädchen war als einziges geschminkt und weinte den ganzen Morgen bitterlich. Gegen drei Uhr holte die Mutter sie wieder ab und erschrak heftig, als sie von der Sache hörte, und ausführlich und mit Tränen in den Augen erzählte sie, was alles an dem Morgen bei ihr schief gelaufen war. Vielleicht hätte sie besser geschwiegen. Dinge erklären, das können wir ja alle bestens.

Buch

Ich hatte das Buch sicher tausend Mal gelesen. Wortwörtlich. Tausend Mal. Es war viel Arbeit. Ich kannte es in- und auswendig. Und doch war ich unfähig, meinem Bruder, als er zurückkam und wir alle gemeinsam am kleinen runden Tisch im Hinterzimmer saßen, irgendwas darüber zu erzählen. Es war eine so seltsame Atmosphäre. Wenigstens keine Atmosphäre, die sich zum Erzählen eignete. Ich trödelte zwischen Tisch und Küche hin und her. Endlich verzog ich mich auf mein Zimmer. Ich legte meinen Kopf aufs Kissen und las das Buch noch einmal.

Belgien

Ich verließ Familie und Freunde, um in Belgien die Segel voll auf Erfolgskurs zu setzen, zusammen mit meiner lieben Wendelin. Das Ergebnis war ehrlich gesagt recht enttäuschend, und schon bald verlor unsere Liebe jeglichen Glanz. Zuletzt befanden wir uns in einer Kartonfabrik, wo der Chef es deutlich auf meine Wendelin abgesehen hatte. Ich war nicht mehr ich selbst, da im Belgischen, und versetzte ich ihm in einer Pause mit der Heugabel einen knallharten Schlag in den Rücken. Andere sagten später: ‚Diese Heugabel, die hätte dort so gar nicht herumstehen dürfen.’

Motormann

Er fuhr ständig auf seinem Motorrad umher, und ich wusste nie, was ihm alles durch den Kopf ging. Eines Tages folgte ich ihm bis zu seiner Waldhütte. Ich lief darauf zu und stieß die Tür auf. Vor mir ausgestreckt auf dem Holzboden lag der Motormann. Er blickte hoch, erhob sich langsam und starrte mich mit einem seltsam erröteten Kopf an. Ich wollte etwas sagen, aber bevor ich mich gesammelt hatte, war der Motormann schon verschwunden und ließ sich niemals wieder blicken. Ich zog in seine Klause ein und blieb da insgesamt zwanzig Jahre wohnen. Es ist schon wahr, wenn man sagt: jede neue Wohnung sollte besser sein als die vorherige.

Übersetzung: Ard Posthuma

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