Archive for July, 2020

Jul 12 2020

From Time to Time: Berliner Plauderbrief

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From Time to Time

History does not repeat itself,
But it certainly likes to rhyme.

 

Landestrauer

 

von Alfred Kerr

11. August 1901

 

Die zweite Kaiserin des neuen Reiches ist in das unentdeckte Land gezogen, aus dess’ Bezirk kein Wandrer wiederkehrt.[1] Berlin steht im Eindruck dieses schmerzlichen Vorgangs; und die Stimmung wird wohl auch draußen die gleiche sein. Die Verstorbene hat eine gesonderte Stellung eingenommen, was das innere Verhältnis der Nation zu ihr betrifft. Ihr gegenüber waren die Gefühle nicht alltäglich: sie hatte besonders glühende Verehrer, und es gab andererseits Leute, die sie mit Nachdruck befehdeten. Aber beides, die große Zuneigung und die stille Abneigung, floss zuletzt ineinander in einziges Gefühl der Ehrfurcht vor den tiefen Schmerzen, die sie erfahren. Da wurden alle einig. Sie war die Kaiserin der Schmerzen.

Es ist hier auf zwei Parteien angespielt worden. Es ist nicht einzusehen, warum am Sarge einer so klugen Frau diese Dinge nicht erörtert werden sollten, da sie doch in der Wirklichkeit einmal bestanden haben. Die zwei Parteien sind nicht als politische Fraktionen gesondert. Dennoch spielen selbstverständlich politische Motive hinein. Man weiß, daß die Anhänger einer freiheitlichen Weltanschauung besonders viel von Friedrich III. und seiner Gemahlin erwarteten. Aus diesem Grunde wurde die tote Kaiserin, die vielleicht in der Ehe der entschlossenere Teil war, von einem verhältnismäßig kleinen Schwarm auf den Schild erhoben. Auf der anderen Seite standen Die, welche aus dem gleichen Grunde ängstlich waren. Sie sahen vor allem in ihr die Britin. Ich entsinne mich aus meiner Studentenzeit, welche Äußerungen man damals hören konnte, als die Kronprinzessin den Kaiserthron bestiegen hatte. Ich war oft genug verwundert. Besonders aber, als meine alte Wirtin eines Tages vor mich hin trat und ihrem Herzen Luft machte. Ich weiß nicht, welche Zeitungsnachricht sie gelesen hatte. Die Frau war sonst von friedlichem Charakter, und ich hatte niemals Exzesse an ihr bemerkt. Aber jetzt legte sie los – mit einer verblüffenden Leidenschaft. Ich erlebte denselben Vorgang anderwärts. Immer galt die gekrönte Frau als Engländerin, nur als Engländerin. Und das, scheint mir, war ein Unrecht.

Die Kaiserin Viktoria hat ihre Pflicht gegen das deutsche Volk niemals versäumt. Gewiß war sie in England geboren und groß geworden. Sie hat bis in die späte Zeit hinein eine Vorliebe für ihr Vaterland und seine Bewohner bewahrt, – aber das ist kein Verbrechen; es ist ein natürlicher Zug, und man hätte nur dann Grund gehabt, sich darüber zu beklagen, wenn es uns Nachteile geschafft haben würde. Wir Deutsche haben leider den Drang, in fremden Ländern allzuleicht die Heimat zu verleugnen, – das ist hundertmal gesagt und gedruckt worden, und vielleicht sind wir in Folge dessen heut auf dem Wege der Einkehr und lassen unsere Nationalität nicht so leicht fahren. Man soll aber auch Anderen keinen Vorwurf machen, wenn sie die ihrige nicht ohne Weiteres preisgeben. Wir würden es der Schwester des gegenwärtigen Kaisers sehr verargen, wenn sie in Griechenland Preußen vergäße! Und was würden wir von der schönen Frau auf dem russischen Thron denken, wenn sie für immer ihre holde Darmstädter Jugend zum alten Eisen werfen wollte? Beide haben Pflichten in dem neuen Lande und gegen das neue Volk, und diese Pflichten müssen sie freudig erfüllen. Die verstorbene Kaiserin hat sie erfüllt. Sie hat auf deutschem Boden die höchsten Höhen und die tiefsten Tiefen ihres Empfindens durchlebt, und sie wird in deutscher Erde schlafen. Sie ist eine Deutsche – von englischer Abkunft. Heute, wo die Leidenschaften schweigen und die Herzen milder urteilen und die Augen freier sehen, heute wird ihr kein alter und kein junger Heißsporn mehr grollen, daß sie die Anhänglichkeit an ihr Geburtsland nicht verlor.

Die Beisetzung der Kaiserin Friedrich am 13. August 1901 in Potsdam.
Zeichnung für die Illustrierte „Die Woche“ von Paul Brockmüller. 

Auch das wird kein Heißsporn mehr bemängeln, daß sie auf eigene Hand Bismarcks äußere Politik durchkreuzt habe. Zunächst ließ er sich nicht so leicht was durchkreuzen. Und zweitens, ist es nicht ungerecht, gerade der Kaiserin Friedrich und ihr allein wegen solchen Einmischens Vorhaltungen zu machen? In der Zwischenzeit sind Bismarcks Memoiren erschienen, worin er schildert, wie der große Kampf seines großen Lebens durch die alte Kaiserin Augusta erschwert wurde, wie er fast das halbe Maß seiner Energie darauf verwenden mußte, ihre Einmischung, ihre abweichenden Ziele zu bekämpfen. Mehr hat auch die Kaiserin Friedrich nicht getan. Wahrscheinlich sogar weniger.

Aber noch einmal: es ist fast unnütz, diese gescheite und edle Frau noch gegen irgendjemand heute zu verteidigen; denn nicht erst ihr Tod – die ganzen dreizehn Jahre und ihr gehäuftes Leid haben rauhe und zweifelnde Patrioten verstummen lassen und versöhnt. Wenn sie heut in unserem Gedenken vor allem als die Trösterin und Gefährtin des heimgegangen Frühlingskaisers dasteht, so erinnern wir uns leise an ein kleines Gedicht von Theodor Fontane. Dieser wundervolle Alte hat nicht nur bei Bismarcks Tod das beste dichterische Wort gesprochen; er hat auch das beste gesagt, als Friedrich starb. Er schildert die letzte Fahrt des Kaisers. Der Kranke wünscht sich, noch einmal Alt-Geltow zu sehen. „Und Ihr kommt mit“, spricht er zu seiner Frau, „die Kinder und Du“. Als sie in das Dorf gekommen sind, tritt er in die stille Kirche im Sonnenschein, und er spricht:

 

Wie gern
Vernahm’ ich noch einmal „Lobe den Herrn“:
Den Lehrer im Feld ich mag ihn nicht stören,
Vicky, laß Du das Lied mich hören.

 

Da spielt sie auf der Orgel den Choral, und der Kranke glaubt die Gestalt des Menschensohns zu erkennen, der ihm entgegen tritt und die Siegerworte verkündet, er werde die Krone des Lebens davontragen, – lobe den mächtigen König der Erden.

 

Die Hände gefaltet, den Kopf geneigt,
So lauscht er der Stimme.
Die Orgel schweigt

 

Es ist schön, daß in diesem herrlichen Gedicht die liebreiche und treue Frau eine Stätte gefunden hat; und gerade in der Rolle, die ihr am besten stand: als die letzte Stütze, die letzte Freundin und die letzte Freude des edlen Kaisers. Orgelspielend in der Kirche von Alt-Geltow, – so wird sie durch die Dichtung in die Zukunft einziehen; und zwei leuchtende Züge ihres Wesens treten aus dem Bild hervor: ihre tapfere Güte und zugleich ihre Neigung zur Kunst.

Grade die Künstler sind aber durch den Tod der Herrscherin in einen Leidenszustand versetzt worden, der nicht nur die Gefühle der Trauer um die Heimgegangene enthält. Es mischt sich leider die private Sorge hinein; denn in Folge der angeordneten Landestrauer[2] sind zehntausend Musiker, Schauspieler, Sänger und wer sonst diesen Berufen nahe steht, zu Geldverlusten, wenn nicht zum Verlust der Existenz gebracht worden. Es ist schmerzlich, am öffnen Sarge solche Fragen erörtern zu müssen, aber in Berlin hat die Maßregel einen so starken Eindruck erzeugt, daß man kaum darüber hinwegkommt. Sie ist zweifellos in der besten Absicht erlassen worden. Aber man fragt doch: warum sollen gerade diese zehntausend Bürger, die nicht immer glänzend gestellt sind, in der allgemeinen Trauer wirtschaftlich leiden? Wenn der Staat verlangt, daß Theatervorstellungen und Konzerte eine Woche hindurch nicht stattfinden, so wäre es nur billig, wenn er den Ausfall ersetzt; und vielleicht gewährt das Parlament nachträglich die Mittel. Will aber der Staat keine Entschädigung geben, so wäre dringend zu wünschen, daß entweder das Verbot sich nur auf den Beerdigungstag in künftigen Fällen erstrecke, – oder daß man die Trauerwoche in der Behandlung dem Totensonntag gleichstellt, daß also ernste Aufführungen nicht gehindert werden. Stört man denn unsere Trauer durch die Darbietung einer Beethovenschen Sinfonie, eines Goetheschen Dramas? Ich glaube nicht. Und andererseits kann man fragen: wird die Trauer erhöht durch das Verbot? Ich glaube nicht. Es bedarf dessen kaum. Wer in Berlin nur die Schaufenster der wichtigeren Straßen mit ihrem Sterbeschmuck und verhüllenden Trauerfloren erblickt, der sieht, wie man auch ohne besondere Anordnung die tote Herrscherin zu ehren weiß. Diese Anordnung beruht zweifellos auf gesetzlicher Befugnis, und wer sie erlassen hat, ist in vollem Recht. Aber wenn nicht alle Zeichen trügen, wird man auf dieses Recht künftig weniger Gewicht legen oder es mit Einschränkungen handhaben – und die Toten werden dabei nicht in ihrer Ehrung verkürzt werden.

Denn eine noch größere Ehrung als die Landestrauer ist ja die Trauer des Landes.

 

Alfred Kerr (1932) © Robert Sennecke | Bibiothèque nationale de France

Alfred Kerr, 1867 in Breslau geboren und 1948 in Hamburg gestorben, gehört zu den bedeutendsten deutschen Theaterkritikern. Bereits während seines Studiums der Geschichte, Philosophie und Germanistik in Halle, das er 1894 mit der Promotion zum Dr. phil abschloss, begann er Kritiken zu schreiben. Von 1900 bis 1919 war er Theaterkritiker der Berliner Zeitung „Der Tag“, von 1919 bis 1933 Theaterkritiker des „Berliner Tageblatts“. 1933 wurden Kerrs Bücher und Schriften verbrannt, er selbst im August 1933 ausgebürgert. Bereits im Februar 1933 war er, von einem Polizisten gewarnt, sein Pass würde eingezogen, nach Prag geflohen. Über die Schweiz und Paris gelangte er mit seiner Familie schließlich nach Großbritannien und erhielt 1947 die britische Staatsbürgerschaft. 1948 starb Alfred Kerr in Hamburg, wo er sich im Rahmen einer Vortragsreise aufhielt.

 

Der Text erschien am 11. August 1901 in der „Königsberger Allgemeinen Zeitung“, für die Kerr unter der Überschrift „Berliner Plauderbrief“ von 1897 bis 1922 sonntägliche Feuilletons schrieb. Kerr-Biographin Deborah Vietor-Engländer hat die Texte wiederentdeckt und bereitet eine Edition vor, die 2021 im Wallstein-Verlag erscheinen soll. Wir danken Deborah Vietor-Engländer, dass sie uns auf den Brief aufmerksam gemacht und zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat.

 

 

 

Notes

[1] Kaiserin Friedrich geboren am 21. November 1840 in London. starb am 5. August 1901 auf Schloss Friedrichs-hof bei Kronberg im Taunus.  Ihre Mutter war am 22. Januar 1901 gestorben. Sie war das erste Kind von Queen Victoria und Prinz Albert, wuchs geliebt und behütet auf, hochbegabt und wissbegierig. Mit 17 Jahren heiratete sie den neun Jahre älteren, blendend aussehenden preußischen Kronprinzen Friedrich, der politisch ähnlich liberal und idealistisch dachte wie Vicky. Die beiden führten eine glückliche Ehe. Vicky gebar vier Söhne und vier Töchter zwischen 1859 und 1872.  Ihren ersten Sohn, den späteren Kaiser Wilhelm II., gebar sie unter stunden-langen grässlichen Qualen. Der Thronfolger trug Geburtsschäden davon, die für die deutsche Geschichte folgen-schwer waren. Sein linker Arm war gelähmt. Vicky und Kronprinz Friedrich waren auf ihre Regierungs-aufgaben glänzend vorbereitet – 30 Jahre lang warteten sie ungeduldig darauf, in Preußen bzw. (ab 1871) im säbel-rasselnden, chauvinistischen deutschen Kaiserreich eine liberale, fortschrittliche Politik einzuführen. Als Kaiser Wilhelm I. 1888 mit 91 Jahren starb, war Friedrich bereits todkrank – er regierte in diesem “Dreikaiser-jahr” nur 99 Tage lang, dann folgte ihm sein militaristisch eingestellter Sohn Wilhelm II. Bismarck polemisierte und intrigierte zeitlebens mit Gusto gegen das Kronprinzenpaar, und als Friedrich unter fürchterlichen Qualen gestorben war, setzte Vickys Sohn Wilhelm die Demütigungen systematisch fort. Vicky baute sich in Kronberg im Taunus ihren Alterssitz “Friedrichshof”, so zentral gelegen, dass die durchreisenden königlichen Hoheiten Europas, fast alle irgendwie mit ihr verwandt, gern und oft bei ihr Station machten. Vicky las, studierte, malte und war karitativ tätig – ein an allem höchst lebhaft interessierter Geist, ganz im Gegensatz zu ihrem Ältesten, der sich auf nichts längere Zeit konzentrieren konnte und zwanghaft eine leere Betriebsamkeit mit militärischem Gepränge entfaltete. 1899 erkrankte die Kaiserin an Brustkrebs. Vor ihrem Tod schickte sie einen Teil ihrer Papiere nach England. Die Krankheit verlief wie die ihres Mannes außerordentlich qualvoll – Mutter Victoria schickte einen Arzt mit reichlich Morphium, aber Wilhelm entschied, dass ein englischer Arzt mit der Ehre der deutschen Medizin nicht vereinbar sei. Die deutschen Ärzte gaben Morphium nur in winzigen Mengen, so dass Victoria monatelang unerträgliche Schmerzen litt.  Nach ihrem Tod schickte Kaiser Wilhelm Soldaten nach Friedrichshof, um ihre Papiere zu beschlagnahmen, aber weitere zwei Kisten waren bereits bei einem Engländer in Verwahrung, Frederick Ponsonby gab 1928 eine Auswahl ihrer Briefe heraus. Wilhelm II versuchte die Veröffentlichung aus seinem Doorner Exil zu verhindern, was ihm nicht gelang. Kerr war einer der wenigen, der sie wirklich würdigte.

[2] Kaiser Wilhelm II ordnete eine Landestrauer von sechs Wochen an. Bis zur Beisetzung der Kaiserin durften keine „öffentliche Musik, Lustbarkeiten und Schauspielvorstellungen“ stattfinden.

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Jul 12 2020

From Time to Time: New Series

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From Time to Time

History does not repeat itself
but it certainly likes to rhyme.

 

Wir leben in sehr bewegten Zeiten. Die globale Covid-19-Pandemie, die damit zusammenhängende und sich international immer weiter ausbreitende Wirtschaftskrise und schließlich die wiederbelebte Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten und weit darüber hinaus beginnen die sozialen, ökonomischen und kulturellen Infrastrukturen unserer moderner Gesellschaften mehr und mehr zu verschieben und zu verändern. In Anbetracht dieser komplexen Wandlungsprozesse beginnt Glossen, in einer Serie seiner Rubrik „Recent Posts“ Texte zu veröffentlichen, in denen sich die Veränderungen der Gegenwart in den Ereignissen der Vergangenheit auf bezeichnende Art und Weise widerspiegeln.

Den Anfang macht ein Essay von Alfred Kerr, dem bekannten Kritiker der Weimarer Republik, zum Thema „Staatstrauer“ am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts im Wilhelminischen Kaiserreich. Die in diesem Text beschriebene Staatstrauer, die dem Autor zufolge Scharen von Kunstschaffenden arbeitslos macht, antizipiert die Situation heutiger Künstler, die auf Grund geschlossener Theater und zahlreicher anderer künstlerischer Wirkungsstätten zunehmend in wirtschaftliche Not zu geraten drohen. Wir sind Prof. Deborah Vietor-Engländer, der großen Alfred-Kerr-Expertin und Präsidentin der deutschen Alfred-Kerr-Gesellschaft sehr dankbar, uns auf diesen Text aufmerksam gemacht zu haben.

Dieses Projekt wird in Zusammenarbeit mit dem PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland entwickelt, der Nachfolge-Organisation des ehemaligen Exil-PEN, das in naher Zukunft eine ähnliche Serie lancieren wird, in der Leben und Werk einzelner Autoren aus der ehemaligen Emigrantengeneration vorgestellt und damit erneut in Erinnerung gerufen werden. In diesem Zusammenhang möchten wir auch unsere Leser ermuntern, uns auf geeignete literarische Texte aus früheren Zeiten aufmerksam zu machen, die heutige Entwicklungen auf anschauliche Weise darstellen und vorwegnehmen. Und wenn sie sich eignen, werden wir sie gerne in dieser Serie veröffentlichen.

 

Frederick Lubich, Managing Editor

Janine Ludwig, Online Editor

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Jul 06 2020

„Unalienable Rights“

„Unalienable Rights“

 

Amerikas Unabhängigkeitserklärung

damals und heute

by Frederick A. Lubich, Norfolk, Virginia

 

Am 4. Juli druckte der Virginian Pilot, unsere regionale Zeitung hier in Norfolk, Virginia, zum 244. Jahrestag von Amerikas „Declaration of Independence“ dessen Text in ihrer Rubrik „Opinion“ erneut ab. Während ich ihn las – und noch einmal las – löste er in mir auch mehr und mehr persönliche Erinnerungen und aktuell politische Betrachtungen aus.

Über vierzig Jahren lebe ich nun schon in den Vereinigten Staaten. Ursprünglich war ich nur für ein Jahr in dieses Land gekommen, um an der Cornell University im Staat von New York eine Magister-Arbeit über den „American Dream“ in der modernen amerikanischen Literatur zu schreiben. Doch dieses eine Jahr war nur der Anfang meiner langen Lehr- und Wanderjahre als „gypsy scholar“, wie man hier junge Akademiker nennt, die oft jahrelang von Universität zu Universität ziehen und sich mit Zeitverträgen durchschlagen auf der Suche nach „tenure“, einer Lehrstelle auf Lebenszeit.

Bereits zu Beginn meiner fast dreißig Jahre währenden Wanderschaft, die Anfang der siebziger Jahre mit meinen Studien in Deutschland und England begann, dämmerte mir, dass der Beruf der Lehre und Forschung auch meine eigentliche Berufung, mein wahrer Traumberuf werden könnte. Und so bin ich denn dem Ruf dieses Traums bis an die Westküste der Neuen Welt, bis ans Ende der sogenannten Westlichen Zivilisation gefolgt. Und ja länger ich in Amerika von Santa Barbara in California – über mehrere andere Institutionen – schließlich bis nach Norfolk in  Süd-Virginia diesem Ruf folgte, desto klarer wurde mir, dass ich dem Traum von Amerika nicht nur in seinen großen, modernen Romanen, sondern viel mehr auch noch selbst direkt und landesweit auf der Spur war.

Hieß es doch bereits in Amerikas „Declaration of Independence“, dass die „pursuit of Happiness“ letztendlich die endgültige Erfüllung, gewissermaßen die Endstation Sehnsucht der amerikanischen Freiheit und Unabhängigkeit sei. Mit dem „Streben nach Glück“, wie die deutsche Übersetzung dieser „pursuit of Happiness“ lautet, ist freilich diese nationale Suche und Sehnsucht nur ungenügend übersetzt, denn es ist ja nicht nur ein sehnsüchtiges Erstreben, sondern vielmehr auch ein tatkräftiges Verfolgen dieses oft so flüchtigen Glücks gemeint. Und dieses sagenhafte Glücksversprechen sollte anscheinend auch mein „unalienable right“ sein, selbst wenn ich ein Leben lang nur ein sogenannter „resident alien“ geblieben, also kein regelrecht eingeschworener Bürger der Vereinigten Staaten geworden bin.

The pursuit of Happiness! Die gute, alte deutsche Bildungsreise als neue amerikanische Lebensreise. Und das für ein glückliches Leben lang! Was für eine herrliche Horizonterweiterung, was für ein farbenfroher Spannungsbogen! What a trajectory and sparkling destiny at the end of the rainbow. Looking back at my German-American “Way of Life” from our house here in Norfolk a few steps away from the water and its sandy beaches, I have to say, that so far I have been very fortunate, in other words, very lucky and very happy in this country. For me, America has truly lived up to its national promise from sea to shining sea.

***

Und jetzt das schreckliche Erwachen aus diesem amerikanischen Traum. Das Aufschrecken im Alptraum der amerikanischen Gegenwart. „I can’t breathe“. Dieses immer schwächer werdende Todesröcheln von George Floyd entsetzte nicht nur das ganze Land, es ging auch wie ein vielfaches Echo rund um die ganze Welt. Wie unendlich weit sind wir doch noch vom Versprechen der Gründerväter und ihrer verkündeten Wahrheit entfernt:

“Wie hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among those are Life, Liberty …”

What scandalous travesty! Diese selbstverständliche Binsenwahrheit der modernen Weltgeschichte und ihrer sogenannten Westlichen Zivilisation war von Anfang an die scheinheiligste Binsenlüge der amerikanischen Gründerväter und ihrer gutgläubigen Brave New World! Diese Gründerlüge wurde nicht nur im vollen Bewusstsein der systematische Versklavung der schwarzen Bevölkerung diese Landes ausgesprochen, sie wurde zudem auch noch weiter unterstrichen durch die stereotypische Diffamierung sämtlicher indigener Völker dieses Kontinents, von denen es kurz und bündig in diesem nationalen Gründungsdokument heißt, sie seien „merciless Indian Savages, whose known rule of warfare is an undistinguished destruction of all ages, sexes and conditions“.

Im Rückblick gibt sich dieser landesweite Rufmord bereits als eine vorauseilende Rechtfertigung des am Horizont schon düster heraufziehenden Landraubs und Völkermords an den Indianern Nordamerikas zu erkennen. Und damit nicht genug. Auch das weibliche Geschlecht, die früher so verlogen hochgelobte „bessere Hälfte“ des Mannes, wurde in dessen selbstherrlicher Behauptung „that all men are created equal“ von Anfang an vollkommen totgeschwiegen. So konnte man die Frau – linguistische Konvention hin und politische Konvenienz her – von Anbeginn staatsrechtlich und sozialgeschichtlich mundtot machen.

Kurzum, selbst die weißen Frauen des weißen Mannes waren ursprünglich von der vielbeschworenen Freiheit und Unabhängigkeit genauso ausgeschlossen, wie all die Andersfarbigen des Landes, die Verschleppten, Verfolgten und letztlich vielfach Ausgerotteten Amerikas. Sie alle, die zusammen die eindeutige Mehrheit seiner Bevölkerung bildeten, blieben zeitlebens und auf Generationen hinaus die Anderen, die mehr oder weniger Fremdartigen – in andern Worten – aliens with no unalienable rights.

Der Staat von Virginia – die voraussichtliche Endstation meines „American Dreams“ – gehört nicht nur zu den ersten Gründerstaaten der USA, seine Hafenstädte am Atlantik, allen voran Norfolk hier an der Mündung der Chesapeake Bay, waren einst auch zentrale Umschlagplätze im transatlantischen Sklavenhandel. Nicht zufällig werden denn auch hier zurzeit die Statuen von prominenten Generälen der Konföderation gleich reihenweise gestürzt. Und genau betrachtet müsste auch mit einigen Statuten der Unabhängigkeitserklärung ähnlich verfahren werden. Sie sind schon lange Makel und Makulatur der Unabhängigkeitsgeschichte dieses Landes und dergestalt wachsender Spott und Hohn auf die demokratischen Ideale dieser historisch insgesamt so progressiven Nation.

“But wait a minute, my dear resident alien from far-away Germany. Who are you to criticize our country, to desecrate our national memory, to vandalize the founding documents of our proud American history …?!” So höre ich die Patrioten Amerikas missmutig murren. “As the son of a fatherland that plunged the world into two World Wars … not to mention the horrors of the Holocaust! You should talk!!”

Und ich würde ihrer aufgebrachten Landesverteidigung vollkommen zustimmen und dies nicht zuletzt um ihrer selbst willen.  In der Tat, ich muss reden, denn was ich schon lange weiß, das macht mich selbst heute noch heiß – hot under the collar, as they would say in this country – denn gebrannte Kinder scheuen bekanntlich ein Leben lang das Feuer. Und unser deutsches Vaterland ist nicht nur einmal, es ist gleich zweimal abgebrannt. Allein schon unsere Väter und Großväter konnten so manche Schreckensgeschichte davon erzählen. In anderen Worten, genauer, in den Worten eines ganz Andern: I have a nightmare!

***

So müsste man wohl heute Martin Luther Kings einst so vielversprechende Zukunftsvision umbenennen, jene große Mosaische Traumvision vom Gelobten Land, die er vor über einem halben Jahrhundert für die Nachfahren der einst hier Versklavten als gemeinsamen Traum von Amerika so prophetisch und rhapsodisch herausbeschworen hatte. Doch heute scheint dieser so episch-poetische Zukunftstraum zu einem omnipräsenten Alptraum geworden zu sein in Anbetracht des derzeitigen Volksverführers im Weißen Haus.

Er hat sich jetzt schon als einer der scheinheiligsten Lügenbeutel der modernen Weltgeschichte einen berühmt-berüchtigten Namen gemacht. Und seine Gefolgschaft, die ihm beim Bau der Grenzmauer im Süden des Landes zujubelt und sich für seine rassistischen und xenophobischen Tiraden begeistert, folgt ihm verblendet auf Gedeih und Verderb, grad so, als wäre er der Rattenfänger von Hameln. Nur zu gern tanzen seine Anhänger nach seiner Pfeife und huldigen ihm in dichten Haufen und am liebsten ohne Mundschutz lautstark und tolldreist auf Gott und Teufel komm raus.

Geblendet von den glitzernden Türmen seines megalomanischen Immobilien-Imperiums tanzen und taumeln sie ums Goldene Kalb seines Turbo-Kapitalismus, der die Wirtschaft Amerikas um jeden Preis und ohne Rücksicht auf Verluste so schnell wie möglich wieder anzukurbeln verspricht. Und gleich ihm pfeifen auch sie zuhauf – und viele von ihnen mehr oder weniger bibelfest – auf die sich erneut ausbreitende und immer mehr ausweitende Corona-Pest. Grad so, als wäre sie nur ein lästiger Schluckauf oder eine vorübergehende Atemnot und dabei pochen sie trotzig auf ihren althergebrachten “American Way of Life” und sein verbrieftes amerikanisches Recht und Gebot …

Its unalienable rights to “Life” and “Liberty” … until more and more of us will become those others … who cannot swallow and breathe anymore … even with ventilators in overcrowded hospices and hospitals … where death is already waiting patiently in the wings … taking more and more of his familiar liberties … until we all will finally be equal and free … to die all across this promised land … from sea to shining sea.

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