Archive for July, 2022

Jul 31 2022

22.2.22

 

 

22.2.22

 

by Gabriele Eckart

 

Zweien schneit es. Schnapszahlen, sagt mein Mann nach dem Erwachen und schwärmt von dem Buch, das er gestern Abend zu Ende gelesen hat. A twisted ending that I did not see coming. Bücher, die so enden, liebt er. Wie war dein Film? Großartig! sage ich. “The Eyes of Tammy Faye”. Die eklige Welt des Fernsehevangelismus. Auch ein Ende, das ich nicht vorhersah, hatte der Film. “Gott liebt dich so, wie du bist.” Trotz des furchtbaren Fehlers, den Tammy Faye einmal begangen hatte, indem sie christliche Spendengelder für ihren Luxus abzweigte, gab ihr der Regisseur eine Chance. Dabei wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, sie ins Lächerliche zu ziehen und fertigzumachen.

Deprimierend die Morgennachrichten im Fernsehen; seine Krallen streckte Putin nach der Ukraine schon lange aus, jetzt ist er zum Sprung bereit. Seine funkelnden Augen. Beim Zähneputzen vermeide ich einen Blick in den Spiegel. Eine Augenlidoperation hatte ich letztes Jahr, seither sieht mich aus dem Spiegel Hexe Kaukau an. Einen vorsichtigen Blick wagen. Madre mía. Und das linke Auge heilt nicht, entzündet der untere Rand; sogar Lesen ist schwierig geworden. Also Filme sehen, um die Zeit zu vertreiben, jeden Tag einen anderen Film. Würde ich meine Augen mit denen von Tammy Faye tauschen wollen? Tätowiert ihre Lider mit einem Dauer-Make-up, beinahe obszön sieht das aus. Nachbarn lachen über sie. Dragqueen!

Während des Frühstücks ist Putin unser Gesprächsthema. Wegen seiner Giftmorde an Kritikern misstrauen wir ihm schon lange. Aber die Ukraine greift er nicht an, sagt mein Mann. So weit geht er nicht. “Niemand hat die Absicht, die Ukraine anzugreifen!” Doch, sage ich. Bin in der DDR aufgewachsen und kenne diese Art Logik. Nichts hat sich geändert. Du wirst sehen! Wie hat sich das Leben in der Diktatur angefühlt? fragt mich mein Mann. Stell dir vor, ein großes Auge sieht auf dich herab, immer. Und dann und wann entschließt es sich, dich anzugreifen. Eine Nacht fällt mir ein, war es Ende 1986 oder Anfang 1987? Eine kinderlose Tante war gestorben, erzähle ich, um ihm ein Beispiel zu geben, ich hatte mir von meiner Erbschaft einen Trabant gekauft und gerade erst die Fahrprüfung bestanden. Nach Jena ging meine erste Fahrt, ein Jugendpfarrer dieser Stadt hatte mich zu einer Buchlesung eingeladen. Während der Rückfahrt auf der Autobahn, ein kalter Wintertag, etwa um Mitternacht war es, brütete ich über die verschiedenen Reaktionen des Publikums. Während die beiden Porträts aus meinem nur im Westen erschienen Buch So sehe ick die Sache gut angekommen waren (“so frisch” und “wie aussagekräftig”), hatten meine neuen Gedichte eher Kritik erfahren. “Meinem Geschmack nach zu larmoyant” sagte eine junge Frau nachdenklich, und sie hatte Recht. Ja, das waren diese Texte, zu tränenselig – eine Kritik, die ich heute teile. Statt Sprachkritik und Wortwitz nur ein bilderreiches Gejammer. Um diesen Punkt kreisten meine Gedanken, als ich bemerkte, zwei schwarze Autos begannen mich in die Zange zu nehmen. Eines vor mir, eines hinter mir, immer enger rückten sie zusammen, große, starke Wagen, zwischen ihnen meine hilflos knatternde kleine Schachtel. Angstschweiß bricht mir heute noch aus, sage ich, wenn ich an diese Minuten denke. Und? fragt mein Mann, hattest du einen Unfall? Nein, dank eines Kühltransporters nicht. Als er uns überholte, die zwei schwarzen Wagen und mich, wie erleichtert spürte ich den Sog des Giganten, scherte ich aus der Umklammerung aus und klebte mich an das Gefährt. Wie entsetzt grölte mein Zweitaktmotor auf. Das Geräusch ignorieren, durchrasen! rief ich mir zu. Und schaffte es. Unfallfrei schaffte ich es bis zu meiner Straße in Berlin. Die bedrohlichen schwarzen Gefährte verschwanden. Danach Tage in Schockstarre. Das war zum erstenmal, sage ich, dass mir das Wort faschistoid in den Sinn kam. Die DDR war faschistoid. Und Putin, er war damals KGB-Agent in Dresden, ist es heute immer noch, vielleicht ist er unterdessen ganz zum Faschisten geworden, wir werden sehen.

Nur mit Sonnenbrille verlasse ich das Haus. Einkaufen geht glücklicherweise mein Mann. Dank Corona gibt es keine Partys, gesegnet sei die Pandemie. Später heute Vormittag ein Termin bei einem anderen Chirurgen als dem, der mich operiert hat. Dr. Santos, dem Namen nach vielleicht ein Mexikaner, ándale.

Putin! denke ich später im Wartezimmer und falle in Gedanken wieder in den DDR-Sumpf. Deine Stasi-Phobie! schelte ich mich. Wehrlos bin ich dagegen. Erinnern heißt mich im Zeitraffertempo aus dem Sumpf befreien, immer wieder von neuem. Sobald ich heraus bin und erleichtert nach Luft schnappe, füllt Wasser das Loch, in dem ich gesteckt hatte, gurgelnd und schmatzend. Lieber an Tammy Faye denken!

Wie konnten Sie sich nur von einem Handchirurgen an den Augen operieren lassen! Das linke Lid sei falsch herum eingesetzt. Der Chirurg, sage ich, wirbt täglich im Fernsehen, “Heartland Plastic Surgery”; es klingt überzeugend, auf der Liste seiner Künste steht neben boobs das Wort “Augenlidstraffung”; ich ging ihm eben in die Falle. Spanisch spreche ich. Das doppelte “r” kräftig rollen, wie sich mein Gaumen freut. Stammen Sie aus Mexiko? Nein, aus Guatemala, sagt Dr. Santos auf Spanisch. Ich erzähle ihm, dass ich in Tikal war. Er kommt aus Antigua. Dort war ich auch! Wir unterhalten uns über die schöne Stadt. Wie fürchte ich die wunderbare Sprache zu verlieren, sage ich. Seit ich im Ruhestand bin, habe ich nämlich keine Gelegenheit mehr Spanisch zu sprechen. Da es Ihre Muttersprache ist, Sie Glücklicher, verlieren Sie sie nie! Woher ich komme, fragt mich der Arzt. Alemania oriental, sage ich und füge für die Sprechstundenhilfe, die ihrem Gesichtsausdruck nach offensichtlich kein Spanisch versteht, hinzu: it was the communist part of Germany. Beide nicken, ja, sie erinnern sich daran, der Osten Deutschlands war kommunistisch. Dr. Santos fotografiert meine Augen, erst das linke, das am schlimmsten dran ist, dann das rechte. Nächste Woche werde er mich operieren und meine Lider in Ordnung bringen, sagt er beruhigend; er diktiert der jungen Sprechstundenhilfe, was sie über die bevorstehende Operation notieren soll. Keine Bange, sagt er abschließend und legt mir die Hand auf die Schulter.

Freudestrahlend informiere ich meinen Mann über die guten Aussichten hinsichtlich meiner Augen. Auch er erleichtert. Weißt du schon, welchen Film du heute Abend sehen willst? Ich glaube, ich sehe mir noch einmal “The Eyes of Tammy Faye” an. Des unvorhersehbaren Endes wegen. Ob Gott mich auch so liebt, wie ich bin?

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Jul 10 2022

From Time to Time – Tritonen. Die Universalität der Menschenrechte

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From Time to Time

 

History does not repeat itself,
But it certainly likes to rhyme.

 

 

Tritonen.

 

Die Universalität der Menschenrechte –

 

Wie werden sie in Diktaturen verletzt?

 

von Axel Reitel

 

Vortrag, gehalten am 22. März 2022 an der Friedensschule in Münster (überarbeitet, Stand 23.05.2022)

 

Ost-West-Treffen in Böhmen 1983
v. l. n. r  Jürgen Ertel, Lennon, Simone, 
der Autor, Gudrun Ertel, Heike Hering.
Foto: Helmut Möckel   

 

Ich ging auch auf die Friedensschule, auf die in Plauen, im Vogtland, in einer Zeit, die in den Geschichtsbüchern als Kalter Krieg eingeordnet ist, ein breiter Konfliktherd, in dem auch geschossen wurde. Irre Kugeln verrückt gemachter Grenzsoldaten an der innerdeutschen Grenze, an der Berliner Mauer, in den sogenannten „Grenzgebieten“ oder im Abschnitt „Buchenwaldschlucht“, im Harz, da waren es einundfünfzig Schüsse aus einer Kalaschnikow auf einen Fünfzehnjährigen[1], wofür es irre Prämien und Sonderurlaub gab. Im irren Grenzabschnitt in Bulgarien zu Griechenland, erhöhte sich die irre Prämie auf irre eintausend Mark, abzuholen in der schandvollen Botschaft der DDR in Sofia. Selbstredend ohne Einspruch vom Ostberliner Komitee zum Schutze der Menschenrechte gegen militaristische Willkür und Klassenjustiz in Westdeutschland.

Ja, es musste alles demokratisch aussehen, aber sie mussten alles in der Hand haben, wie Wolfgang Leonard in seinem Buch, „Die Revolution frisst ihre Kinder“, bezeugt. Die Gesellschaft wurde in keine Entscheidung des SED-Staates einbezogen. Ist das nicht irre? Und so fragte ich mich, all dies wissend, als Jugendlicher, wie ist es aber vielleicht doch noch möglich, auch in einer Diktatur schön zu leben – und für eine angenehme Zukunft zu sorgen. Wenn das doch nur geht, „wenn ich mit andren auf der derselben Stufe agieren kann“[2]. Und auf wessen Kosten? Und wie oft frage ich mich noch heute: Was hilft jetzt? Was hilft dir jetzt genau? „Kopf einschalten“, lautete der Standardspruch meines ältesten Bruders Hans-Jörgen. Schwer zu glauben, denke ich, angesichts der rasenden Massen gegen die sogenannte „Brühe“, aber wie sauwohl müssen die sich doch wenigstens in ihrer irren Wut fühlen? Und ich bin wieder der Blöde und fühle mich bei diesen Bildern ganz und gar unwohl. Ok, denke ich, bin ich eben nicht so geprägt. Dabei prägt uns, was uns umgibt. Zur Mauer in Berlin sagte man Schutzwall und der Schutzwall schützte die Welt vor dem 3. Weltkrieg. Da haben wir‘s. Die Welt! Es ging, wie für Putin heute, immer um die ganze Welt! Und damit es in den Köpfen sitzt, wurde pausenlos geschmäht, was nicht in den Kram passte, angestimmt wurde ein Lob des Hasses auf den Westen! Und was vielleicht kaum einer weiß: die Schule in der DDR gehörte zu den militärischen Kampfeinheiten der Nationalen Volksarmee (kurz NVA). Wer all das lobte, war nicht doof und hatte seine Karriere sicher. „Die irre Sch**e macht doch keiner mit, sagte Drähte, auch ein Schüler der Friedensschule, malte ein paar dünne Hakenkreuze und verpflichtete sich zu fünfundzwanzig Jahren NVA-Dienst an der blutigen innerdeutschen Grenze.

Der Schießbefehl sagte zwar, auf Diplomaten schießt man nicht, aber wie unterscheiden sich Menschen im Dunkel? Zu wissen, was seit Menschengedenken verachtet wird und es der Karriere zuliebe doch zu tun, daran sollte man nach den jahrelangen Agitation-und-Propaganda-Shows, jeden Montag vor der ersten Stunde, nichts mehr merkwürdig finden. Dass der Staat genau dann fördert, war typisches DDR-Glück. Heute ermorden zehntausende russische Soldaten und Söldner die Menschen in der Ukraine. Das ist unser aktuelles Thema, dass uns seit dem Überfall auf die Ukraine mehr als irre beschäftigt.

Als ich Drähte Jahre später in der „Klause“ des Plauener „Ratskellers“ wieder traf, saß mir ein adretter Offizier gegenüber, an dessen Uniformjacke Ordensspangen und die Affenschaukel prangten, die Mütze akkurat neben sich auf dem Tisch, und der jetzt voller irrer Wut war auf diesen jungen Typen am Tisch, im feindlichen US-Shell-Parka, in den 501-Bluejeans und den Bergen von Locken. Und so musste er es sagen, wie irre wütend ihn alle mit ihren Fluchtversuchen machten. Und seine irre Wut packte er in ein irres Bekenntnis, falls ich das auch vorhabe: „Dann rotz ich dich ab! Du weiß, dass ich dort stehe und bei Nichterfüllung des Schießbefehls mir selber schade!“[3]

Müsste ich darüber nicht auch irre wütend sein? Und wie rechtfertige ich mein Nicht-Wütend-Sein? Drähtes Worte lösten nicht das Geringste in meinem persönlichen Alarmsystem aus, auch die persönliche Offstimme schwieg. Ich erhob mich, wartete mit meinem Bruder weiter auf die Platzierung, sagte ihm, was war, und musste mich irgendwie verhört haben, denn er antwortete mit gekränkter Stimme, er wolle nichts mehr mit mir zu tun haben.

Acht Jahre später wird er seine Läuterung von der Diktatur erfahren. Sie rückte das Bild des älteren Bruders und Vorbildes wieder zurecht. Der Anlass gebende Schmerzpunkt erfasste jedoch die ganze Familie. An Pfingsten 1987 erlitt der mittlerer Bruder Ralf auf dem Weg zur ausgehenden Spielzeit in Regensburg einen vermeintlichen Unfall. Zwei Stunden rangen die Ärzte des Uniklinikums Nürnberg um den eingeflogenen Schwerverletzten mit dem Tod. Bis zu seiner Verhaftung, Haft und Freikauf, spielte Ralf von 1979 bis 1984 am Theater Rudolstadt durchweg positiv besprochene Hauptrollen. Die Antworten der von mir 2007 befragten Stasimajore Karl-Heinz Schrodetzki und Alexander Rohrbach (Kreisdienststellen Rudolstadt/Saalfeld) brachte der Rezensent Udo Scheer in der Zeitschrift Bundesarchiv (Ausgabe 2/2008) auf den Schmelzpunkt: „Für sein Rundfunkfeature ‚Der Tod meines Bruders. Rekonstruktion eines vermeintlichen Unfalls‘ sprach der Autor auch mit früheren Schauspielkollegen des Bruders und Stasi-Offizieren. Ein vom MfS gedeckter Mord scheint nicht mehr ausgeschlossen.“ Als Hans-Jörgens Teilnahme an Ralfs Beerdigung von der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Dessau dem zuständigen Amt für Reiseangelegenheiten nicht empfohlen wurde, stellte er Stunden später einen Antrag auf Familienzusammenführung nach Berlin-West. Die Antragsgenehmigung im Herbst 1989 umwehte zweifellos derselbe geheime Schleier einer morbiden Ironie, die schon Pfingsten 1987 ihre „Lichter“ aufsetzte und auch Putins Gebrauch des Buchstabens „Z“ a la Räuber und Gendarm co-kreiert haben dürfte.

Sicher, das sage ich mir des Weiteren heute und weiß es besser: für Jahrgang 1947, und selbst auf der Karriereleiter, waren die Bandagen härter. Ich ahnte die unterschiedlichsten Prämissen seiner Wut. Versteckte diese Wut nicht eine ganz andere Sache eine ganz bestimmte Wahrheit, eine unveräußerliche Wahrheit, vor einen selbst? Sehr sorgfältig, sehr geschickt, verbergend, was mit den Gewitterstimmen des Gewissens über mich herfallen könnte, und zwar umso erbarmungsloser, umso mehr ich aus Selbstsucht der allgemeinen Vernunft zuwiderhandle?

Wenn ja, nenne ich es den enthaupteten Dialog. Und so stand mein Bruder für mich, der seinen Kopf gern in die Arbeit der französischen Aufklärung steckte, plötzlich – Heiliger Voltaire! –, in jenem Augenblick von dem Kopf enthauptet da, den man doch „einschalten“ sollte.

 

Und ich schaute auf eine blutige Spur

Für mich also an dieser Stelle passend, bemerkte im Jahr 1878 der Journalist und Redakteur Albert Fränkel in der damals berühmten Zeitschrift „Die Gartenlaube“ zur wütenden wie kopflosen Schändung Voltaires:

In einer Mainacht des Jahres 1814, kurz nach der Rückkehr des bourbonischen Ludwig des Achtzehnten, fuhr an der schönen und geschichtlich denkwürdigen Genoveva-Kirche in Paris ein geschlossener Wagen vor, aus dem zwei Männer stiegen. Bei ihrer Ankunft öffnete sich leise eine Thür der Kirche; sie traten ein, kehrten aber schon nach kurzer Zeit mit einem gefüllten Leinwandsack zurück, den sie vor sich in den Wagen legten, welcher hierauf eilig mit ihnen davonjagte. Die Straßen waren um diese Stunde schon ziemlich verödet, Paris lag bereits im Schlummer, oder hing im Innern der Häuser seinen nächtlichen Zerstreuungen nach, die stumm und in scheuer Hast sich abspielende Scene auf dem Genoveva-Platze war unbemerkt geblieben. Der Wagen fuhr nach einem wüsten Abladeplatz bei Berey, wo fünf Männer seiner harrten, die schweigend eine mit ungelöschtem Kalk gefüllte Grube umstanden. In diese wurde sofort der unheimlich durcheinander klappernde Inhalt des Sackes ausgeschüttet und hier schnell von der Zerstörungskraft des Kalks verschlungen, während der eine von den zwei aus Paris gekommenen Männern die Ceremonie mit einem herzhaften Fluche beschloß. Dann schaufelte man sorgfältig die Erde wieder zu, und nur ein Eingeweihter hätte am nächsten Morgen die Stelle des Bodens bezeichnen können, auf welcher eine schnöde Unthat sich vollzogen hatte. Die Geschichte der Menschheit aber hat alle Ursache, den Vorgang dieser Frühlingsnacht mit unauslöschlichen Zügen in ihr Erinnerungsbuch zu schreiben. Denn es handelte sich dabei nicht um einen Exceß gewöhnlicher Privatleidenschaft, sondern um einen berechneten Handstreich roher Feindseligkeit gegen pietätsvolle Empfindungen der gesammten civilisirten Menschheit, es war an stolz gehüteten Heiligthümern des französischen Nationalgeistes eine verbrecherische Schändung verübt, es waren die Spuren denkwürdiger Geisteshelden, die Gebeine eines Voltaire, [eines der größten Lehrer der Freiheit und der Menschrecht] aus ihrer Ruhe gerissen und in dieser beschimpfenden Weise vernichtet worden. (…) Aber die Rettung [jedenfalls für die Gesellschaft] kam, und sie kam aus dem erwachenden Denken, als schon in den letzten Tagen des vierzehnten Ludwig das künstliche Gebäude des Despotismus in sich selber zu wanken begann. Seine schwächer gestellten Nachfolger mußten die Zügel lockern und auch durch Förderung des Gewerbefleißes die versagenden Erpressungsquellen für ihren ungeheuren Geldbedarf zu stärken suchen. Dadurch kamen die arbeitenden Leute zu Wohlstand und Selbstgefühl. Noch ein kurzes Weilchen, und inmitten der Gesellschaft hatte sich ein neuer, der sogenannte dritte Stand herausgebildet, das erstarkte Bürgerthum, in dem sich eine reinere, von der oberen Fäulniß noch nicht angefressene Sittlichkeit mit tieferer Intelligenz, mit einem leidenschaftlichen Durste nach Wahrheit und nach ihrer muthigen Bezeugung verband.[4]

Gesetzt dem Fall nämlich, Menschenrechte sind Vernunft, zum Beispiel eine andere Meinung vielleicht nicht zu teilen, aber zuzulassen, offenbarte sich uns gerade dadurch die Möglichkeit eines profitablen Dialogs, von dem wir Menschen also von Anfang Nutznießer waren? So heißt es im dreitausend Jahre alten Psalm 54: „Gott, mach deinem Namen Ehre und hilf mir! / Verschaffe mir Recht durch deine Kraft! (…) Menschen, die ich nicht kenne, fallen über mich her. / Sie schrecken vor keiner Gewalttat! zurück, / ja, sie trachten mir nach dem Leben.“

Ein Schlüsselwort, das für die heutige Zeit wie geschaffen scheint und wir wie Zeitreisende uns die Augen reiben. Denn ein Blick auf die Entwicklung der irren Wut des heutigen Kriegstreibers Putin, auf die omnipotente Wut eines veritablen Dämons, ist nun ebenso notwendig wie die unveräußerlichen Menschenrechte dagegen zu Felde zu führen (sind sie doch wesentlich zukunftsorientierter als Krieg).

Und von diesem Gesichtspunkt aus mahnt uns der langjährige Leiter des ZDF-Büros in Moskau, Dirk Sager, in seinem Buch „Pulverfass Russland. Wohin treibt die Großmacht“, aus dem Jahr 2008, auch völlig zurecht: „Wer in die Zukunft sehen will, muss auf die Vorgeschichte zurückblieben.“ Vielleicht müssen es wir nicht, aber wir tun es.

Im Prolog der gekürzten einbändigen Ausgabe seines Welterfolges „Der Archipel Gulag“ schreibt Alexander Solschenizyn:

Im Jahre 1949 etwa fiel uns, einigen Freunden, eine bemerkenswerte Notiz aus der Zeitschrift „Die Natur“, herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften, in die Hände. Da stand in kleinen Lettern geschrieben, man habe bei Ausgrabungen am Fluß Kolyma eine unterirdische Eislinse freigelegt, einen gefrorenen Urstrom, und darin ebenfalls eingefrorene Exemplare einer urzeitlichen (einige Jahrzehntausende zurückliegenden) Fauna. Ob’s Fische waren oder Tritonen: der gelehrte Korrespondent bezeugte, sie seien so frisch gewesen, daß die Anwesenden, sobald das Eis entfernt war, die Tiere MIT GENUSS verspeisten. Die keineswegs zahlreichen Leser der Zeitschrift waren wohl nicht wenig verwundert zu erfahren, wie lange Fischfleisch im Eis seine Frische zu bewahren imstande ist. Doch nur einzelne vermochten den wahren, den monumentalen Sinn der unbesonnenen Notiz zu erfassen. Wir begriffen ihn sofort. Wir sahen das Bild klar und in allen Details vor uns: Wie die Anwesenden mit verbissener Eile auf das Eis einhackten; wie sie, alle hehren Interessen der Ichthyologie mit Füßen tretend, einander anstoßend und vorwärtsdrängend, das tausend Jahre alte Fleisch in Stücke schlugen, diese zum Feuer schleppten, auftauen ließen und sich daran sättigten.

Wir begriffen es, weil wir selbst zu jenen Anwesenden gehörten, zu jenem auf Erden einzigartigen mächtigen Stamm der Seki, der Strafgefangenen, der Lagerhäftlinge, die allein es zustande brachten, einen Triton „MIT GENUSS zu verspeisen“. Am 12. Dezember 2016 hielt ich aus Anlass der Verleihung der „Solidarność-Dankbarkeitsmedaille“ im Europäischen Solidarność-Zentrum (ECS) in Gdansk folgende Dankesrede[5]:

[…] die ‚Ausrufung‘ der Protestaktion gegen das Kriegsrecht und für die uneingeschränkte Zulassung der Solidarność, geschah in einem Gefängnis, das vom Ministerium für Staatssicherheit indirekt verwaltet und fest in den Transaktionen der für die Staatsdevisen der DDR verantwortlichen Kommerziellen Koordinierung, kurz: KoKo, verankert war. Sie begann mit handgeschriebenen Aufrufen am 14. Dezember – und erreichte ihren Höhepunkt am 17. Dezember 1981. Das Gefängnisregime war durch Zellenspitzel vom ersten Tag an vorbereitet. Am 17. Dezember erwartete die Arbeitskommandos in der Speisebaracke eine Hundestaffel. Essen! wurde befohlen. Die Listen aller Verweigerer gibt es: sie werden der Forschung durch die Behörde für die Unterlagen der Staatssicherheit nur geschwärzt zur Verfügung gestellt.

Während jener vier Tage war das Haftpersonal bewaffnet und lungerte in Scharfschützenmanier auf den Dächern. Wir blickten einander an, und die Frage lautete, ob sie schießen. Die Antwort überrascht am Ende vielleicht nicht einmal, aber ich muss gestehen, dass mich die Möglichkeit, einer von dreihundertfünfzig niedergeschossenen politischen Häftlingen zu sein, auch heute noch etwas nervös macht.

Doch es hat sich alles gelohnt.

Der beeindruckende Kampf der Solidarność um Freiheit, Unabhängigkeit und Wohlstand mündete nicht nur im Untergang des hermetischen Ostblocks, sondern es erneuerte grundlegend die Europäische Union. Den klugen Köpfen der Solidarność war es aus staatstheoretischer Sicht klar, dass Polen an seiner Westgrenze ein wieder vereintes Deutschland und keine stalinistische DDR braucht. So steht es in den Sonderberichten der Verwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR vom 12. Dezember 1981. Und weiter dort „Fernziel des [„Komitees zum Schutz der Arbeiter“ für inhaftierte Dissidenten, kurz]: KOR ist die Eingliederung der Volksrepublik Polen in ein vereintes Europa mit einem wieder vereinten Deutschland.“ Das ist nun alles so geschehen. Die ebenfalls notierte „Überzeugung (…) dass die Entwicklung in Polen auch auf die DDR übergreifen wird“, hat sich dagegen nicht bestätigt. Gewiss lagen vielen Menschen in der DDR die August-Ereignisse 1980 am Herzen, am Ende traten zu wenige dafür ein. Auch die friedliche Revolution 1989 in der DDR bekannte sich kaum zu ihrem Vorbild Polen. Deshalb ist es auch kaum verwunderlich, dass der von seiner Anzahl größte Protest in der DDR gegen das Kriegsrecht in Polen ausgerechnet in einer DDR- Strafvollzugseinrichtung stattfand. Nirgends im Land war das Wort so frei als im politischen Gefängnis.

Und auch die Antwort auf unsere Frage ist moderner denn je: Die KoKo, die von Honecker 1966 gegründete Kommerzielle Koordinierung, war unermüdlich damit beschäftigt, harte Weltmarktwährung, Devisen genannt, in die ewig klammen Kassen der DDR zu spülen. Dazu gehörte auch der frei verkaufbare unbekannte politische Häftling (offiziell durfte es den ja nicht geben).

Aktenkundig sind zwar Gespräche zwischen der Gefängnisleitung und dem zentralen Operativstab der Stasi über den praktischen Einsatz einer bewaffneten Truppe. Doch welcher praktische, vernunftbegabte Mensch schießt eine Ware im Geld-Wert von 95.847 mal 350, das sind 33.546.450 Valuta, über den Haufen? Der Chef der Kommerziellen Koordinierung, Schalck-Golodkowski, dessen Vater bereits ein guter Rechner beim russischen Zaren gewesen ist, dürfte sich, hoch oben, im Sitz der KoKo, im 23. Flur des Internationalen Handelszentrums an der Friedrichstraße, die Haare gerauft haben – und da wurde eben nicht geschossen!

Schon für Marx war „in Wirklichkeit die treibende Kraft die Beziehung des Menschen zur Materie und das wichtigste daran seine Produktionsweise. Dadurch [wurde] der Marxsche Materialismus in der Praxis [ja] zur Wirtschaftslehre.“[6]

Aber auch aus anderen Gründen wird weiter nach Marx gegriffen, in Opportunitätserwägungen einbezogen, um unablässig zu schmähen, was nicht den Beschreibungen des eingeübten Standpunktes entspricht. Bis heute ist „die Rechte nicht eben ein leuchtendes Vorbild. Aber die Linke ist schizophren“[7] geblieben. Ihr fehlt weiterhin die „Festigkeit der Überlegung und auch ein wenig Bescheidenheit“, stattdessen ergeht sie sich in „eingebildeten Gewändern“.[8] Man muss seine Zeit wie einen Erwachsenen betrachten, das heißt ohne voreingenommene Sympathie oder Antipathie. Das heißt nach den Maßstäben der Kritik und der Vernunft.

Möge diese Medaille also auch Gruß und Zuspruch für alle sein, die verstehen wollen und nicht richten, die für eine gerechte Gemeinschaft kämpfen und für Wahrheit und Freiheit gewaltlos im Einsatz sind.

Wir verweilen noch etwas in unserem hübschen Gefängnis. Bernd „Egon“ Möller traf ich das erste Mal in der Speisebaracke unseres Gefängnisses. Von Beruf und in Sträflingskleidung als Elektriker eingesetzt, erhielt er vom 1. Strafsenat des Bezirks Karl-Marx-Stadt eine Gefängnisstrafe von drei Jahren wegen Besitz und Verleih der dreibändigen Ausgabe des „Archipel Gulag“. Zum Zeitpunkt der Gerichtsverhandlung lag die monatelange Tortur der Untersuchungshaft der Staatssicherheit auf dem Kassberg bereits hinter ihm. Einst in ganz Europa berühmter Gründerzeitbezirk, war der Kassberg zu einem berüchtigten Unterdrückungsort der SED-Diktatur geworden. Zur selben Zeit wie Egon befand auch ich mich auf dem Kassberg, Zelle 29. Gab es kein Verhör, las ich oder spielte Schach, und zwar via Klopfzeichen gegen die Wand mit dem unsichtbaren Zellennachbarn in Nr. 30. Wir bekamen uns zwar nie zu Gesicht, aber wir klopften uns ja unsere Namen, biografischen Details und so manches unvergessene Alltagserlebnis in der DDR oder was die DDR in Atem hielt.

Das waren damals, vor dem europäischen Erdbeben des Sommers 1980 in Polen, die Abendstunden des 09. März 1980 gewesen. Zwar verursachte der Sprengstoffanschlag auf das sowjetische Panzerdenkmal in Karl-Marx-Stadt nur geringfügige Schäden, und der Attentäter Kneifel war längst in Haft, doch der symbolische Schaden, überhaupt angreifbar zu sein, sorgte für eine längerfristige Unruhe in den ersten politischen Reihen. Dies war so vor allem, weil ständig Nachahmungstäter gefürchtet wurden, wie ihnen täglich eine Rückkehr des 17. Juni 1953 vor Augen stand. (Nicht umsonst fragte Erich Mielke seine Genossen angesichts der von der demonstrierenden Bevölkerung in Besitz genommenen Straße: „Haben wir jetzt den 17. Juni?“)

Nun, so kam es, dass „Egon“ an einem dieser Tage, für ihn ein Arbeitstag, mit einer eingewickelten Batterie samt batteriebetriebenen Drähten den Platz des Panzerdenkmals querte und von hinter Zeitungen hervorspringenden Männern niedergerissen auf die Nase fiel. Da sich das MfS schwerlich die Blöße eines Fehlers gab, behielten sie ihn im Auge, schnüffelten in seinem Freundeskreis und entdeckten den verbrecherischen Büchertausch; und wir tauschten nun über Klopfzeichen unsere Lebensdaten aus und fanden sogar eine gemeinsame Bekannte, die kosmisch schöne Mareile, aber hauptsächlich spielten wir Schach.

Selbstverständlich glaubte ich nicht, dass ich „Egon“ einmal wirklich gegenüberstehe. Als es dann in der Speisebaracke im Gefängnis in Cottbus doch genau zustande kam, schweißte uns das wie in einer Familie zusammen. Neben ihm, auf dem Ablagetisch, lag die Tagesausgabe der „Jungen Welt“. Der Schwerpunkt eine Schmähtirade gegen die im Westen gebliebene „Verräterin“ Veronika Fischer. Die göttliche Vroni genoss die Freiheit! Wir witzelten herum. Warum nannte sich die Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands eigentlich nicht Sozialistische Einheitspartei der DDR? Natürlich wusste jeder genau, dass dies dem deutsch-deutschen Alleinvertretungsanspruch Ostberlins DDR zuwiderlaufen würde. Es ging ja ständig um die Kassierung West-Berlins, und Westdeutschland sollte mit NVA-Panzern niedergehalten werden. Ein Anspruch, den wohl auch Putin im Sinne der Wiederherstellung der mächtigen alten Sowjetunion umtreibt.

 

„Alleinvertretungsanspruch“

Der befreundete Autor, Dipl.-Physiker und Jude Gabriel Berger, schreibt am 19.03.2002 auf Facebook:

In seinen Reden vor dem Überfall auf die Ukraine am 21.02.2022 und am 23.02.2022 hat sich Putin deutlich von Lenin distanziert, dem er nachsagte, durch seine Nationalitätenpolitik einen Sprengsatz an die Sowjetunion angelegt zu haben. In die Verfassung der Sowjetunion hat Lenin nämlich 1922 gegen den Widerstand von Stalin den Passus aufnehmen lassen, jede nationale Republik der Sowjetunion habe das Recht, den Verband der Sowjetunion zu verlassen. Unter Berufung auf diesen Verfassungsartikel seien die Republiken 1991 aus der Sowjetunion ausgetreten, was zu deren Zerfall geführt habe, was laut Putin „die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei. Stalin dagegen habe von vornherein die Möglichkeit des Ausscheidens der Republiken ausschließen wollen, sich aber gegenüber Lenin nicht durchsetzen können. Aus genannten Gründen gibt es im heutigen Russland keinen Lenin-Kult mehr, während Stalin immer stärker rehabilitiert und verehrt wird. Die Verehrung Stalins hat aber heute nichts mit egal welcher Variante des Bolschewismus oder Marxismus zu tun. Stalin wird verehrt, weil unter seiner Herrschaft die Sowjetunion, also das russische Imperium, zur Weltmacht aufgestiegen ist. Das Ziel Putins ist, zumindest in dieser Beziehung, Stalin nachzueifern und Russland wieder zu einem Imperium mit Weltgeltung und Welteinfluss zu machen. Weil dieses Ziel von Russland nicht wie von China durch die Wirtschaft zu erreichen ist, versucht das Russland durch eine überdimensionale Militärmacht.

Am 02.06.2018 meldet das „Handelsblatt“: „Die Russen nähern sich der ‚Glückssträhne‘ – meint Wladimir Putin. Der russische Präsident sieht in seinem TV-Marathon Russland im Aufwärtstrend, von dem aber noch nicht alle profitieren. Und er droht der Ukraine.“

So wie Putin seinen Landsleuten, die nicht so wollen, wie er will, mit „Säuberungen“ droht. Soweit von Stalinschen Säuberungen bekannt ist, jene dabei hochkommende Periode der sowjetischen Geschichte, in der politisch „unzuverlässige“ und oppositionelle Personen massiv verfolgt und ermordet wurden. Die Gesamtzahl der Opfer reichen nach Schätzungen von Historikern von mindestens 3 Millionen Toten bis weit über 20 Millionen. Der Zustand Glücks erfährt dabei eine völlig neue Dimension.

In seinen berühmt gewordenen „Erzählungen aus Kolyma“ schreibt der verurteilte Jurist und König der Gulag-Literatur, Warlam Schalamow:

Krist traf Miroljubow auf dem Dampfer ‚Kulu‘ – der fünften Fahrt der Schiffahrtssaison von 1937. Der Überfahrt ‚Wladiwostok – Magadan‘. Der Leibarzt des Fürsten Gagarin und Vitautas Putnas grüßte Krist kühl – Krist war ja Zeuge seiner inneren Schwäche, einer gefahrvollen Stunde in seinem Leben gewesen und hatte ihm, so empfand es Miroljubow, in einem schweren, todgefährlichen Moment nicht geholfen. Krist und Miroljubow drückten einander die Hand. „Ich bin froh, Sie lebend zu sehen“, sagte Krist. „Wieviel?“ „Fünf Jahre. Aber Sie verhöhnen mich. Ich bin ja vollkommen unschuldig. Und dann fünf Jahre Lager. Die Kolyma.“ „Ihre Situation war sehr gefährlich. Lebensgefährlich. Das Glück hat Sie nicht verlassen“, sagte Krist. „Gehen Sie zum Teufel mit solchem Glück.“ Und Krist dachte: Miroljubow hat recht. Das ist ein allzu russisches Glück – froh zu sein, wenn ein Unschuldiger fünf Jahre bekommt. Denn er hätte ja zehn bekommen können, sogar den Tod.

Und aus der Ukraine werden aktuell tausende, zehntausende Menschen auf russisches Gebiet verschleppt und womöglich der alten Welt des Archipel Gulag und ihrer Hungerpeitsche überlassen.

Im Wintersemester 2011/12, las ich, gab es an der Uni Saarland die Übung: „Die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts? Glasnost, Perestrojka und der Zerfall der Sowjetunion (1991)“. In der Ankündigung heißt es: „Am 25. April 2005 bezeichnete der russische Präsident Vladimir Putin den Zerfall der Sowjetunion [die Großmacht-Diktatur ihrer Zeit] in seiner Rede vor den Mitgliedern der Föderationsversammlung als ‚die größte geopolitische Katastrophe‘ des 20. Jahrhunderts. Der russische Staatschef ließ somit seiner Sehnsucht nach dem untergegangenen kommunistischen Imperium freien Lauf und äußerte eine Meinung, die sowohl in Russland als auch im postsowjetischen Raum noch 20 Jahre nach diesem historischen Ereignis weit verbreitet ist.“

Im dem im Jahr 2008 veröffentlichten Buch „Pulverfass Russland. Wohin steuert die Großmacht?“ heißt es im Klappentext:

Der Kreml hat die Demokratie ausgehöhlt und im Land eine Atmosphäre geschaffen, in der die jüngsten Morde an Regimegegnern wie [der Journalistin] Anna Politkovskaja überhaupt erst möglich wurden. Während der Geheimdienst FSB nach innen für Ordnung sorgt, verkörpert der Gasprom-Konzern, der die Kontrolle über die globalen Rohstoffmärkte anstrebt, nach außen den russischen Anspruch auf Weltgeltung. Um jeden Preis trachtet das Land danach, auf die Bühne der Supermächte zurückzukehren.“

Des Weiteren wird das Versprechen gegeben, dass Sagers Buch zeigt, was hinter Moskaus Machtspielen steckt. Das erste Kapitel des Buches heißt (und stellt wohl die gerade heute, auch an diesem 22. März 2022, in dieser modernen Aula in der Studentenstadt Stadt Münster, die uns aus den gegebenen Gründen beherrschende Frage) „Was treibt Putin an?“ Dazu schreibt Dirk Sager:

Aufstieg und Niedergang, Hoffnung und Desillusionierung – wie in einem Malstrom wirbelt Rußland zwischen den Polen der Extreme: Moskau als ‚Drittes Rom‘ oder eine Hölle auf Erden (…). Es war [aber] keineswegs von der Geschichte determiniert, dass aus den Ruinen der Sowjetunion keine Demokratie erwuchs. Schließlich wird in Moskau, aber auch im Westen, im Disput über gegenwärtige Verhältnisse eine Haltung vertreten, der zufolge die Kritik am System als unangemessenen Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes gilt. Doch falsche Zurückhaltung würde ein Reinfall in die Zeit vor den siebziger Jahren bedeuten, als sich das östliche und westliche Lager im Kalten Krieg zaghaft um „Wandel durch Annäherung“ bemühten.

Auf der Konferenz von Helsinki 1975, wo sich die Regierungschefs und Staatspräsidenten Europas versammelt hatten, wurde eben nicht nur über ein System der gemeinsamen Sicherheit und die Verbesserung des Handels diskutiert, sondern auch über Menschenrechte. Teile der russischen Zivilgesellschaft fanden sich schon damals zusammen und beriefen sich auf die Beschlüsse dieser großen Ost-West-Konferenz. (…) Im Jahre 2000 erläuterte der noch junge Präsident Putin auf der Pressekonferenz in einem nach den Maßen der Bescheidenheit gestalteten Raum im Kreml, „geduldig, weshalb es zwingend sei … um die zentrifugalen Kräfte im Riesenreich zu bändigen, die ‚Vertikale der Macht‘ zu stärken. Vertikale der Macht – das wurde das Schlüsselwort für die Ausrichtung aller politischer Macht-Strukturen im Land auf den Kreml. (…)“ Dabei „hat Putin selbst demonstriert, wie sich mit festem Blick aufs Ziel und wohlüberlegter Taktik“ (zum Beispiel zur Zeit des Vernichtungskrieg gegen Tschetschenien gleichzeitig auf internationalen Konferenzen als Friedensengel mit verblüffenden Erklärungen trotz alle berechtigter Vorwürfe zu brillieren) „auch in kürzester Amtszeit die demokratischen Grundstrukturen eines Staates demonstrieren lassen.“

Am 06.03.2022 schreibt Christoph Kunkel im SPIEGEL, was Putin wohl antreibt: „Pinochets Militärdiktatur nannte Wladimir Putin 1993 als Leitbild. Und Zar Iwan der Schreckliche? Halb so wild. Offen pries der Kremlchef Monarchie und Autokraten – was auch deutsche Wirtschaftsvertreter beklatschten.“

Am 24. Februar 2022 überfiel die Putin die Ukraine und begann seinen lange vorbereiteten Krieg, der bereits Tausende von Ukrainern getötet und fast drei Millionen aus dem Land vertrieben hat.

 

Die Vertikale der Macht

Als wir im Gefängnis unsere Protestaktion vorbereiteten, war diese gerade gegen die „Vertikale der Macht“ gerichtet. Es ging uns, so indianerhaft es klingt, um den Sieg der fehlerhaften Demokratie über die bleierne Diktatur. An einem beispielhaften Nachmittag zuvor, in den Sommermonaten, diskutierten wir im staubigen Freihof, dessen Grashalme jeden Morgen von einem speziellen Häftlingskommando ausgerissen wurden, dass der iranische Rundfunk mit der Begründung die Bevölkerung ermutigte, Regimegegner zu denunzieren, weil niemand geschont werden dürfe und, falls nötig, müssten auch die nächsten Angehörigen von denen, die abgekommen sind, an die Revolutionsgerichte übergeben werden.

Auf unserer Agenda ganz oben stand die Freiheitsbewegung in Polen, wobei immer wieder die Frage aufblitzte, ob von Seiten des Staates am Ende wieder zu den Maßnahmen der „Säuberungen“ gegriffen würde.

Ob Griechenland, Chile oder Argentinien, alle Nachkriegsdiktaturen schickten diesen Schrecken um die Welt. So standen wir im Freihof, im Gefängnis. Wind kam auf, wir schluckten Staubwolken, und spuckten Sand aus.

Da erhob sich die Stimme des feisten Schließers „Panzerplatte“ (wie er sich nur an uns herangeschlichen hatte?). „Nicht, dass wir das Mullah-Regime überaus gut finden, aber das ist eben Führung und Disziplin gegen Entartung und Grenzenlosigkeit!“

Wir sahen uns an, und ich überlege heute, ob es auch „Panzerplatte“ war oder eher „Petrograd“ oder „Berija“ oder doch eher „Salonbolschewist“, oder „Roter Terror“, oder „Arafat“, „Zitteraal“, „Tellermine“ „Texaner“, „Onane“, „Urian“, „Würger“, „Kjelt“, „Pfeffernase“, „der kleine Beckenbauer“, „Stalin“ selbst oder „Lachtaube“ am Ende gewesen ist, der über die Flure der Zellenbereiche, die Erziehungsbereiche hießen, vielleicht sogar betrunken, was vorkam, brüllte, vielleicht, um etwas Besonderes zu sagen: „Wenn ich Menschenrechte höre, zieh ich die Atombombe!“

Kannte er Goebbels Erregungsschwall: „Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich meinen Revolver“? Der war auch schon nicht eigener Art, sondern stammte aus dem Stück „Schlageter“ („….entsichere ich meinen Browning“/1933), freilich ein Märtyrerschauspiel des Nationalsozialismus.

Aber die Verantwortung der Kunst (jener großen Freundin der gewährten Grundrechte), nicht zu blenden, leuchtet in der Diktatur mit ihren ausweglosen Vorschriften weder Raum, Zeit, noch Erziehungsbereiche aus.

„Aber“, wandte sich Lennon, 18 Monate für „Biermann“ mit Kreide an eine Hauswand, „Kopf tragend“ wie Kojak, fähig zum Hahnenruf wie Professor Unrat, und eben Sand im Mund, an „Panzerplatte“:

Während wir schon nächsten Montag oder an einem Montag in einem Monat oder erst an einem Montag in einem Jahr von hier auf Transport in die grenzenlose Freiheit gehen, werden sie niemals in ihrem Leben reisen können, wohin sie wollen. Sicher gibt es das Bolschoi-Theater, die Ermitage, den Friedrichstadtpalast, die Olympischen Erfolge. Diese wunderschönen Sachen gibt es in ihrer Diktatur, aber sie erlaubt es ihren Menschen nicht, mit allen Menschen darüber frei zu reden. Sie werden ständig auf die Strategien von Erich Honecker, Erich Mielke, Friedrich Dickel [dem Minister des Inneren, dem die Schließer unterstanden] und der Kontrollmacht im Kreml abhängig sein, die keinen frei atmen lässt, ohne an sie zu denken, und notfalls den Chinesischen machen müssen. So zu leben ist für mich grenzenlose Unvernunft, wogegen in der Freiheit zu leben für mich das Vernünftigste auf Erden ist.

v.l.n.r. Lennon, Simone, der Autor, Gudrun Ertel, Heike Hering. Foto: H.M.

Zur aktuell aufkeimenden Hoffnung, Peking könne im Ukraine-Krieg Moskau zur Vernunft bringen, das mit der Kaperung des Atomkraftwerkes Tschernobyl längst die Welt atomar bedroht, konstatierten die Stuttgarter Nachrichten bereits am 25. 02. 2022: „Peking hat ein Problem mit Putins Angriffskrieg. Xi Jinping und Wladimir Putin haben sich ‚grenzenlose Freundschaft‘ versprochen. Doch China wird sich nur so lange daran halten, wie es strategisch nützlich ist.“

Didi Kirsten Tatlow vom German Council on Foreign Relations hält laut Deutsche Welle vom 14.03. 2022 die aufkeimenden Hoffnungen, China könne sich als aktiver Vermittler einbringen, für „ziemlich unangebracht“: „Selbst wenn Peking kurzfristig vermitteln kann, lädt man es damit im Grunde ein, über etwas Kontrolle zu übernehmen, das extrem wichtig für demokratische Länder ist. Damit versetzen sich demokratische Länder in eine sehr schwache Position.“

Zu den Positionen, die für Demokratien „extrem wichtig“ sind, und zur Maßhaltung der Strategien, die Diktaturen innewohnen, gehört die Handhabe der „unveräußerlichen Menschenrechte“, wie sie von der UNO zu Papier gebracht wurden und die unser Gefängnis in der DDR, mit dem Glück des Freikaufs durch die von ihren alliierten Kontrollmächten demokratisch erzogene Bundesrepublik, zu einem magischen Ort der Befreiung machte.

Insofern war die Zeit im Gefängnis eine gute, lehrreiche Zeit. Kriege aber verändern alles, das Gefühl für die Zeit wie einen selbst. Davon spricht das Gedicht des in Moskau lebenden Poeten Dov-Ber Kerler (alias Boris Karloff) vom 05.03.2022[9], entnommen dem Essay „Wir bewundern sie und sie verschwinden“ unserer P.E.N.-Kollegin und Suhrkamp-Autorin Esther Dischereit:

Reime, sie sind am Ende / die klassischen, die biegsamen / die romantischen oder auch die unbeholfenen / Der Atem selbst, so sieht es aus, verlor seinen Rhythmus / Die Worte wie sturzbesoffene ungehobelte Leute / erklimmen gerade Wände / Hört sich an wie Kleinkindgeschrei / Unter den Bomben die fallen und fallen und fallen / Ist selbst die Stille abgelaufen / Sogar die dünne Stimme Seiner Stille ist weg / Und der großartige Friedenskämpfer, / Wischi-waschi und mit einer Seele so rein / Will gerade nur eine einzige Sache/die grausige Aufgabe direkt und ohne Diskussion vollenden / die brutale Bestie Putin erwürgen mit seinen eigenen Händen

„Von Anbeginn an hat dieser Krieg bei mir eine komplizierte Reihe von Emotionen (Wut und Bestürzung hauptsächlich) ausgelöst. Ich finde es schwer, an etwas anderes zu denken. Ich reagiere zurzeit in erster Linie auf die bloßen Tatsachen vor Ort – darauf, was der gewalttätige Irre Putin macht, auf das Massenelend, das hier geschieht“, schreibt in Esther Dischereits Essay ihr C., eine ukrainische Freundin aus den USA, nach Berlin.

Tritonen nun sind mythische Mischwesen, halb Fisch, halb Fleisch, im Gefolge Neptuns, mit dem Muschelhorn in der Hand. Wolf Biermann dichte im Januar 1963 „Gegen die Angst: Wie lange, sag, kannst du, / im Lügenmeer leben, ohne daß du /ein Fisch wirst?“ Man könnte abschließend es also so sagen: Diktaturen blasen, nach innen oder nach außen, immer zum Krieg, während Demokratien ihre Zeit dafür ausgeben, auf „freiem Grund“ die Menschenrechte zu pflegen, um mit allen Menschen frei zu reden, frei zu denken, frei zu fühlen, frei zu handeln, und das Leben frei und lebbar gestalten zu können.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

 

Axel Reitel Berlin-Mierendorff Insel, 19.03.2022, 09:39 Uhr.

 

 

Fußnoten:

[1] Vgl. Axel Reitel, Der Jugendstrafvollzug in der DDR am Beispiel Halle, S. 268f., Dr. Köster-Verlag Berlin, 2006. (Dieselbe Seitenzahl in der Erstveröffentlichung durch die Landesbeauftragte Sachsen-Anhalt 2002)

[2] Philip Pettit, „was bedeutet Freiheit?“ Sternstunde Philosophie, SRF Kultur, 2011. Dieser Gedanke Pettits ermöglicht einen feinen Trick, ein persönliches Theorem, sich in er SED-Diktatur so zu verhalten, als wäre man im vollen Besitz aller bürgerlichen Freiheiten. So haben nicht wenige gelebt und denen, die selbst ein begehrtes Exportgut darstellten, wurden sie sogar gewährt.

[3] Vgl. Freie Presse, Lokale Ausgabe Plauen, Artikel „Ich rotz dich ab!“ 1993[?].

[4] https://de.wikisource.org/wiki/Zwei_Lehrer_der_Freiheit_und_Menschenrechte_(1) (Aufruf 30.03.2022)

[5] Quelle: https://blogs.dickinson.edu/glossen/archive/glossen-43-2017-current-issue/dankesrede-aus-anlass-der-verleihung-der-dankbarkeitsmedaille-an-mich-und-vier-andere-vom-und-im-europaischen-solidarnosc-zentrum-ecs-in-danzig-am-12-dezember-2016/ (Aufruf 17.03. 2022)

[6] Vgl. Bertrand Russell, Philosophie des Abendlandes, Europa Verlag Zürich 2007, S. 791.

[7] Vgl. Albert Camus, Verteidigung der Freiheit, Rowohlt 1997, S. 119.

[8] Ebd.

[9] https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/506272/wir-bewundern-sie-und-sie-verschwinden/ (Aufruf 19.03.2022)

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