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Aug 17 2016

Land unter. Die Migranten sind da! Ein Lagebericht zur geographischen Mitte Europas

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von Anna Elisabeth Rosmus

Während des Balkankonflikts in den 1990er Jahren hatte Deutschland etwa 350 000 Flüchtlinge aufgenommen. Nachdem dessen Ende waren weit über 70% der Flüchtlinge nach Serbien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Albanien, Slowenien und in den Kosovo zurückgekehrt.
Seit 2013 steigt die Zahl der Migranten erneut an. Ende 2014 lebten in Deutschland 8, 2 Millionen Ausländer1 Das entsprach knapp 9% der Gesamtbevölkerung. Als im Spätsommer 2015 schubweise Tausende von Flüchtlingen im beschaulichen Passau ankamen, wurden diese von zahllosen freiwilligen Helfern und Bundespolizisten empfangen.
Die größte Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg verursachte Panik. Bei einem Treffen zwischen dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) und Kommunalpolitikern aus dem Grenzgebiet am 14. Oktober wurde festgehalten, zur Entlastung des Passauer Bahnhofs die Zahl der Sonderzüge, welche in Bayern abfahren, zu verdoppeln. Ein Appell an den Bund sollte zudem die Kapazitäten in den Warteräumen erhöhen und staatseigene Liegenschaften zur Flüchtlingsunterbringung überprüfen.
Tags darauf schickte Österreich in so kurzer Zeit so viele Flüchtlinge,2 dass laut Frank Koller, dem Sprecher der Bundespolizei in Passau, zeitweise die dortige Grenze geschlossen war. Während Busse der Bundespolizei und Fahrzeuge der Münchner Verkehrsbetriebe die Menschen zur Registrierung nach Passau brachten, berichtete Sabine Kain am 18. Oktober in der Passauer Neuen Presse (PNP): “Die Hilfsbereitschaft ist derweil ungebrochen: Waren die Vorräte des Neuhauser Helferkreises am Samstagabend nahezu aufgezehrt, brachten am Sonntag nach einem Aufruf im Internet wieder zahlreiche Spender Lebensmittel und Einweggeschirr zum Zelt.”
Genau eine Woche später fuhren Österreicher an die 4 000 Geflüchtete in Buskonvois nach Achleiten vor die Passauer Stadtgrenze. Am 2. November erwähnte Dominik Schweighofer in der PNP, dass die dortigen Tankstellenbetreiber zwar rund um die Uhr Getränke und Chips an diese verkauften und wegen “der Kälte der Nacht” Müttern mit kleinen Kindern eine Notunterkunft anboten, aber auch einen Sicherheitsdienst bestellten. Dann setzte er hinzu, ob Bernd Zierhut “eine Entschädigungsforderung für das entgangene Geschäft der letzten Woche” stelle, wisse dieser noch nicht.
Am Montag, den 26. Oktober, feierte Österreich seinen Nationalfeiertag. An der Innbrücke von Braunau nach Simbach wurden Fahrzeuge schon morgens zum Grenzübergang bei Kirchdorf umgeleitet. Bald standen um die 1 000 Flüchtlinge in der Kälte, ehe vor allem Frauen und kleine Kinder zum temporär designierten Wartebereich unter der Brücke geführt wurden. Immer mehr Einheimische wunderten sich, ob die Bundespolizei die deutsch-österreichische Grenze dicht machte. Als immer mehr Gaffer dazu kamen, beschrieb die PNP das “Flüchtlings-Watching”: “Sie unterhielten sich über Flüchtlingspolitik, während sie die Menschen anstarrten. Mehrere machten Fotos mit ihren Handys.”3
Am 27. Oktober berichtete Laura Logbauer in der PNP: “Sie sind viele. Und es werden immer mehr. Am Montag ist die bisherige Spitzenzahl von 8 245 Geflüchteten im Einsatzgebiet der Bundespolizei Freyung angekommen. 1 419 davon am Passauer Bahnhof und ganze 2 834 am Grenzübergang Achleiten, wo 24 Stunden lang Dauerbetrieb herrschte.” Als abends in Achleiten weitere 1 200 warteten, forderte der Passauer Oberbürgermeister (OB) Jürgen Dupper (SPD) von Horst Seehofer, dass München die Region entlaste.
Nachdem gegen 18 Uhr auch bei Kollerschlag über 2 000 weitere Flüchtlinge abgesetzt wurden und diese zu Fuß über die “grüne” Grenze liefen, beschwerte sich Wegscheids 2. Bürgermeister Lothar Venus im Bayerischen Rundfunk: “Die Österreicher suchen sich die Grenze mit dem wenigsten Widerstand, und da werden die Flüchtlinge dann abgeladen.” Als der Passauer Landrat Franz Meyer (CSU) die Ruhstorfer Niederbayernhalle als weiteren Warteraum anbot, damit nicht weitere Flüchtlinge im Freien übernachten mussten, brachten zwei Einsatzgruppen der Bundespolizei die Flüchtlinge in Bussen nach Ruhstorf und Passau, wo sie registriert und versorgt wurden. Noch vor Mitternacht fuhren in Passau zwei Sonderzüge mit Flüchtlingen ab, um im Bundesgebiet verteilt zu werden.
In der PNP stand am 27. Oktober: “Der Flüchtlingsandrang im Raum Passau hält unvermindert an. Am Dienstag rechnete die Bundespolizei dort mit bis zu 8 000 Flüchtlingen. … In Wegscheid waren alleine bis Dienstagmittag 22 Busse mit etwa 1 000 Migranten angekommen.” Heinrich Onstein, Sprecher der Bundespolizei in Freyung, erklärte, dass Landespolizei sie zu Fuß zu einer Sportanlage in den Ort begleitete, wo sie versorgt würden, bis Busse sie zu Notquartieren brächten. Lothar Venus wurde zitiert, es sei nur eine Frage der Zeit, wann das erste Baby hier erfriere. 4
Als in Schärding “auf Geheiß von oben” ein Zelt als Notquartier für etwa 1 000 Flüchtlinge aufgestellt werden sollte, meldete die PNP am 30.10.: “Die Schärdinger fürchten ‘ein Sterben der Schärdinger Wirtschaft’ und ein ‘Sprengen der Kapazitäten unserer bayerischen Nachbargemeinde Neuhaus am Inn’”.
Als sich am 1. November in Passau bei einer Kundgebung der Alternative für Deutschland (AfD) 1 300 Menschen versammelten, traten rund 650 Menschen gegen sie an. 5 Unter den letzteren waren Urban Mangold (ÖDP) und Erika Träger (Grüne), die beiden Stellvertreter von OB Dupper. Über der Ludwigstraße in der Fußgängerzone hing ein Zitat aus dem Grundgesetz: “Die Würde des Menschen ist unantastbar.” Auf Plakaten standen Slogans wie “Verstand statt Extremismus” und “Menschenrechte kennen keine Grenzen”.
Die PNP meldete am gleichen Tag: “Durchfahrt in Achleiten wieder frei(.) Am Freitag ist der vorerst letzte Flüchtling von der Bundespolizei über die Grenze in Achleiten eskortiert worden.” Von den etwa 4 500 Migranten, die am Samstag bei Freyung ankamen, erreichten rund 2 000 Deutschland über den Passauer Bahnhof.”
Am 2. November gab Heinrich Onstein, Sprecher der Bundespolizei in Freyung, bekannt, dass österreichische Behörden ab Nachmittag 30 weitere Busse mit ca. 1 500 Flüchtlingen angekündigten. Vor allem Neuhaus am Inn war betroffen. Die PNP meldete, dass aufgrund zusätzlich aufgebauter Zelte auf beiden Seiten der dortigen Grenze der “ungewöhnlich große Andrang aber problemlos bewältigt werden” konnte.
Als Peter Altmaier (CDU), Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung, am 4. November nach Passau kam, kündigte er die Schaffung eines Polizeizentrums für die Zusammenarbeit deutscher und österreichischer Polizisten an.
Als EU-Kommissar Günter Oettinger dem Handelsblatt gegenüber das deutsche Asylrecht für die Flüchtlingskrise in Europa mitverantwortlich machte, meinte er: “Eine Änderung des Grundgesetzes wäre geboten …. Solange dies nicht angegangen wird, bleibt eigentlich nur eine Alternative: Milliardenhilfen für die Flüchtlingslager in der Türkei und anderen Staaten.” Anstatt der bisherigen 500 Grenzbeamten würden zudem 5 000 gebraucht. 6
Bei einem Treffen in Brüssel einigten sich mehrere Regierungschefs mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu nicht nur auf die Übernahme von Flüchtlingen aus der Türkei, wo sich bereits zwei Millionen Syrer aufhielten. 7 Um deren Situation auch vor Ort zu verbessern, steuerte die EU dort drei Milliarden Euro bei.
Am 26. November monierte Hans-Eckhard Sommer, Abteilungsleiter Asylrecht im Bayerischen Innenministerium, nicht nur 328 000 unerledigte Asylanträge, sondern auch die Tatsache, dass 300 000 weitere Flüchtlinge wegen Arbeitsüberlastung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) noch gar keinen Asylantrag stellen konnten. Die Behörde sei längst dazu übergegangen, keine neuen Termine für die Stellung eines Asylantrags mehr auszugeben.
Obwohl wegen des Zuwanderungsstroms relativ viele Notunterkünfte eingerichtet sowie Bundespolizisten und Helfer mobilisiert worden waren, schien allerhand Chaos unvermeidlich. Allerdings waren auch kleine “Wunder” nicht ausgeschlossen. Am 19. November berichtete Philip Schülermann in der PNP, dass ein 41-jähriger Afghane in einer Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) bei Hamburg auf einem Ausschnitt der PNP seinen auf der Flucht getrennten und totgeglaubten Sohn erkannte. “Weil Reza mit falschem Geburtsdatum registriert worden war”, hatte er kaum eine Chance auf ein Wiedersehen. Innerhalb weniger Tage war die Familie jedoch wieder beisammen.
Bundesweit drehte sich mittlerweile die Diskussion auch darum, ob man Flüchtlingen aus Syrien in Deutschland nur noch “subsidären” Schutz gewähre. Anstatt von drei Jahren würde ihr Aufenthalt dann vorerst nur ein Jahr lang geduldet und ein Familiennachzug unmöglich.
Andreas Nigl begann seinen PNP-Artikel vom 16. Februar 2016 wie folgt: “Die Letzten beißen die Hunde. Die Letzte, das ist jetzt die kleine Bayerwald-Kommune Neuschönau (Landkreis Freyung-Grafenau). 2 200 Einwohner groß. Am Mittwoch kommen 44 ‘neue’ Frauen, Männer und Kinder dazu. Auf Amtsdeutsch sogenannte Obdachlose. Eigentlich Syrer, Flüchtlinge, anerkannt. Von der großen Politik ‘Willkommen geheißen’, gestrandet in einer alten, leer stehenden Schule auf Matratzenlagern. … ‘Neuschönaus’ wird es künftig im Landkreis Freyung-Grafenau, Niederbayern, Bayern, ja in ganz Deutschland, viele geben.” 
Nur hie und da erinnerte jemand etwas trotzig daran, dass es gerade in der Weihnachtsgeschichte um Menschen in Not gehe, die Hilfe suchen. “Nur mal so zum Nachdenken an unsere Fremdenfeinde… Nur vom Hals sollten sie uns gefälligst bleiben. Frohes Fest an überreichlich gedeckter Tafel ….”

Schlechtwetterfronten: Die Zahlen sinken

2015 ertranken mehr als 3 700 Flüchtlinge im Mittelmeer. Nachdem Ende Oktober 2014 auch die italienische Marine ihre Operation Mare Nostrum zur Rettung einstellte, 8 gründete der 39-jährige Hobbysegler Michael Buschheuer die Initiative Sea Eye9 und modifizierte einen Hochseefischkutter. Am 15. Februar 2016 meldete die dpa: “Regensburger will Flüchtlinge mit eigenem Kutter aus Meer retten”.
Indessen waren wegen schlechten Wetters die Flüchtlingszahlen auf den griechischen Inseln stark zurückgegangen. Nach dem 17. November, als die dortige Küstenwache neun Leichen barg, wurden im Mittelmeer eine Woche lang keine Opfer mehr verzeichnet. 10
Auch die Zahl der Flüchtlinge, die in und um Passau herum ankamen, pendelte sich mittlerweile auf 3 600 bis 3 800 pro Tag ein. Am 23. November lautete eine PNP-Schlagzeile “Der geordnete Ausnahmezustand”. Vier Tage später berichtete die PNP: “Keine Flüchtlinge in Wegscheid”. Auch die vorübergehend gesperrte B388, wo seit Anfang Oktober an die 61 000 Flüchtlinge eingereist waren, war “wieder offen”.
Die Zahl abgelehnter Asylbewerber schrumpfte ebenfalls. 2015 waren Polizisten z.B. sechsmal Mal in Passau, um abgelehnte Asylbewerber in München der Bundespolizei zu übergeben. 11 Dazu kommt, dass vor allem Kosovaren und Albaner zunehmend freiwillig ausreisten. 12 Nach Auskunft des Bayerischen Innenministeriums fliegt ein bis zweimal wöchentlich eine Maschine ab München Flüchtlinge zurück in den Westbalkan. 13 Nur vereinzelt machen kleinere Gruppen wie die mehr als drei Wochen unter kirchlicher Obhut stehenden Flüchtlinge in Regensburg14 dabei Schlagzeilen.
Iraks Botschaft in Berlin stellte von Ende Oktober bis Ende Januar 1 400 Rückreisedokumente15 aus. Newsweek zitierte am 27. Januar einige Iraker, warum diese Deutschland verlassen. 16 Als die Los Angeles Times am 1. März titelte “Refugees buying one-way tickets home after finding Germany intolerable”, stand da: “hundreds, perhaps thousands, of refugees are giving up on Germany every week, even as up to 3 000 arrive every day. 17 Die Rede war von einem Iraqi Airways Flug vom Berliner Flughafen Tegel nach Bagdad, der an die 150 enttäuschte Iraker zurück brachte18– auch, weil Schmuggler ihnen allerhand Luxus nur vorgegaukelt hatten. Zitiert wurde ein LKW-Fahrer: “The food was terrible, so disgusting that not even animals should be fed it. They made us sleep in these cold, empty buildings and when someone said they were sick, they just ignored us. You could feel it everywhere that Germans looked down at us like we were bums. I miss my family and can’t wait to get home.”
Glaubt man der Los Angeles Times, waren auch immer mehr Syrer unter den Rückkehrern. 19
Laut PNP vom 2. Dezember monierte Innenminister Joachim Herrmann (CSU) dennoch, dass alleine in den vergangenen drei Monaten mehr als eine halbe Million Flüchtlinge über die bayerische Grenze kamen, was eine Begrenzung “nach wie vor dringend notwendig” mache. Prompt monierte auch Christian Bernreiter, der Deggendorfer Landrat und Präsident des bayerischen Landkreistages, beim Neujahrsempfang in der vollbesetzten Aula des Dingolfinger Gymnasiums, der Zustrom an Flüchtlingen sei noch immer zu hoch, um geschultert zu werden. Er könne einfach nur noch den Kopf schütteln. “Die 1,1 Millionen Flüchtlinge im vergangenen Jahr, die schaffen wir. Aber nicht noch einmal so viele.” 20

Politische Stimmungsmache

Nachdem der Imam der Berliner As-Sahaba-Moschee21 zum zweiten Mal in das winzige Islamische Zentrum Passau (IZP) am Stadtrand Haidenhof kam, wurde dieses plötzlich als Treffpunkt niederbayerischer Salafisten abgestempelt. Stefan Fischer meldete am 22. November in der PNP, dass zu dessen Vorträgen jeweils 40 Personen kamen und das IZP unter Beobachtung des Bayerischen Verfassungsschutzes stehe. 22
Am 27. November posaunte die PNP, Innenminister Herrmann habe einen als gefährlich eingeschätzten Islamisten gemeinsam mit 40 anderen Kosovaren in sein Heimatland abschieben lassen. Dass der Mann weder ein Flüchtling war noch einen Asylantrag gestellt hatte, fiel beinahe unter den Tisch.
Nach Übergriffen auf Kölner Frauen23 in der Silvesternacht machten CSU-Chef Horst Seehofer und dessen aus Passau stammender Generalsekretär Andreas Scheuer mit ihrem Vorschlag, straffällige Asylbewerber auch ohne Prozess abzuschieben, so massiv Furore, dass auch der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick Kirche und Politik dazu aufrief, sich an Recht und Gesetz zu halten. 24
Als die AfD-Chefin Frauke Petry forderte, gegen Flüchtlinge an der Grenze notfalls auch Schusswaffen einzusetzen, meinte Göring-Eckardt, die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag,, Petry zeige “die hässliche Fratze der AfD” und SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann erinnerte am 30. Januar daran, dass der letzte deutsche Politiker, der auf Flüchtlinge schießen ließ, Erich Honecker gewesen sei. Nachdem die AfD-Politikerin Beatrix von Storch mit ihrer Forderung, an den Grenzen notfalls auch auf Frauen und Kinder unter den Flüchtlingen schießen zu lassen, noch eins drauf setzte, behauptete sie gegenüber dem Spiegel, sie sei lediglich von ihrer Computermaus “abgerutscht”.
Am 12. Februar demonstrierten daraufhin in Augsburg nach Polizeiangaben rund 2 000 Menschen gegen einen Auftritt von Frauke Petry im historischen Rathaus. Während einige Demonstranten Plakate mit dem Artikel 1 des Grundgesetzes “Die Würde des Menschen ist unantastbar” hielten, stand auf einem anderen: “Schämen Sie sich, Frau Petry!” Neben dem Rathaus hatte die Stadtverwaltung ein riesiges Banner mit dem Motto “Augsburg. Wir sind Friedensstadt!” aufhängen lassen und Oberbürgermeister Kurt Gribl (CSU) betonte, Petry sei als “Botschafterin des Unfriedens”25 in Augsburg nicht willkommen. 26
Furore machte auch der angebliche Tod eines Flüchtlings, der zu lange vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso)27 im Berliner Stadtteil Moabit gewartet habe. 28

Organisierte Proteste gegen die Flüchtlingspolitik

Als in Berlin am 7. November etwa 3 500 AfD-Anhänger gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung auf die Straße gingen, trafen sie auf 600 Gegendemonstranten und 1 100 Polizisten. Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) meinte: “Die Rote Karte sollte der AfD und nicht der Bundeskanzlerin gezeigt werden. Björn Höcke und andere Sprecher der Partei leisten der Radikalisierung in der Gesellschaft Vorschub”. Auf eine Klage der rechten Partei hin entschied das Bundesverfassungsgericht allerdings, der Kommentar müsse von einer Internetseite entfernt werden. 29
Ein Schwabe, der in Passau – ebenfalls für den 7. November – unter dem Motto “Bündnis gegen Asylmissbrauch” eine Kundgebung anmeldete, stieß auf ungleich weniger Resonanz: Es trafen sich nur acht Leute, welche die Deutschland- und Bayern-Fahne schwangen, aber trotz ihrer beiden Transparente “Willkommens-Idiotie ist heilbar” sowie “Asylbetrüger sind nicht willkommen” laut PNP auf etwa 50 “asylfreundliche Menschen” trafen.
Als Demonstranten in Dresden und weiteren europäischen Städten am 6. Februar gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aufmarschierten, witzelte die PNP: “Deutlich weniger Anhänger von Pegida und anderen islamfeindlichen Bündnissen als erwartet”. “Der Hauptredner und Mitbegründer der Bewegung, Lutz Bachmann, fiel wegen Krankheit aus. Zudem war eine Gegendemonstration wesentlich lautstärker.”
Obwohl der in Plattling wohnende Russlanddeutsche Walter Seewald für den folgenden Tag in Deggendorf 500 Teilnehmer angekündigte, demonstrierten dort nur etwa 100 seiner ehemaligen Landsleute30 und (andere) Rechtsextreme für “Recht und Ordnung in Deutschland”.
Während Willy Brandt 1969 unter dem Motto “Mehr Demokratie wagen” eine neue Ära des sozialen Zusammenhalts in der Gesellschaft begonnen hatte, führte das Aktionsbündnis “Mehr Demokratie wagen im Landkreis Passau” in Neuburg am Inn und Ruhstorf eine Bürgerbefragung zum Thema Asyl durch. Eike Hallitzky vom Neuburger Gemeinderat und Landesvorsitzender der Bayerischen Grünen schmähte die Verantwortlichen in einer Presseerklärung vom 11. Februar prompt als “gesellschaftliche Spaltpilz-Säer”.
Als Der 3. Weg in der Gemeinde Arnbruck (Landkreis Regen) für den 19. März unter dem Motto “Stoppt die Asylflut” einen Aufmarsch anmeldete, rief Rita Röhrl, SPD-Kreisvorsitzende und Bürgermeisterin von Teisnach, kurzerhand zu einer Gegendemonstration auf.
Als die AfD am 18. Juni in Deggendorf eine Kundgebung mit Björn Höcke, dem Thüringer Landesvorsitzenden hielt, trafen sich nach Angaben der Polizei etwa 400 Teilnehmer. Die PNP meldete, Höcke warf den “Altparteien” nicht nur vor, das “großartige deutsche Volk” mit einer “multikulturelle(n) Revolution beseitigen” zu wollen, sondern eine “klar verfassungswidrig[e]” Zerstörung solidarischer Sozialsysteme. Zur Gegendemonstration von SPD, Grünen, Gewerkschaften und anderen Gruppen kamen etwa 200 Personen.

Bis hin zur Volksverhetzung

Am 15. Dezember stand ein bereits sechsfach vorbestrafter Waldkirchner vor dem Freyunger Amtsgericht. Er hatte im Internet öffentlich gepostet: “In Waldkirchen hand a so viele!! Und des genau neben dem Krankenhaus! Da muas ma mal mit’m Quattro einfach in so a Masse von dene rein fahren.” Während der 21-Jährige wegen Volksverhetzung 1 000 Euro an einen gemeinnützigen Verein im Landkreis zu zahlen hatte, wurden die vier Monate Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt.
Eine Woche danach erreichte einen 22-jährigen Passauer wegen Volksverhetzung eine Strafe von 100 Tagessätzen à 20 Euro. Er hatte auf Facebook kommentiert: “Drecks-Asylanten, die sollte man abstechen, jeden Einzelnen.” Als der Passauer Einspruch einlegte, wurde aus dem Strafbefehl eine Anklage. Am 27. Dezember ermittelte das Fachkommissariat Staatsschutz der Kriminalpolizeiinspektion Passau wegen einer 70 Zentimeter hohen und etwa sechs Meter breiten Schmiererei am Simbacher Bahnhofsplatz: Die Außenwand der Asylbewerberunterkunft war in schwarzer Farbe mit “Not welcome” besprüht. Links und rechts daneben prangten Hakenkreuze.
Bei einem Faschingsumzug in Perlesreut (Landkreis Freyung-Grafenau) stand auf einem Wagen: “Rapunzel lass dein Haar nur oben, denn es ist nicht mehr schön auf deutschem Boden.” In Freyung war zu lesen: “Heimatliebe statt Multikulti”. Als in Reichertshausen am 7. Februar ein als Wehrmachtspanzer dekorierter Wagen mit den Aufschriften “Ilmtaler Asylabwehr” und “Asylpaket III” fuhr, 31 ermittelte die Staatsanwaltschaft auch dort wegen Volksverhetzung. 32
Am 23. Juni meldete die lby, dass an der Türklinke einer vor zwei Jahren in Linz eröffneten Moschee33 während des Ramadan-Nachtgebets ein halber Schweinekopf befestigt wurde.
Nachdem die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) monatelang zunehmend rassistische und hetzerische Äußerungen im Netz feststellte, 34 rief deren Vorsitzender, Andreas Fischer, am Safer Internet Day dazu auf, derlei dem jugendschutz.net zu melden. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet seinerseits Internet-Aktivitäten in Bayreuth, Ingolstadt, Memmingen und München.
Auch Folgen für Einheimische blieben nicht aus. Am 3. Dezember berichtete Florian Mittermeier in der PNP über Anfeindungen, der sich eine schon seit 15 Jahren mit einem Moslem verheiratete Deggendorferin neuerdings ausgesetzt sah: “Die Leute lachen uns ins Gesicht und stecken hinter unserem Rücken die Köpfe zusammen.”

Tätliche Übergriffe

Mindestens ein rechtsextremer Angriff auf deutsche Asylheime pro Woche wurde amtsbekannt. Vor allem Brandanschläge auf noch nicht bezogene Unterkünfte machten Schlagzeilen. Am 3. Dezember ermittelte die Kriminalpolizeiinspektion Straubing gegen Unbekannte, die in Viechtach mit Steinen ein Fenster der Asylbewerberunterkunft einwarfen. In der Nacht vom 28. auf den 29. Januar 2016 flog eine mit Sprengstoff gefüllte Granate auf ein Flüchtlingsheim im Schwarzwald. Am 21. Februar begann die dpa einen Bericht: “Immer unverhohlener treten Ausländerfeinde in Deutschland auf. Sie zünden Flüchtlingsheime an, schüren Angst vor Zuwanderern. Nun schockt das Verhalten einer Menschenmenge im sächsischen Clausnitz35 und Bautzen. 36
Nach einem Brand, welcher eine Düsseldorfer Flüchtlingsunterkunft für 282 Männer nahe der Messe komplett zerstörte, teilte die Polizei mit, dass es dort bereits vier Ermittlungen wegen Bränden und vor zwei Wochen wegen versuchter Brandstiftung gäbe. Insgesamt seien acht Männer festgenommen worden. Auch zwei Bewohner sollten verantwortlich sein. Laut Rheinischer Post lud die Flüchtlingsbeauftragte deshalb für den 9. Juni Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes, der Stadt und des Sicherheitsdienstes zu einem Krisengespräch ein.
Auch Angriffe auf einzelne Asylbewerber nahmen zu. Am 12. Dezember verurteilte das Landgericht Regensburg drei junge Männer wegen gefährlicher Körperverletzung eines 18-Jährigen zu mehreren Jahren Gefängnis. Vom 5. auf den 6. Februar verletzten drei Männer in Landau einen Iraker laut Polizei so mit einem Messer, dass dieser im Krankenhaus behandelt werden musste. Am 11. Februar schrie ein betrunkener 22-jähriger Niederbayer vor einer Asylbewerberunterkunft in Kelheim “rechte” Parolen, ehe er einen 21- und 22-Jahre alten Bewohner mit einer Machete angriff. Bis die Handschellen klickten, überwältigten ihn drei Passanten. 37
Am 2. Juni stand in der PNP, dass ein 17-jähriger Afghane mittags an einer Passauer Bushaltestelle “Opfer einer grundlosen Prügelattacke” wurde. Nachdem ihn ein 18-jähriger Deutscher mehrmals mit der Faust ins Gesicht schlug und der Jugendliche zu Boden ging, trat er diesen noch mit dem Fuß, ehe er flüchtete. Obwohl das Opfer zur Behandlung stationär ins Krankenhaus musste, gelang es, den Täter festzunehmen.
Am 11. März berichtete die PNP von zwölf Verletzten bei einer Massenschlägerei in der Ergoldinger Asylbewerberunterkunft.
Am 6. Juni titelte die PNP: “Asylbewerber berührt Frau auf der Tanzfläche unsittlich”,38 und am 14. Juni postete jemand in der Facebook Gruppe Niederbayern:39 “Asylbewerber (21) grapscht an der Tankstelle”. Die Rede war von einem 21-jährigen Iraker, der in derselben Straße dreimal negativ auffiel. Ausdrücklich angemerkt war allerdings: “Leider erreichen uns zum Thema Flüchtlinge so viele unangemessene, beleidigende oder justiziable Beiträge, dass eine gewissenhafte Moderation nach den Regeln unserer Netiquette kaum mehr möglich ist.”

Psychische Probleme

Individuelle psychische Probleme tragen zur Eskalation bei. Obwohl sich sowohl die Zahl der Psychiater wie auch der Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche seit 2005 etwa verdoppelte, berichtete die dpa am 8. Juni, jedes vierte Kind in Bayern sei psychisch krank. 40 Dabei sind Kinder aus Familien mit niedrigem sozialen Status häufiger betroffen als Gleichaltrige aus wohlhabenden Familien mit hohem Bildungsniveau.
Ein 17-jähriger Afghane, der am 18. Juli in einem Regionalzug bei Würzburg vier Menschen aus Hongkong schwer verletzte, wurde von einem Spezialeinsatzkommando der Polizei mit mehreren Schüssen getötet. 41
Am 22. Juli lief ein rechtsextremer 18-jähriger Deutsch-Iraner in München Amok. 42 Der lby berichtete neun Tage später, obwohl Ali David S. seinem Vater nie erzählt habe, wie er in der Schule gemobbt wurde, erfuhr dieser vor vier Jahren über einen Mitschüler davon. Er nahm Ali von der Schule, sprach mit der Lehrerin und zeigte einige Mitschüler an. Doch die Ermittlungen seien eingestellt worden. 43 Ehe Ali sich selbst erschoss, starben neun Migranten. 44 Sieben waren Muslime aus der Türkei bzw. aus dem Kosovo. Weitere wurden verletzt. Die Pistole hatte sich der Schütze offenbar im Internet besorgt. 45 Die Polizei vermutete Mitwisser. 46 Nachdem ein 16-Jähriger festgenommen wurde, 47 berichtete Oberstaatsanwalt Thomas Steinkraus-Koch, dieser habe den Täter wohl vergangenes Jahr in der Psychiatrie kennengelernt, wo er auch erfuhr, dass Ali vom norwegischen rechtsextremen Attentäter Anders Behring Breivik fasziniert war. Alis Vater sagte der Bild am Sonntag: “Wir bekommen Morddrohungen. Meine Frau weint seit einer Woche. Unser Leben in München ist erledigt”.48
Nachdem ein Syrer am 25. Juli vor einem Open-Air-Konzert in Ansbach abgewiesen wurde, explodierte eine Bombe voller scharfkantiger Metallteile in dessen Rucksack. 49 Zwölf Menschen wurden verletzt und der Asylbewerber, der wiederholt in psychiatrischer Behandlung war, 50 kam um. Reinhold Eschenbacher vom städtischen Sozialamt sagte der dpa, der 27-jährige Tote sei dem städtischen Sozialamt als “freundlich, unauffällig und nett” bekannt gewesen. Dennoch sollte er nach Bulgarien abgeschoben werden. 51 Zweimal soll er daraufhin versucht haben, sich das Leben zu nehmen. Inwieweit er schuldig oder “ferngesteuert” war, blieb zunächst unklar. 52 Die dpa zitierte Joachim Herrmann: “Meine persönliche Einschätzung ist, dass ich es leider für sehr naheliegend halte, dass hier ein echter islamistischer Selbstmordanschlag stattgefunden hat”. Konkrete Hinweise auf den IS gebe es zwar nicht, aber eine “restlose Aufklärung der Tat sei wichtig, um das Vertrauen in den Rechtsstaat wieder herstellen zu können.” 53

Polizei überfordert?

Mitte Juni meldete eine Studie, dass jeder Zweite in Deutschland Vorbehalte gegen Muslime hat. Mitunter musste man sich fragen, inwieweit einzelne Interessengruppen Ängste künstlich schüren, um daraus politisch Kapital zu schlagen, ein anderes Verhalten zu erzwingen oder wenig populäre Maßnahmen zu rechtfertigen. Auch, welche Folgen eine professionalisierte Instrumentalisierung der Angst im öffentlichen Raum hat und wo es schlichtweg um klingende Kassen ging.
Am 15. Januar 2016 dramatisierte die PNP: “Immer mehr Passauer besitzen Waffen. Bereits Ende November hat Peter Hammer vom gleichnamigen Waffengeschäft am Dom berichtet, dass seine Kunden sich verstärkt [mit] Pfefferspray, CS-Gas oder Schreckschusspistolen eindecken. … Für ‘richtige’ Schusswaffen benötigt man wiederum eine Waffenbesitzkarte. Die ist nur unter strengen Auflagen erhältlich, der Antragsteller muss ein begründetes Interesse an dem Besitz einer Waffe nachweisen .… Dazu zählen beispielsweise eine abgelegte Jägerprüfung oder eine längere Mitgliedschaft im Schützenverein.” Dann erfuhr der Leser, dass die Stadt mit ihren etwa 50 000 Einwohnern in den Jahren 2013 und 2014 nur “jeweils sieben kleine Waffenscheine” neu ausstellte. “2015 steigt diese Zahl dann sprunghaft an auf 30 Neuausstellungen. Im noch jungen Jahr 2016 sind bereits drei kleine Waffenscheine von der Stadt ausgestellt”.
Am 16. Januar 2016 verkündete die PNP, Innenminister Herrmann warne vor einer Überlastung der Polizei, und zwar sowohl wegen zunehmender Gewalttätigkeiten unter Asylbewerbern, 54 wie auch wegen zunehmender Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Dabei stellte Stephan Seiler, Leiter der Deggendorfer Polizeiinspektion, gegenüber der dortigen Lokalredaktion durchaus klar, 55 wie marginal die Straftaten von Asylbewerbern tatsächlich waren: “Im öffentlichen Raum hatten wir keine einzige Straftat durch einen Asylbewerber – keine Körperverletzung, keine Beleidigung, keinen Raub, geschweige denn eine Vergewaltigung.” Auch Kai Kreilinger von der Polizeiinspektion Landau an der Isar betonte, sich dort Sorgen um die Sicherheit zu machen, sei schlichtweg “grundlos”.
Und auf eine Welle von Gerüchten in sozialen Netzwerken über angebliche Übergriffe durch Flüchtlinge hin stellte auch das Polizeipräsidium Oberbayern Süd in Rosenheim am 17. Januar öffentlich klar: “Lasst‘s Eich ned jedn Schmarrn auftischen. Mir san ja ned im Dschungelcamp!” 56
Die auf Facebook damals knapp zwei Wochen existierende “Bürgerwehr Dingolfing/Landau Umgebung” hatte dennoch bereits mehr als 500 offizielle Unterstützer. Am 9. Februar schrieb Christina Fleischmann in der PNP: “In Niederbayern ziehen diese Gruppen nun tatsächlich durch die Straßen. Der Verfassungsschutz hat sie im Blick, weil sie auch Mitglieder aus der rechten Szene anziehen. … Wie viele von ihnen nicht nur virtuell agieren, sondern auch wirklich aktiv werden, ist nicht bekannt.” Derlei Konkurrenz ging dann wohl auch Bayerns Innenminister etwas zu weit. Die bayerische Polizei habe die Sicherheitslage “sehr gut im Griff”, beschwichtigte er am 8. Februar.
Der 50-jährige Johannes Neumann witterte dennoch eine Chance und erkundigte sich im Passauer Rathaus über die Rahmenbedingungen einer “Gewerbegründung im Sicherheitsbereich”. Danach präsentierte er auf 100 Flugblättern in Passauer Briefkästen eine Geschäftsidee von sechs Herren zwischen 50 und 60 Jahren. Da stand: “Wir leben in unsicheren Zeiten: Hohe Kriminalität, ausufernde Zuwanderung, Überlastung der Polizei.” Für einen jährlichen Mitgliedsbeitrag könne man rund um die Uhr den “Ring der Sicherheit” zu Hilfe rufen. Allzu groß schien das Interesse der Bürger zwar nicht zu sein, aber am 16. März fragte die PNP: “Braut sich da etwa eine Bürgerwehr über der Stadt zusammen?”
Als das Bayerische Innenministerium auf hartnäckige Anfrage der Grünen-Landtagsabgeordneten Katharina Schulze etwas kleinlaut mitteilte, dass Dutzende bereits im September 2015 untergetauchter Neonazis noch immer per Haftbefehl gesucht wurden, nannte sie dies eine “sicherheitspolitische Bankrotterklärung”57 und forderte, der Ermittlungs- und Fahndungsdruck auf die rechte Szene müsse “endlich massiv erhöht werden.” Tags darauf berichtete die dpa prompt, dass die Polizei bei Hausdurchsuchungen in Oberfranken und Niederbayern verbotene Waffen sicherstellte. Nach Angaben der Beamten wurden im Landkreis Hof und im Landkreis Deggendorf zudem die Anwesen zweier Männer im Alter von 51 und 57 Jahren durchsucht, welche “der rechten Szene zuzuordnen sind”.58
Am 21. Juli hieß eine Schlagzeile in der PNP: “Ehrenamtliche Sicherheitswacht unterstützt nun Polizei Waldkirchen”. Darunter stand: “Das Team wird ab sofort in der Stadt patrouillieren. Alleine gefährliche Verbrecher jagen, sollen die ehrenamtlichen Aufpasser jedoch nicht. … Bewerben konnten sich Frauen und Männer, die mindestens 18 und höchstens 60 Jahre alt sind. Ausgebildet wurden sie in 40 Unterrichtseinheiten .…” Mittlerweile habe sich die Sicherheitswacht “als zusätzliches Instrument der Inneren Sicherheit bewährt”. In Passau wie auch in der landesweiten Sicherheitspolitik sei sie bereits fester Bestandteil.
Vier Tage später meldete der lby, aus Sicht des CSU-Innenpolitikers Stephan Mayer solle diskutiert werden, ob “bei einer Terrorlage, die sich an mehreren Orten möglicherweise über einen längeren Zeitraum erstreckt, dann auch die Bundeswehr mit hinzugezogen werden sollte.” Der SPD-Politiker Johannes Kahr, selber Oberst der Reserve, lehnte dies ab. Die Bundeswehr sei für einen solchen Einsatz weder ausgebildet noch ausgerüstet. Stattdessen verwies er auf die SPD-Forderung, die Bundespolizei um 3 000 Beamte aufzustocken. Ansgar Heveling (CDU), Vorsitzender des Bundestags-Innenausschusses, brachte Ermittlungsmöglichkeiten zum Darknet ins Gespräch. 59

Schulterschluss an der Balkanroute

Nach Ansicht von 30 Hilfsorganisationen war das fünfte Jahr des syrischen Bürgerkriegs das bislang schlimmste seit Ausbruch des Konflikts. 60 Dabei hätten die Kriegsparteien nicht nur weiter verheerende Schäden angerichtet, sondern zunehmend auch Hilfe blockiert. Auf der A3 bei Passau kam es wegen der Grenzkontrollen seit Wochen fast täglich zu Staus. Nachdem Deutschland begann, pro Tag etwa 200 bis 300 Flüchtlinge nach Österreich zurück zu schicken, die in Deutschland nicht Asyl beantragen wollten, kündigte die dortige Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) Mitte Januar an, an der Südgrenze nur noch Flüchtlinge mit dem Ziel Deutschland passieren zu lassen. 61
Am 20. Januar bestand Kanzlerin Angela Merkel in Wildbad Kreuth noch darauf, man solle bei den Fluchtursachen ansetzen. Auch eine Geberkonferenz62 in London könne die Situation für Flüchtlinge in Syrien, Jordanien und im Libanon verbessern.
Laut Mikl-Leitner hingegen handelte es sich bei der “Masse der Flüchtlinge” lediglich um “Wirtschaftsflüchtlinge”. Österreich legte eine Jahresobergrenze von 37 500 Flüchtlingen fest. 63 Prompt kamen nach Auskunft der Bundespolizeiinspektionen in Passau und Rosenheim täglich (nur) noch 1 000 bis 1 500 Migranten nach Deutschland. In Passau waren es gut 600. Am 3. Februar meldete die PNP: “Sonderzüge abbestellt: Kaum neue Flüchtlinge in Bayern”.64
Während Deutschland auf eine Lösung mit der Türkei und Griechenland setzte, sagten die Regierungschefs der Visegrad-Gruppe (Tschechien, Polen, Ungarn und die Slowakei) dem mazedonischen Präsidenten Djordje Ivanov und dem bulgarischen Ministerpräsidenten Boiko Borissow am 15. Februar praktische Unterstützung bei deren “Grenzsicherung” zu.
Nachdem Österreich zwei Tage später ankündigte, täglich nur noch 80 Asylbewerber zuzulassen, begrenzte auch Mazedonien an seiner Grenze zu Griechenland die Zahl der Migranten. 65 Am 18. Februar vereinbarten die Polizeidirektoren Mazedoniens, Serbiens, Kroatiens, Sloweniens und Österreichs in Zagreb, Flüchtlinge nach einer Erstkontrolle in Mazedonien künftig gemeinsam nach Deutschland zu transportieren.
Am 22. Februar teilte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR mit, seit Jahresbeginn hätten 94 269 Menschen von der Türkei nach Griechenland übergesetzt. Während der für Migration zuständige griechische Vizeminister Ioannis Mouzalas im griechischen Staatsfernsehen (ERT) ankündigte, “Wir werden Lager brauchen”, rief die vermeintlich bereits abgeschriebene rechtsextreme griechische Partei Goldene Morgenröte66 die Regierung auf, zum Schutz der Grenze Militär einzusetzen.
Nachdem noch am gleichen Tag auch Afghanen, welche bislang durchaus als Flüchtlinge galten, nach Griechenland zurückgeschickt wurden, und Hunderte versuchten, den Eisenbahn-Grenzübergang bei Idomeni-Gevgelija zu stürmen, riegelte Mazedonien die Grenze dort komplett ab. Mehrere hundert Andere liefen daraufhin auf dem Pannenstreifen der Autobahn in Richtung Grenze.
Auf Initiative Österreichs sollten nicht nur die Kriterien für die Zurückweisung von Flüchtlingen und deren Registrierung vereinheitlicht werden. Am 24. Februar einigten sich in Wien die zehn Länder der Westbalkan-Konferenz67 auch auf die wechselseitige Entsendung von Polizisten in besonders betroffene Grenzgebiete.
Hatte Sebastian Kurz (ÖVP) 2012 noch lautstark eine österreichische Willkommenskultur gefordert, 68 kritisierte der Außenminister jetzt laut lby/dpa erneut die deutsche Variante, welche die Lage so verschärft habe. Während Angela Merkel die Einführung von Obergrenzen für Deutschland als inhuman und rechtswidrig weiter ablehnte, forderte auch Bayerns Ministerpräsident laut CSU unverhohlen die “Kontrolle unserer nationalen Grenzen und Rückweisung von Flüchtlingen.” 69 Auch dessen Innenminister Herrmann spekulierte bereits laut auf eine Anordnung, innerhalb weniger Stunden alle Grenzübergänge zu Österreich zu kontrollieren. Am 27. Februar kommentierte Alexander Kain in der PNP: “Bislang stößt Bayern mit seinem Angebot, Landespolizisten zur Sicherung der Grenze einzusetzen, in Berlin auf Unverständnis. Das hält den Freistaat aber nicht davon ab, den Einsatz schon mal zu planen.” 70
Als mazedonische Grenzpolizisten massiv Tränengas einsetzten, zeigte sich nicht nur Außenminister Frank-Walter Steinmeier nach einem Treffen mit US-Außenminister John Kerry in Washington bestürzt. Die Athener Tageszeitung Kathimerini vermutete in ihrer Onlineausgabe, die Flüchtlingszahlen würden in den kommenden Tagen auf bis zu 20 000 ansteigen. Obwohl die Regierung zumindest halbherzig nach neuen Unterbringungsmöglichkeiten suchte, 71 blieb auch die Versorgung der Menschen schwierig. Aus den bereits bis zu 30 000 in Griechenland festsitzenden Migranten könnten bald 50 000 bis 70 000 werden. Am 1. März hieß eine Schlagzeile der PNP: “Lage für Flüchtlinge an Grenze zu Mazedonien immer prekärer”.
Acht Tage später durfte niemand mehr ohne gültigen Reisepass und Visum passieren. Weil die meisten Menschen aus Bürgerkriegsregionen aber keine Chance haben, in ihrer Heimat gültige Dokumente zu erhalten, saßen bereits mehr als 35 000 in Griechenland fest. Während Österreichs Innenministerin der Tageszeitung Die Welt mitteilte: “Das Schließen der Balkanroute verläuft planmäßig, und diese Uhr wird nicht zurückgedreht”, mahnte Angela Merkel: “Wir können es uns nicht in 27 Ländern nett machen und ein Land alleine mit dem Problem lassen.”
Weil zweitägige, schwere Regenfälle das Aufnahmelager in Idomeni auch noch in eine Schlammwüste verwandelten, brachten einige Busse 250 Menschen in den Großraum Athen, aber mindestens 13 000 Menschen harrten weiter dort aus. Am 10. März griffen verschiedene Interessengruppen ein. Die dpa meldete, dass hunderte Menschen, darunter viele Kinder, an schweren Erkältungen, Atemwegsbeschwerden und Durchfall litten.
Care International, Save the Children, Oxfam International, Syrian American Medical Society (Sams), der Norwegian Refugee Council (NRC) und 25 andere Hilfsorganisationen riefen in einem gemeinsamen Bericht die USA, Russland, Frankreich und Großbritannien auf, den Hoffnungsschimmer zu schützen, den die erst zweiwöchige Waffenruhe72 gebracht habe, anstatt “Öl ins Feuer zu gießen”.
In einem offenen Brief der Medhilfe Passau an Ministerpräsident Seehofer heißt es: “Im Februar 2016 haben wir auf unserer Facebook Seite (‘Medhilfe Passau’) aus dem Blickwinkel unserer medizinischen Tätigkeit heraus ein gemeinsames Statement für den Erhalt der Menschenwürde verfasst, bezogen auf Erfahrungen in der Akut-Behandlung von physisch und psychisch traumatisierten Flüchtlingen am Passauer Bahnhof. … Die Medien berichten täglich über die humanitäre Katastrophe an den Außengrenzen der Länder, deren Regierungen vor kurzem die unschöne Arbeit der von Ihnen wiederholt geforderten nationalen Grenzschließung für Flüchtlinge übernommen haben. … Bitte spalten Sie unsere Gesellschaft nicht weiterhin mit Forderungen, die in anderen Ländern sowieso bereits durchgesetzt werden und wofür Sie nun nicht einmal mehr die ethische Verantwortung tragen müssen. … Nehmen Sie stattdessen bitte Ihre eigentliche Aufgabe wieder wahr, nämlich unser Volk zu ermutigen, sich nicht von Panik erfüllt, sondern ruhig und vor allem mit gemeinsamen Kräften den extremen Herausforderungen der aktuellen politischen Weltsituation zu stellen.”
Als auch ein 90 Jahre alter Bekannter Till Hofmann erzählte, dass er selbst im Krieg und in der griechischen Diktatur nie solch tragische Szenen erlebt habe wie im Flüchtlingslager an der mazedonischen Grenze, rief der ehemalige Passauer via Facebook zu Sachspenden für die rund 13 000 bedrängten Flüchtlinge auf. Er erreichte über 200 000 Leute und konnte drei Tage später mit gut 30 Helfern mit wasserfesten Klamotten, Schlafsäcken, Zelten, Iso-Matten, Rucksäcken, Lebensmitteln und Medikamenten in Lkws zu laden. Ein griechischer Reeder ermöglichte die kostenlose Überfahrt. 73
Am 11. März meldete die PNP, den Menschen werde geraten, in organisierte Aufnahmelager südlich der Grenze sowie im Raum Athen zu fahren. Sollte dann noch ein “harter Kern” bleiben, würde dieser ohne Gewaltanwendung aus Idomeni weggebracht. 74 Am 12. März berichtete Christian Karl in der PNP: “Till Hofmann schickt vier Hilfs-Lkw nach Idomeni. Zwei kamen am Freitag nahe dem griechischen Idomeni bereits an. Helfer verteilten die ersten Güter …. Einen Teil der Spenden konnte man vor Ort an Vertreter der ‘Ärzte der Welt’ übergeben, den Rest an einem Militärcamp abgeben. … Eine Zeitung hat einen Reporter mitgeschickt. Hofmann, der zuletzt in München auch große Anti-Pegida-Demonstrationen organisierte und viele Mitstreiter für die Münchner Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen fand, schließt nicht aus, weitere Hilfstransporte auf den Weg zu bringen.”

Personalaufstockung im Freistaatlichen Sicherheitsapparat?

Der Bund stellt den 16 Ländern für 2016 bis 2018 eine jährliche Integrationspauschale in Höhe von jeweils zwei Milliarden Euro zur Verfügung. Anfang Juli stand fest, dass der Bund bis 2018 zusätzlich nicht nur sieben Milliarden Euro zahlt, sondern auch dass die Länder über deren Verwendung frei entscheiden dürfen. 75
In der Hochphase der Flüchtlingskrise waren Polizisten aus dem ganzen Bundesgebiet an der bayerisch-österreichischen Grenze zusammengezogen worden. Im Raum Passau waren pro Tag etwa 800 eingesetzt, Anfang März noch immer an die 600 in zwei Schichten. Zuständig waren sie vor allem für die Registrierung von Flüchtlingen. 76
Dass die Bundespolizei mit erhöhter Besetzung in Passau bleiben wollte, schrien die Spatzen von den Dächern. 77 Als sich Dominik Schweighofer am 1. März in der PNP etwas lakonisch nach “Verschnaufpausen” für “Bundespolizisten mit den prall gefüllten Überstundenkonten” erkundigte, erklärte Bundespolizeisprecher Frank Koller, diese würden zumindest “tageweise” wieder nach Hause beziehungsweise ins Hotel geschickt. 78
Wenige Tage später berichteten NDR, WDR und die Süddeutsche Zeitung,79 dem Bundeskriminalamt lägen geheime Papiere des Islamischen Staates (IS) mit Informationen zu deutschen Kämpfern vor. Prompt meldete die PNP: “Auch an der Redoute stand in den letzten Tage wieder zeitweise ein Bundespolizeikombi.” 80
Ende März war mehr Personal für Grenzkontrollen an Landstraßen und bei Binnengrenzfahndungen eingesetzt. Als ein Mitarbeiter der Rastanlage Donautal-Ost einmal dennoch 16 Personen bemerkte, ging Bundespolizeisprecher Koller davon aus, es seien Iraker, die von einem Schleuser ausgesetzt wurden. 81 Als Zielland gaben sie Deutschland an. Und weil der Freistaat meinte, derlei könne in Zukunft sogar wieder öfter vorkommen, schien der amtlich verordnete Personalaufwand vielleicht ja auch nicht mehr ganz so absurd?
Zwei Anschläge und ein Amoklauf in Bayern kamen der Kabinettsklausur in St. Quirin am Tegernsee offensichtlich wie gerufen. Am 28. Juli schwadronierte Joachim Herrmann von “Sicherheit durch Stärke”.82 “Ohne Sicherheit” gäbe es nämlich “keine Freiheit”.83 Prompt berichtete die dpa, Bayern wolle nicht nur 2 000 neue Polizisten einstellen, 84 sondern Seehofer und sein Kabinett forderten eine “massive Ausweitung” der bisher zehnwöchigen Vorratsdatenspeicherung.” 85 Hinzu komme eine feudale Aufrüstung: “ballistische Helme, neuartige Schutzwesten und gepanzerte Fahrzeuge. Spezialeinsatzkräfte und Observationsteams sollen personell verstärkt werden, zudem soll es mehr Polizisten zum Kampf gegen Cyber-Kriminalität geben.” Auch die Videoüberwachung an Bahnhöfen, in Zügen und auf öffentlichen Plätzen solle ausgebaut werden. 86
Passau wird nicht leer ausgehen. Das dortige deutsch-österreichische Zentrum, welches polizeiliche Kontrollen koordiniert, Ausländer “rückführt” und grenzüberschreitende Kriminalität bearbeiten hilft, wird zur Dauereinrichtung. Am 29. Juli um 12.39 Uhr meldete Alexander Kain in der PNP zudem: “Der Freistaat will in den kommenden vier Jahren am Passauer Stadtrand für rund 80 Millionen Euro eine neue Justizvollzugsanstalt (JVA) errichten. 87 … Die bisherige … ist für 77 Häftlinge ausgelegt. Im Zuge der Kapazitätserweiterung soll die Zahl der Gefängnismitarbeiter von derzeit 26 auf dann 200 ansteigen.” Anschließend zitierte er Justizminister Winfried Bausback: “Wir setzen bei der Gestaltung der Hafträume, der Außensicherung sowie der elektronischen Sicherungssysteme auf modernste Technik und sorgen durch kontinuierliche Aus- und Weiterbildung der Bediensteten für ein Höchstmaß an Sicherheit.” 88
Freyung bekommt ein Trainingszentrum für sämtliche Polizei-Spezialeinheiten. Am 30. Juli prahlte die PNP, “und zwar ‘umgehend’, wie Ministerpräsident und CSU-Chef Horst Seehofer … sagt. Neben den übenden Einheiten sind mindestens 50 Mitarbeiter für den Betrieb der Einrichtung vorgesehen. ‘Mittelfristig’ soll der Standort dann auch für die Ausbildung neuer Polizeianwärter ausgebaut werden. Selbst die Außenstelle des Landeskriminalamtes (LKA) in Wegscheid wird von zehn auf 50 Mitarbeiter hochgeschraubt.
Da wollte wohl auch der lby am 30. Juli nicht zurückstehen: “Seehofer nannte das während der Klausur beschlossene Sicherheitskonzept für Bayern das ‘umfassendste und tiefste’, das bisher in der Bundesrepublik vorgelegt worden sei. … Ohne Merkel direkt zu erwähnen, sagte er, er werde ‘sehr genau darauf achten’, dass auch in Berlin und Brüssel die Sicherheitspolitik vorangetrieben werde.” Nachdem eine Schlagzeile der PNP summierte, “Seehofer distanziert sich scharf von Merkels ‘Wir schaffen das’”,89 verkniff sich Erwin Kellermann nicht den Kommentar: ”Der Seehofer wird vom rechten Rand getrieben, und betreibt Hetze gegen Asylbewerber.”

Zur Unterbringung in Bayern

Ende Februar warteten in Bayern bereits über 130 000 Asylbewerber auf ihre Anerkennung vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Der Bund hat den 16 Ländern angeboten, drei Jahre lang jegliche Kosten der Kommunen für die Unterkunft anerkannter Flüchtlinge zu übernehmen. Allein für den Wohnungsbau 2017 und 2018 wurden den Ländern jeweils 500 Millionen Euro in Aussicht gestellt. 90 Die Länder sollen später lediglich über die Verwendung dieser Gelder berichten. Für minderjährige Flüchtlinge ohne Begleitung wurden die Mittel auf rund eine Milliarde pro Jahr aufgestockt. 91
Da wollte niemand zu kurz kommen. Derlei Kosten aufzulisten war einfach, und nicht Wenige hörten recht schnell volle Kassen klingeln.In Niederbayern kommt der Winter bald. Am 22. November meldete die PNP: “Flüchtlinge im Schnee: Zelte an der Grenze nicht winterfest”. Drei Tage später erfuhren die Leser, dass das seit 2007 leer stehende Capitol-Kino zu einer Gemeinschaftsunterkunft für 60 Asylbewerber umgebaut werden solle.
Am 1. Februar 2016 meldete die dpa: “Unterbringung, Verpflegung sowie Integrations- und Sprachkurse für Flüchtlinge werden den Staat … in diesem und im kommenden Jahr insgesamt knapp 50 Milliarden Euro kosten.” Am 22. Februar gab Deggendorf an, die Unterbringung im dortigen Landkreis werde 2016 rund 30 Millionen Euro kosten. 92 Obwohl auch Landrat Christian Bernreiter zugab, dass in der dortigen Erstaufnahmeeinrichtung in den vergangenen drei Tagen nur noch 5 Flüchtlinge eintrafen, zitierte ihn die PNP wie folgt: “Das dicke Ende kommt noch, wenn alle, die jetzt am Wochenende in Griechenland angekommen sind, bis zu uns kommen.” Am 23. Februar hisste eine PNP-Schlagzeile: “Asylzentren in Passau und Deggendorf? Staatsregierung sauer”.
Als recht lukrativ galt die Anmietung durch Kommunen bzw. den Staat freilich schon. Nicht zuletzt deshalb waren auch private Investoren weiter auf dem “Vormarsch”. Am 21. Februar stand in einem dpa-Bericht: “In Bayern sind bereits Zehntausende neue Unterkunftsmöglichkeiten in Planung.” 93
Bei einer im Passauer Rathaus eingereichten Voranfrage ging es z.B. um 215 Plätze in zwei bislang als Schreinerei mit Betriebsleiterwohnung des Bauherrn genutzten (und zwei neuen) Gebäuden im Gewerbegebiet Sperrwies. 94 Am Hofkirchner Volksfestplatz hätten (von Dezember 2015 bis Ende April 2016) 48 Container für 140 Flüchtlinge stehen sollen. Bürgermeister Willi Wagenpfeil hatte ein Integrationskonzept erstellt und ein Helferkreis von 30 Leuten stand parat. Am 1. März erklärte die PNP: “Der vorgesehene Investor konnte nach Auskunft des Landratsamts Passau keine [Container] auftreiben. Nachdem er auf dem russischen Markt nicht fündig wurde, platzte auch ein zweiter Termin zum Aufbau”.
Als in Pfenningbach aus einem dörflichen Sportgeschäft eine Unterkunft für zunächst 15095 und später 102 Flüchtlinge werden sollte, fragte die PNP am 10. März: “Reicht das Trinkwasser für die Asylunterkunft?” 96 Auch aus dem längst leerstehenden, verbretterten Abrahamhof im Neuburger Wald sollte eine Unterkunft werden – ohne Straßenanbindung und Mindest-Infrastruktur. 97
Mittlerweile hatte sich allerdings die politische Großwetterlage geändert. Während Bayern im Januar 2016 noch 74 677 neue Flüchtlinge zählte, waren es im Februar 41 600 und im März nur noch rund 6 600. 98 Waren im Landkreis Passau 2015 noch 3 755 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgegriffen worden so sind es heuer bislang nur 17299 und jeder zweite “haut ab”.100 Der potentiell gewinnbringende Strom wie und wo auch immer unterzubringender Neuankömmlinge war plötzlich am Versiegen.
Am 1. März begann Dominik Schweighofer seinen Artikel in der PNP süffisant: “Man riecht den Unterschied. Wenn man die Halle 2 auf dem ehemaligen Paul-Gelände in der Danziger Straße im Oktober betreten hat, dann lief man förmlich gegen eine süßlich riechende Wand. Es war der Geruch von tausenden Menschen auf der Flucht, von Menschen, die schon lange keine Dusche mehr gesehen hatten und hier für viele Stunden auf engem Raum ausharren mussten. Wenn man die große Halle dagegen jetzt betritt und einmal tief einatmet – nichts, gar nichts. … Es kamen keine Migranten mehr in Passau an. Der Flüchtlingsstrom nach Bayern – abgerissen.”
Auf der Heimfahrt von Passau nach Wegscheid fuhr Lothar Venus, der dortige Zweite Bürgermeister, jetzt tagelang an mindestens vier Bussen vorbei, die auf Parkplätzen herumstanden. 101 Am 4. März erklärte Christina Fleischmann in der PNP: “Es gab auch Tage, da kam niemand über die österreichische Grenze.”
Kommunale Sport- und Mehrzweckhallen wurden wieder von Vereinen und Schulen genutzt102 und neu einreisende Flüchtlinge verteilten die Länder jetzt vorrangig auf staatlich betriebene Einrichtungen. Eine Zuweisung von Flüchtlingen an Gemeinden erfolgte nur noch dann, wenn diese ihr Soll bei der Aufnahme noch nicht erfüllt hatten. Spekulanten, die heruntergekommene, abgelegene oder anderweitig recht schwer zu vermittelnde Immobilien auf Staatskosten lukrativ umfunktionieren wollten, schwammen die Felle davon. Rundum trat etwas Ernüchterung ein.
Laut Gesetz muss ein Asylbewerber sich eine eigene Wohnung suchen, nachdem sein Antrag anerkannt ist. Weil Betreiber privater Unterkünfte für anerkannte Asylanten weniger Geld erhalten als für Asylbewerber, möchten diese oft, dass jene auch tatsächlich möglichst schnell ausziehen. Obwohl gerade auf dem Land viele Wohnungen weiter leer stehen, 103 finden Migranten aber nur schwer eine. Nach Angaben des Sozialministeriums waren somit von den 11 346 Personen in Niederbayern 2 713 “Fehlbeleger”. In der PNP vom 16. März schwante Christina Fleischmann: “Für die Kommunen werden die ‘Fehlbeleger’ zum Problem.”
In Salzweg erinnerte Bürgermeister Josef Putz daran, dass der ehemalige Buchbauer-Markt im Herbst genutzt wurde, um bis zu 270 Menschen unterzubringen. Seit dem 23. Dezember fungierte er als dezentrale Unterkunft für etwa 200 meist aus Syrien kommende Männer. Am 16. März berichtete die PNP, der Gemeinderat fordere eine Räumung bis Ende April.
Anfang April waren die Notunterkünfte in Grafenau, Thurmannsbang (Landkreis Freyung-Grafenau) und in Pleinting (Landkreis Passau) bereits geschlossen. Dazu gab die Regierung von Niederbayern bekannt, angesichts des deutlichen Rückgangs der Asylbewerber zahlreiche Notunterkünfte in der Region aufzulösen. 104 Unklar war vorerst noch, was mit Flüchtlingen, die bereits anerkannt sind, passiere.
In Burghausen-Lindach war eine neue Gemeinschaftsunterkunft für 176 Asylbewerber seit April bezugsfertig. Eile schien aber nicht mehr geboten. Am 8. Juni berichtete die PNP: “Zunächst sollen Familien in die Doppelappartements einziehen. … Die Jugendherberge soll bis spätestens September geräumt werden.”
Ende April waren in Bayern etwa 155 000 Asylbewerber untergebracht. Nachdem Sozialministerin Emilia Müller (CSU) im Landtag bekannt gab, dass wohl etwa 70 Prozent Asyl bekommen, beschwichtigte die PNP am 28. April umgehend: “Das bedeutet nach Ministeriumsangaben aber nicht, dass 70 Prozent dieser Menschen in Bayern bleiben könnten, da darunter viele abgelehnte Asylbewerber sind, die Deutschland wieder verlassen sollen.”
Nachdem Anfang Juli die Bundesländer auch das Recht erhielten, anerkannten Flüchtlingen einen amtlich bestimmten Wohnort zuzuweisen, wandte sich Eike Hallitzky, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Kreistag, brieflich an Landrat Franz Meyer, der Landkreis solle weiterhin auf eine dezentrale Unterbringung der Asylbewerber setzen statt auf zentrale, staatliche Gemeinschaftsunterkünfte. Am 19. Juli berichtete die PNP, dass die breite Mehrheit des Kreisausschusses ablehnte. Auch der Landrat selber wollte dies “freilich nicht unterstützen.”

Jobvermittlung

Erst Ende Mai 2016 beschloss das Kabinett einen Entwurf für das Integrationsgesetz.105 Danach sollen für Flüchtlinge auch hunderttausend gemeinnützige Arbeitsgelegenheiten – ähnlich den Ein-Euro-Jobs106 für Langzeitarbeitslose – geschaffen werden. Während einer Ausbildung besteht zudem Schutz vor Abschiebung.
Am 26. Februar meldete die PNP: “Zwar sei es richtig, dass vier von fünf Flüchtlingen keine Berufsausbildung vorweisen können, doch Hans Leonhard, Integrationsfachkraft in der Arbeitsvermittlung, ist überzeugt: ‘Wenn jemand die Sprache kann, kann man ihn integrieren – auch in den Arbeitsmarkt.’”107
Einem dpa-Artikel von Christina Sabrowsky entnahmen Leser am 26. März: “Die finanzielle Belastung wird sich in den kommenden Monaten aber weiter erhöhen: Viele der Asylbewerber, deren Anträge genehmigt werden, beziehen Arbeitslosengeld II, bis sie Arbeit gefunden haben. Diese finanzielle Belastung müssen zum Teil die Kommunen stemmen.”
Hans Schweikl, Geschäftsführer des Jobcenters Passau Land, erwartete wegen der anerkannten Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien108 allerdings nicht nur eine größere Kundenzahl, sondern ab April auch 5,5 zusätzlich finanzierte Stellen für Einheimische sowie knapp 1,4 Millionen Euro mehr zugewiesenen Etat. 109

Integration vor Ort

So unterschiedlich das Thema auch angegangen wurde, es fand längst Eingang in den deutschen Alltag. Kleinere Gruppen früherer Migranten hatten es bereits relativ leicht. Als z.B. der 2011 gegründete Verein der Vietnamesen in Passau mit einem Festessen das “Jahr des Affen” begann, feierte auch OB Jürgen Dupper mit. Die PNP zitierte ihn noch am 14. Februar mit den Worten: “Wir sind sehr froh, dass Sie bei uns sind, und dass Sie bei uns gute Arbeit leisten. Wir stehen vor großen Herausforderungen und wir können alle brauchen, die dabei mithelfen.” Gute Arbeit allein war freilich keine Garantie. 110
Am 1. Dezember 2015 hieß eine PNP-Schlagzeile: “Kinderleicht: Wie Integration an der Grundschule gelingen kann”. Dominik Schweighofer begann seinen Artikel mit den Worten: “220 Kinder aus 23 Nationen gehen auf die Grundschule Passau Haidenhof, 42 von ihnen brauchen gesonderten Deutschunterricht. Die Grundschule ist ein Praxislabor für Integration – und das bereits seit fünf Jahren.” Im Landkreis Passau wurden zu dem Zeitpunkt rund 150 Flüchtlingskinder in neun Übergangsklassen unterrichtet.
Auch Moslems in einem katholischen Kloster waren nicht wirklich neu. Am 18. Juni 2014 berichtete Petra Schlierf in der PNP: “Im Zisterzienserkloster Thyrnau (Lkr. Passau) wohnt seit einigen Tagen das erste Neugeborene. … Die Schwestern der Abtei St. Josef haben vor einigen Wochen eine vierköpfige Familie aus Aserbaidschan bei sich aufgenommen, die auf Asyl wartet.” Äbtissin Mechthild Bernart verhehlte damals nicht, dass die 15 Schwestern von selbst zwar nicht auf die Idee gekommen wären. Als jedoch vom Ministerium angeregt wurde, dass auch Klöster Flüchtlinge aufnehmen und der Bürgermeister anfragte, seien sie durchaus bereit gewesen, Menschen in Not aufzunehmen.
Ein Jahr später servierte der 47-jährige Bruder Jeremias in der Altöttinger Notunterkunft in Jeans und Sweatshirt Frühstück. Zudem lud er mit dem Verein Von Mensch zu Mensch Flüchtlinge immer wieder zu Filmvorführungen und Spielen ein. Er arrangierte Fußballturniere und unterrichtete Deutsch. Als ein paar jugendliche Muslime ihn fragten, ob sie nicht bei ihm wohnen könnten, beschlossen auch die sechs Kapuziner einstimmig, diese aufzunehmen. 111 Seit Ende November leben die vier Afghanen im Kloster Sankt Konrad bei katholischen Brüdern, die mitunter fünfmal so alt sind. Um 12.15 Uhr findet das Mittagsgebet statt, die Vesper um 18 Uhr, und danach wird gegessen. 112
Als Schüler des Robert-Koch-Gymnasiums in Deggendorf Weihnachtspäckchen für Flüchtlingskinder organisierten, kamen allerdings so heftige Gegenreaktionen, dass der Schulleiter sich zu einer öffentlichen Stellungnahme gezwungen sah. 113 Während Union und SPD weiter um ein Asylpaket II haderten, preschte der Passauer OB Dupper selbständig vor. Die PNP zitierte ihn am 26. Januar wie folgt: “Wir fangen jetzt einfach mal an mit Sprache, mit Bildung, mit Wohnungshilfe und mit der Orientierung am Arbeitsmarkt”.
Weil auch dem Passauer Stadtrat Karl Synek (B‘90/Grüne) vorschwebte, “alle relevanten Akteure” bei der langfristigen Eingliederung von bis zu 1 000 neuen Migranten kooperieren zu lassen, schickte er 60 Fragen ins Rathaus; unter anderem wollte er wissen, ob alle Schulen aufnahmefähig und -willig wären, ob genügend Lehrmaterial und -personal vorhanden sei. Am 16. Februar berichtete Franz Danziger in der PNP: “Mit einer Gegenstimme (Oskar Atzinger, AfD) brachte der Stadtrat … einen Lenkungsausschuss zur Integration auf den Weg.” OB Dupper wurde wie folgt zitiert: “Wir werden auch dieses Mal wieder mit eigenem Personal und eigenen Ressourcen in Vorleistung gehen und auf eine spätere Erstattung hoffen.”
Im kleineren Rahmen gab es längst Präzedenzfälle. Jörg Klotzek schrieb z.B. über einen Discoabend in der Viechtacher Stadthalle, wobei syrischen Frauen auf Anfrage spontan ein Nebenraum zur Verfügung stand. 114 Laut Bademeister Andreas Schuh verhielten sich die meisten jugendlichen Asylbewerber115 aus dem Vilshofener AWO-Heim im Freibad wie jede andere Clique in diesem Alter. Nachdem allerdings ein mittlerweile 18-Jähriger Anfang Februar vom Amtsgericht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verurteilt wurde, erhielten alle Schwimmunterricht – samt Anweisungen, wie man sich im (örtlichen) Hallenbad richtig verhält.
Und weil in der Jugendgruppe des Frauenauer Heimatvereins zwei junge Syrer tanzten, titelte die PNP am 18. März: “Heimatverein macht auch Syrer zu Trachtlern”.

Ehrenamtliche Helfer

In Passau setzt sich ein Team von Ärzten und Pflegekräften seit September 2015 ehrenamtlich für die medizinische Versorgung von Flüchtlingen ein. Als Dominik Schweighofer am 24. Februar in der PNP meldete, dass deren Appell auf Facebook116 gegen Flüchtlings-Hass zum Internet-Hit wurde, 117 zitierte er Sanne Burkert, eine Assistenzärztin vom Passauer Klinikum: Es gäbe nicht nur einen ganz massiven Werteverfall, sondern einen Hass gegenüber Geflüchteten, der “kaum mehr auszuhalten” sei.
Anfang November 2015 begann die PNP eine Serie über ehrenamtliche Helfer. Als sie Sandra Niedermaier beim Deutschunterricht für Syrer in Dommelstadl vorstellte, wurde diese zitiert: “Eine andere Schreibrichtung, eine andere Schrift, andere Zahlen – die Kinder müssen umlernen und sind auf einem anderen Wissensstand als die deutschen Kinder. Erstaunliche Fortschritte haben die Kleinen aber in der Zeit gemacht: ‘Mir geht es gut, danke’ antworten sie ganz selbstverständlich und machen Scherze in der deutschen Sprache”.
Am 25. November berichtete Johanna Stummer in der PNP über Farishta Spitzwieser, die als Kind mit ihrer Familie aus Afghanistan geflohen war und “auf der fast zehn Jahre dauernden Flucht nach Deutschland Farsi, Dari, Urdu und Hindi” sprechen lernte. Mittlerweile half die 39-Jährige aus einer kleinen österreichischen Gemeinde in der Braunauer Notunterkunft als Dolmetscherin.
Von den vielen freiwilligen Helfern, welche Flüchtlinge bei deren Ankunft unermüdlich mit Essen und Kleidung versorgten, wurden die allermeisten längst nicht mehr gebraucht. Viele widmeten sich stattdessen intensiver einzelnen Menschen bzw. gezielten Maßnahmen. Der Helferkreis Flüchtlinge und Asyl in Garching118 an der Alz z.B. übte mit 26 Jugendlichen und Erwachsenen verkehrstaugliches Radfahren. 119
Obwohl 14 bayerische Kommunen schon länger von der Förderung einer hauptamtlichen Ehrenamtskoordinatorenstelle profitieren, war Passaus Antrag im Herbst abgelehnt worden. 120
Auch öffentliche Anerkennung ließ mitunter auf sich warten. Am 3. Dezember berichtete die PNP, dass bei einem von der Stadt Passau und Eulenspiegel Concerts121 gesponserten Danke-Konzert für Flüchtlingshelfer Hunderte feierten. Eine Woche später verlieh Regierungspräsident Heinz Grunwald in Freyung den mit 3 000 Euro dotierten niederbayerischen Integrationspreis122 an zwei Gruppen, die Ausländern helfen, vor Ort heimisch zu werden.

Pragmatik fasst Fuß

991 der 107 000 Einwohner im Landkreis Altötting sind Asylbewerber. Die 107 “unbegleiteten Minderjährigen” sind in Jugendhilfeeinrichtungen und Pflegefamilien untergebracht. Am 16. Juni erinnerte Astrid Ehrenhauser in der PNP daran, dass sich mitten im katholischen Wallfahrtsort auch Kapuziner um vier muslimische Flüchtlinge kümmern und resümierte: “Das tut beiden Seiten gut.” Unter der Schlagzeile “Bruder Jeremias kämpft für seine muslimischen Flüchtlingsbuben” erwähnte sie: “Nach einer Prüfung mit Fragebögen, Führungszeugnis, ärztlichen Bescheinigungen, Hausbesuchen und Gesprächen können Bruder Jeremias und Hausober Bruder Berthold als erziehungsberechtigte Pflegeeltern alltägliche Entscheidungen treffen. Vormund ist weiterhin das Jugendamt.” Weil Taschengeld für Flüchtlinge123 in Notunterkünften nicht mehr bar ausbezahlt werden sollte, führte der Landkreis Altötting bereits Mitte Dezember eine Refugee Card ein.
Die Abwanderung Tausender junger Menschen von Hettstedt im Harz in den 90er Jahren hinterließ nicht nur bei Arbeitern, sondern auch bei der Geburtenrate klaffende Lücken. Das Durchschnittsalter liegt bei 50 Jahren. Momentan leben dort 233 Asylbewerber. 124 Drei der besten Fußballspieler kamen aus Syrien und ließen den Verein aufsteigen. Die AdF in dieser Region erhielt im März dennoch etwa 30%. Am 10. Juni veröffentlichte die AP, dass der konservative Bürgermeister vorschlug, in der immer kleiner werdenden Gemeinde125 weitere Migranten anzusiedeln. Jährlich 10-15 Familien wären hilfreich. Der 38-jährige Jurist sieht darin sowohl eine Gelegenheit für Einheimische, offener zu werden, wie auch fehlende Fachleute zu ergänzen. Ohne entsprechende Steuereinnahmen müssten zudem nicht nur die Bibliothek und das Schwimmbad, sondern auch das Museum samt drei der vier Grundschulen schließen. Auch die Gebühren für Strom und Wasser würden steigen.
Als Mia Gollers Haus in Anzenkirchen am 1. Juni unter Wasser stand, stellte sie zwei Bilder und einen kurzen Beitrag auf ihre Facebook Seite. Dort hieß es lapidar: “da drin wohnen wir eigentlich. Mich und Baby Bene incl. unsere Hunde haben unsere Nachbarn, die Asylbewerber herausgeholt. … Liebe AfD: Ja, es gibt den Klimawandel und ja, ich bin sehr froh, dass ich neben Asylbewerbern lebe.”
Auch in Simbach am Inn herrschte Chaos. Nachdem das Wasser aus den Häusern der Innenstadt abgepumpt war, lag der Schlamm in den Straßen knöchelhoch und den Häusern oft kniehoch. Bürgermeister Klaus Schmid (CSU) gab unumwunden zu, dass die Lage ohne freiwillige Helfer nicht zu meistern wäre. Am 3. Juni schilderte André Jahnke in der PNP: “Zersplitterte Möbel am Straßenrand, überall türmen sich Schlammhaufen auf, es stinkt stechend nach Heizöl.”
Unter den ca. 500 über soziale Netzwerke engagierten Helfern waren 25 Syrer. Jahnke berichtete über eine Szene 50 Meter vor der Asylbewerberunterkunft: “Naja Al Hassas … steigt barfuß hinein, streift die Handschuhe über und greift sich eine Schaufel. … Schon am Vortag hat er von 7 Uhr in der Früh bis zur Dunkelheit den betroffenen Anwohnern geholfen. Trotz riesigen Muskelkaters packt der 30-Jährige auch am Freitagmorgen wieder an.” Jahnke zitierte in der PNP: “Wir wissen, was es heißt, in einem Krisengebiet zu leben und das eigenes Haus zu verlieren” und “Wir haben von den Menschen in Simbach so viel Hilfe bekommen, jetzt können wir etwas zurückgeben. Das tut gut.” Auch Jana Kirchner, deren Casino komplett zerstört wurde, erkannte an: “Sie sind gut drauf und sorgen mit ihrem ständigen Lächeln für gute Stimmung.”

GELEBTE KUNST 1991 MIT MÄDCHEN DER GRUNDSCHULE AUERBACH AM LEHRSTUHL KUNST DER UNIVERSITÄT PASSAU GEFERTIGTE COLLAGE ZUM THEMA EXODUS, HOLOCAUST UND BAYERISCHE VERFASSUNG

GELEBTE KUNST
1991 MIT MÄDCHEN DER GRUNDSCHULE AUERBACH AM LEHRSTUHL KUNST DER UNIVERSITÄT PASSAU GEFERTIGTE COLLAGE ZUM THEMA EXODUS, HOLOCAUST UND BAYERISCHE VERFASSUNG

Am 6. Dezember berichtete Florian Kammermeier in der PNP über drei Studenten, die im Nordirak einen Film über das Schicksal der Jesiden drehten. In Anlehnung an Melek Taus, einen Engel, der in der Religion der Jesiden eine zentrale Rolle spielt, nannten sie ihn “Das Volk eines Engels”.126
Am 3. Januar 2016 begann ein Artikel von Barbara Reitter in der PNP mit den Worten: “Eine junge Muslima, ebenmäßig schönes Gesicht, den Kopf mit einem Tuch verhüllt. Kein ungewohnter Anblick, selbst nicht in Bronze gegossen. Doch die Frau ist nackt, ein klassischer Akt, wie wir ihn aus der Kunstgeschichte kennen. ‘Turkish Delight’ nennt Bildhauer Olaf Metzel diese Skulptur, gleichzeitig die Bezeichnung für eine bekannte Süßigkeit. Platziert hat er sein Werk ebenso ungewöhnlich wie aussagekräftig vor den Bildtafeln des Malers Hans von Marées, deren Titel ‘Goldenes Zeitalter’ lautet.”
Am 25. Februar meldeten die Agenturen lby/dpa, dass Senta Berger mit ihrem Sohn Simon Verhoeven an einer Flüchtlingskomödie arbeite. In “Willkommen bei den Hartmanns”127 gehe es um eine Akademikerfamilie, die einen Flüchtling aufnimmt.
In “Brennpunkt X”128 von Nuran David Calis holten Intendant Jürgen Zielinski und Regisseur Jörg Wesemüller elf Flüchtlinge aus Syrien, Pakistan, Tunesien, Marokko, dem Irak und dem Libanon mit fünf Schauspielern auf die Bühne. Am 8. Juni berichtete die Presse, dass sie auf Arabisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Kurdisch und Urdu schlaglichtartig von ihren Erlebnissen auf der Flucht, in den Aufnahmelagern und hiesigen Behörden erzählen.
Maxi Obexer dagegen beleuchtete in ihrem Stück “Illegale Helfer” am Potsdamer Hans Otto Theater die Motive von Flüchtlingshelfern. 129 Für sie stelle sich die Frage: “Was, wenn mein Staat nicht menschlich ist, also wenn er Hilfe kriminalisiert?” Ihre Charaktere erinnern daran, dass es “Menschenrechte gibt und Menschen, die sich dazu entscheiden, menschlich zu handeln”.
Und in München trafen sich auf Einladung des DGB Bayern am 19. Juni nach Polizeiangaben rund 4 000 Menschen, um Hand in Hand130 eine Kirche, die israelitische Kultusgemeinde und das Münchner Forum für Islam zu verbinden. 131

Quo vadis, deutsches Vaterland?

In London dient Sadiq Khan, ein Menschenrechtsanwalt und Labour-Politiker, als erster muslimischer Bürgermeister. Nachdem er unter Premierminister Gordon Brown als Verkehrsminister diente, meldete die dpa am 7. Mai, Khan habe seinen Eid im Buckingham Palace nicht auf eine Bibel, sondern auf einen Koran abgelegt. Während selbst konservative Politiker wie Andrew Boff kritisierten, der Versuch, Khan in die Nähe muslimischer Extremisten zu rücken, habe “Brücken gesprengt”, meinte die liberale Presse, nichts sei eine bessere Waffe gegen die Radikalisierung britischer Muslime als der soziale und berufliche Aufstieg der Einwanderer aus Nahost, Afrika und Pakistan.
In Baden-Württemberg waren die Grünen um Ministerpräsident Winfried Kretschmann zwar März mit 30,3 % erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik stärkste Partei, allerdings zogen auch Rechtspopulisten mit zweistelligen Ergebnissen in die Landesparlamente von Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. Die PNP titelte am 13. März: “AfD in Sachsen-Anhalt bei 24 Prozent – Schwarzer CDU-Sonntag.” Darunter stand: “Die Flüchtlingskrise hat Folgen für das Parteiensystem”. Als AfD-Vize Alexander Gauland meinte, “Wir haben eine ganz klare Position in der Flüchtlingspolitik: Wir wollen keine Flüchtlinge aufnehmen” und Menschen, welche die AfD gewählt hätten, stünden hinter dieser Politik, merkte die PNP an: “Mit der im Zuge der Flüchtlingskrise aufgestiegenen AfD will in allen drei Ländern keine andere Partei koalieren.”
Auch der Streit um eine “bayerischen Leitkultur”, der sich die Flüchtlinge verpflichten sollen, flammte erneut auf. Der Begriff war Vielen zu unscharf. Als SPD-Fraktionschef Markus Rinderspacher den Entwurf des Integrationsgesetzes als “Abschottungsgesetz” kritisierte, konterte Josef Zellmeier, der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU, “Leitkultur” sei “das, was wir hier leben”. Der frühere Landtagsfraktionschef Alois Glück warnte dagegen, es gäbe bei denjenigen, die sich für Flüchtlinge engagiert haben, “massive Erosionserscheinungen in der Beziehung zur CSU.”
Am 8. Juni meldete die PNP, dass laut Forsa-Untersuchung für das Magazin Stern auch die CSU erstmals seit Beginn der Flüchtlingskrise vom bundesweiten Abwärtssog der Union erfasst sei. Demnach würde diese bei einer Wahl derzeit um fast acht Punkte auf 40 % abrutschen und damit im Landtag ihre absolute Mehrheit verlieren. Die AfD hingegen stiege demnach auch in Bayern auf zehn Prozent. Als Forsa-Chef Manfred Güllner folgerte, die Ergebnisse zeigen, dass “Horst Seehofers wiederholte Attacken gegen Kanzlerin Angela Merkel also keinesfalls Wähler am rechten Rand der CSU binden”, warf ihm deren Generalsekretär Andreas Scheuer vor, keine Umfragen, sondern Stimmung zu machen. Weil auch bekannt wurde, die Grünen würden um 5,4 Punkte auf 14 Prozent steigen, meinte deren Landesvorsitzender Eike Hallitzky, die Verschiebungen “zeigen, dass die Menschen unsere klare Haltung im Umgang mit Flüchtlingen teilen.”
Ende März rechnete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge damit, in diesem Jahr zu den rund 600 000 bis 700 000 noch unbearbeiteten Asylanträge auch jene von 500 000 neu Ankommenden132 bearbeiten zu können. Angesichts solcher Tatsachen wurde mancher Blickwinkel recht (fach)spezifisch.
Nachdem sich angeblich Badegäste in Neutraubling bei Regensburg über eine Muslimin beschwerten, die im Hallenbad einen sogenannten Burkini trug, meinte Bürgermeister Heinz Kiechle (CSU), man dürfe sich fragen, was ein Ganzkörperbadeanzug mit freier Religionsausübung zu tun habe. Am 9. Juni meldeten bayerische Tageszeitungen: “Stadt verbietet Tragen von Burkinis”.133 Laut Martin Neumeyer (CSU), dem Integrationsbeauftragtem der Bayerischen Staatsregierung, war dies der erste Fall in Bayern. 134
Weil Sexualkunde in vielen Ländern nach wie vor nicht unterrichtet wird, sah auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung einen Nachholbedarf. Als die dpa über Zanzu135 berichtete, das seit dem 25. Februar in 13 Sprachen in Wort und Bild online zugänglich ist, stand dabei, Nutzer könnten sich dort auch informieren, welche Gesetze in Deutschland gelten, wie das Gesundheitssystem funktioniert und wo es Beratungsstellen gibt. Selbst vorlesen lassen könne man sich die Inhalte. Die PNP titelte am 10. März: “Sex ist kein Tabuthema: Onlineportal Zanzu klärt Migranten auf”. Der Artikel begann mit der Auswahl: “Wie wichtig Beckenbodenmuskeln für guten Sex sind, warum man sich trotz einer Beziehung in eine andere Person verliebt oder wer bei sexueller Belästigung helfen kann”.
Auch Themen wie Eheschließung müssen wohl neu erörtert werden. Beim staatlich gebilligten Familiennachzug kann zwar nur eine Ehefrau nachgeholt werden, wenn aber bereits bei der Registrierung mehrere Ehepartner gleichzeitig anwesend sind, drückt wohl Mancher beide Augen zu. Auch fehlende Urkunden aus den Herkunftsländern und in Deutschland (vor einem Imam) geschlossene (Zweit-)Ehen erhitzen die Gemüter. 136
2007 zeigte das “ Unicef-Foto des Jahres” eine Kinderbraut in Afghanistan. 137 In Deutschland dürfen Jugendliche bislang ab 16 Jahren heiraten, sofern der Partner volljährig ist und ein Familiengericht zustimmt. 138 Nachdem aber Asylbewerber nicht nur minderjährige Ehefrauen vorstellten, 139 sondern auch gemeinsame Kinder, begannen Debatten um deren juristischen Status. Bisher wird laut Justizministerium im Einzelfall geprüft, ob solche Ehen anerkannt werden. 140 Bayerns Justizminister Winfried Bausback (CSU) fordert dagegen, dass Ehen von unter 16-Jährigen kategorisch für nichtig erklärt werden. 141 Jeder “Vollzug” auf deutschem Boden wäre damit “Missbrauch von Minderjährigen”. Auch Stephan Meyer (CSU), innenpolitischer Sprecher der Unionsbundestagsfraktion, zielt auf eine “Verschärfung” des deutschen Rechts ab: “Alles andere wäre ein Kniefall vor dem Scharia-Recht”.
Angesichts von gut 300 000 Flüchtlingskindern in Deutschland errechnete die Kultusministerkonferenz (KMK) einen Bedarf von über 20 000 Lehrern. Nach Ansicht von Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands würden über kurz oder lang 400 000 bis 500 000 schulpflichtige Flüchtlingskinder sogar bis zu 50 000 Lehrer brauchen. 142
Der Passauer Strafrechtler Prof. Dr. Holm Putzke provozierte mit der Frage, ob sich Angela Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik nicht (auch) strafbar mache. Nachdem bei konsequenter Anwendung geltenden Rechts ganze Berufsgruppen wie Bus- oder Taxifahrer, die Flüchtlinge befördern, selbst dann als Schleuser gelten, wenn diese aus reiner Menschlichkeit handeln, schien es ihm “nicht plausibel”, wenn die Bundeskanzlerin das Weiterreiseverbot für in Ungarn befindliche syrische Flüchtlinge aufhebt, damit sie nach Deutschland reisen können. 143
Und bei der Jahresabschlusssitzung des Passauer DGB-Kreisvorstands mahnte Wendelin Hegedüsch: “Der Mindestlohn muss auch für Flüchtlinge gelten, weil es keinen Zweiklassenarbeitsmarkt geben darf.” 144
Als die NPD 2006 Anhänger gegen den geplanten Bau einer Moschee in Berlin-Pankow mobilisierte, hatte Ralf Fischer kommentiert: “Am Fronttransparent steht ein blondes Mädel[,] das den Anschein macht, als wäre es frisch aus dem Lebensborn eingeflogen. … Ihre Gesichtsmimik soll … bestimmt keine Freude ausstrahlen. Schließlich geht es ja heute um das Überleben des deutschen Volk[es]! … In geschlossener Formation und umringt von starken Polizeikräften bahnt sich der braune Mob seinen Weg. Man könnte fast meinen[,] es ist 1683 und die türkischen Truppen ständen vor Berlin statt wie damals vor Wien.” 145
In Passau sucht die seit 2001 dort aktive Islamische Gemeinschaft Passau e.V. seit Längerem eine Alternative zur winzigen Gebetsstätte in der Roßtränke. Die PNP fragte am 23. Juni: “Gibt es bald eine Moschee im Weinholzerweg?” Und am 10. Juli stellte sie die trotz heftiger Debatten um das Minarett146 eben eröffnete Deggendorfer Mosche am Unteren Sommerfeldweg als einen “Ort für Begegnung und Austausch” vor. 147
Als die Region allerdings begann, mit ihrem neuen Logo für “Niederbayern schafft Heimat” zu werben, leuchtete das “N” zwar in schrillen Regenbogenfarben, mit Migranten und Integration hatte dies jedoch ebenso wenig zu tun wie mit sexueller Orientierung. Am 20. Juni stellte Christina Fleischmann in der PNP klar, gemeint wären ganz einfach die Farben der Dächer, des Waldes und des Himmels. 148

Notes

1 Die stärksten Gruppen waren 1,5 Millionen türkischer, 670 000 polnischer und 570 000 italienischer Herkunft.
2 Am Samstagabend zählte Koller “600 auf einmal” in Simbach am Inn, eine ähnliche Zahl in Neuhaus am Inn, wo am Abend nach Auskunft des örtlichen Helferkreises das rund 200 Personen fassende Bierzelt nicht mehr ausreichte, um alle aufzunehmen. Am Sonntag um 13.30 Uhr erfasste die Bundespolizei in Neuhaus weitere 320 Personen.
3 Unter den online-Kommentaren waren dann Bemerkungen wie diese: “Den Wartenden beim Warten zuzuschauen ist ja schon dumm genug, aber wann bitte hat man Flüchtlinge zu Zootieren degradiert, deren wohlgelungene Fotos man sich zu Hause an die (Facebook-)Pinnwand hängt? Also manchmal zweifle ich schon stark daran, dass die Leute noch wissen was Moral und Ethik eigentlich bedeutet.” “Schaulustiges[,] geistloses ****pack. Ich schäme mich für euch[,] anstatt [dass] einer mal nachfrägt wie es Ihnen geht. Was sie auf ihrer Reise durchlebt haben. Selbst nur eine Kanne Tee als Zeichen nächster Liebe…. Selbst dem ärmsten geht es hier gut! Aber die Leute[,] die sich beschweren sind Menschen [,] die nicht genug haben können und meinen [,] sie würden durch Hartz iv Beiträge zahlen.” Aber auch solche: “Was ist so schlimm an den Schaulustigen. Die machen sich nur mal einen Überblick über die wirkliche Situation vor Ort (abseits der geschönten Fernsehbilder)[,] welche uns unsere Bundesmutti so eingebrockt hat. Aus meiner Sicht wäre die Grenze schon länger dicht, wenn es keine ehrenamtlichen Helfer mehr geben würde. Diese werden schön von unserer Regierung verheizt! Aus meiner Sicht sind wir nicht mehr weit von Aufständen entfernt. Auf der einen Seite von Bürgern[,] die mit der Situation unzufrieden sind[,] und die Flüchtlinge[,] die nicht die versprochenen Flüsse vorfinden[,] wo Milch und Honig fließen! Das Ganze nur[,] um in eine Region ‘Demokratie’ zu bringen, die nur mit harter Hand regierbar ist. Wir alle werden noch viel Spaß haben in nächster Zeit!!!” Und: “Es werden immer mehr werden[,] und nur ein paar Weißbrote, Thunfisch und heißen Tee verteilen hilft ein paar Stunden und dann werden die Transitreisenden weiter gekarrt. Es sind im Endeffekt Millionen, die versorgt werden müssen. Medizinisch, Unterkunft, Schulen, Kindergärten und, und, und. Wie haben 25% Menschen unter der Armutsgrenze in Deutschland. Wie wollen Sie denen erklären, dass die neu Hinzugekommenen mehr bekommen sollen als sie. Österreicher und andere haben da mehr Weitblick und haben niemandem Haus, Wohnung und Arbeit versprochen. Vom Taschengeld und Hartz 4 ganz zu schweigen.”
4 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-notunterkuenfte-in-passau-sind-komplett-gefuellt-a-1060092.html
5 http://www.pnp.de/region_und_lokal/stadt_und_landkreis_passau/passau_stadt/1856761_Hunderte-demonstrieren-in-Passau-gegen-rechte-Tendenzen.html
6 dpa-Bericht vom 25. November 2015
7 Medienberichten vom 17. November zufolge sagte Österreichs Kanzler Werner Faymann der “Welt” im Hinblick auf die vor drei Monaten vereinbarte Verteilung von 160 000 Flüchtlingen: “Wer unter dem Strich mehr Geld aus dem EU-Haushalt erhält als einzahlt, sollte sich bei einer fairen Verteilung der Flüchtlinge nicht einfach wegducken.”
8 Während der einjährigen Dauer erreichten mindestens 150 000 Migranten, vorwiegend aus Afrika und Nahost, sicher Europa.
9 http://www.br.de/nachrichten/oberpfalz/inhalt/initiative-sea-eye-fluechtlinge-regensburg-100.html
10 Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind allerdings von Januar bis Mai 2016 weitere 1 370 Flüchtlinge bei der Überfahrt im Mittelmeer ertrunken.
11 Die Stadt verzeichnete 18 Abschiebungen, der Landkreis 110.
12 Nach Angaben von David Rising auf cnsnews.com vom 31. Januar 2016 waren es 37 220.
13 Erste Statistiken zeigten, dass 2015 37 220 von der Beihilfe Gebrauch machten. Weil ein solcher Charterflug laut Pressesprecher Stefan Frey etwa 35 000 Euro kostet, stellt der Freistaat Asylbewerbern diesen Rücktransport in Rechnung. Wer nicht bezahlen kann, erhalte eine Forderung, welche bei einer erneuten Einreise verlangt werde.
14 http://www.pnp.de/nachrichten/bayern/2162918_Nach-Drohungen-Bistum-fordert-Fluechtlinge-zum-Auszug-auf.html
15 Wer nicht bezahlen kann, hat die Möglichkeit, das Geld bei der International Organization for Migration zu beantragen.
16 Im Dezember kehrten angeblich gut 200 der knapp 30 000 Iraker zurück, die 2015 in Deutschland Asyl beantragten. http://www.newsweek.com/iraq-refugees-germany-asylum-migrants-isis-islamic-state-angela-merkel-europe-420328
17 In Wirklichkeit kamen damals nur noch relativ wenige Flüchtlinge an. Die Bundespolizei Passau sprach von etwa 250 Menschen pro Tag.
18 David Rising berichtete am 31. Januar 2016 auf cnsnews.com, dass ca. 40 der insgesamt 180 Passagiere, die jede Woche von Tegel nach Erbil fliegen, zurückkehrende Flüchtlinge wären.
19 Die Los Angeles Times vom 1. März zitierte den 24-jährigen Alaa Hadrous, der angeblich als Kind kam und jetzt neben einem Flüchtlingszentrum “Golf Reisen” in Berlin betreibt. David Rising berichtete allerdings auf cnsnews.com vom 31. Januar 2016, dass nur 13 Syrer freiwillig zurückkehrten.
20 Mehr dazu in der Landauer Neuen Presse vom 16. Januar 2016.
21 Gegründet und geleitet wurde die 2010 gegründete Mosche von Reda Seyam, der innerhalb des Islamischen Staates als ranghöchster Deutscher gilt und unter anderem für die Universität in Mossul zuständig war. Nachdem viele Migranten der dritten Generation nicht nur besser Deutsch beherrschen als die Sprache ihrer Vorfahren, sondern deutsche Konvertiten als wichtige Zielgruppe gelten, wird dort auf Deutsch gepredigt.
22 Zwei Tage später schob Michael Gruber nach, der Vorstand der muslimischen Organisation in der Innenstadt betone: “Wir haben mit dem Islamischen Zentrum nichts zu tun.” Seit 15 Jahren bemühe dieser sich, die Hand auszustrecken.
23 Einer Gruppe überwiegend nordafrikanischer Männer wurde zur Last gelegt, Frauen umzingelt, begrapscht und bestohlen zu haben. Unter den Verdächtigen waren auch Asylbewerber.
24 Die lby zitierte am 15. Januar 2016 aus einer Predigt Schicks im oberfränkischen Pegnitz: “Sich zum Beispiel in der Flüchtlingskrise über Gesetze hinwegsetzen oder sie infrage zu stellen, kann nicht gut gehen”. Wer sich nicht an Recht und Gesetz halte, besonders in schwierigen Zeiten, trage zum Chaos bei. Das gelte auch für die Kirche.
25 Augsburg hat einen – wohl einmaligen – kommunalen Friedens-Feiertag, an dem Geschäfte und Büros geschlossen bleiben. Dazu vergibt die Stadt einen internationalen Friedenspreis.
26 Das wegen ihrer Schusswaffen-Äußerungen von Gribl erteilte Hausverbot und eine Untersagung des AfD-Empfangs wurden per Eilverfahren vom Augsburger Verwaltungsgericht für nichtig erklärt.
27 Die für die Registrierung, medizinische Erstversorgung, das Zuweisen in Notunterkünfte und die Ausgabe von Taschengeld der Asylbewerber zuständige Behörde war seit Monaten überfordert. Immer wieder gab es deshalb Forderungen nach einem Rücktritt des Sozialsenators Mario Czaja (CDU).
28 Am 28. Januar 2016 gestand ein Helfer der Polizei, dies nur erfunden zu haben.
29 Das Gericht stellte dazu fest: “Das Recht politischer Parteien, gleichberechtigt am Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes teilzunehmen, wird verletzt, wenn Staatsorgane als solche parteiergreifend zugunsten oder zulasten einer politischen Partei in den politischen Wettbewerb einwirken.”
30 Zwei Wochen zuvor hatten sich etwa 300 Russlanddeutsche versammelt, um gegen die angebliche Vergewaltigung einer 13-jährigen Russlanddeutschen durch Flüchtlinge zu demonstrieren, die nachweislich nie stattgefunden hatte.
31 http://www.pnp.de/nachrichten/bayern/1957489_Asylpaket-III-Faschingsumzug-mit-Verdacht-auf-Volksverhetzung.html
32 Am 8. Februar entschuldigte sich der Veranstalter.
33 Laut oberösterreichischer Polizei und der Linzer Integrationsstadträtin Karin Hörzing (SPÖ) gehört die Moschee dem dortigen Verein der Bosniaken.
34 Alleine im zweiten Halbjahr 2015 erhielt die Jugendschutz-Plattform bundesweit 843 Hinweise. Anerkannt wurde, dass Google, Facebook und Plattformbetreiber in Deutschland meist prompt reagierten: Zu 64 Prozent wurden diese Inhalte gelöscht oder angepasst. Auch Strafermittlungen und Bußgelder veranlasste die KJM.
35 In Clausnitz versuchten etwa 100 Menschen, die Ankunft eines Busses mit neuen Asylbewerbern zu verhindern und grölten: “Wir sind das Volk”. Nachdem ein Video zeigte, wie Polizisten verängstigte und teils weinende Flüchtlinge zwangsweise aus dem Bus holten, sprach SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann von “Polizeiversagen”.
36 Als bei einem Brandanschlag auf eine noch unbewohnte Flüchtlingsunterkunft in Bautzen 20 bis 30 teils alkoholisierte Gaffer eintrafen, laut Polizei “abfällige Bemerkungen” machten bzw. “unverhohlene Freude” zeigten, wurde dreien auch vorgeworfen, die Löscharbeiten behindert zu haben. Die dpa berichtete am 22. Februar, die Staatsanwaltschaft Görlitz wolle deshalb Ermittlungen gegen drei Männer im Alter von 19 und 20 Jahren aufnehmen.
37 Die Staatsanwaltschaft Regensburg ermittelte wegen eines versuchten Tötungsdeliktes und ein Richter erließ Haftbefehl.
38 Nachdem ein 38 Jahre alter Nigerianer beim Tanzen eine Frau anfasste, kam es zu einer Auseinandersetzung mit deren Begleitern. Obwohl der Sicherheitsdienst den Mann mit einem Hausverbot aus dem Kirchhamer Lokal begleitete, gerieten beide Parteien auf dem Parkplatz allerdings erneut aneinander. Laut Polizei handelte es sich um “sexuelle Nötigung, versuchte gefährliche Körperverletzung und Beleidigung”. Nach einem Termin bei der Polizeiinspektion holte den Nigerianer dessen Ehefrau ab.
39 http://www.idowa.de/inhalt.deggendorf-asylbewerber-21-grapscht-an-der-tankstelle.262a3bc0-dde9-4e47-a681-3a9a256281c2.html
40 Bei der Vorstellung einer Studie gestand Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU), fast 470 000 unter 18-Jährige haben Probleme. Während bei Klein- und Vorschulkindern vor allem Entwicklungsstörungen bei der Bewegung oder beim Sprechen diagnostiziert wurden, ergaben bei 7- bis 14-Jährigen Verhaltensstörungen wie die Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS) einen Schwerpunkt. Jugendliche leiden vermehrt an Depressionen.
41 Tags darauf teilte der Innenminister mit, dieser sei vor etwa einem Jahr über Passau eingereist. Die dpa merkte an, der Fall erinnere an eine Messerattacke in einer S-Bahn bei München, wo ein 27-jähriger Deutscher (ohne Migrationshintergrund) einen Fahrgast tötete und drei weitere verletzte. Der mutmaßliche Täter, der offenbar früher bereits in psychiatrischer Behandlung war, wurde eine psychiatrische Klinik eingewiesen. http://www.pnp.de/nachrichten/bayern/2152200_Axt-Attacke-in-Zug-Islamischer-Staat-bekennt-sich-zum-Anschlag.html
42 http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/f-a-z-exklusiv-amoklaeufer-von-muenchen-war-rechtsextremist-14359855.html
43 http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/1750-hinweise-nach-der-amoktat-in-muenchen-14361746.html
44 Am 27. Juli berichtete die Presse, dass Hunderte Menschen zu einem Totengebet unter freiem Himmel – an den Tatort – kamen, zu welchem der Muslimrat habe eingeladen hatte. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter meinte dabei: “Diese grausame Tat, von der fast ausschließlich Menschen mit Migrationshintergrund betroffen sind, ist auch ein Anschlag auf unser buntes, auf unser vielfältiges, auf unser tolerantes München”.
45 http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/muenchener-amoklaeufer-benutzte-schussfaehig-gemachte-dekowaffe-14355756.html
46 Ein 15-jähriger Baden-Württemberger (ohne Migrationshintergrund), der ebenfalls gemobbt wurde und im Chatkontakt mit dem Amokläufer stand, plante offensichtlich einen Amoklauf an seiner Schule, wurde in die Jugendpsychiatrie eingeliefert. Am 27. Juli meldete die Presse, dass zwar wegen unerlaubten Waffen- und Sprengmittelbesitzes gegen ihn ermittelt wird, es gebe aber keine Hinweise auf Mittäterschaft oder darauf, dass er vom Münchner Blutbad vorab etwas wusste. http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.festnahme-im-kreis-ludwigsburg-15-jaehriger-soll-amoklauf-geplant-haben.a4e88bd6-b819-4a6a-afcd-c788bc891c20.html
47 http://www.badische-zeitung.de/brennpunkte/muenchen-mutmasslicher-mitwisser-traf-amoklaeufer-am-tatort–125275252.html
48 Am 31. Juli leiteten Kardinal Reinhard Marx und der evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm in der Münchner Frauenkirche einen ökumenischen Gottesdienst. Ein Vertreter des islamischen Glaubens sprach ein Gebet. Anschließend fand im Bayerischen Landtag ein Trauerakt statt. Eingeladen wurden auch die Familien der neun Todesopfer. Die Medien berichteten, dass Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel an beiden Veranstaltungen teilnahmen.
49 Ein im Internet verbreiteter Nachruf behauptete, der Syrer habe sich im Irak der Vorgängerorganisation des Islamischen Staates (IS) angeschlossen, sei nach Beginn der Aufstände in seine Heimat zurückgekehrt und habe in Aleppo eine kleine Gruppe gegründet, welche sich auf den Bau von Granaten und Bomben spezialisierte. Wegen einer Verwundung habe er sich zu einer Aktion in Deutschland entschlossen. Die Echtheit dieser Angaben konnte zunächst allerdings nicht verifiziert werden.
50 Bayerns Sozialministerin Emilia Müller (CSU) sagte am 28. Juli in Gmund am Tegernsee, dessen Traumatherapie war im Januar 2016 beendet worden. Ein Antrag auf Fortsetzung sei zwar zehn Tage danach gestellt worden und das Sozialamt Ansbach habe diese unmittelbar nach Eingang eines Gutachtens auch genehmigt. “Allerdings hat sich dieses Gutachten enorm herausgezögert.” Die Therapie sei deshalb erst vor wenigen Wochen wieder aufgenommen worden. Als der lby berichtete, fügte er hinzu: “Einen Grund dafür konnte sie nicht nennen.”
51 Warum dessen Antrag auf Asyl vor einem Jahr abgelehnt wurde, war laut Innenminister nicht bekannt.
52 Laut lby-Bericht vom 28. Juli erklärte der Bayerische Innenminister, ein chat-Partner “aus dem Nahen Osten” habe auf die Nachricht von Sicherheitsleuten gesagt, der Jugendliche “solle sich ein Schlupfloch suchen oder einfach durchgehen.” Den Wortlaut bzw. die Identität dieser Person konnte oder wollte Hermann jedoch nicht nennen.
53 Feuerwehr und Rettungsdienste hatten 350 Kräfte im Einsatz. Die Polizei ückte mit 200 Kräften an und gründete eine Sonderkommission mit mehr als 30 Mitgliedern.
54 Das Bundeskriminalamt stellte im vergangenen Herbst klar, eine Ursache für die Gewalt in Flüchtlingsheimen sei oft deren Überbelegung.
55 “Bis Anfang Dezember haben 59 000 Personen die Erstaufnahmeeinrichtung durchlaufen. Im gesamten Jahr 2015 hatten wir 28 Ladendiebstähle durch Asylbewerber.” Dazu kamen “elf Diebstähle in den Einrichtungen und ebenfalls elf Körperverletzungen …, die Asylbewerber untereinander begehen.”
56 https://www.facebook.com/polizeiOBS/photos/a.845295448879881.1073741829.768279913248102/969364513139640/?type=3&theater
57 Nach Angaben vom 11. März 2016 waren 20 der insgesamt 76 Haftbefehle mit rechtslastigen Delikten begründet: Einer war wegen Mordes ausgestellt, andere betrafen Körperverletzung und diverse Waffendelikte. Bei einigen der Gesuchten war sogar der Aufenthalt bekannt, ein Vollzug des Haftbefehls allerdings nicht möglich, etwa weil diese sich im Ausland befänden. Ein Jahr zuvor waren 53 Rechtsextreme per Haftbefehl gesucht worden.
58 Nach Informationen des Bayerischen Rundfunks sollte es sich auch um den Liedermacher Frank Rennicke aus Unterhartmannsreuth bei Hof handeln, der viele Jahre als Schlüsselfigur der rechtsextremen Szene galt und sowohl 2009 wie auch 2010 NPD-Kandidat zur Wahl des deutschen Bundespräsidenten war.
59 http://www.sueddeutsche.de/digital/amoklauf-in-muenchen-das-verbirgt-sich-hinter-dem-darknet-1.3092879
60 http://www.spiegel.de/politik/ausland/syrien-hilfsorganisationen-beklagen-schlimmstes-jahr-des-buergerkriegs-a-1081749.html
61 Das sogenannte Easy (Erstverteilung von Asylbegehrenden)-System von Deutschlands Bund und Ländern registrierte im Januar 91 671 neue Flüchtlinge, im Februar 61 428 und im März rund 20 000.
62 http://www.unhcr.org/news/latest/2016/2/56b1fc4f6/london-syria-conference-world-leaders-urged-help-syrians.html
63 http://derstandard.at/2000031903824/Bayern-lobt-Oesterreich-Tageskontingente-einfuehren
64 In den vergangenen Wochen fuhren täglich allein aus Passau drei solcher Züge in Richtung Norddeutschland.
65 Griechischen Schätzungen zufolge befanden sich dort über 5 000 Migranten. Durchreisen durften nur noch jene aus Syrien, Afghanistan und dem Irak.
66 http://www.welt.de/politik/ausland/article136767760/Das-Erfolgsgeheimnis-der-griechischen-Neonazis.html
67 https://de.wikipedia.org/wiki/Westbalkan-Konferenz
68 http://derstandard.at/1343744545422/Wir-muessen-eine-Willkommenskultur-entstehen-lassen
69 http://www.csu.de/aktuell/meldungen/februar-2016/seehofer-im-spiegel-interview/
70 In Passau wurden an einigen der früheren fünf innerstädtischen Grenzübergänge Fotos gemacht: http://www.pnp.de/1975577
71 https://www.wsws.org/de/articles/2016/02/26/balk-f26.html
72 http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/waffenruhe-der-syrische-grosskonflikt-11719032.html
73 http://www.bellevuedimonaco.de
74 Als 700 griechische Sicherheitskräfte am 24. Mai begannen, mit Bussen das Lager zu räumen, hielten sich dort noch immer über 8 000 Menschen auf.
75 http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/einigung-bei-fluechtlingskosten-horst-seehofer-spricht-von-sensationellem-ergebnis-14329733.html
76 Zuständig für die Registrierung neuer Einwohner sind in Deutschland normalerweise die kommunalen Meldebehörden.
77 Am 26. März berichtete die dpa: “Der Bund und die Länder sind auf einen möglichen Anstieg der Flüchtlingszahlen vorbereitet. Durch Ausweichrouten und bessere Wetterbedingungen schließt das Bundesinnenministerium einen erneuten Zuwanderungsstrom nicht aus. Die Bundespolizei hat ihre Kräfte an den Grenzen bislang nicht reduziert, um flexibel zu bleiben. Auch die vom Bund betriebenen Warteräume in Erding und Straubing werden mit weniger Personal weiter betrieben. Der Personaleinsatz kann jedoch schnell wieder erhöht werden. Auch die Kommunen sind vorbereitet: In Bayern etwa gibt es einen Notfallplan, der die kurzfristige Unterbringung von Flüchtlingen vorsieht.”
78 Dass deren Unterbringung für Passauer Hoteliers einem Geldregen gleichkam, war kein Geheimnis. Als Schweighofer am 13. Juli in der PNP (von Januar bis Mai im Vergleich zu 2015) über 22,2 Prozent mehr Übernachtungen schrieb, gestand auch die dortige Tourismuschefin Pia Olligschläger, dass die Unterbringung der Bundes- und Bereitschaftspolizisten dabei ein “gewichtiger Faktor” war.
79 http://www.sueddeutsche.de/politik/terrorgefahr-bundeskriminalamt-im-besitz-geheimer-is-papiere-1.2895848
80 “Erster Schleuser seit September” vom 9. März 2016
81 Da die Rastanlage von Österreich kommend hinter der ständigen Kontrollstelle der Bundespolizei an der Autobahn liegt, muss der Schleuser die Kontrollstelle entweder unbehelligt passiert oder umfahren haben.
82 Auf einen PNP-Artikel von 12.19 Uhr hin konterte Erwin Kellermann online: “Die Gefahr geht von den Flüchtlingen aus? Seit 1990 wurden gesichert 90 Menschen durch Rechtsradikale ermordet. Ein Verdacht auf rechtsradikale Hintergrund gibt es bei 845 Morden. die Gefahr geht von den Flüchtlingen aus? Im vorigen Jahr verübten Rechtsradikale 745 Anschläge auf Flüchtlingsheime.! 600 Gewalttaten auf Flüchtlinge berichtet der Spiegel. Die Gefahr geht von den Flüchtlingen aus? Wir müssen den rechtsradikalen Sumpf trockenlegen. Dazu gehört auch das NPD-Verbot und die Beobachtung der AFD durch den Verfassungsschutz.”
83 Als die PNP am 28. Juli online berichtete, kommentierte “Kluger Satz”: “Allerdings gehört zur Wahrheit auch, dass es in freien Gesellschaften keine totale Sicherheit geben wird. Zudem sollte man den Satz von Benjamin Franklin beherzigen: ‘Wer die Freiheit aufgibt um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren.’”
84 Auf einen online-Artikel in der PNP vom 28. Juli hin entfuhr “Jp”: “Genau[,] mehr Polizisten… Und dann stehen sie wieder irgendwo und dran[g]salieren normale Bürger durch Verkehrskontrollen[,] weil sie sonst nix zu tun haben.” Der “Bayernbua“ hingegen meinte: “Es steht zu befürchten, dass das nicht viel für die Sicherheit bringen wird, denn die Erfahrung zeigt, dass von den 2 000 zusätzlichen Beamten wohl 1 900 nach München kommen und der ‘Rest’ Bayerns wieder leer ausgeht.”
85 Neben Telefonanbietern sollen auch Anbieter von E-Mail-Diensten und sozialen Medien verpflichtet werden, Verkehrsdaten “deutlich” länger zu speichern.
86 Auf einen online-Artikel in der PNP vom 28. Juli hin meinte “Felix Bayerlein”: “In diesem Zusammenhang muss einem klar sein, dass mit Videoüberwachung und Vorratsdatenspeicherung zwar ganz massiv in die Rechte der rechtstreuen Bürger eingegriffen, dadurch aber kein wesentlicher Sicherheitsgewinn erzielt wird. Bestenfalls die Aufklärung NACH Anschlägen etc. geht besser vonstatten, davon haben aber Geschädigte und Angehörige herzlich wenig.” Jonas Fitz spottete: “Dann schaffen wir eben mit Hilfe von Notstandsgesetzen die Demokratie und den Rechtsstaat komplett ab. Genial, oder? Ja, wie das geht[,] kann man momentan in der Türkei beobachten. So ist das[,] wenn fahnenschwingende Nationalisten an die Macht kommen.”
87 Am 30. Juli ergänzte Dominik Schweighofer in der PNP, die bayerische Staatsregierung drücke dabei nicht nur “mächtig aufs Tempo.” Landrat Franz Meyer (CSU) nehme die Entscheidung “mit großer Genugtuung” auf, denn “schließlich habe er schon als Landtagsabgeordneter vor 20 Jahren mit dafür gesorgt, dass das Projekt auf der Prioritätenliste des Justizministeriums landete.”
88 Während “Traurig Aber Wahr” meinte, “So kann man auch unsere Steuergelder verprassen!”, kommentierte “ P.L.”: “Modernste Technik bei der Gestaltung der Hafträume? Für die Elite unserer Bevölkerung natürlich unbedingt von Nöten. Kann man z. B. bei der Altenpflege locker wieder einsparen.” Und “Dr. Merkel” wunderte sich: “200.000 pro häftlingsplatz? Was wird da denn gebaut???? Wieviel wird denn pro Student in die Uni Passau Gebäude gesteckt? Nur mal so zum Vergleich???”
89 Bei so viel Schwung wollte wohl auch der “Realist” nicht hinter dem (online) Berg halten: “Eine wirkliche Distanzierung hieße: Regierung, Fraktionsgemeinschaft verlassen… Zukünftig im Bundestag u. Bundesrat nicht mehr automatisch auf CDU-Linie sein. Die hohlen u. folgenlosen Drohungen der CSU nahm Merkel noch nie ernst. In der laufenden Legislaturperiode hätte sie auch ohne CSU eine Mehrheit. Und nach der nächsten Bundestagswahl koaliert sie einfach mit der CDU/SPD/Grünen u. kann weiterstümpern. Die AfD übt sich ja leider sehr fleißig in der Selbstzerstörung u. könnte bis Herbst 2017 schon unter der 5%-Hürde segeln.”
90 Zum Vergleich: Am 19. Juli berichtete die PNP unter der Schlagzeile “Glückseliges Gipfeltreffen der Millionen-Investoren”: “Es sind deutlich über 150 Millionen Euro, die die vier Investoren bzw. Unternehmen dieser Tage in Passau verbauen.” Wozu OB Jürgen Dupper meinte: “Wir alle sehen es weiterhin als Herausforderung, den Charme unserer Stadt zu bewahren, aber sie trotzdem weiterzuentwickeln.”
91 Zum Vergleich: Am 26. Juli teilte der Finanzdirektor des Bistums Passau mit, das Bistum Passau verfüge über 715 Millionen Euro. Und laut Pressemitteilung des Passauer Oberbürgermeisters vom 29. Juli 2016 verursachte ein Starkregen am 23. Juli in der Stadt Schäden von rund 10,8 Millionen Euro.
92 Der Großteil dieser Kosten (mit Ausnahme der Personalkosten) wird vom Staat übernommen.
93 Die Rede war von mindestens 25 000 neuen Unterkunftsplätzen. Nach Angaben des Sozialministeriums in München sollten allein die Plätze in der Erstaufnahme bis Jahresende von 23 000 auf 36 000 steigen – viermal so viel wie Anfang 2015.
94 Am 24. Februar meldete “sdr” in der PNP allerdings, dass der Stadtrat dem Bauausschuss eine Ablehnung empfahl. “Erstens aus baurechtlichen Gründen. Zweitens weil die öffentliche Anbindung an die soziale Infrastruktur der Stadt fehle. Und drittens, weil Unterkünfte für Asylbewerber vernünftig über das ganze Stadtgebiet verteilt werden sollen, um eine Überlastung einzelner Stadtteile zu vermeiden und deren soziale Einrichtungen wie Kindergarten und Schule gleichmäßig auszulasten.”
95 http://www.pnp.de/region_und_lokal/stadt_und_landkreis_passau/passau_land/1870720_Sportgeschaeft-wird-womoeglich-zu-Asylunterkunft.html
96 Weil Wasser, Abwasser und eine Straßenerschließung Grundvoraussetzung für eine Genehmigung jedes Bauvorhabens sei, beschäftigte die geplante Asylbewerberunterkunft auch den Zweckverband Wasserversorgung Unteres Inntal. Deren Vorsitzender Josef Stöcker meinte, weil der gesamte Ort bislang nur 300 Einwohner habe, müsse die Versorgungsleistung “um rund 25 Prozent erhöht werden”.
97 http://www.trp1.de/moegliche-asylunterkunft/
98 Enthalten sind sowohl Aufgriffe durch die Landes- und Bundespolizei wie auch sogenannte Direktzugänge (Flüchtlinge, die sich an der Grenze selber in eine Erstaufnahmeeinrichtung begaben), nicht aber Zurückweisungen an der Grenze.
99 Laut PNP vom 21. Juli betreibt die Caritas im Landkreis Passau zwei Einrichtungen für minderjährige Flüchtlinge. Das Aufnahmezentrum in Kellberg hat 140 Plätze und das Haus Pax in Schweiklberg 48.
100 Am 22. Juli berichtete Thomas Seider in der PNP, dass sich “die Hälfte der von der Stadt Passau in Obhut genommenen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge anschließend wieder aus dem Staub” macht. “Ist ein Minderjähriger verschwunden, erstattet die Stadt Vermisstenmeldung bei der Polizei. In wenigen Fällen erhält sie später Rückmeldung, dass der Vermisste anderswo aufgegriffen wurde. Einer hat das einmal selbst erledigt: Er rief in Passau an und berichtete, er sei gut dort angekommen wohin er wollte. Viele wissen von Verwandten anderswo in Deutschland, bei denen sie unterschlupfen wollen. Und viele wollen nicht in Deutschland bleiben, sondern ihre Flucht in ein anderes Land fortsetzen”
101 Zuständig für deren Einsatz war die Koordinierungsstelle Flüchtlingsverteilung Bund des Bundesverkehrsministeriums
102 Der Regierungsbezirk Oberbayern reduzierte die Zahl der Notaufnahmeeinrichtungen von 20 auf 4. In Nordrhein-Westfalen sollten bis April 37 der insgesamt 47 Notunterkünfte aufgelöst werden, und in Berlin waren viele nicht mehr voll belegt.
103 Dem letzten Wohnungsmarktreport der Bayerischen Landesbodenkreditanstalt von 2014 zufolge standen in Niederbayern 3 Prozent leer. Im Landkreis Passau und Freyung-Grafenau waren es 5 bzw. 4,3 Prozent. Bayerischer Spitzenreiter war Regen mit 5,5 Prozent.
104 Von den 24 Notunterkünften im Bezirk sollten nur sechs (Zwiesel, Elsendorf, Passau, Hengersberg, Metten und Stephansposching) bleiben.
105 http://www.faz.net/agenturmeldungen/dpa/foerderung-und-strenge-kabinett-beschliesst-integrationsgesetz-14252202.html
106 http://www.spiegel.de/karriere/berufsleben/mythen-der-arbeit-ein-euro-jobs-gehoeren-abgeschafft-a-879046.html
107 Neben einer Gruppenberatung für 30 Flüchtlinge pro Tag mit zwei Dolmetschern war deshalb auch eine Auffrischung der Englischkenntnisse für die eigenen Mitarbeiter geplant.
108 Dass Syrer vergleichsweise gut ausgebildet sind, zeigen Statistiken des OECD: Während unter den 2014 in Deutschland eingetroffenen Asylbewerbern etwa 15% einen Hochschulabschluss, an die 16% eine dem Abitur vergleichbare Ausbildung, ca. 35% einen mittleren Schulabschluss und 24% eine Grundschulausbildung hatten, waren es unter Syrern 21% einen Hochschulabschluss, 22% eine dem Abitur vergleichbare Ausbildung und 47% eine Grund- oder weiterführende Schule besucht. (http://www.oecd.org/berlin/publikationen/international-migration-outlook-2015.htm)
109 Am 29. November berichtete die PNP z.B., dass die Stadt Passau für die Innenrenovierung der Nikolaikirche 4,05 Millionen Euro veranschlagte, für die Sanierung der Marienbrücke rund 800 000 Euro und für neue Eingänge der Studienkirche 100 000 Euro. Am 8. Juli stand in der gleichen Zeitung, dass die Instandsetzung des Daches im Kloster Thyrnau rund 1,63 Millionen Euro kostete.
110 Am 18. Juli hieß z.B. eine Schlagzeile der PNP: “Deggendorf: Ohne Begründung nach 30 Jahren das Konto gekündigt”. Darunter berichtete Florian Mittermeier über den türkisch-stämmigen BMW-Mitarbeiter Erol Demir, der seit fast 30 Jahren in Deggendorf lebt, überdurchschnittlich gut verdient und “neben seinen alten Eltern auch seinen schwerbehinderten Sohn Hasan (23) pflegt”. Auch seinen beiden Söhnen kündigte die Commerzbank ihre Konten.
111 Die Deutsche Kapuzinerprovinz ließ ihren Klöstern freie Hand.
112 Am 4. Dezember begann Astrid Ehrenhauser einen PNP-Artikel mit den Worten: “Seit zwei Wochen wird im Altöttinger Kloster St. Konrad nach dem Stand der Sonne gebetet. Im Januar wird dort wohl der Fastenmonat Ramadan nachgeholt.” Ehrenhauser beschrieb den Pragmatismus beim Einkaufen, Kochen, Abwaschen sowie Mahlzeiten, wenn die muslimischen Jugendlichen still und die Kapuziner laut beten. “Wenn ich mit den Jungs morgens frühstücke, dann bete ich wiederum still”, zitierte sie Bruder Jeremias.
113 Am 13. Dezember berichtete die PNP.
114 Mehr dazu im Viechtacher Bayerwald-Boten vom 25. November
115 Die Gruppe bestand aus 19 Afghanen, zwei Kosovaren und einem Gambier.
116 https://www.facebook.com/medhilfepassau/
117 “Bis zu einem Eintrag vom 21. Februar. 16 700 Likes, erstaunliche 23 000 Mal wurde der Beitrag von den Facebook-Nutzern geteilt und fast schon unglaubliche drei Millionen Menschen (Stand: Mittwoch, 18 Uhr) haben ihn gesehen. Tendenz rasant steigend.”
118 http://www.helferkreis-garching.de
119 Am 9. Juni berichtete der Alt-Neuöttinger Anzeiger über die Rad-Fahrschule.
120 Erst nach mehrfacher, heftiger Kritik des OB sagte Sozialministerin Emilia Müller doch noch zu. Am 18. Februar berichtete die PNP.
121 https://www.facebook.com/EulenspiegelConcerts
122 http://www.regierung.niederbayern.bayern.de/aufgabenbereiche/1/fluechtlbetr_integration_lastenausgl/integration/index.php#4
123 Alleinstehende erhalten 143 Euro, zwei Partner, die einen gemeinsamen Haushalt führen, je 129 Euro; Erwachsene ohne eigenen Haushalt 113 Euro, Jugendliche 85 Euro, Kinder zwischen sieben und 13 Jahren 92 Euro, Kinder bis sechs Jahre 84 Euro.
124 Einer von ihnen ist ein 33-jähriger Elektriker aus Syrien. Nach sieben Monaten beherrscht er zwar einigermaßen Deutsch, will aber noch besser werden und dann in seinem Beruf weiterarbeiten. Ein 50-jähriger Familienvater hofft, dass seine Kinder hier einen Abschluss schaffen. Die jüngste ist in der ersten Klasse, zählt stolz bis zehn und spricht bereits besser deutsch als ihre Eltern.
125 Statt 20 000 Einwohnern hat Hettstedt heute nur noch 15 000, und innerhalb eines Jahrzehnts werden es vermutlich noch 5 000 weniger sein.
126 https://www.facebook.com/113671032297699/videos/vb.113671032297699/189407971390671/?type=2&theater
127 https://www.facebook.com/willkommenbeidenhartmanns/
128 https://vimeo.com/169079628″> https://vimeo.com/169079628″> https://vimeo.com/169079628
129 http://www.hansottotheater.de/spielplan/spielplan/illegale-helfer/867/
130 http://hand-in-hand-gegen-rassismus.de/menschenkette/muenchen/
131 Während in München die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne), OB Dieter Reiter (SPD) sowie Vertreter von Gewerkschaften und Kirchen erwartet wurden und etwa 30 Gruppen die Aktion unterstützen, waren auch in Berlin, Hamburg und Leipzig ähnliche Kundgebungen geplant.
132 Unter der Schlagzeile “Berlin verschleiert Flüchtlingszahlen – CSU will Klarheit” berichtete Alexander Kain in der PNP vom 20. Juni, dass Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) intern (von Januar bis Mai) mit 117 723 neuen Flüchtlingen rechnete, während das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 205 929 listete.
133 Während die Satzung zur Benutzung des Hallenbads aus hygienischen Gründen eine allgemein übliche Badekleidung (wie Badehose, Badeanzug oder Bikini) fordert, gibt es kein ausdrückliches Burkini-Verbot.
134 2013 hatte das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, für die Integration sei es wichtig, zur Achtung Andersdenkender zu erziehen. Das Tragen eines Burkinis beim Schwimmunterricht in der Schule trage dazu bei. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/bundesverwaltungsgericht-schwimmunterricht-in-burkini-fuer-muslimische-maedchen-zumutbar-12569208.html
135 http://www.zanzu.de/de/startseite
136 Am 14. Juni berichtete die PNP, dass Nazan Simsek, eine Augsburger Fachanwältin für Familienrecht, im Interesse muslimischer Frauen davor warnte, hier vor “zu viel Toleranz” warne.
137 http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/unicef-foto-des-jahres-die-kinderbraut-aus-afghanistan-1488902.html
138 Obwohl z.B. der Libanon die UN-Convention on the Rights of the Child von 1989 unterzeichnete, wonach Menschen unter 18 im vertraglichen Sinne als Kinder gelten, werden Familienangelegenheiten dort von religiösen Vorschriften geregelt: Während alle Sekten Ehen unter 18 erlauben, genehmigen manche Gemeinden diese bei elterlicher Zustimmung der Braut bereits ab 9. Nach Angaben von The Week am 13. Februar 2016 war in Jordanien, wo (nach der Türkei und dem Libanon) die drittgrößte Gruppe von Flüchtlingen unterkam, die Anzahl der unter 18-jährigen verheirateten Märchen aus Syrien von 12% (2011) auf knapp 32% (2014) angestiegen.
139 Während Bayern Kinderehen bislang nicht zentral registriert, gibt Nordrhein-Westfalen 188 Fälle an. Baden-Württemberg listet 177 Mädchen. <a href="http://www.welt.de/politik/deutschland/article156330449/Kein-Kniefall-vor-dem-Scharia-Recht.html
140 Während z.B. eine Sprecherin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) betonte, wenn die Ehefrau minderjährig ist, werde immer das Jugendamt eingeschaltet, das dann entscheidet, ob die Familie zusammenbleibe oder nicht, entschied das Oberlandesgericht Bamberg im Mai, dass ein als Vormund bestelltes Jugendamt nicht über den Aufenthaltsort einer 15-jährigen Syrerin entscheiden dürfe, welche als 14-Jährige ihren volljährigen Cousin geheiratet hatte.
141 http://www.bild.de/politik/inland/prof-dr-winfried-bausback/bayerns-justizminister-will-kinder-ehen-verbieten-46360348.bild.html
142 Anstatt darauf hinzuweisen, dass 20 000 neu)angestellte Lehrer viele neue Arbeitsstellen bedeuten, was bei weitem nicht nur die oft zitierten Steuermehreinnahmen bringt, verwies die PNP am 15. Dezember lediglich darauf, dass diese eine Milliarde Euro kosten. “Bei 50 000 Lehrern ergibt sich daraus eine Summe von 2,5 Milliarden Euro.”
143 Die PNP berichtete am 5. Dezember 2015.
144 http://www.pnp.de/region_und_lokal/stadt_und_landkreis_passau/passau_stadt/1904164_DGB-Mindestlohn-muss-auch-fuer-Fluechtlinge-gelten.html
145 http://www.hagalil.com/archiv/2006/04/moschee.htm
146 http://www.pnp.de/region_und_lokal/landkreis_deggendorf/deggendorf/2128770_Streit-um-Moschee-in-Fischerdorf-Minarett-wird-zurueckgebaut.html
147 Türkische und deutsche Ehrengäste aus Religion(en), Politik und Wirtschaft sowie mehrere hundert Besucher feierten mit Aykan Inan, dem Landesbeauftragten des türkisch-islamischen Bundesverbands DITIB, der betonte: “Moscheen sollen für alle offen sein”, also sind alle in dieser schönen Moschee willkommen. … Sie habe eine Kuppel, unter der man sich versammeln könne, und ein Minarett als Zeichen für Friede und Freundschaft.” Während der katholische Stadtpfarrer Martin Neidl meinte, “Man achtet einander als Menschen und nicht wegen einer Glaubensentscheidung”, bewunderte sein evangelischer Kollege Gottfried Rösch, deren “enorme geistliche Ausstrahlung”. OB Christian Moser in seinem Grußwort meinte, das Gebäude habe “auch aus städtebaulicher Sicht einen guten Platz gefunden”, gab Kultus-Staatssekretär Bernd Sibler zu: “Die Minarett-Debatte hat gezeigt, dass da noch viel zu tun bleibt.”
148 http://www.heimatzeitung.de/nachrichten/bayern/2116569_Neues-Logo-fuer-die-Region-Niederbayern-schafft-Heimat.html

Comments Off on Land unter. Die Migranten sind da! Ein Lagebericht zur geographischen Mitte Europas

Sep 18 2023

Auszüge aus der Erzählung mit Diskussionsvorschlägen für den Unterricht

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Diskussionsthema 1: Deutsch-deutsche (Miss-)Verständnisse
Diskussionsthema 2: Der Roman als Heimatroman, die DDR als Heimat
Diskussionsthema 3: Ostalgie und das Zimmerspringbrunnenmodell Atlantis
Diskussionsthema 4: Ein komischer Roman

Thema 1: Deutsch-deutsche (Miss-)Verständnisse

Am Ende des zweiten Kapitels unterhalten sich Hinrich Lobek und sein künftiger Chef Boldinger, der hier schon entschlossen ist, Lobek als Vertreter anzustellen. Boldinger nennt dafür einige Gründe, darunter Lobeks Wohnort Ost-Berlin und sonstige Erfahrung mit dem ‚Standort Ost‘. Dieser wiederum kämpft während des Gesprächs mit einem arg zähen Stück Schwarzwälder Schinkens: 

„‚Alles Punkte, die alle sehr für Sie sprechen, Herr Lobek. Und dunkle Punkte in Ihrer Vergangenheit gab es ja meines Wissens auch nicht?‘ 

Ich schüttelte atemlos den Kopf, wobei sich allerdings mein Schinkenkloß in Erinnerung brachte – er war ein Stück in den Hals hinabgerutscht. Mit einem kurzen, kräftigen Würger, ich mußte die Augen fest zusammenpressen, brachte ich ihn wieder, ehe es zu einem Erstickungsanfall kam, in die Ausgangslage … Boldinger sah mich forschend an. Ich atmete schwer. 

‚Aber – wenigstens in der Partei, in der Partei waren Sie doch?‘ fragte Boldinger nun vorsichtig nach. 

Ich nickte zaghaft. Doch ehe ich den Mund aufbekam, um – wie ich sie für diesen Fall parat hatte – ein paar orientierende Worte zu sagen, hatte er mir schon fest und aufrichtig die Hand gedrückt. (Unsere Hände müssen in diesem Moment ausgesehen haben wie auf dem Parteiabzeichen.) In Boldingers Augen las ich ein stummes ‚Sag jetzt nichts, Hinrich!‘ 

Dafür sprach er nun auf mich ein, leise, beschwörend: ‚Sie wollten sich etwas schaffen, aber es war eben die falsche Gesellschaft, in die Sie hineingeraten waren. Nur – einfach so herumsitzen, die Hände in den Schoß zu legen: das war Ihre Sache nicht. Sie wollten … nein, Sie mußten etwas bewegen. – Das kann ich sehr, sehr gut verstehen, Herr Lobek.‘“ (S. 35 f.)[1] 

Fragen zur Diskussion

  • Hier sprechen ein künftiger Arbeitgeber und ein dringend Arbeit suchender Mann miteinander. Der eine kommt aus dem Westen, der andere aus dem Osten. Merkt man diese beiden Asymmetrien dem Gespräch an, genauer: seiner Nacherzählung durch Lobek? Wie? 
  • Was erfahren wir durch die Textpassage über das, was Boldinger, der Westdeutsche, über Lobek, den Ostdeutschen, und die DDR annimmt und glaubt?  
  • Und was erfahren wir durch die Textpassage über das, was Lobek von solchen Annahmen weiß und hält? 
  • Gibt es heutzutage auch noch solche nur halb verdeckten Annahmen, die im Westen über den Osten verbreitet sind – oder im Osten über den Westen? 

Thema 2: Der Roman als Heimatroman, die DDR als Heimat

Zum Abschluss des dritten Kapitels sitzt Hinrich Lobek allein in seiner etwas schäbigen Pension im Schwarzwald-Örtchen Bad Sülz und denkt über sich und sein Leben nach: 

„So saß ich an diesem Abend für mich allein und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Sollte Bad Sülz tatsächlich zu einem Wendepunkt in meinem Leben werden? Es sah ganz danach aus, obwohl es sicher noch zu früh war, an diesen kleinen Erfolg große Hoffnungen zu knüpfen. So beschloß ich also, anstatt in der Zukunft herumzuspekulieren, zunächst – nach der Erinnerung – meine Protokollaufzeichungen zu [Verkaufsleiter] Strüvers Seminar zu vervollständigen. 

Als ich damit fertig war, sah ich mich im Aufenthaltsraum um. In der Nußbaumvitrine zwischen den Fenstern war bis auf ein Halma-Spiel (leider unvollständig), ein Fahrplanheft der Deutschen Bundesbahn aus dem Jahre 1988 (Winterhalbjahr), eine zerlesene Floristenzeitschrift und einen Fotobildband ‚Du, unsere schöne Heimat – Der Hochschwarzwald‘, leider nichts zu finden. Also pendelte ich zwischen den bunten Fernsehprogrammen, die aus der grau-grünen Topfpflanzenecke herüberflimmerten, hin und her. 

Au[f] dem französischen Kanal gab es eine Sportsendung, bei der dicke Männer sich abwechselnd gegenseitig auf die Matte warfen. Das war jeweils mit Applaus verbunden. Das Bild war aber schlecht. Gleich daneben eine Talkshow. Leider begriff ich nicht, worum der Streit ging. […] 

Noch einen Klick weiter gab es einen deutschen Film, wahrscheinlich aus den siebziger Jahren; man sah es an den Autos. Das fand ich eher nicht so spannend. Bald aber merkte ich, daß es sich hier doch um einen Sex- oder wenigstens Aufklärungsfilm handelte. Also blieb ich dran. Ein Sprecher erzählte von verschiedenen ‚Fällen‘. Ein Wohnwagen auf einem Campingplatz war nun zu sehen. Zum Beispiel, sagte der Sprecher, der ‚Fall Monika F.‘ Der Wohnwagen begann hin und her zu schaukeln. – So ging das den ganzen Film. Über den Zeltplatz schlichen Teenager und Bademeister. Sie verdrehten bedeutungsvoll die Augen und wiesen sich immer wieder gegenseitig auf den Wohnwagen hin. Darin vor allem bestand die Handlung dieses Films, der übrigens unsynchronisiert, in bayrischer Sprache, lief. Wieder ein Schnitt, wieder der vor sich hinrammelnde Wohnwagen … 

Mein Gott! Ich stöhnte auf. Ich dachte an Julia [seine Frau], an Zuhause. Und auf einmal, ich wußte nicht, wie, kam es über mich, und ich mußte hier, im Aufenthaltsraum des ‚Föhrentaler Hofs‘, unter dem imitierten Holzbalken der Decke, eingerahmt von Schwarzweißfotografien des Schwarzwalds, vor mir auf dem Tisch einen verjährten Fahrplan, dem längst alle Züge davongefahren waren – mußte ich plötzlich, ohne mich dagegen wehren zu können, wie zwanghaft einen Satz sagen, der mir so bisher noch nie in meinem Leben von den Lippen gekommen war: ‚Ich liebe meine Heimat, die Deutsche Demokratische Republik.‘“ (S. 53-55) 

Fragen zur Diskussion:

  • Lobek ist in den frühen neunziger Jahren als Ostdeutscher im Hochschwarzwald gelandet. Was für ein Image hat diese Gegend (vermittelt etwa in dem Fotobildband, der Lobek in die Hände kommt)? Und wie verhält sich dieses Image zu dem Begriff ‚Heimat‘? 
  • Was für eine Realität erlebt Lobek in dieser Pension, dem Föhrentaler Hof? Versuchen Sie, die erwähnten Objekte seiner Betrachtungen und Wahrnehmungen, den Fahrplan, den Film im Fernsehen etc., entsprechend einzuschätzen und zu deuten. 
  • Dass Hinrich Lobek, alleine in seiner Pension, Heimweh hat, ist sicherlich verständlich. Es überfällt ihn hier aber schon sehr plötzlich, überwältigend („auf einmal, ich wußte nicht, wie“) und unkontrollierbar. Wieso eigentlich? Und wieso bezieht sich sein Heimweh auf „die Deutsche Demokratische Republik“? 
  • Und wieso kam ihm diese Liebeserklärung an die DDR früher, also als es die DDR noch gab, nie von den Lippen? Haben Sie eine Idee? 
  • Die Heimweherfahrung zeigt: Heimat ist uns besonders wichtig, wenn sie vermisst wird, wenn man ihr fern ist oder wenn man sie, wie Lobek im Roman, verloren hat. Was unterscheidet den wendebedingten Heimatverlust derer, die in der DDR aufgewachsen sind oder gelebt haben, vom Heimatverlust von Flüchtlingen, die aus ihren Heimatländern geflohen sind? Und worin gleichen sich diese verschiedenen Arten von Heimatverlust? 

Thema 3: Ostalgie und das Zimmerspringbrunnenmodell Atlantis

Bevor seine Zimmerspringbrunnenvertreterkarriere so richtig anlaufen kann, demolieren Hinrich Lobek und sein Hund Freitag eines der zu verkaufenden Jona-Modelle. Hinrich entscheidet sich, aus eigener Kraft und Phantasie für Ersatz zu sorgen und entwickelt sein Modell „Atlantis“. Auch der Name ist von ihm. In den nachfolgenden Textpassagen werden die Herstellung und ersten Verkäufe von Atlantis und damit das neue Zimmerspringbrunnenmodell selbst beschrieben: 

„Vor mir stand das unbrauchbare Jona-Modell. Und da ich es nicht länger untätig anstarren konnte, zog ich mir meinen blauen Arbeitskittel über, öffnete den Werkzeugschrank und begann mit der Arbeit. Wenn man nicht weiß, was man machen soll, muß man etwas tun. 

Später bin ich oft gefragt worden, wie ich damals auf meine Idee gekommen bin, ob vielleicht ‚Auferstanden aus Ruinen‘ mich inspiriert hätte? Ich weiß es nicht. Ich konnte es nie genau sagen. 

Beim Heimwerker arbeiten die Hände! Der Kopf, als stiller Beobachter, kann von seiner hohen Warte aus dem Treiben der Hände nur staunend folgen. […] 

So mußte ich etwa, wegen des gekürzten Zuleitungsschlauches, auch den Fernsehturm, der jetzt das Zentrum bildete, ein Stück kürzen. Ich sägte ihn, bevor ich ihn wasserfest aufklebte, unerhalb der Kuppel ab. Dadurch wurde er zum Kegelstumpf, was wiederum den Gedanken nahelegt, um ihn herum eine Vulkanlandschaft entstehen zu lassen.  

Und so weiter. – Ich deute das nur an, um zu zeigen, daß im Schaffensprozeß auch Zufälliges mit im Spiel war. 

Ebenso war es beim Namen. Als ich, spät nach Mitternacht (Freitag, der Sünder, schlief schon längst) den ersten Probelauf durchführte, wußte ich sofort: es muß Atlantis heißen. […] 

[Bei dem Fernsehturm handelt es sich] um Geschenkartikel, ca. 250 Stück Kugelschreiber in Form des DDR-Fernsehturms, die ich noch aus meiner KWV-Zeit [Kommunale Wohnungsverwaltung] herübergerettet hatte. […] 

Das Bemerkenswerte, was ich nun herausgefunden hatte, war: schraubte man so einen Kugelschreiber auseinander und nahm Mine und Feder heraus, ergab sich eine ideale Hohlform, in die der Jona-Wasserzuleitungsschlauch genau hineinpaßte! 

Die goldene Aufschrift ‚Berlin – Hauptstadt unserer Republik‘ hatte ich bei meinem ersten Versuch zwar ausgekratzt; später, als ich mit Atlantis in Serie ging, ließ ich sie einfach stehen.“ (S. 94-96) 

„Mir dämmerte allmählich, daß die Intuition (oder was immer es sonst gewesen sein mag) mich damals, an jenem traurigen Abend mit dem defekten Jona, durchaus auf den richtigen Weg geleitet hatte, als sie mich in müseliger Nachtarbeit die Umrisse der DDR, meines untergegangenen Landes, aus der Kupferplatte heraussägen ließ.“ (S. 104) 

„So kratzte ich etwa bei dem einen Modell Städtenamen in die Kupferplatte, zum Beispiel (und in voller Absicht) ‚Karl-Marx-Stadt‘ dort, wo sich Chemnitz heute befand, bei anderen Ausführungen wiederum beließ ich es bei der vulkanischen Ausgestaltung der Landschaft. 

Der Erfolg, den ich mit Atlantis hatte, war mir unbegreiflich, ja, bisweilen auch unheimlich. […] 

Ich sah mir meine Kunden genau an. Natürlich, etliche betrachteten das als Kuriosum, als Party-gag vielleicht. Die meisten aber behandelten Atlantis wie einen Kultgegenstand. Es waren regelrechte Altarecken, wo er landete; manchmal hatte ich den Eindruck, in einem Traditionskabinett gelandet zu sein.“ (S. 105 f.) 

Fragen zur Diskussion

  • Lobeks Zimmerspringbrunnenmodell Atlantis symbolisiert zweifellos die DDR. Inwiefern und wie tut es das? Wie erscheint die so repräsentierte DDR? 
  • Das neue Zimmerspringbrunnenmodell wird von Hinrich Lobek spontan „Atlantis“ benannt. Man kann aber davon ausgehen, dass der Romanautor Sparschuh den Gegenstand ganz bewusst und in voller kommunikativer Absicht so genannt hat. Wofür steht der Name „Atlantis“ – gerade im Zusammenhang mit der DDR? 
  • Das Zimmerspringbrunnenmodell Atlantis ist zweifellos ein ‚ostalgischer‘ Verkaufsschlager. Das Wort und das Phänomen „Ostalgie“ sind etwa ebenso alt wie Sparschuhs Roman. Recherchieren Sie, was Ostalgie war (oder ist) und wie sie sich äußerte. Wie verhält sich der Kult um Lobeks Zimmerspringbrunnen zur realen, historischen Ostalgie? 

Thema 4: Ein komischer Roman

Das vierte Kapitel des Romans – Julia hat Hinrich nach einem heftigen Streit gerade ausgesperrt – endet mit einem Witz, und das nachfolgende fünfte Kapitel – Hinrich hat die dem Kapitel den Titel gebende Erfolgsformel des Persönlichkeitstrainers N. Enkelmann bereits verinnerlicht – beginnt mit einem Gag: 

„So ging ich also mit festen Schritten zurück in den Hobbyraum. Wenigstens war ich nun entschlossen, mich darauf zu freuen, daß demnächst der Außendienst beginnen würde. 

‚Weißt du eigentlich, wie wahnsinnig du mich aufregst?‘ hatte mir Julia noch zum Abschluß dieses denkwürdigen Tages ins Gesicht geschrien und sich dann für mehrere Stunden im Bad eingeschlossen. Nein, das hatte ich nicht gewußt. Spät in der Nacht hielt ich es im Protokollbuch fest: ‚Julia findet mich wahnsinnig aufregend!‘ 

Ansonsten verhielt ich mich wachsam, still und abwartend. Doch es geschah nichts weiter. 

 

– Ich will. Ich kann! Ich werde!!! – 

– diese Erfolgsformel für positiv denkende Menschen, die goldenen Worte Nikolaus Enkelmanns also im Ohr, lag ich im Bett. Es war Viertel nach neun, Julia mußte längst zur Arbeit gegangen sein. 

Am Nachmittag sollte ich mich mit Strüver treffen. Ich wollte ausgeruht sein, also stellte ich den Wecker auf halb zwölf, legte meinen Kopf vorsichtig wieder zurück aufs Kissen und konzentrierte mich: Ich will weiterschlafen. Ich kann weiterschlafen. Ich werde …“ (S. 66 f.) 

Fragen zur Diskussion

  • Finden Sie den ersten Witz (am Ende des vierten Kapitels) komisch? Haben Sie beim Lesen gelacht (gelächelt, geschmunzelt)? Wie funktioniert der Witz? Können Sie ihn erklären? 
  • Und dasselbe mit dem zweiten Witz (zu Beginn des fünften Kapitels) … 
  • Das Thema des Romans – die durchaus belastenden Folgen der Wiedervereinigung für Teile der ostdeutschen Bevölkerung, die als Heimatverlust erzählt werden können – ist ja durchaus ernst. Wieso hat Jens Sparschuh dann dennoch einen komischen Roman geschrieben (die beiden komischen Textpassagen sind ja bei Weitem nicht die einzigen)? Welche Funktion hat die Komik hier? Haben Sie eine Idee? 

[1] Alle Textzitate folgen der Erstausgabe: Sparschuh, Jens. Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1995.

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Dec 29 2022

Auszüge aus der Erzählung mit Diskussionsvorschlägen für den Unterricht

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Diskussionsthema 1: Sprache – Sprachwandel
Diskussionsthema 2: Diktatur, Mitläufertum, Widerstand
Diskussionsthema 3: Vergangenheitsbewältigung, Abrechnung, Aufarbeitung
Diskussionsthema 4: Der Mauerfall

 

 

Thema 1: Sprache – Sprachwandel

„Wende. Ich sammle die neuen Wörter, die jetzt Konjunktur haben. Wende. Wendehals. Mauerspecht. Wahnsinn. Aber mit dem Wahnsinn ist es vorbei. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Marketing. Holding. Outfit. Stasisyndrom. Wegbrechen. Wohlstandsmauer. Die neuen Wörter sind ein gefundenes Fressen für ausgeflippte Germanisten.‟ (S. 22)[1]

 

„Aber ich habe die Wörter noch, die ich gesammelt habe. Die Wörter, die neu entstanden sind. Die Wörter, die einen neuen Sinn bekommen haben. Und die Wörter, die jetzt häufig benutzt werden. Blockflöte, Begrüßungsgeld, Wahlfälscher, Mahnwache, Seilschaft, Mauerspecht, Altlast, Devisenbeschaffer, flächendeckend, Talsohle, Warteschleife, plattwalzen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, Schnäppchen, Evaluierung, runder Tisch, unterpflügen, überführen, überstülpen, Wohngeld, Schnupperpreis, sich rechnen, Superossi, Verbraucherzentrale, abschmelzen, Filetstück, Koko-Imperium.

Ich habe sie gesammelt, und ich habe sie alphabetisch geordnet. Aber ich brauche sie nicht. Ich kann damit nichts anfangen. Da ist mir eine Idee gekommen. Ich könnte sie weggeben, die Wörter. Ich könnte sie einem Schriftsteller geben. Ich könnte sie Ralph B. Schneiderheinze geben, denn er ist der einzige Schriftsteller, den ich persönlich kenne.‟ (S. 114)

 

„Wir hatten uns ein hübsches Spiel ausgedacht. Wir setzten Wörter zusammen, die nicht zusammengehörten. Aus zwei zusammengesetzten Wörtern mußte ein dreifach zusammengesetztes Wort entstehen, wobei das zweite Wort seine Sinnarme nach vorn, zum ersten Wort, und nach hinten, zum zweiten Wort ausstrecken mußte, woraus sich dann ein verblüffender oder komischer neuer Sinn ergab, kannst du mir folgen? Ich will es dir an Beispielen verdeutlichen. Aus Wendeltreppe und Treppenwitz machten wir Wendeltreppenwitz, aus Zeitungsschau und Schaufenster Zeitungsschaufenster. Und so entstanden Löwenzahnschmerzen, Mondgesichtswasser; Erbsengerichtsvollzieher, Kaltschalentier, Liebeszauberstab, Gebärmuttersprache, Geschlechtsverkehrsregel, Vaterlandsmannschaft, Schönschriftsteller. Manchmal redeten wir tagelang nur in solchen Wörtern, und wir lachten sehr. Aber das verstanden nur wir, unsere Freunde schüttelten bedenklich ihre akademischen Häupter.“ (S. 63)

 

Fragen zur Diskussion

  • Wie verhalten sich hier Sprache und ihre Wörter auf der einen Seite und die Realität auf der anderen Seite zueinander? Warum sind Wörter so wichtig?
  • Wieso haben Kristina und der Erzähler in der DDR neue Wörter erfunden? Was bedeutet dieses Spiel?
  • Interpretieren Sie einige der Wortgebilde (zusammengesetzte Substantive oder „compound nouns“ – eine sehr deutsche Spezialität), indem Sie die Bedeutung des neu geschaffenen Wortes bestimmen!
  • Kenne Sie einige der neuen Wörter, die unser Protagonist sammelt? Warum sammelt er sie? Wofür stehen sie?

 

 

Thema 2: Diktatur, Mitläufertum, Widerstand

„Aber Kleingrube ist nicht zu besänftigen. Er wütet weiter. Er wütet gegen die Mitläufer, die, wann immer sich eine günstige Gelegenheit bot, auch mal voranliefen und sich mit Orden behängen ließen, und nun wollen sie auf einmal alle Widersacher und Systemkritiker und Dissidenten gewesen sein. Doch er wird sie entlarven. Er wird sie alle entlarven.

Aber, sage ich, wir sind doch alle mitgelaufen, wir haben alle mitgemacht, mehr oder weniger, die Bäcker haben Brötchen gebacken, und die Fleischer haben Schweine geschlachtet und haben das System gestützt, denn wenn sie keine Brötchen gebacken und keine Schweine geschlachtet hätten, dann wäre das System schon eher zusammengebrochen, ich habe, wenn du so willst, auch das System gestützt, indem ich Flaschen zur Wiederverwertung angenommen habe, wir alle, ob bei der Wettervorhersage oder im Recycling, haben das Leben und somit das System in Gang gehalten.

Er, Kleingrube, nicht. Er hat gesammelt und archiviert. Seine Wangen, wenn ich mal so sagen darf, sind hektisch gerötet. Er nicht. Und Schlehwein nicht.“ (S. 40-41)

 

„Telefone hatten wir damals schon, ohne Anrufbeantworter. Wenn es in der Leitung knackte, konnten wir davon ausgehen, daß unsere Gespräche abgehört wurden. Es muß eine öde Arbeit gewesen sein, sie müssen vor Langeweile geschwitzt haben. In den letzten Monaten knackte es immer öfter in den Leitungen, es war schon die Agonie. Wir hatten zwei Möglichkeiten. Wenn wir logen und sagten, was sie gern hören wollten, zementierten wir womöglich das System. Also sagten wir die Wahrheit, es war unsere feine, unverfängliche Art des Widerstands, und so wurden wir alle, ohne es zu ahnen, zu informellen Mitarbeitern. Merkst du was, Giraffe? Wir sind wieder beim Thema. Wir sind alle Täter gewesen, Kleingrube hat recht. Wir sind alle mitschuldig, ich will es dir leichtmachen, du kannst jetzt reden, du kannst dich erleichtern. Nicht? Du willst nicht? Gut. Dann laß mich meins zu Ende bringen. Es war komisch, sie konnten, das Ohr am Volk, mit der Wahrheit nichts anfangen. Sie konnten nichts mehr ändern. Sie waren längst überflüssig geworden, da konnten sie horchen, wie sie wollten, es war tragisch. Aber hör mal, du kannst schweigen, wie du willst, ich erzähle trotzdem weiter. Ob es dir paßt oder nicht.“ (S. 65-66)

 

Fragen zur Diskussion:

  • Wer trägt eigentlich Verantwortung in einer Diktatur – oder jedem Staat – für das, was der Staat tut? Nur die Führungseliten oder auch die sogenannten Mitläufer? Womöglich fast die ganze Bevölkerung?
  • Vergleichen Sie dies gern mit diversen anderen Ländern, besonders jenen, die Kriege geführt haben, historisch oder aktuell!

 

 

Thema 3: Vergangenheitsbewältigung, Abrechnung, Aufarbeitung

„Wieso verweigert die Giraffe jede Auskunft über ihre letzten Lebensjahre? Was hat sie zu verbergen? Hat sie Dreck am Stecken? Hat sie sich schuldig gemacht? Stecken gar Schlehwein und die Giraffe unter einer Decke? Fragen über Fragen, und ich ertappe mich dabei, in den neuen Wörtern zu denken. Ist die Giraffe eine Altlast? Gehören sie und Schlehwein zur gleichen Seilschaft oder gar zu derselben?

Die Giraffe hüllt sich in Schweigen, ich kann fragen, was ich will. Ich weiß nicht, welche Einstellung die Giraffe hat, zur Wende beispielsweise. Eigentlich müßte sie doch froh sein. Endlich keine Gitter mehr und keine Dressuren. Endlich frei und genug zu fressen. Statt dessen höre ich von ihr nur das ewige Genöle über den Konolialismus. In jedem jungen Mann, der mit dynamisch-federnden Schritten über die Straße geht und eine Krawatte trägt und einen vernünftigen Haarschnitt mit Scheitel, sieht sie einen Konolialherrn. Und dabei sind es nur Versicherungsbeamte oder Bankangestellte.‟ (S. 47)

 

„Was ist bewiesen, fragte ich noch einmal. Daß die Giraffe sich schuldig gemacht hat, weil sie dem Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrats der Deutschen Demokratischen Republik Würfelzucker aus der Hand gefressen hat?

Würfelzucker? Wieso denn Würfelzucker?

Würfelzucker, rief ich, und ich wurde immer wütender. Das ist in jedem Zirkus der Welt so! Nach den Darbietungen gibt es für die Tiere Würfelzucker!

Darauf warf mir Kleingrube vor, daß ich die Giraffe in Schutz und überhaupt alles auf die leichte Schulter nähme. Sie habe keine reine Weste. Ich hätte auch keine reine Weste. Niemand habe eine reine Weste. Niemand, hörst du, niemand!

Außer dir und Schlehwein!

Schlehwein? Da konnte Kleingrube nur lachen. Schlehwein hat die Giraffe verborgen und geschützt und gedeckt, obwohl er das doch alles hat wissen müssen oder zumindest alles hat wissen können, hat er sie verborgen und geschützt und gedeckt. Er ist genauso wie alle.

Ja, sagte ich, wie die Fleischer und wie die Bäcker, die die Brötchen gebacken haben, um das System zu stabilisieren und zu verlängern, und wie die Kindergärtnerinnen, die neue Untertanen herangezüchtet haben, und wie die Sekundärrohstoffhändler. Aber du bist der einzige Gerechte, ja? Du hast nie beim Morgenappell Lieder gesungen, Kleingrube? Du warst nie auf einer Maifeier, Kleingrube, und sei es auch nur, damit deine Vorgesetzten sehen, daß du auf der Maifeier bist?

Ich bebte vor Zorn, ich konnte kaum noch an mich halten.

Begreifst du nicht, rief Kleingrube, ich habe meine Arbeit verloren, ich habe meine Arbeit geliebt, sie haben mich hinausgeworfen, und die mich hinausgeworfen haben, sind die gleichen, die mich vorher gequält und geschurigelt haben, es sind nicht nur die gleichen, es sind sogar dieselben, und sie sitzen mit ihren fetten Ärschen auf ihren alten Stühlen, und sie machen gemeinsame Sache mit ihren alten Todfeinden, mit dem Klassenfeind, und wenn nicht, dann machen sie wenigstens Geschäfte mit ihm, denn sie haben sich noch rechtzeitig Geld aus den Kassen genommen, um ein Geschäft aufzumachen, und ich weiß nicht, wie ich morgen die Miete bezahlen soll, die Miete und die Kohlen, begreifst du das nicht?

Und was hat die Giraffe damit zu tun?

Nichts, sagte Kleingrube, nichts. Er saß klein und zusammengesunken da, wie ein alter Mann, mir war zum Heulen zumute.“ (S. 110-111)

 

Fragen zur Diskussion

  • Wofür oder für wen steht eigentlich die Giraffe (als Symbol)? Oder ist sie einfach nur eine Giraffe?
  • Welche Einstellung zur Wende dürfte sie nach Meinung des Protagonisten haben? („Eigentlich müßte sie doch froh sein.“)
  • Was ist ihr „Genöle über den Konolialismus“? Ziehen Sie aus der Liste der „problematischen Begriffe“ den Begriff „Wiedervereinigung“ hinzu und bedenken sie, dass manche behaupteten, die DDR sei von der Bundesrepublik ‚übernommen‘ worden.
  • Wen meint Kleingrube mit „die gleichen, die“…?
  • Haben Sie Verständnis für Kleingrube und für seinen Aufklärungsfuror? Oder eher für den zurückhaltenden Erzähler?

 

 

Thema 4: Der Mauerfall

„Während die Giraffe vor sich hinkaut, mache ich mich wieder an meine Blätter. Ich muß die zwei Seiten, die die Giraffe verschlungen hat, noch einmal schreiben. Es war das Beste, was ich je geschrieben habe, alles sehr plastisch und in einem schönen, flüssigen Stil. Aber was man einmal geschrieben hat, kann man nicht noch einmal so schreiben. Es sind die Feinheiten, die Nuancen, die nicht zu wiederholen sind. Ich kann mich nur noch schwer daran erinnern, wie ich mich erinnert habe. Die zwei Seiten handelten von Kristina. Wir lagen in einem Bett mitten in Berlin, sie war schon eingeschlafen, ich sah noch ein wenig fern. Ich hatte den Ton abgedreht. Nur die Bilder flimmerten. Ein Mann las etwas von einem Zettel ab. Als ich den Apparat abschalten wollte, war ein großes Getümmel auf dem Bildschirm. Es mußte an der Grenze sein, an der Mauer. Ich konnte, als ich den Ton wieder laut gedreht hatte, nicht glauben, was ich hörte.

Kristina, sagte ich leise, wach auf, Kristina.

Sie wälzte sich auf die andere Seite. Ich streichelte sie.

Kristina, du mußt aufstehen, ein Wunder ist geschehen.

Sie saß im Bett und rieb sich die Augen.

Kristina, die Mauer ist weg.

Sie gähnte.

Und wo ist sie hin?

Weg, sagte ich, die Mauer ist offen, zieh dich an.

Sie warf sich den Mantel über das Nachthemd und schlüpfte in die Pantoffeln. Es war nicht weit bis zur Bornholmer Straße. Tausende waren unterwegs, Menschenströme, Autoströme. Es war kühl, aber wir froren nicht. Kristina schüttelte, als wir an den Wachposten vorbeidrängten, ungläubig den Kopf. Sie war noch immer schlaftrunken. Dann ging alles sehr schnell. Wir wurden in ein Auto geschoben und in eine helle, laute Straße gefahren. Es war der Kurfürstendamm. Wir waren noch nie auf dem Kurfürstendamm. Überall wurde getanzt und gesungen und gehupt. Feuerwerkskörper detonierten. Bierbüchsen wurden uns in die Hand gedrückt, Sektkelche. Kristina tanzte im Nachthemd mit einem Afrikaner auf einem Autodach. Wie wir nach Hause gekommen sind, weiß ich nicht. Als Kristina erwachte, sagte sie, sie habe einen schönen Traum gehabt. Sie suchte unter dem Bett nach ihren Pantoffeln. Sie konnte nur einen Pantoffel finden. Schrieb ich wohl. Aber man kann es nicht zweimal schreiben, es ist nicht zurückzuholen.‟ (S. 73-74)

 

Fragen zur Diskussion

  • Inwiefern wird die Nacht des 9. November 1989 hier als ein Traum, ein Märchen, vorgestellt?
  • Vergleichen Sie es mit der späteren Märchengeschichte von Schneiderheinze auf S. 115f.
  • Wie hängen hier Erinnern und Schreiben zusammen? Wenn man nicht zweimal das Gleiche schreiben kann, wird man sich auch nicht an das Gleiche erinnern können? Heißt das, die Erinnerung verändert sich mit der Zeit? Wenn ja, wie?

 

[1] Alle Zitatbelege nach der Taschenbuch-Ausgabe des Fischer-Verlags von 1994.

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May 16 2021

V. Buchbesprechungen: Gabriele Eckart. Vogtlandstimmen

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Gabriele Eckart.

 

Vogtlandstimmen. Roman.

 

Würzburg: Königshausen & Neumann, 2021, 285 S.

 

Albrecht Classen, University of Arizona

 

 

Erst vor kurzem veröffentlichte Peter Pabisch seine große Untersuchung und Textsammlung von Dialektliteratur seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bis heute (Geschichte der deutschsprachigen Dialektliteratur, 2019). Nun, da Gabriele Eckarts ‚Roman‘ Vogtlandstimmen im Druck vorliegt, hätte er sehr gut in diese Arbeit hineingepasst. Das Vogtland ist die Region zwischen Bayreuth und Hof im Südwesten (also nordöstliches Bayern bzw. Franken) und Zwickau im Nordosten und grenzt im Südosten genau an Tschechien. Man spricht dort bis heute noch deutlich einen Dialekt, und diesem wird hier in Eckarts Text ein literarisches Zeugnis gewidmet. Daher also der Titel, aber ob es sich um einen Roman handelt, lässt sich nicht so eindeutig bestimmen.

Die Autorin betont gleich auf der Widmungsseite, dass es sich um Fiktion handle, dass es also keine Autobiographie sei, die sie hier entworfen habe. Dennoch merkt man sehr deutlich, dass Eckart über ihr eigenes Leben, fiktional gebrochen, berichtet. Aber worum handelt es sich eigentlich? Wir werden eingeladen, einem sehr langen Gespräch oder Gesprächen zu lauschen, die zwischen verschiedenen Personen geführt werden, von denen so manche explizit auf den vogtländischen Dialekt zurückgreifen, was manchmal gar nicht so einfach zu verstehen ist, weswegen es verschiedentlich Erklärungen gibt, und am Ende findet sich sogar ein einseitiges Glossar zur Unterstützung des Lesers.

Im Werk selbst befinden wir uns sozusagen in einer sich stets ausweitenden und weiterwandernden Gesprächsrunde, und wir erfahren dabei sehr viel über die Geschichte der späten DDR, die Wiedervereinigung und ihre manchmal verheerenden Folgen für die Menschen, die sich nicht so einfach anpassen konnten. Dann spielt die spätmittelalterliche Geschichte, wie sie sich im Vogtland entfaltet hatte, eine gewisse Rolle, weil eine Figur darüber einen Vortrag halten möchte. So erfahren wir vom Schwarzen Tod, den Hussiten, den Flagellanten, Kaiser Karl IV. (nicht Ludwig, S. 13), dem Raubrittertum usw., ohne dass diese Angaben Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit erheben. Vielmehr wird all dies eindringlich in die Auseinandersetzungen der einzelnen Figuren integriert, wirkt also unmittelbar eingängig, vor allem, da von hier sehr schnell der Sprung zur Zeit der DDR gemacht wird, wie sie von den hier vertretenen Figuren erfahren wurde. Sowohl die individuellen Personen als auch die Autorin selbst lassen unmissverständlich ihre starke Kritik an dem sozialistischen System zum Ausdruck kommen, ohne dass dies aber extrem im Vordergrund stehen würde.

Es wird hier aber nicht nur geredet, sondern wir folgen auch den Figuren auf ihren Wanderungen im Wald, wo sie Pilze sammeln (daher das Titelbild von einem Perlpilz oder Rötenden Wulstling, lat. Amanita rubescens, der durchaus essbar und unter Pilzfreunden recht gefragt ist) und sich über verschiedenste Dinge unterhalten. Eigenartig, wieso der Verlag eine giftig wirkende Farbe für das Bild gewählt hat, ist ja weder der Pilz noch sind die Personen als giftig anzusehen.

Man könnte fast meinen, der gesamte Text ist dem Dialekt gewidmet, und die Gespräche über verschiedenste Themen dienten bloß dazu, das erwünschte Sprachmaterial entfalten zu können. Aber dies stimmt nicht wirklich, denn Eckart hat es sich vorgenommen, immer wieder die jüngere Vergangenheit in der DDR hier auftreten zu lassen, ohne ein festes Ziel vor Augen zu haben. Durch den mündlichen Austausch der Personen entsteht eine Art von Kaleidoskop von vielen verschiedenen Anliegen, Sorgen, Interessen u. dgl. mehr, worüber sich Menschen in einer kleineren Gemeinschaft eben so unterhalten. Wir werden also sozusagen als Zeugen eingeladen, zuzuhören und den Gedanken zu folgen, wobei gerade der vogtländische Dialekt immer wieder eine leichte Hemmschwelle einbaut, die es unter einer gewissen Anstrengung zu nehmen gilt. Ein Zitat vermag all dies gut zu illustrieren: „Zeiten und Orte … verwirren sich in der Erinnerung“ (S. 77). Diese Erinnerung aber nimmt uns regelmäßig mit zurück in die Zeit der DDR mit all ihren schlechten und guten Seiten, weswegen der Satz: „Wie ein Film flimmert das Leben vorbei“ (S. 96) die Sachlage recht gut trifft. Es endet damit, dass hier die DDR-Realität eindringlich vor Augen geführt wird, ohne dass Eckart eine systematische politische Analyse vorlegte. Es ist also kein Roman, keine Autobiographie, aber vielleicht so etwas wie biographische Memoria. Zugleich dominieren sehr konkrete Impressionen aus dem Alltag, immer wieder spezifisch kleine normale Momente, womit uns die Autorin sehr genau beobachtend in normale Situationen versetzt, in denen sich Gespräche ergeben, Situationen durchdiskutiert, Sachverhalte behandelt werden, was alles dann wiederum dazu dient, das Vogtländische zur Geltung zu bringen. Aber es sind nicht immer harmlose Dinge, die hier zur Sprache kommen; auch grauenhafte Massaker an Juden während der Nazizeit, schlimme Unterdrückung seitens der DDR-Regierung, dann aber auch Spannungen unter den Menschen im engeren Umkreis. Man liest sich schnell ein und kommt nicht mehr los, und auf einmal versteht man auch fast alle dialektalen Ausdrücke.

Hat Eckart hier vielleicht eine neue literarische Gattung geschaffen? Ein Roman ist es jedenfalls nicht, aber es handelt sich um einen faszinierenden Text.

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Sep 11 2020

VI. Buchbesprechungen: Günter Kunert. Die zweite Frau

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Günter Kunert. Die zweite Frau.

Roman. Göttingen: Wallstein, 2019. 200 Seiten

 

Günter Herrmann, Heilbronn

 

Auch das kommt vor: Ein Manuskript liegt 45 Jahre im Archiv seines Autors, wird von ihm vergessen, und kommt eines Tages wieder zum Vorschein, da war Günter Kunert bereits 90 Jahre alt. Im September 2019 ist er gestorben. Er hat den Roman noch in der DDR abgeschlossen, aber nicht eingereicht, weil er unmöglich hätte gedruckt werden können, so komisch und sarkastisch wird hier mit den Merkwürdigkeiten des Lebens in der DDR, die als solche nie genannt wird, umgesprungen. Vom damals geforderten sozialistischen Optimismus ist nichts zu spüren.

Das Personal ist leicht überschaubar: Barthold, ein Steinzeit-Archäologe Mitte 40, ist gerade krankgeschrieben wegen „Vegetativer Dystonie“. Seine Frau Margarete Helene steht kurz vor ihrem 40. Geburtstag; beide sind innig einander zugetan und pflegen ein reges Sexualleben. Herr Forster, der koboldhafte Nachbar, darf, weil er „Invalide“ ist, nach Westberlin reisen, von wo er Pornohefte zu schmuggeln gedenkt. Herr Müller, eine niedere Charge der Staatssicherheit bleich, jung, mimiklos, vertritt die Staatsgewalt.

Eingangsszene: Bartold liegt in seinem Gartenstuhl und hat einen Albtraum, der in London und in Kriegszeiten spielt und in dem der Staatsratsvorsitzende Ulbricht in einer unklaren Beziehung zum Träumer steht. Dieser wacht auf von den Schlägen, mit denen Margarete Helene das marode Gartenhaus zum Einsturz bringt.

Im Schutt des Gartenhauses taucht ein alter Büstenhalter auf. Misstrauisch geworden kramt Margarete Helene in Bartholds Schreibtisch und findet eine Postkarte von einer bisher unerwähnten Elfi. Das entzündet ihre Phantasie: War ihr Gatte womöglich schon einmal verheiratet? Und, als sie bei weiteren Abbrucharbeiten Knochen findet: hat er Elfi vielleicht umgebracht und ihre Leiche im Boden der Hütte versteckt? Bei einer gynäkologischen Untersuchung bringt Margarete Helene die Knochen in die Praxis mit, es würde sie interessieren, ob es Menschenknochen seien oder eher vom Schwein. Eine hinreißend komische Szene.

„Montaigne“ ist das Leitmotiv des Romans. Die „Essays“ des menschenfreundlichen Skeptikers aus dem 16. Jahrhunderts liegen auf Bartholds Nachttisch. Auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für seine Frau gerät er in einen „Intershop“, wo er im Gespräch mit einem Wartenden Sentenzen aus Montaignes Essays zitiert, die als Kommentar zum realen Sozialismus verstanden werden können. Das hat ein Nachspiel. Bald darauf steht Herr Müller vor der Tür. Es kommt zur komischsten Szene in diesem von Sarkasmen und Ironie sprühenden Roman:

Herr Müller will Näheres wissen zu Bartholds Kontakten mit dem „Ausländer Mohnteine“. Er „führte aus, der Ausländer, wohl Franzose, wie?, habe keine positive Einstellung erkennen lassen, wie aus Bartholds Reden zu entnehmen gewesen sei, doch ginge es in der Hauptsache darum, dass er, Barthold, doch ganz genau wisse, dass jede Bekanntschaft mit Ausländern für ihn meldepflichtig sei.“

Die Stränge des Geschehens sind glänzend miteinander verflochten; jedes Teil greift ins andere wie bei einer kleinen schönen Maschine, nichts ist überflüssig. Dazwischen gibt es immer wieder philosophisch-reflektierende, von leichter Hand geschriebene Passagen. Mit seinen 200 Seiten hat das Buch eine angenehme Länge; man merkt, dass sein Autor vornehmlich ein Meister der Lyrik und der kleinen Prosa ist. Vor allem aber: Der Roman besitzt den unverwechselbaren „Kunert-Sound“, eine schwer zu beschreibende, anspielungsreiche Sprache, die häufig zum Lachen reizt. Das war Kunerts schärfste Waffe gegenüber den Zumutungen des „Arbeiter- und Bauernstaates“.

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Sep 10 2020

III. (N-)ostalgische Reminiszenzen: Eine Jugend in Ostdeutschland

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Eine Jugend in Ostdeutschland –

 

Überleben im Untergrund der Musik

 

Anja Moore, Chesapeake, Virginia

 

 

Alt möcht ich werden
Alt möcht ich werden wie ein alter Baum,
mit Jahresringen, längst nicht mehr zu zählen,
mit Rinden, die sich immer wieder schälen,
mit Wurzeln tief, daß sie kein Spaten sticht.
In dieser Zeit, wo alles neu beginnt,
und wo die Saaten alter Träume reifen,
mag wer da will den Tod begreifen –
ich nicht!

Alt möcht ich werden wie ein alter Baum,
zu dem die sommerfrohen Wandrer fänden,
mit meiner Krone Schutz und Schatten spenden
in dieser Zeit, wo alles neu beginnt.

Aus sagenhaften Zeiten möcht ich ragen,
durch die der Schmerz hinging, ein böser Traum,
in eine Zeit, von der die Menschen sagen:
Wie ist sie schön! O wie wir glücklich sind!

Louis Fürnberg, „Alt wie ein Baum“ (1951)

 

Meine Jugendzeit in den 80er Jahren in der DDR war von einem brennenden Verlangen nach Freiheit geprägt. Damals hatte meine Generation schon eine Vorahnung, dass das alles nicht länger so weitergehen konnte. Der Gedanke an das resignierte und unzufriedene Dasein unserer Eltern war einfach unerträglich. Ihre Existenz stellte einen Vorschatten unserer eigenen Zukunft dar und musste aus reinem Idealismus abgelehnt werden. Ich wusste schon im Alter von vierzehn Jahren, die ich im damals fast schon vierzig Jahre existierenden Arbeiter- und Bauernstaat gelebt hatte, dass unsere einzige Chance, dem sozialistischen Persönlichkeitsideal zu entfliehen, auf die wenigen Jahre unserer Jugend beschränkt sein würde. Die DDR-Erziehung an den Kindergärten und Schulen hatte unsere Sinne gegenüber der marxistisch-leninistischen Propaganda abgestumpft, aber wenn es ums Jenseits der Ostblockgrenze ging, wurden wir hellwach. Dieses Leben im Zwiespalt zwischen Resignation und Rebellion ließ uns etwas schneller erwachsen werden und besonders auf den Dörfern wurden die Diskos zum Brennpunkt unseres (wenn auch nicht unbedingt heldenhaften) Widerstandes. Das letzte Jahrzehnt vor der Wende war von einer größeren Toleranz gegenüber passiv-aggressiven Aufbegehrungen der Jugend geprägt. Es wurde öfter ein Auge zugedrückt, wenn durch unsere Musik- und Modewahl die Gleichförmigkeit und Unterdrückung des Individuums nicht nur kritisiert, sondern sogar herausgefordert wurde. Wir ließen keine Chance ungenutzt, und bevor wir uns vom artigen Kindesalter wieder in die Untertänigkeit und Fügsamkeit der Erwachsenenwelt hineinzwängen ließen, zeigten wir dem Staat erst einmal richtig die Zähne.

Musik spielte in der spannungsgeladenen Vorwendezeit besonders für die Jugend eine wichtige Rolle. Es gab Ostmusik, und es gab Westmusik. Diese geografisch und somit auch politisch getrennten Genres verkörperten stark die Zwiespältigkeit einer Welt, in der sich die Bevölkerung der DDR zurechtfinden musste. Musik war so viel mehr als nur Gesang und Harmonie. Durch ihren weitreichenden Einfluss auf die Öffentlichkeit auch über ostdeutsche Grenzen hinaus wurde Musik zum Aushängeschild des Sozialismus, während der Staat sein Bestes tat, um den Einfluss westlicher Klänge zu dämpfen. Zukünftige Liedermacher und Komponisten wurden sorgfältig vom DDR-Staat geprüft und ausgewählt. Wer ideologisch fit war und sich dem Sozialismus und der Partei verpflichtete, erhielt eine erstklassige Ausbildung und durfte öffentlich auftreten und damit die DDR repräsentieren. Eine der bekanntesten ostdeutschen Bands waren die Puhdys. Ihr Ohrwurm „Alt wie ein Baum“ pulsierte Ende der 70er Jahre wie eine Hymne durch den ostdeutschen Äther. Die immense Popularität dieses Liedes ist wahrscheinlich auf dessen eingängige, von jenseits der Mauer importierte Melodie zurückzuführen. Vergleicht man die ersten Takte mit dem Anfang des Queen Songs „‘39“, kann man deren Ähnlichkeit unmöglich verleugnen. Hatte der Staat wirklich nicht damit gerechnet, dass fetzige Westmusik auch von unseren überzeugtesten Musikern gehört und ihr sogar nachgeeifert werden würde?

Der Text des sozialistischen Liedes war natürlich auch sehr wichtig und sollte unmittelbar die Werte und Sentimente des Sozialismus widerspiegeln. Anhand des Beispiels der Puhdys und ihres großen Hits lässt sich allerdings feststellen, dass man kompromissbereit sein musste, wenn man sich zu den erfolgreichen Bands des Ostens zählen wollte. Das beschränkte oftmals den Gesangsstoff auf neutrale, lyrische Themen, die Raum zur politischen Interpretation ließen.

„Alt wie ein Baum“ greift ein uraltes Thema, den Wunsch nach Unsterblichkeit auf, geht aber noch ein Stückchen weiter und verlangt sehnsüchtig nach einer besseren Zukunft: „Alt wie ein Baum mit einer Krone die weit […] über Felder zeigt.“ Meinten die Felder hier eine Grenze, die es endlich zu überwinden galt? Die Puhdys fanden Inspiration in Louis Fürnbergs Gedicht „Alt möcht ich werden.“ Fürnberg, bekannt für seine Lyrik, wurde in der DDR auch als Verfasser des berühmt-berüchtigten „Lied[es] der Partei“ gefeiert. Zufall? Wenn man ein bisschen tiefer schaut, entpuppen sich die Puhdys als eine Band, die sich am Anfang ihrer Karriere nicht davor scheute, mit dem Status Quo zu brechen, auf Englisch zu singen und das Regime zu kritisieren. Der Staat drohte mit Auftrittsverboten, und die Rockgruppe passte sich an und sang in den 70er-Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Karriere meistens auf Deutsch. Die musikalische Referenz zum geachteten Dichter des Kommunismus war ein wichtiger Schritt in Richtung Wiederversöhnung mit dem Staat, und diese Geste wiederum garantierte das Überleben und den Erfolg der Puhdys innerhalb staatlicher Beschränkungen. Es war gefährlich, sich öffentlich gegen den Sozialismus auszusprechen. Wer sich weigerte, verschwand von der Bildfläche und es wurde keine Mühe gescheut, Staatsfeinde systematisch zu diskreditieren, um sie letztendlich loszuwerden. Am Beispiel von Wolf Biermann kann man diese Methoden nachvollziehen: Verleumdung. Schwarze Liste. Entzug der Bürgerrechte. Ausbürgerung.

Meine Erinnerungen an die DDR-Musik der 80er Jahre hält sich in Grenzen. Natürlich kannten wir die beliebtesten Gruppen wie Karat, die Puhdys und City und deren Hits, da sie immer wieder im Radio zu hören waren. Durch ihre Balladen sprachen sie wehmütig zu uns von fremden Welten, die nur über Hindernisse zu erreichen waren, wie zum Beispiel in Karats frühem Hit „Über sieben Brücken musst du geh’n, sieben dunkle Jahre übersteh’n.“ Später warnte Karat mit ihrem Lied „Der blaue Planet“ vor der Zerstörung unserer Welt. Waren es Sorgen um die Umwelt oder um den Kalten Krieg? Die Nachricht scheint oft mehrdeutig und versteckt. Ost-produzierte Musik allein war aber nicht in der Lage, unseren inneren Drang nach fernen Ländern und echter Freiheit zu stillen, waren die DDR-Musiker und Liedermacher doch selbst gefangen, zensiert und genauso einer hoffnungslosen Zukunft ausgeliefert wie wir.

Die 80er Jahre brachten auch im Osten eine Art selbstgemachten Fortschritt. Geheime Bürgerinitiativen, die aber wegen ihrer immensen Popularität und Partizipation der allgemeinen Bevölkerung in Wirklichkeit gar nicht geheim gehalten werden konnten, trugen dazu bei, dass es auf einmal mehr westliche Kanäle auf dem ostdeutschen Bildschirm gab. Dank einer neuen Antenne am Waldrand etwas außerhalb des Dorfes, der den höchsten Punkt unseres Ortes markierte, konnte man nun endlich auch Westfernsehen ohne die gewöhnlichen Störungen empfangen und dazu noch etliche Privatsender sehen. MTV erschien zum ersten Mal in unseren schwarz-weißen Flimmerkisten und breitete vor uns ein Buffet verbotener Musikstile und deren visueller Verarbeitung durch Musikvideos aus. Wer hörte da schon Balladen und Schlager, die auf sozialistischem Boden gewachsen waren? Wer wollte schon länger Musik, die einen eher beruhigenden und melancholischen Effekt hatte und uns immer wieder ins Koma unseres Daseins einzulullen versuchte? Es gab nicht vieles, worüber wir Kontrolle hatten, aber unsere Ablehnung der erlaubten Musik gab uns in diesem Moment Macht.

Mit dem Aufkommen der Beat-Musik in den 50er Jahren, die von Walter Ulbricht, dem damaligen Parteichef der DDR, stark verpönt wurde, öffnete sich erst zögernd und dann immer weiter die Tür zur Rock ‘n’ Roll Musik zehn Jahre später. Zu meiner Zeit in den 80er Jahren hatten sich diese Klänge weiterentwickelt und fanden jetzt ihren Ausdruck in Punk, New-Wave, Heavy Metal und Gothic Rock. Diese Musik war schräg, sie war laut, sie war auf Englisch, sie war über alles bei der Jugend beliebt, von den Erwachsenen verpönt und vom Staat gefürchtet. Der Widerstand war einfach und bedurfte nur der richtigen Schminke und Klamotten. Ein Outfit und eine Frisur wurden auf einmal zum Aushängeschild des Widerstandes, und oft glaubten wir nicht einmal selbst an einen Gott, dessen Kreuz wir rebellisch um den Hals gehängt zur Schau stellten.

Auf einem Ausflug in die nicht weit von meinem Dorf entfernte Großstadt Chemnitz, die in der Nachkriegszeit nach dem Verfasser des Kommunistischen Manifests in Karl-Marx-Stadt umbenannt wurde, bekam man diese Jugendszenen schon auf den Straßen zu sehen: Schwarze Kleidung, schwarz umrandete Augen im Kontrast zum blass geschminkten Gesicht waren das Markenzeichen der sogenannten „Gruftis“, später als Gothics bekannt. Die Gruftis waren ein einziger modischer Protest: gegen den Staat, gegen die Gleichförmigkeit, gegen das verordnete Jugendbild. Man wollte auffallen. Man wollte provozieren. Man wollte anders sein. Viel später stellte sich heraus, dass sich hier auch eine aktive Untergrundbewegung der Musikszene entwickelt hatte, die erst heimlich in den Wohnzimmern ihre eigene Musik zusammenbastelte und später auch öffentlich in den Kirchen auftrat. Diese Wohnzimmer-Bands schrieben auf einmal Texte, die schonungslos vom Staat Abstand nahmen und sich auf die Gefahr hin, eingesperrt zu werden, ungehemmt gegen das System auflehnten. Aufgrund der immer noch effektiven Überwachungsmethoden der Stasi blieben solche Bands vor uns verborgen und existierten mehr im Untergrund.

Karl-Marx-Stadt, im Volksmund wegen seiner einst industriellen Silhouette auch Ruß-Chamtz genannt, lebte durch die Schilderungen meiner Großeltern in mir weiter. Im Krieg hatte es viele seiner namensgebenden Schornsteine und vorkriegszeitlichen Architektur eingebüßt und war somit zum Aushängeschild des Sozialismus samt Namensänderung geworden: einförmige, langweilige Betonwüste ohne jegliche Kreativität, ohne Charme. Zu tun gab es hier nicht viel und ein seltener Besuch in die Stadt, um im einzigen Kaufhaus Schlange zu stehen und ein Jugendweihekleid zu ergattern, wurde zum deprimierenden Bummel entlang der großzügig ausgelegten und im Winter eiskalten, zugigen Straße der Nationen. Diese schien ironischerweise nie belebt. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie ich immer meinen Schritt beschleunigte, wenn ich am nicht weit entfernten Karl-Marx-Nischl vorbeieilte. Der riesige Granitblock, der 1971, im Jahr meiner Geburt, errichtet wurde, hatte etwas Imposantes, Furchterregendes an sich, schien aber inmitten dieser leeren, zementierten Welt wie der Hüter des Betons, ein heidnisches Idol, das angebetet werden wollte.

File: Bundesarchiv Bild 183-K1106-0062, Chemnitz, Karl-Marx-Denkmal, Karl-Marx-Allee.jpg

 

Kein Wunder, dass die Jugend hier ihren Widerstand offener zur Schau trug. Die meisten von uns auf den Dörfern gingen brav zur Schule, wo wir den sozialistischen Anforderungen der Autorität gerecht wurden, Omas Kette mit dem Kreuz unterm Pullover versteckten, die Augen weniger stark anmalten und die schwarzen Klamotten zu Hause ließen. Unsere Zeit kam am Abend, wenn wir wie Vampire aus unserem Sarg der Konformität herauskletterten, um uns so richtig auszutoben. Die Vorbereitung auf die örtliche Disko war ein Ritual, das sehr ernst genommen wurde. Wir scheuten keine Mühe und unsere Kreativität war unbegrenzt. Wer nähen konnte, lernte, Opas alte schwarze Hose abzuändern, so dass sie jetzt zum Outfit passte. Schwarzer Stoff, wie alle anderen begehrlichen Produkte, war Mangelware, und wir durchstöberten die vergessenen Kisten auf dem Oberboden nach wiederverwendbaren Materialien, die recycelt und umfunktioniert werden konnten. Es war eine Zeit des ständigen Mangels, die unglaubliche Fähigkeiten und grenzenlose Kreativität in uns erweckte.

Viel gab es im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat für eine rebellierende Jugend nicht zu tun, und dieser Mangel nicht nur an Konsumgütern, sondern auch an Möglichkeiten, so richtig Dampf abzulassen, unterstützte die Gründung der dörflichen Diskos, die zu meiner Zeit wie Pilze aus dem Boden schossen. Auch ohne Handy und Internet wussten wir immer ganz genau, wo in der Umgebung eine Disko stattfand und bereiteten uns dementsprechend vor. Lokale Jugendklubs, die offiziell von der FDJ gesponsert wurden, aber am Ende wenig mit der Förderung des sozialistischen Persönlichkeitsbildes zu tun hatten, organisierten solche Tänze in den Turnhallen und Gasthäusern der Umgebung. Unvorstellbar für heute, wurde ich schon mit vierzehn mit elterlicher Erlaubnis und beschützt von zwei älteren Brüdern in die Diskoszene eingeweiht. Diese Treffpunkte hatten etwas Kultmäßiges und waren so populär, dass man stundenlanges Schlangestehen bei Regen und Kälte gerne in Kauf nahm. Am Ende war es dann des Wartens wert. Die Musik dröhnte und pulsierte meistens auf Englisch und gegen die staatliche Vorschrift, dass auf öffentlichen Veranstaltungen sechzig Prozent der Musik ostdeutschen Ursprungs sein musste, durch den dunklen, mit Menschen vollgestopften, rauchgefüllten Raum. Hier wurden die Jugendlichen zu Disko-Freaks und bewegten sich wie in Trance zur Musik von The Cure und Depeche Mode oder sprangen wie wild zu Billy Idols „Hey, little sister“ aus seinem Song „White Wedding“ über die aus den Fugen platzende Tanzfläche. Später drängten sich die Mädchen auf den stinkenden Toiletten vor die Spiegel, um das hochtoupierte Haar mit Unmengen von Haarspray gegen die Schwerkraft wieder aufzuplustern. Zu dieser Zeit wurden die wöchentlichen Diskobesuche zum Highlight unserer Existenz.

Das Wort Disko bedeutete damals so viel mehr als heute, und das gesamte Konzept ist nicht einfach zu erklären. Für die ostdeutsche Jugend wurde das Nomen zum Synonym für Freiheit und Rebellion, vertiefte in uns das Gefühl der Hoffnung und verstärkte unseren Überlebensdrang. Obwohl Mitte der 80er Jahre niemand ahnen konnte, dass die Mauer noch im gleichen Jahrzehnt fallen würde, behaupte ich gern, dass diese Wende für uns eine natürliche Fortsetzung von dem war, was in unseren Herzen schon lange existiert hatte. Vierzig Jahre der Unterdrückung hinterließen ihre Spuren an jeder vom Kommunismus eingeschränkten und seiner Freiheit beraubten Generation, aber am Ende war es unsere Jugend, eine Jugend, die nie ein anderes Leben gekannt hatte, die ihre Träume zum ersten Mal verwirklichen konnte und durfte. Auf unseren Diskobesuchen wurde eine Hoffnung geboren, und hier lebten wir schon einmal vor, was es hieß, frei zu sein.

Ganz ohne unser Zutun begann mit der Geburt unser Leben auf der Ostseite der deutschen Mauer. Das machte uns aber nicht blind und auch nicht ignorant. Wir mussten die schwere Aufgabe des Überlebens unserer Individualität meistern, und das bedurfte unglaublicher Energie, großen Mutes und noch größeren Einfallsreichtums. Unsere Jugend in der DDR war eine kostbare Zeit, eine Zeit des Aufbegehrens gegen die Eltern und deren Autorität und indirekter gegen das Regime. Es war eine Zeit des Wachwerdens. Unsere Musik dröhnte lauter und aggressiver und anders als das stetige Gesäusel der Propagandamaschine um uns herum. Wir fühlten uns stark und waren uns nicht bewusst, dass man uns nach der Wende um unsere Herkunft belächeln und sogar Mitleid mit uns empfinden würde. Nur wer einen wahren Einblick in das Leben in der ostdeutschen Republik bekommen hat, kann meine Frustration über diese westliche Kurzsichtigkeit nachempfinden.

Unmittelbar nach der Wende habe ich Deutschland den Rücken gekehrt und bin nach Amerika ausgewandert. Ich wusste damals schon, dass ich mich in meiner deutschen Heimat niemals richtig frei fühlen würde. Achtzehn Jahre eines Lebens im Einheitsbrei des Sozialismus hatten ihre Spuren hinterlassen, aber ich war des Kämpfens müde und konnte mir eine Zukunft umgeben von Vorurteilen und erstarrtem Denken nicht mehr vorstellen. Heute höre ich die Puhdys von jenseits des Atlantiks mit neuen Ohren: Sie sind ein Teil meiner Ostalgie geworden und ihre rockige Volksweise „Alt wie ein Baum“ lässt jetzt Gefühle der Dankbarkeit in mir aufsteigen. Die Puhdys und ihr Dichter Louis Fürnberg hatten schon Recht:

Aus sagenhaften Zeiten möcht ich ragen,
durch die der Schmerz hinging, ein böser Traum,
in eine Zeit, von der die Menschen sagen:
Wie ist sie schön! O wie wir glücklich sind!

Unsere Jugend war eine sagenhafte Zeit, die zur Geschichte geworden ist. Unser böser Traum des Sozialismus hat uns aber Flügel gegeben, und ich könnte mir mein jetziges Leben ohne meine Vergangenheit im Warteraum der Zukunft[1] kaum vorstellen. Mein Glück, das musste ich mir selbst schaffen, und es sind die Lehren verbunden mit der Musik dieser Zeit, die mich das nie vergessen lassen.

 

Footnotes:

[1] Graffiti-Parole in einer besetzten Wohnung nach dem Roman Stirb nicht im Warteraum der Zukunft.

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Jan 01 2019

Zum Tod von Gerald Uhlig-Romero — Dem Begründer des Berliner Café Einstein Unter den Linden

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von Hans Mayer

 

Am 4. Juli 2018 verstarb Gerald Uhlig-Romero (*1953), der Schauspieler, Regisseur, Maler, Autor, Kurator, Kaffeehausbesitzer und Menschenfreund. Bei einer Trauerfeier im repräsentativen Löwenpalais im Berliner Grunewald nahmen seine Tochter Geraldina und seine Schwester Michaela zusammen mit Freunden und Wegbegleitern Abschied. Begleitet vom Cello, seinem Lieblingsinstrument, war es ein bewegender Abschied mit Tränen und Umarmungen und auch im tröstenden Glauben, dass er und sein Werk in uns weiterleben wird. In einem Nebenraum wurden seine malerischen und schriftstellerischen Arbeiten gezeigt, ein kurzer Filmausschnitt dokumentierte seine Tätigkeit als Schauspieler in „Penthiselea“. Er habe fast alle seine Träume verwirklichen können, sagte seine Schwester Michaela, mit der ihn lebenslang ein überaus inniges Verhältnis verband. An seine tragische Erkrankung an Morbus Fabry erinnerte Eva Luise Köhler, die Schirmherrin der „Allianz chronischer seltener Erkrankungen“ (Achse e.V.) und zitierte aus einem von Gerald Uhlig-Romero selbst verfassten Dialog zwischen sich und seiner Krankheit; die Krankheit, die ihn ein Leben lang begleitete. Kaum weniger beeindruckend war die daran anschließende sehr emotionale Lesung aus seinem 2011 veröffentlichten Roman „Stoffwechsel“, der von der Abwesenheit des Sinns und der Bedeutung des Zufalls erzählt.

War es Zufall, als er auf seiner „Reise vom Nichts ins Nichts“ (Uhlig-Romero) 1996 das Café Einstein an der Ecke Unter den Linden/Neustädtische Kirchstraße im von den Kunstsammlern Pietzsch neu errichteten Haus Pietzsch eröffnete? Ein glücklicher Zufall jedenfalls, der ihn weit über die Grenzen Berlins und Deutschlands hinaus bekannt machen sollte, der ihm die Bühne und den Ruhm bescherte, den er sich immer gewünscht hat. Frei von wirtschaftlichen Zwängen oder Not konnte er, der Intendant, sich unbeschwert seiner Leidenschaft in der bildenden Kunst hingeben, seine Ausstellungen in der eigenen Galerie veranstalten oder seine Salons und sein Engagement für die „Allianz chronischer seltener Erkrankungen“ pflegen.

Die bescheidenen Anfänge deuteten nicht darauf hin, dass das Café Einstein bald zu einer nationalen und transatlantischen Kommunikationszentrale werden sollte. Ich erinnere die wenigen Berliner oder Touristen und den spärlichen Autoverkehr, als ich 1996 auf dem nach Uhlig-Romero bis heute von der Politik sträflich vernachlässigten Boulevard Unter den Linden selbst auf Entdeckungsreise ging. Die Menschen wirkten etwas verloren auf den breiten Bürgersteigen und dem mit Linden bepflanzten Mittelstreifen. Der ehemalige Prachtboulevard, den der Berliner Flaneur während der Weimarer  Republik genoss und auf dem er von Ost nach West oder von West nach Ost umherschweifte oder mit der Familie spazieren ging, war nach über vierzig  Jahren Sozialismus zu einem von großstädtischem Flair entrückten Ort geworden. Dort schmiegte sich nun ein schmaler Bau, in dessen Erdgeschoss das Café Einstein zum Besuch einlud, an ein in italienischen Renaissanceformen ausgeführtes Geschäftshaus, weit weg vom geschäftigen Berliner Westen. Erst etwas später, mit dem Umzug der gesamtdeutschen Regierung von Bonn nach Berlin, sollte sich das grundlegend ändern.

Für internationale Künstler, Wirtschaftsvertreter, Politiker, Journalisten und zunehmend auch für die zahllosen Touristen wurde das Café Einstein nach 1999 dann rasch zu einem beliebten Treffpunkt. Nicht nur, weil es im Gegensatz zu den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts kaum Cafés am Boulevard Unter den Linden gab, sondern vor allem, weil es Gerald Uhlig-Romero innerhalb kürzester Zeit gelang, eine Wiener Kaffeehausatmosphäre herbeizuzaubern, wie es sie zuvor, jedenfalls in Berlin, nur im Stammhaus an der Kurfürstenstraße gab. Und dies, obwohl es dem Café in dem von Jürgen Sawade nüchtern gestalteten Gebäude am architektonischen Ambiente weitgehend fehlt. Beliebt für informelle Rencontres oder offizielle Interviews war bald insbesondere das räumlich etwas separierte Café-Restaurant im hinteren Bereich. Dort vor allem verkehrten die zahllosen Prominenten und gelegentlich auch ganze Redaktionen. Sie alle, einschließlich der deutschen Politprominenz, aufzuzählen, würde an dieser Stelle zu weit führen. Aber für Salman Rushdie, Dennis Hopper, Jodie Foster, Mia Farrow oder Bruce Willis sollte Platz sein. Zu erwähnen sind auch die zahlreichen Nobelpreisträger, von denen stellvertretend John Forbes Nash (1924-2015), der US-amerikanische Spieltheoretiker, erwähnt werden muss, der wohl schon 1996, also im Jahr der Eröffnung, den dortigenTopfenpalatschinken genoss, von dem er später schwärmte und der ihn dazu inspirierte, Gerald Uhlig-Romero als Kaffeehaus-Einstein zu bezeichnen.

Transatlantisch hatte Nash 1994 zusammen mit dem Deutschen Reinhard Selten den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten. Uhlig-Romero und Nash begegneten sich auf der Insel Mainau anlässlich des Treffens der Nobelpreisträger im Jahr 2005 und kamen sich dort näher und im selben Jahr fand auch die Fotoausstellung mit den Porträts von Nobelpreisträgern in den angrenzenden Räumen des Café Einstein statt, darunter auch zwei Porträts von Nash im Stil Andy Warhols. Zu diesem Zeitpunkt hatte Uhlig-Romero in dem von Sawade zwischen den Räumen des Cafés und dem angrenzenden Geschäftshaus eingefügten haushohen gläsernen Atrium längst eine kleine öffentliche Galerie etabliert, die mit regelmäßigen Wechselausstellungen zur Fotokunst glänzte und zur Bereicherung Berlins beitrug. Sie war Teil von Uhlig-Romeros „Akademie für Lebenskunst“. So wollte er das ganze Unternehmen „Café Einstein“ ja verstanden wissen. Der Spielmann Uhlig-Romero war eben auch Macher im besten Sinne des Wortes. Und so wird er mir in Erinnerung bleiben.

Die Herausgeber empfehlen weitere Lektüre aus der aktuellen Glossen 44 und im Archiv zum Leben von Gerald Uhlig-Romero:

Endlich — der Frühling kommt von Gerald Uhlig-Romero

Ein Interview zwischen Frederick A. Lubich und Gerald Uhlig-Romero, “dem König der Berliner Kaffehauskultur”

Günter Grass und Salman Rushdie — Ost-Westlicher Diwan von Frederick A. Lubich

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Dec 29 2016

Café Einstein Unter den Linden

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Ein transatlantischer Gedanken- und Erinnerungsaustausch mit Gerald Uhlig-Romero, dem “König der Berliner Kaffeehauskultur”

Das Gespräch führte Frederick A. Lubich

„Das Leben ist nur ein kurzer Traum“
(altrömisches Sprichwort)

Frederick: Lieber Gerald, mehr als vier Jahrzehnte sind vergangen, als wir uns Mitte der siebziger Jahre in einer Heidelberger Runde junger Poeten kennenlernten und im Handumdrehen Freundschaft schlossen. Damals hätten wir zwei Traumtänzer uns sicherlich nicht träumen lassen, dass einer von uns in die Neue Welt auswandern und jahrzehntelang als sogenannter “gypsy scholar“, also als Wandergelehrter von Universität zu Universität ziehen sollte, und dass der andere ebenfalls nach so manchen Wegstationen schließlich im Herzen der Alten Welt und im Zentrum der Hauptstadt eines wiedervereinten Deutschlands ein berühmtes Kaffeehaus gründen sollte. Im Laufe der Zeit hat dich die bundesrepublikanische Boulevardpresse zum „König der Berliner Kaffeehauskultur“ gekrönt. Der Hamburger Spiegel sollte deinem Lebenswerk sogar noch einen weiteren Lorbeerkranz winden, indem er vor wenigen Jahren weit über Berlin hinaus dein Café Einstein Unter den Linden gar zur „Hauptbegegnungsstätte der Berliner Republik“ erklärte.

Doch kehren wir noch einmal in unsere traumselige Jugendzeit nach Heidelberg zurück, der Traumstadt aller deutschen Romantiker, und somit auch zurück zum Beginn deiner immer wieder so wundersam anmutenden Traumkarriere. Und vielleicht trifft ja auch auf deinen Lebenslauf die märchenhafte Weltweisheit aus Hermann Hesses bekanntem Gedicht „Stufen“ zu: „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Alsdann, Vorhang auf, die Welt als Bühne, und du machst zum Weltspiel schon einmal recht gute Miene.

Uhlig70er
In Fredericks Heidelberger Studentenbude Mitte der siebziger Jahre Im Vordergrund Gerald, der Traumtänzer, im Hintergrund Nijinsky, der Gott des Tanzes

Gerald: Ach Freddy, wie naiv und unwissend habe ich damals in die Welt geschaut nichts ahnend, wie viele Tragödien noch den weiteren Lebensweg pflastern werden. Auch wenn Goethe einmal in der Pose des literarischen Großfürsten sagte, dass man sich auch aus lauter Steinen einen Lebensweg bauen kann, so wünschte ich mir doch ein paar weniger griechische Tragödien in meinem Dasein. Sicher wohnt allem Anfang ein Zauber inne, gerade wenn man so ein neugieriger Hochstapler, Narzisst, Behauptungsmeister, Bestätigungssüchtiger und Rebell in einem war wie ich. Ein tägliches Ein-Personen-Theater auf der Suche nach einem Selbst, einer Identität oder was auch immer. Wir fahndeten damals in Heidelberg nach etwas, zu dem man verlässlich „Ich“ sagen konnte, Verbündete, Freunde, Wohn- und Lebensgemeinschaften, wir wollten unsere uns einengenden Elternhäuser abstreifen, ja mancher wollte diese in die Luft sprengen. Verrückte Poeten, Philosophen, romantische Dichter, sie alle wurden zu unseren Souffleuren, ihre Sätze und Gedanken zu unseren Zündschnüren. Wir waren hin- und hergerissen zwischen Aufbruch und romantizierender Vergangenheit. Auch der Autor Claudio Magris mit seinem Buch Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur faszinierte uns, ein literarischer Großregen auf die Morbidität.

Frederick: Wir hatten ja damals das Buch gemeinsam gelesen und ich hab es heute noch mit all meinen und deinen kunterbunten Randbemerkungen und Unterstreichungen. Zudem hatte ich selbst auch noch viele, schöne Erinnerungen an die alte, kaiserlich-königliche Donau-Monarchie, da meine beiden mährischen Großväter in meiner Kindheit immer wieder recht redselig von ihrer Militärzeit im Wien der Jahrhundertwende geschwärmt und schwadroniert hatten. Es war die Welt des sagenhaften, einst so sang- und klanglos versunkenen Kakaniens.

Anfang der siebziger Jahre hast du in Heidelberg dein eigene Bühne, das Kabarett “Hoch- und Tiefstapler“ gegründet. Ich machte mir bei deinen Rezitationen und Inszenierungen im Kulturhaus Bühl vor allem hinter den Kulissen zu schaffen und war dort unter anderem für die Bühnenbeleuchtung zuständig.

Gerald: Du warst schon damals wie auch heute noch für die Geistesblitze zuständig, wunderbar in  deinen Gedichten nachzulesen. Selbst heute zitiere ich noch des Öfteren dein Poem: „Ich küsse den Morgen / eh er erwacht / auf seine traumvollen Lippen / ehe der Schleier der sanften Nacht / zerreißt über des Tages gebeugtem Rücken.“

Frederick: Solch spätromantische Verse kann man auch nur in Friedenszeiten schreiben, wenn man nicht jeden Tag schon frühzeitig aufs Schlachtfeld ziehen muss wie unsere Väter und Großväter in ihrer Jugendzeit. Da hat das Hoch- und Tiefstapeln selten geholfen.

Gerald: Der Name Hoch- und Tiefstapler war Programm. Das Buch, welches mich in meinen jungen Jahren am meisten faszinierte, war der Thomas-Manns-Roman vom Hochstapler Felix Krull, in dem ich mich sofort wiedererkannte, selbst seinen Trick, nicht zum Militär zu müssen hatte ich übernommen, um nicht zur Bundeswehr zu müssen.

Frederick: Mitte der siebziger Jahre warst du einer der wenigen aus einer Vielzahl von Bewerbern, der am Max-Reinhardt-Seminar in Wien, einer der berühmtesten Schauspielschulen Europas, angenommen wurde. Bald bist du auch in der Rolle des kunstverliebten und frühgereiften Jünglings in Hugo von Hofmannsthals Theaterstück Der Tor und der Tod auf einer Wiener Bühne gestanden. Neurastheniker pur, das fin de siècle in Reinkultur!

Gerald: „Frühgereift“! Ich hab ja nicht einmal die mittlere Reife hinbekommen, was, wie ich heute weiß, mit den Symptomen meiner Erbkrankheit zu tun hatte, und ich auch Student und Akademiker wie ihr alle um mich herum sein wollte, hatte ich nur eine Chance, damals ohne Abitur Hochschüler zu werden, nämlich auf einer staatlichen Schauspielschule. Da ich noch nie gerne Texte auswendig lernte, hatte ich mir wie gefordert zwei klassische Texte eintrainiert, die ich übrigens heute noch aufsagen kann. Die beiden modernen Texte habe ich einfach auf der Bühne improvisiert und gespielt. Das musste auf die Lehrer und Professoren so toll gewirkt haben, dass ich von über 1000 Bewerbern zu einem der neun Aufgenommenen wurde. Als mich die Lehrer fragten, von wem die Stücke waren, sagte ich einfach, sie seien von mir. Kleine Gaunereien haben mich schon damals sehr interessiert. Als wirklich Großkrimineller fehlten mir leider die Nerven. (eine Zeile aus meinem neuen Rapp: das Leben ist zu kurz, es geht nur mit Betrug).

Frederick: Neben deinem Schauspielunterricht hast du auch die Langspielplatte Der Kinderkönig  unter anderem mit vertonten Texten von einigen von uns aus der Heidelberger Dichterrunde aufgenommen.  Mein alter Plattenspieler ist schon längst kaputt aber ich höre noch immer deine rauchige, euphorisch-melancholische Stimme, wenn du mein Lied vom „Duft der großen, weiten Welt“ singst, das mit den Worten beginnt: „Das Leben ist wie eine Zigarette, die Seele atmet ihr Nikotin …“

Der Kinderkoenig
Vom Kinderkönig in Wien zum Kaffeehauskönig von Berlin:
Ein preußisch-österreichisches Liederbuch und Maskenspiel

Gerald: Ich war damals in Wien sehr von dem Poeten André Heller begeistert und wollte auch  so eine vital-sentimentale Schallplatte hinbekommen. Während Heller die meisten seiner Songtexte von anderen Dichtern geklaut hatte und als die seinen ausgegeben hatte, hatte ich mit dir beides: Dichter und Freund in einem. Ich werde nie vergessen, wie wir, mein damaliger Produzent und ich, viele deiner Lieder in einer einzigen Nacht aufnehmen mussten, da die Wiener Symphoniker engagiert wurden und sehr viel Geld kosteten.

Frederick: „Wein, Weib und Gesang“, diese Wiener Weisheit war das lebenslange Leitmotiv meines sangesfreudigen Kuhländler Großvaters gewesen und es wies auch uns noch den weiteren Lebensweg. Oft war’s freilich zum Heulen, doch noch viel öfters zum Lachen, und so konnte man sich auf dieses Leben auch immer wieder ein paar traurig-lustige Reime machen. Egal, ob wir durch die Wiener Kaffeehäuser zogen oder in die blaue Ferne schweiften, immer wieder verwandelte sich der fidele Augenblick in ein spontan komödiantisches Stegreifstück.

Provence
Unterwegs in der schönen französischen Provence! Und dazu zwei „süße Mädel“
Willkommen! Welcome! Bienvenue! Das ganze Leben ist eine Revue!

Auch mein Vater war in seiner Jugendzeit im schönen Frankreich gewesen – allerdings als deutscher Soldat. Bis er in französische Kriegsgefangenschaft geriet, aus der er schließlich in die amerikanische Kriegsgefangenschaft entlassen wurde. Lustig war das nicht!

Diesen Erfahrungen entsprechend stellte unsere Generation die Lebenserfahrungen unserer Vorväter denn auch gründlich auf den Kopf: „Make Love not War“, das wurde unsere internationale Parole. Und der gute, alte Freiherr von Eichendorff, das romantische Orakel aller Wanderlust, lieferte dazu die passend vagantischen Verse.

Lynne and Lisa
„Schöne Fremde“ – Woher, wohin?
Links Lynne aus Kalifornien und rechts Lisa aus Wien!

Frederick: Anstatt die schöne Fremde zu erobern, ließen wir uns viel lieber von ihr verführen frei nach Eichendorff und seinem wunderbaren Gedicht „Schöne Fremde“.  Für uns beide sollte der so doppeldeutige Zauber seiner „schönen Fremde(n)“ letztendlich geradezu zur schicksalshaften, nord- und südamerikanischen Wirklichkeit werden, und zwar für mich in der Gestalt einer Kalifornierin und für dich Jahre später in der Gestalt einer Argentinierin, deren Nachnamen du ja auch noch heute trägst.

Gerald: Alle meine Frauen avancierten schnell zu beratenden Müttern, ich hatte schon sehr früh zu meinem Vater gesagt, ich will, dass mich die Frauen durch das dornige Leben tragen, sie haben mich auch in die Welt hierher gebracht. Die eine, die mich geboren hat, hat mir dabei auch die schlimme genetische Erkrankung (Morbus Fabry) mitgegeben und wenn ich zu starke Schmerzen in den langen Nächten meiner Kindheit hatte, sagte Mutter zu mir, „Mein Sohn, ich weiß, warum du so leiden musst, wie kann ich dir nur helfen, komm ich werde dich einfach noch mal auf die Welt bringen.“

Frederick: Die ewig gebärende Große Mutter! Wie du weißt, hatte ich jahrelang über die Magna Mater und ihren mythopoetischen Zauber in der modernen Literatur recherchiert und publiziert. Und so waren wir mal wieder von der gleichen Partie, du warst die existentielle Praxis und ich war die akademische Theorie.

Gerald: Später traf ich eine wundervolle, schöne kluge und intelligente Frau, die mich als Kunstmäzenin unterstützt und meine großen Inszenierungen der Lebensgeschichten von Lautrec, Picasso in verschiedenen Kunsttempeln gefördert hat. Als dann mein Körperkrimi mit den Jahren immer schlimmer wurde, hat mir meine damalige südamerikanische Frau Mara eine wundervolle Tochter Geraldina geschenkt und für mein zweites Leben ihre Niere gespendet. Dass Mara dann ein paar Jahre später an einem Pankreaskrebs sterben musste, war mit meinem Schicksal nicht verabredet. Aber du kannst mit dem Schweinehund Schicksal nichts verabreden. Das Schicksal macht, was es will. Es spielt das Lied des Zufalls und der Beliebigkeit. Meine Schreie werden auch nicht verlöschen, wenn ich gestorben bin. Vielleicht kann ich an Hand von Maras Lebens eine Ausstellung realisieren mit dem Titel „Der Boulevard des Lebens“.

Frederick: „Wer in die Fremde will wandern, der muss mit der Liebsten gehen“, so heißt es in Eichendorffs Gedicht „Heimweh“ und diesem romantischen Ratschlag bin ich denn meinerseits auch schon bald wortwörtlich gefolgt. Später sollte ich herausfinden, dass meine wanderlustige Liebste ebenfalls einen Wiener Großvater gehabt hatte, der seinerseits gegen Ende der Habsburger Monarchie ins sagenhafte Land der unbegrenzten Möglichkeiten ausgewandert war.

GeraldTV
Gerald in unserer Wohnung in Providence, Rhode Island, USA im Sommer 1984
Vom österreichischen Volkstheater zur amerikanischen Sitcom: eine Hoch- und Tiefstaplerposse

Gerald: Für Dich gilt das ja ganz bestimmt. Du wurdest von deiner Lynne quasi aus Heidelberg abgeholt und ins Land unserer Träume entführt. Ich dagegen habe mir die fremde große Welt nach Berlin geholt.

Frederick: Obwohl uns beide bald ein Weltmeer trennen sollte, haben wir uns nie aus den Augen verloren und uns in den kommenden Jahren und Jahrzehnten auch immer wieder gegenseitig besucht. Was waren deine ersten Eindrücke von Amerika? Providence, Rhode   Island … North Brunswick, New Jersey … und vor allem Manhattan, New York, wo wir acht wunderbare Jahre auf der Upper West Side gewohnt haben.

Gerald: Zum ersten Teil deiner Frage: Zu unserem großen Glück haben wir uns nicht verloren, sondern sind uns gegenseitige Zeugen einer wichtigen Phase in unserem Leben geworden. Das Kostbarste, was es im menschlichen Leben überhaupt gibt, ist diese Zeugenschaft: Ob deine Eltern, Geschwister, deine Lebenspartnerin, deine Kinder, Freunde, wir alle sind uns gegenseitig Zeugen und spiegeln unser Dasein.

Meine damalige Amerikareise zu Dir war ein absoluter Flash: zum Beispiel New York. Die vielen verschiedenen Nationen, die hier zusammenleben und das Stadtbild prägen, den ersten  Rapp,  den  ich  dort  gehört  habe  und  der  nachts  von  Harlem  herüberzog zu deiner Wohnung oben am Broadway. Auf der anderen Seite fiel mir die Verwahrlosung extrem auf, etwas, das ich aus unserem Lande damals nicht kannte.

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Kiste hin und Kasten her,
so fällt das Stapeln nicht mehr schwer!

Frederick: „Providence“ bedeutet Voraussicht und Vorsehung und im Rückblick scheint diese  in Providence entstandene Bildstrecke vom angebeteten, leidenschaftlich umarmten, mühsam gehobenen und schließlich spielerisch gestemmten Fernseher in der Tat wie eine sinnbildliche Vorschau auf deine kommende, hart erkämpfte Karriere im multi-medialen Kulturbetrieb. Erzähl von deinen weiteren Wegstationen.

Gerald: Das Wichtigste damals war für mich, dass kein Mensch auf dieser Welt je darüber bestimmen konnte, zu welcher Zeit ich morgens mein Bett verlasse. Eine Nacht mit zu wenig Schlaf bedeutet einen furchtbaren Tag und dafür sind mir die paar Tage, die einem Menschen in diesem Leben so bleiben, zu kostbar. Bis heute ist das so. Das ist meine kleine Freiheit. Die andere große Freiheit, von welcher der Mensch seit Beginn seiner Zivilisation träumt, ich habe sie nirgendwo getroffen. Es gibt sie nicht. Es kann sie nicht in einer biologischen Art geben, wo einer vom und durch den anderen lebt.
Nun weiter zu deiner Frage. Ich war letztlich offen und begabt für alles, was mir Ruhm und Aufmerksamkeit bringen könnte. Ich arbeitete am Theater als Regisseur, als Moderator beim Radio, als Schauspieler beim Film und auch Fernsehen. Ich wollte extrem geliebt werden und suchte Ruhm und Anerkennung. Wie heißt es noch mal in meinem Roman Stoffwechsel: „Ruhm war die einzige Hoffnung in den langen Nächten der Jugend.“ Für diesen Ego-Mist habe ich eine Menge an Energien geopfert, anstatt in der Zeit locker ein paar Millionen zu machen. Meine Eltern waren ja Geschäftsleute und diesen Anteil habe ich lange bei mir vernachlässigt: Der kam erst mit der Gründung meines Kaffeehauses Einstein Unter den Linden in Berlin, mit dem wir im Jahr über drei Millionen Euro einspielten. Ich habe sehr gute Leute engagiert, die sich um die Sisyphos-Arbeit des gastronomischen Alltags kümmerten, sodass ich in Ruhe an meiner Kunst und meinen originellen Formaten weiterarbeiten konnte. Zum Beispiel an meinen Ausstellungen in der Galerie im Einstein oder meinen Salongesprächen mit prominenten Zeitgenossen im Bereich Gesellschaft, Kultur, Wissenschaft, Politik und Wirtschaft. Stolz bin ich auf mein Projekt der Nobelpreisträger in der Kunst, in dem ich immer wieder die Nobels dazu animierte, ihre großartigen Erkenntnisse auch künstlerisch zum Ausdruck zu bringen.

Frederick: Spätestens in Hamburg hast du dich auch ernsthaft mit verschiedenen Ausdrucksformen der modernen Malerei auseinandergesetzt – und bald fand man deine dramatisch-expressiven Tafelbilder in verschiedenen Ausstellungen von Berlin bis nach Brasilien. Was bedeuten dir die bildenden Künste?

Gerald: Ich beantworte die Frage mal wie ein Gedicht. Es gibt viele Arten zu sterben, es wäre jetzt besser für mich, herauszufinden, wie man lebt. Der Tod ist das Einfachste. Sterben kann jeder Idiot. Sinnvoll leben ist die Kunst. Meine Kunst führt mich immer ins Nirgendwo, ich stehe immer rechts außen im Nichts und halb in der Mitte des Irgendwo. Und dann treffe ich einen großen Philosophen. Der erzählt mir eine Geschichte. Zum Beispiel, die Grundfrage des Lebens von Bertrand Russell in einer Metapher vom Truthahn: Das tägliche Füttern festigt in dem Truthahn ein Weltbild, das an Weihnachten plötzlich revidiert werden muss!

Weder Engel noch TierGerald Uhlig-Romero: Weder Engel noch Tier – Ariadne, Olga und Francoise“
Cherchez la femme? Das Ewig Weibliche zieht uns hinan!

Frederick: Der Titel deines ersten Gedichtbandes lautet Alphabet der Fische. Fische tauchen im Reich deiner Phantasie immer wieder auf. Was versinnbildlichen sie für dich?

Gerald: Das Lebenselement des Fisches ist das Meer, also das Wasser. Da kommen wir her. Wir Menschen selbst bestehen zu 80% aus Wasser und zu 100% aus Zeit. Deshalb ist das mein Thema, solange ich lebe: Wasser, Fische, schöne Frauen und in späten Jahren dazugekommen: das Geld.

Frederick: Das ist schon amüsant, dass meine „schöne Fremde“ nicht nur mit Nachnamen „Dell’Acqua“ heißt, was ja so viel wie „vom Wasser“ bedeutet, sondern zudem auch noch im Sternzeichen der Fische geboren ist. Welch zufällige Fügung und launische Verkehrung im Weltenspiel der Sternenwelt. Doch zurück zu dir. Du hast in deiner Zeit als Theaterregisseur nicht nur an mehreren renommierten deutschsprachigen Schauspielhäusern gearbeitet, sondern selbst auch zahlreiche Theaterstücke geschrieben. Welche waren dir die wichtigsten?

Gerald: Meine Picasso-Oper im Berliner Kulturforum: Hauptdarsteller waren zwei Jungstiere und dann „Das Lied der Haie“ in der neuen Nationalgalerie, wo ich bereits zwei Jahre vor Damien Hirst mit einem 80 kg schweren Makohai als Kunstwerk gearbeitet habe. Auch die Unterwasser-Oper im Aquarium Berlin bleibt für mich unvergesslich, wo ich vier Stunden am Tag mit einem Riesenzackenbarsch zur Kunst-Meditation unter Wasser verbracht habe.

Frederick: Das Café Einstein Unter den Linden wurde schließlich dein theatralischer Blockbuster und internationaler Bestseller, in anderen Worten, dein interaktiv-kommunikatives Gesamtkunstwerk.

Cafe EinsteinDas Café Einstein Unter den Linden
Raststätte für Reisende und Müßiggänger, Stelldichein für Künstler und Schriftsteller,
Veranstaltungsort für Presseberichte, Modeschauen und den alltäglichen Jahrmarkt der Eitelkeiten

Frederick: Nach dem Vorbild der Wiener Kaffeehäuser um 1900 wurde dein Berliner Kaffeehaus in Berlin Mitte rund um 2000 zum zentralen Begegnungsort der Kultur und Politik.

Gerald: Das kannst du ja auch sehr gut im Stern nachlesen. Auf jeden Fall hat mir mein Kaffeehaus sehr interessante Begegnungen in meinem Leben geschenkt. Da  ich  mich  ungerne  selbst  lobe,  lass  ich  hier den  Journalisten  Marcus  Müller  mit seinem Stern-Bericht aus dem Jahr 2008 zu Wort kommen:

Das Cafe Einstein auf dem Boulevard Unter den Linden ist ein Berliner Promi-Magnet. Hier treffen Polit-Größen auf Hollywoodstars und von hier sendet stern.de seit Kurzem sein neues Web-TV-Angebot: Ein Besuch im halböffentlichen Wohnzimmer der Republik.

Es ist mal wieder die große Cafe-Einstein-Bühne, deren Vorhang sich an diesem frühen Morgen lüftet: Das große Geld sitzt da beim Frühstück, die Politiker fangen an, sich warm zu reden, Journalisten blättern in den Zeitungen der Konkurrenz. Umsorgt werden sie von Kellnern in schwarzer Weste und mit Fliege, die in ihren langen weißen Schürzen über den glänzenden Marmorboden zu gleiten scheinen. Touristen und Normalberliner schauen sich das Schauspiel interessiert an – oder trinken einfach nur unaufgeregt einen Kaffee, der hier in 23 verschiedenen Zubereitungsarten zu haben ist.

Solider Ruf als In-Treff: Über der Szene liegt der klassische Kaffeehaus-Sound. Von der Bar in dunklem Nussholz weht das beständige Klappern der Teller und Tassen durch die in einer Flucht hintereinander liegenden drei Räume. Die Espressomaschine zischt schon jetzt, als ginge es um ihr Leben, dabei  wird sie die meisten der gut 1000 Tassen Melange noch brauen müssen, die hier, verziert mit Blume oder Herz im Schaum, täglich getrunken werden. Das gelegentlich scheppernde Besteck setzt einen metallischen Ausreißer-Ton in das vielmündige Gemurmel. Nach Kaffee riecht es sowieso.

Seit elf Jahren gibt es das Café Einstein am Berliner Prachtboulevard Unter den Linden und es hat sich in dieser Zeit einen soliden Ruf als In-Treff erworben. Bill Clinton war schon da und spielte Skat, Helmut Kohl aß Saftgulasch. Die Hollywood-Größen Dennis Hopper, Jodie Foster, Bruce Willis oder Richard Gere lobten den Kaffee, das Schnitzel oder beides. Joschka Fischer brachte zu seinen aktiven Zeiten einmal einen ganzen Schwung europäischer  Außenminister mit. Gerhard Schröder kam nebst Familie schon, als er noch nicht Altkanzler war – und Angela Merkel bereits, als sie noch nicht die Republik regierte.

Mischung aus Politik und Wirtschaft: Die Liste der schon Dagewesenen ist lang. Und als müsste dieser Ruf bestätigt werden, erklärt an diesem frühen Morgen ein parlamentarischer Staatssekretär an einem der weiß gedeckten Tische des Cafés gerade die Politik seines Ministers. Die ersten Zeitungsschreiber füllen ihre Blöcke mit den Zitaten ihrer Gesprächspartner. Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann ist schon wieder weg, sagt in der hintersten Ecke des dritten Café-Raumes Gerald Uhlig-Romero.

Er ist der Besitzer dieses offenbar ganz besonders anziehenden Ortes und passend zum täglichen Schauspiel auf seinen 450 Quadratmetern Café-Bühne nennt er sich “Kaffeehausintendant”. Die Theatersprache wählt er nicht zufällig, denn der aus Heidelberg stammende Uhlig-Romero ist Absolvent des berühmten Max-Reinhardt-Seminars in Wien. “Ich habe damals schon mehr in den Cafés gesessen, als auf der Probebühne gestanden”, sagt er über seine Zeit an der Schauspiel- und Regieschule. Doch bevor sich der heute 54-Jährige – dessen Vater viel Geld mit der Erfindung der nahtlosen Damenstrumpfhose verdiente – den Traum des eigenen Cafés verwirklichte, stand er als Schauspieler auf  vielen der ganz großen Bühnen Deutschlands, inszenierte mit der Hamburger Edelhure Domenica einen kleinen Theaterskandal und schrieb 60 eigene Stücke. Uhlig-Romero ist außerdem bildender Künstler, Radiomoderator, fotografiert, und hat zusammen mit John Lennons Witwe Yoko Ono das Musical “New York Story” auf die Beine gestellt.

Café als begehbares Kunstwerk: Nach diesem schon recht bewegten Leben sollte das Café Einstein für Uhlig-Romero 1996 alles Vorherige vereinen. “Ich hatte von Anfang an die Idee eines begehbaren Kunstwerkes”, sagt der schmale, dünne Mann mit dem schütteren grauen Haar. Er nennt sein Café – mit dem Künstler Joseph Beuys sprechend – eine “soziale Skulptur”, in der die unterschiedlichsten Gruppen aufeinander treffen können. Ackermann  eben, und die Touristen-Familie mit den drei Kindern am Nebentisch, aber auch die zwei Herren in feinem Zwirn, die sich Geschäftszahlen auf einem Laptop reinziehen, als seien die Zahlenkolonnen ein fesselndes Computerspiel.

So mag Uhlig-Romero sein Café, als kleine Bühne des großen Lebens – mit Galerie-Anschluss übrigens. Seit Eröffnung des Einsteins Unter den Linden befindet sich daneben eine 45 Meter lange, schmale Galerie, die keinen Eintritt kostet. Dort präsentiert Uhlig-Romero Fotoarbeiten, etwa von Dennis Hopper, Wim Wenders, Andre Rival oder Helmut Newton. Die Galerie sollte auch Aufmerksamkeit schaffen, denn der Anfang des Cafés im Osten der Stadt war schwierig. Erst der Regierungsumzug von Bonn nach Berlin belebte den Boulevard hinter dem Brandenburger Tor wieder.

Weltpolitik vor der  Haustür: Auch die Weltpolitik findet hier jetzt praktisch täglich vor der Haustür statt. Seit den Anschlägen vom 11. September ist die Neustädtische Kirchstraße neben dem Einstein-Café mit dicken Betonpfeilern verrammelt, die die amerikanische Botschaft abriegeln. Das ist trotzdem gut für das Café, denn vor den Pfeilern können jetzt die Staatskarossen parken, wenn ein Minister sich einen Espresso im Einstein genehmigt.

Während drinnen Uhlig-Romero über sein Leben, die Kunst, die Politik, das Kaffeehaus als geistigen Ort redet, zeigt er wie viel Energie in seinem gebrechlich wirkenden Körper steckt. Wenn er etwa wild gestikuliert, sich weit über den Tisch beugt, kurz telefoniert oder schnell einen Freund nach New York verabschiedet. Das alles ist nicht selbstverständlich, denn wie es der Zufall wollte, hat sein Café Uhlig-Romero auch noch tatsächlich das Leben   gerettet.

Kaffeehaus als Lebensrettung: Ein sehr seltener, ererbter Gen-Defekt, genannt Morbus Fabry, drohte, seine Niere langsam zu zerstören. Exakt an dem Tag, als das Einstein Unter den Linden zehn Jahre alt wurde, lagen Uhlig-Romero und seine Frau auf dem Operationstisch. Er bekam in einer Lebendspende eine Niere seiner Frau. Kennen gelernt hatte Uhlig-Romero seine Mara in seinem Café: “Ich bin lieb zu meinem Kaffeehaus gewesen und das Kaffeehaus hat es mir zurückgegeben. Es hat mir das Leben gerettet.”

So kann der Kaffeehaus-Künstler glücklicherweise weiter sein Café betreiben, das er im Tagesgeschäft aber weitestgehend seinem Geschäftsführer Dieter Wollstein überlässt. Der kennt hunderte Gäste mit Namen, begrüßt die regelmäßigen Besucher mit Handschlag und ist selbst ein Politprofi. Der immer sehr höfliche, lächelnde und überaus dezente Herr Wollstein war früher Protokollchef der DDR- Volkskammer, und kennt sich also aus auf dem Parkett der Diplomatie. Er achtet darauf, dass die berühmteren Gäste “beim Speisen” nicht von Journalisten, Fotografen oder Autogrammjägern belästigt werden. Das Erfolgsrezept des Einsteins Unter den Linden fasst er so zusammen: “Man muss die Menschen lieben und ihnen das Gefühl geben, zuhause  zu sein.”

Ständige Ablenkung durch interessante Gäste: Klingt alles nach dem perfekten Ort. Selbst das Urteil des Autors Moritz Rinke, der nicht glauben mag, dass sich im Einstein Unter den Linden schon Leute verliebt haben, hat eine Hintertür: “Weil es nämlich schwierig ist, sich hier in die Augen zu gucken, weil es so wimmelt von interessanten Menschen.” Den Gegenbeweis liefert Besitzer Gerald Uhlig-Romero mit seiner Ehefrau, aber der ist ja auch der Intendant des Etablissements.

Reich-RanickisMarcel und Theofila Reich-Ranicki:
Der Literaturpapst der deutschen Nachkriegsliteratur mit seiner Frau im Café Einstein

Grass und RushdieGünter Grass, Salman Rushdie und Ute Grass: East meets West im Café Einstein

Frederick: Was waren einige deiner denkwürdigsten Begegnungen mit Poeten und Literaten im Café Einstein?

Gerald: Die Begegnung mit meiner Frau Mara, denn ohne sie würde ich heute nicht mehr leben.

HopperGerald mit Dennis Hopper: With “Easy Rider” on the road again
Zwei Schauspieler und Lebenskünstler blicken auf ihren Weltenbummel zurück

Frederick: Die Traumfabrik von Hollywood, der Kulturbetrieb Amerikas, seine Schriftsteller und Schauspieler, Regisseure und Fotografen, sie alle spielen im Café Einstein immer wieder eine bedeutende Rolle.

Gerald: Ich habe mich, wie der Affe Rotpeter in Kafkas Erzählung „Bericht für eine Akademie“ nicht für den Zoo, den Käfig entschieden, sondern für das Varieté des Lebens. Und alle, die ich durch mein Einstein getroffen habe, waren Varietékünstler, ob Dennis Hopper, oder der Nobelpreisträger John Nash. Es sind alle Unterhalter, nur mit verschiedenen spannenden Erzählungen. Wir sind Menschen, die durch Ihre merkwürdige Hirnchemie raus aus der Mitte, dem Mittelmaß gefallen sind. Wir mussten versuchen, unseren Wahnsinn in den Griff zu bekommen, wir waren glücklich, wenn wir unsere Marionetten noch selbst führen konnten. Wir waren der Traum und Alptraum des Bürgertums, wir haben verdammt gelitten, aber wer raus aus dem Käfig seiner „Art“ will, bekommt dafür ein unvergessliches Leben für sich selbst. Wenn er dann stirbt, ist er in Sekunden vergessen, egal, was er hier auf Erden getrieben und welche Preise er bekommen hat. Wer erinnert sich noch an Dennis Hopper oder John Nash, der erst kürzlich mit seiner Frau tödlich verunglückt ist.

Frederick: Erster großer Höhepunkt des transatlantischen Kulturtransfer, der für das Café Einstein so bezeichnend werden sollte, war sicherlich deine Inszenierung von Yoko Onos Rockoper New York Story. John Lennons Witwe war bekanntlich von deinen Berliner Theaterarbeiten so begeistert gewesen, dass sie sich von dir die deutsche Uraufführung ihres Musicals gewünscht hatte. Und ich hatte daraufhin den Text ins Deutsche übertragen.

OnoGerald mit Yoko Ono auf dem Dach des Dakota am Central Park in New York

Gerald: An Yoko fand ich gut, dass Sie die Gelassenheit mit der Muttermilch getrunken hatte. Sie war sicher die Rettung für den hyperhysterischen John Lennon.

Frederick: Als wir 1996 im Berliner Löwenpalais die deutsche Premiere von New York Story feierten, waren auch Yoko Ono und Sean Lennon mit von der Partie. Mit Yoko habe ich mich damals länger unterhalten. Mit Sean überhaupt nicht. Sein Vater ist für mich einer der Götter der Rockmusik und nur wenige Straßenzüge von unserer einstigen Wohnung in Manhattan auf der Upper West Side ist er ermordet worden – und so hat es mir denn auch noch gegenüber seinem Sohn vollkommen die Sprache verschlagen. Dir wäre so was bestimmt nicht passiert …

Gerald: Kein Mensch auf der Welt würde mir die Sprache verschlagen, dazu ist mir der Mensch in all seiner Fehlbarkeit und Widersprüchlichkeit viel zu vertraut. Es gibt keine Genies. Es gibt nur den richtigen Augenblick mit der richtigen Idee und den richtigen Leuten, die dabei mitmachen. Alles ist in seinem Entstehen einsichtbar, der Mensch ist nichts Besonderes, eine biochemische Maschine seit Millionen von Jahren recht mangelhaft von der Evolution geformt, ebenso sein Bewusstsein, das milliardenfach hergestellt wird und immer gleich funktioniert. Die einzige Hoffnung ist nicht die Kunst oder die Liebe, sondern die Wissenschaft. Wir werden es in den nächsten Jahren schaffen, unsere weitere Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen und unsere DNA selbst zu schreiben.

Frederick: „Die Dialektik von Logos und Eros im Werk von Thomas Mann“, das war der Titel meiner ersten akademischen Monografie – Felix Krull lässt dich grüßen – und ich meine, ihr Wechselspiel von Logik und Erotik spiegelt auch noch etwas vom dialektischen Charakter deines Kaffeehauses wider. Anders gewendet, so wie sein Namenspatron Albert Einstein einerseits mit seiner Relativitätstheorie einen Teil des Weltgeistes zum Ausdruck bringt, so verkörpert andrerseits Marilyn Monroe mit ihrem Sex-Appeal einen wesentlichen Teil unseres hedonistischen Zeitgeistes. Sie war nicht nur die große Göttin der modernen, sexuellen Revolution, sie war auch für lange Zeit der gute Engel vom Café Einstein, dessen Wände sie auf Jahre mit ihren ikonischen Fotografien schmückte und dessen Gäste sie mit ihrem bezaubernden Lächeln immer wieder von Neuem entzückte.

FuentesGerald mit dem Schriftsteller Carlos Fuentes und seiner Ehefrau Silvia Lanus
im Café Einstein im Jahr 2012 kurz vor dem Tod des großen mexikanischen Nationalautors

Gerald: Die Gäste sind fasziniert von den Monroe Fotografien. Für mich ist die Dame eine Projektionsfigur, so wie sich Eheleute ständig gegenseitig projizieren. Sie ist früh tragisch gestorben, war für ihre weiblichen Formen weltberühmt und für die amerikanischen Soldaten draußen im Krieg eine ideale Onanie-Vorlage, hat damalige große Männerköpfe verrückt gemacht, Dichter, Boxer und Politiker, war eine mittelmäßige Schauspielerin und der Stoff für Mythenbildungen und Verschwörungen.

Frederick: Das Café Einstein als „Hinterzimmer der Macht“, so charakterisierte es der Verlag „Collection Rolf Heyne“ anlässlich der Premiere deines zweiten Kaffeehausbandes Berliner Melange. Geschichten und Rezepte aus dem Café Einstein Unter den Linden. Sind im heutigen Zeitalter des internationalen Terrors solch entspannt-gemütliche Begegnungen mit den  Mächtigen der Nationen überhaupt noch möglich?

Gerald: Ich denke schon, denn ein Rückzug würde ja einer Kapitulation der westlichen Zivilisation gegenüber diesen barbarischen Kräften gleichkommen.

politiciansPolitische Prominenz aus der Alten und Neuen Welt im Café Einstein
Dieter Wollstein mit Helmut Kohl, Bill Clinton zu Besuch der Marilyn-Monroe-
Ausstellung in der Galerie des Café Einstein und Gerhard Schröder im Gespräch mit Gerald


Angela Merkel und Guido Westerwelle
Die künftige Kanzlerin und ihr künftiger Vizekanzler schmieden politische Pläne im Café Einstein

Frederick: Aus dem vielberufenen „Mädchen“ von Altkanzler Helmut Kohl ist inzwischen nicht nur die sprichwörtliche „Mutter der Nation“ geworden, sondern auch noch „Person of the Year“, wie Time Magazine, eine der traditionsreichsten Zeitschriften Amerikas, Ende letzten Jahres titelte. So stieg Angela Merkel zur moralisch vorbildlichen und weltweit mächtigsten Politikerin auf, deren großherzige Flüchtlingspolitik allerdings inzwischen die gesellschaftspolitische Landschaft weit über die deutschen Grenzen hinaus zunehmend zu spalten droht. Schafft Deutschland diese Herausforderung oder schafft es sich dabei mehr und mehr selbst ab? Ist seine nationale Willkommenskultur der Anfang vom Untergang des Abendlandes, wie viele patriotische Mauerschauer und ihre kulturpolitischen Kassandrarufer ihn inzwischen immer ominöser heraufbeschwören?

Gerald: Der Mensch ist auch heute noch ein Wesen, das klare Bezugspunkte in seinem Leben braucht. Und er braucht eine übersichtliche Gruppe an Menschen, die sein Umfeld, sein Widererkennen und sein Handeln ausmachen. 1000 Facebook-Freunde sind letztlich wie keine Freunde, das kann ein Mensch an Kommunikation gar nicht bewältigen. Und so wie jeder Körper die schützende Haut braucht, die ihn zusammenhält, damit er funktionieren kann, so braucht jedes Land seine klaren Grenzen. Und die Politik ist dazu da, diese Grenzen zu schützen, sowie der Arzt versucht, die Haut gesund zu erhalten, damit der Körper überlebt. Die Einladungen nach Deutschland für alle war von Merkel eine Aktion ohne Sinn und Verstand. Einwanderung ist wichtig, aber sie muss in vielen Punkten gut überlegt sein. Letztlich will die ganze südliche Erdkugel nach Europa und die meisten ins gelobte Land Deutschland, wo in deren Vorstellung alles an den Bäumen wächst. Ich persönlich hätte auch Probleme mit zu vielen arabischen Köpfen, es sei denn, viele dieser Menschen fangen mal an, das Mittelalter zu verlassen und Glauben durch Wissen zu ersetzen. Und dabei ist das Wichtigste: Glauben und Politik müssen strikt voneinander getrennt sein. Wir in Europa haben lange und hart für unsere Werte gekämpft, und wer hier leben will, hat dies zu akzeptieren. Meine Frau war Argentinierin. Unsere Tochter hat ein deutsch- argentinisches Herz und sie ist eine wunderbare Tänzerin der Kulturen geworden.

Frederick: East meets West and North meets South … Abdulfattah Jandali stammte aus Syrien und ohne ihn gäbe es sicherlich nicht die weltweite Erfolgsgeschichte der Apple-Computer-Revolution, denn dieser Einwanderer nach Nord-Amerika war kein anderer als Steve Jobs‘ Vater. Triumph und Tragödie im Tanz und Kampf der Kulturen. Ein schreckliches Beispiel fürs Letztere ist sicherlich das Schicksal unseres gemeinsamen Freundes Martin Arker, der ebenfalls im Repertoire der Platte vom „Kinderkönig“ vertreten ist. Im  Spätherbst 2010 hatte mich der lebenslange Globetrotter noch einmal eine ganze Woche lang hier in Amerika besucht. Und ein Jahr später dann die entsetzliche Nachricht, zuerst im französischen Fernsehen, dann auch in allen deutschen Medien.

Gerald: Martin war ein Großfürst der Denkerei und ein leidenschaftlicher Weltenbummler. Bei einer Afrikareise hat er schließlich in Timbuktu die Nerven verloren. Bei einer Entführung von Extremisten, die zufällig ihn und ein paar andere traf, raste die Kugel eines Entführers in seinen begabten Kopf. Solange wir noch auf dieser Erde sind, werden wir Martin, unseren Heidelberger Poeten und Philosophen, nicht vergessen.

Frederick: In der Weimarer Republik war Berlin die unumstrittene Hochburg von Deutschlands Dichtern und Denkern, Künstlern und Wissenschaftlern. Dann folgte deren große Exodus, ihre massenhafte Auswanderung, Vertreibung und Vernichtung. Nach der Jahrtausendwende gaben sich wiederum Jahr für Jahr mehr und mehr Nobelpreisträger aus aller Welt im Café Einstein Unter den Linden ein regelmäßiges Stelldichein. Du bist gewissermaßen der Spiritus Rector dieses umgekehrten Exodus. Wie kam es dazu?

Gerald: Ein Freund von mir, der Fotograph Peter Badge, arbeitet für die Nobelstiftung und da er alle noch lebenden Nobels fotografiert hat, kam er eines Tages zu mir und fragte mich, ob er die Fotoarbeiten in meiner Galerie Einstein ausstellen könnte. So realisierten wir die Ausstellung zum 150. Geburtstag von Albert Einstein mit dem Titel „Einsteins Erben – Nobelpreisträger im Portrait.“ Seit dieser Zeit sind die Nobels, so sie in Berlin sind, auch im Einstein.

Nash
Gerald mit John Nash, dem amerikanischen Nobelpreisträger für Mathematik und Vorbild für Ron Howards
Film A Beautiful Mind im Café Einstein im Jahr 2013. Im Hintergrund Jugendportraits von John Nash

Frederick: Genie und Wahnsinn, das ist ein berühmt-berüchtigtes Wechselspiel in der deutschen Geistesgeschichte. Wie kam deine außergewöhnliche Freundschaft mit John Nash zustande?

Gerald: Popstar, Genie und Wahnsinn: Der Nobelpreisträger für Mathematik John Nash besuchte schon 1996 das Café Einstein Unter den Linden. Beim festlichen Diner auf Schloss Mainau im Rahmen der Stiftung Lindauer Nobelpreisträger am Bodensee saß ich am Tisch des Wirtschaftsnobelpreisträgers  Robert  Mundell,  der  fast  den  ganzen Abend schwieg. Umso gesprächiger war sein Sohn, der mir erzählte, dass er seinen Vater bereits im Schachspiel schlage. In einem kleinen Büchlein arbeitete er an einer Zeichnung, die alle geladenen Nobelpreisträger inklusive seinen Vater als vortragende Mäuse abbildete. Nikolaus Turner, Geschäftsführer der Stiftung Lindauer Nobelpreisträger, kam an unseren Tisch und berichtete mir, dass ihm John Nash erzählt hatte, dass er bereits 1996 in Berlin gewesen sei und das Café Einstein Unter den Linden besucht habe und ob ich nicht Lust hätte, an Nashs Tisch zu kommen, er würde mich gerne kennenlernen.
„Sie sind also der Kaffeehaus-Einstein. Euer Topfenpalatschinken und die Kunstausstellungen in eurer Galerie, das hat mir sehr geschmeckt.“ Ich erwiderte: “1996 waren Sie der erste Nobelpreisträger überhaupt, der das Einstein Unter den Linden besucht hat.“ Ich setzte mich neben Nash, der sehr zerbrechlich wirkte. Plötzlich ergriff er meine Hand und sagte mit ruhiger, leiser Stimme: “Alle wollen mich ständig fotografieren“. „Sie sind eben ein wirklicher Popstar“, antworte ich, Nobelpreis, schizophrene Schübe mit Anstaltsaufenthalten, Hollywood verfilmt ihr Leben und der Film bekommt vier Oscars, das ist eben der Stoff, aus dem der Starkult wächst.“ Nach einer längeren Pause sagte Nash: “Seit einiger Zeit nehme einfach meine Kamera und fotografiere zurück.“ “Das ist ja wunderbar“, sagte ich, “dann machen wir demnächst in unserer Galerie eine John Nash-Ausstellung mit dem Titel John F. Nash fotografiert die Menschen, die gerade John F. Nash fotografieren. Was halten Sie davon? Nach einer kurzen Bedenkzeit antwortete er: „Darüber muss ich mal nachdenken. Spieltheoretisch müsste das möglich sein. Auf jeden Fall gäbe es auf diese Weise einen Grund, mal wieder nach Berlin zu kommen, um einen Topfenpalatschinken im Einstein zu essen“.

UhligDaughterandothers
Von links nach rechts Frederick mit Gerald und seiner Tochter Geraldina,
dem Maler Michael Schackwitz und dem Fotografen Konrad Rufus Müller
rund um die Jahrtausendwende im Café Einstein

Frederick: Schackwitz ist ein begabter Maler kunterbunter Phantasien und Müller ein weltweit gefragter Fotograf, der sich vor allem als Porträtist der Großen dieser Welt von Willi Brandt bis Wladimir Putin und darüber hinaus einen internationalen Ruf erworben hat.

Doch der Größte in dieser Runde ist der allmächtige und allgegenwärtige Tod. Er kennt schon von allen ihre immer näher rückende Sterbestunde. Und so summt er selbstherrlich und lächelnd stumm

unser Lebenslied,
denn er weiß es nur allzu gut,
er ist der einzige zwischen Gott und Teufel,
von dem auch wir wissen, dass es ihn wirklich gibt.

Wenige Jahre nach dieser Aufnahme wurden wir beide tatsächlich fast gleichzeitig mit recht tödlichen Krankheiten diagnostiziert. Die barocke Morbidezza aus dem dekadenten Wien unserer kinderköniglichen Jugendzeit hatte uns schließlich eingeholt. Ich hatte zwar meine jugendliche Raucherei mit selbstgedrehten Zigaretten längst aufgegeben, dennoch wurde ich mit Zungenkrebs diagnostiziert, wobei angeblich der Tod fünfzig Prozent der daran Erkrankten letztendlich mitnimmt. Inzwischen hab ich schon die dritte Operation hinter mir. „Und die Gräber sind die Aschenbecher …“, so begann die letzte Strophe meiner Wiener Ode auf den „Duft der großen, weiten Welt“.

„Unsägliches Brennen in den Fingern und Zehenspitzen“, so beschrieb der Spiegel eines deiner Symptome in einem ausführlichen Bericht über dich in einer Sommernummer aus dem Jahr 2006. Es waren die ersten Erscheinungen der seltenen Krankheit Morbus Fabry, einer Krankheit, bei welcher der Tod alle hundert Prozent der ihm Erlegenen heimsucht. Alles oder nichts! War das nicht schon immer deine Lebensphilosophie gewesen?

Gerald: Nichts hat sich uns Menschen je erklärt, warum wir hierher müssen, was diese Veranstaltung eigentlich soll. Warum es Krankheiten geben muss? Wir sind chemische Biomaschinen, die durch die Naturgesetze leben. Wir bringen Kinder auf die Welt, um ihnen dann sagen zu müssen, dass sie sterben werden. Das Leben besteht aus einer Ansammlung von Zumutungen und diese zu bewältigen, scheint der Sinn dieses Daseins zu sein. Dazu kommt, dass wir als Tiere unserem Bewusstsein einfach nicht gewachsen sind.

Frederick: „Drama um Wirt vom Café Einstein. Sein Testament hatte er schon geschrieben. Er traf sich mit illegalen Organspendern. Dann spendete seine Frau ihm eine ihrer Nieren“, so die Schlagzeile der Berliner Zeitung am 5. Mai, 2006.

Gerald: Ich habe ja vorhin bereits ausführlich darüber erzählt. Gerechtigkeit gibt’s nicht auf Erden. Nicht im Himmel. Nirgendwo.

Frederick: Wie oft habe ich auf meinen jährlichen Vortragsreisen durch alle möglichen Länder der Alten Welt auch immer wieder in Berlin bei dir Zwischenstation gemacht, mehr denn je ein Wandergelehrter und mehr und mehr auch ein richtig zerstreuter Professor – der im Herzen gern ein armer Poet und fahrender Hofnarr geblieben ist. Jetzt war ich schon mehr als ein halbes Jahrzehnt nicht mehr in der Alten Welt. Wie gerne würde ich mit dir mal wieder in deinem Einstein gemütlich Schach spielen, stundenlang Gott und die Welt hinterfragen oder auch nur ganz einfach mal wieder wie früher Eulen nach Athen tragen  …

Gerald: Diese Art von Gesprächen macht mir immer noch Spass, die Welt der Poesie, und das andere, das ist das Gebiet der verdammten Wirklichkeit, welche die meisten Menschen so hinnehmen müssen, wie ihnen das Leben diese serviert.

Frederick: Im Laufe der letzten Jahre hast Du ja auch viel Öffentlichkeitsarbeit zur weiteren Aufklärung seltener Krankheiten und ihres oft tödlichen Ausgangs betrieben. Im Herbst 2012 haben wir beide uns das letzte Mal gesehen. Freilich nicht mehr „live“ sondern nur noch via „skype“. Es war anlässlich der Übertragung der Vorstellung meiner Gedichte auf Postkarten im Café Borjo, dem lokalen Studentencafé der Old Dominion University, hier in Norfolk, Virginia. Der Erlös vom Verkauf dieser Postkarten kommt nun schon seit Jahren der Krebsforschung zugute. Und so trag auch ich mein bescheidenes Scherflein bei zur Krebsbekämpfung und rühre die Werbetrommel gegen den gewalttätigen Tod. Es ist mein poetisches Narrenspiel gegen den allmächtigen Herrn des immerwährenden Nichtseins.

Gerald: Herrliche Parallele. Und ich veranstalte meine Einstein-Salons, wo ich zum Schluss für die Kinder mit seltenen Krankheiten sammle. Man nennt sie auch die Weisenkinder der Medizin.

Frederick: „Der Tor und der Tod“! Letzterer ist uns weiterhin auf den Fersen und ich meine, ab und zu klopfe er immer wieder leise an unsere Tür! Dieser wandernde, ewig ruhelose Poltergeist! Ein Nestroy’scher Lumpazi Vagabundus, der nur allzugern aus einem jeden von uns einen vorzeitigen Moribundus machen möchte!! Doch sind wir dem Sensenmann bislang noch immer von der Schippe gesprungen und so wird es uns auch noch weiterhin gelingen. Und zum Glück gibt es ja im barock-pikaresken Welttheater passend zum „Memento Mori“ auch noch das „Carpe Diem“! Drum sag ich’s noch einmal: „Das Leben soll leben, soll überleben!“ Erinnerst du dich noch? So lautete doch der Titel einer der zahlreichen Strophen, die ich damals in meiner jugendlichen Ahnungslosigkeit einfach so zusammengeschrieben hatte, wobei ich expressis verbis ausgerechnet dir diese Zeilen in den Heidelberger „Straßentexten“ widmen sollte.
Denk ich so zurück, dann meine ich, dass auch Morbus Fabry diesen Zeilen entsprechend noch lange warten kann! Überhaupt ist es für die Mortalität im Leben nie zu spät! Und im Zweifelsfall teilen wir uns einfach meine fünfzig Prozent! Tod hin und Leben her, lass uns den alten Gevatter nie mehr erwähnen! Erzähl uns viel lieber von der Zukunft des Einsteins! Und nicht zuletzt auch von deinen eigenen Zukunftsplänen!

Gerald: Die Sache mit dem Verkauf vom Einstein ist eine lange Geschichte. Nur ganz kurz, ein Immobiliengroßwildjäger, dem fast die ganzen Linden und halb Berlin gehören, wollte noch mehr Miete und ich lag in dieser Zeit wegen einer lebensgefährlichen Herzoperation im Krankenhaus und hatte keine Kraft mehr mich zu wehren. Die Sache  ist aber noch nicht zu Ende und meine Anwältin wird Anfang nächsten Jahres die Klagen starten.

Frederick: Deine lebensgefährliche Herzoperation erinnert mich an Goethes herrliches Gedicht „Prometheus“ aus seiner Sturm-und-Drang-Periode, in dem es heißt: „Hast du’s nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?“ Und mir scheint, unsere Herzen sind noch immer alles andere als ausgeglüht! Ich jedenfalls fabriziere mehr denn je romantische, erotisch-ironische Liebesgedichte – und das auf Deutsch und Englisch, denn doppelt hält bekanntlich besser – und auch dein Lebensweg ist ja genau besehen bis heute eine einzige Passionsgeschichte und dies im wahrhaft doppelten Sinne des Wortes, nämlich als eine Erfahrung der lebenslangen Leiden und Leidenschaften. Ich meine, auf den Bildern aus unserer gemeinsamen Zeit in Heidelberg, Frankreich und Amerika kommen solche Gegensätze zwischen Pathos und Pathologie, zwischen Ekstase und Agonie immer wieder sehr lebendig zum Ausdruck. Erweisen sich diese Stegreifbilder nicht als regelrechte tableaux vivants, die derartige Ambivalenzen mehr oder weniger theatralisch inszenieren, in anderen Worten, das ganze menschliche Kontrastprogramm von Freud und Leid, Unglück und Glückseligkeit? Jeder Augenblick ein „high“, ein Schauspiel von Highlight zu Highlight, denn du ahntest es wohl schon in deiner Jugendzeit, wo viel Licht, da kommt auch bald viel Dunkelheit.

Und ich denke, diese Licht- und Schattenspiele, diese Lust- und Trauerspiele so gegensätzlicher Erfahrungen und alltäglicher Gefühle ist im weiteren Sinne auch bezeichnend für unsere ganze Generation. Jedenfalls habe ich im Laufe der Jahre bei so manchen unserer Jugendfreunde und Weggefährten immer wieder beobachtet, wie sich der fröhliche Leichtsinn der Jugend in die schleichende Schwermut des Alters verwandelt hat. Himmel hoch jauchzend und umgekehrt zu Tode betrübt, diese extremen Stimmungsschwankungen hängen vielleicht auch damit zusammen, dass wir in einer Zeit des Friedens und Wohlstands aufwuchsen. Einerseits bescherte uns diese Zeit Freiheiten und Möglichkeiten zur persönlichen Selbstentfaltung, wie sie bis dahin keine Jugendgeneration erfahren hatte. Noch nie hatte es so viele jugendliche Narrenfreiheiten gegeben, von der freien Liebe bis zur unbegrenzten Reisefreiheit. Von weiteren Trips mit allen möglichen Rauschmitteln hier mal ganz zu schweigen. Man konnte hoch- und tiefstapeln nach Herzenslust und alles schien denkbar und machbar, man musste es sich nur richtig vorstellen können, ganz frei nach John Lennons wunderbarem Weltenlied „Imagine“!

Andrerseits konnte dieser jugendliche Übermut nicht ewig dauern, trotz des Versprechens von Bob Dylan, unseres jüngsten Nobelpreisträgers für Literatur, der uns schon vor einem halben Jahrhundert wortwörtlich versichert hatte „Forever Young“. Kein Wunder, dass „Anti-Aging“ nun zum letzten Modeschrei unserer „Ewigen Jugend“ geworden ist. Und wenn’s dann mit der Anti-Aging-Rebellion, dieser letzten Revolution gegen uns selbst auch nicht mehr so recht klappen will, dann beginnt bei manchen der große Endzeitjammer. „Don‘t trust anybody over thirty“, dieser einstige Schlachtruf gegen die ältere Generation schlägt jetzt auf einige der Ewiggestrigen unter uns ganz besonders hart zurück. Doch was wirklich zählt, das ist die lebendige Vergangenheit in der Gegenwart von Raum und Zeit.

Zum Glück gibt es dafür Kaffeehäuser, in denen die Zeit irgendwie stehen geblieben zu sein scheint. Nirgendwo kann man den Wandel der Generationen, ihr Kommen und Gehen, ihre Illusionen und Desillusionen besser betrachten. Und will man dann auch noch den “Duft der großen, weiten Welt“ einatmen, dann tut man das am besten im Café Einstein Unter den Linden, dort, wo immer wieder die große Welt hereinspaziert und sich in den zahlreichen Spiegel vielfach reflektierend immer wieder von neuem verliert. Und vielleicht sitzen ja diejenigen, die hier einmal ein und ausgegangen sind und nun nicht mehr unter uns sind, dennoch im Geiste mit am Tisch.

Ach Gerald, dein Café Einstein, es ist die Berliner Utopie unserer Wiener Nostalgie. Es ist die kakanische Wehmut Altösterreichs, die romantische Sehnsucht Altheidelbergs, es ist die Rückbesinnung auf unsere schöne Jugendzeit samt ihrer übermütigen Burschen- und Mädchenherrlichkeit – kurzum, es ist das steingewordene Heimweh unserer weltlichen Vergänglichkeit. Und wenn ich mich so zurückbesinne, dann erinnere ich mich auch mehr und mehr an unser jugendliches Glaubensbekenntnis, unseren Heidelberger Straßentext, und zwar Zeile für Zeile, den ganzen Vierzeiler:

„Das Leben soll leben, soll überleben,
jetzt, nicht irgendwann, irgendwo,
Gott hat mir darauf sein Wort gegeben,
nimm mich beim Wort, ich will es so.“

So komm, spiel mir noch einmal das Lied von unserem alten Gevatter, spiel mir wieder die Melodie von seinem dunklen Mysterientheater. Und spiel sie auf Gott und Teufel komm raus und ich strecke dabei dem Großen Schnitter immer wieder mal meine Zunge heraus.

Gerald: Ja, um nun doch noch einmal auf unseren alten Gevatter zurückzukommen. Ich habe nichts gegen den Tod, schon allein deshalb nicht, weil ich mein Leben schätze und liebe und aktiv in ihm tanze. Ich bin ein charmanter Nihilist, der gelernt hat, viele Rollen zu spielen, denn nur der spielende Mensch ist laut Schiller der wahre Mensch. Durch meine Tochter Geraldina darf ich immer wieder das Glück erfahren und mit meiner Krankheit Morbus Fabry gehe ich häufig spazieren und rede mit ihr. Und das ist so einer ihrer inneren Monologe:

„So wie ich in deinem Körper gewütet habe, hättest du schon vor einigen Jahren gehen sollen. Auch wenn deine Mutter letztlich immer unglücklich mit deinem Vater war, durch ihn hast du ein mordsstarkes Gen-Paket mit bekommen. Zum anderen war bei dir immer was los. Deine Lebensneugierde und deine Begeisterungsfähigkeit haben selbst mich angesteckt. Mir gefiel dein Mut, mit dem du deine Projekte durchgezogen und behauptet hast. Du warst auch immer bereit, neue Risiken einzugehen. Mit deinen Feldforschungen und Kunstexpeditionen, hast du deine Zuschauer verstört und gleichzeitig begeistert. Durch die vielen interessanten und unterschiedlichen Berufe, die du ausgeübt hast, war es mir eben nie langweilig mit dir. Du warst immer ein Motor, obwohl ich dir immer wieder Sand ins Getriebe gestreut habe. Du warst der durchgeknallte, unkonventionelle Junge, der alles aufgemischt hat. Das hat mir gefallen, das will ich bis heute nicht missen. Ich erinnere mich, wie du damals in Hamburg oder in Berlin durch die Kunsttempel gezogen bist und aus den Schmerzen, die ich in dir verursacht habe, Kunst, Poesie und Bilder gemacht hast. Das war große Klasse. Immer wenn du mit einem neuen Kunstwerk begonnen hast, dann wusstest du nie, wohin es dich führt. So ist es eben auch mit dem Leben. Du hast bis heute nicht aufgegeben und auch deinen Mut nicht verloren. Und du hast nie geklagt und dich keiner Meinungsdiktatur unterworfen. Ich muss schon sagen, du hast mich bestens und auch klug unterhalten, auch wenn ich dich häufig dabei quälen musste. Und deshalb, aus ganz egoistischen Gründen, habe ich bis heute keine Lust, dich dem Tod zu übergeben. Das wäre auch mein Ende von der guten Unterhaltung. Und vergiss nicht, mein Freund, du hast für dein Leben das Varieté gewählt! Also weiterspielen!“

***

 Text- und Bildnachweis

Der Stern-Bericht von Marcus Müller stammt vom 10. Februar 2008 unter dem Titel „Die Kaffeehausbühne der Republik“ in STERN.de und wird hier mit einem herzlichen Dankeschön an den Verfasser wieder abgedruckt.

Die Fotos dieses Interviews stammen, wenn nicht anders angegeben, aus dem Privatbesitz von Gerald Uhlig-Romero und sind zum Großteil in den folgenden zwei Bildbänden abgebildet: Gerald Uhlig,  Das Cafe Einstein Unter den Linden. Berlin: Nicolai, 2001 und Gerald Uhlig-Romero, Berliner Melange. Geschichten und Rezepte aus dem Café Einstein Unter den Linden. München: Collection Rolf Heyne, 2006.

Die Aufnahme vom Plattencover „Der Kinderkönig“, die Bilderreihen von der Reise in die Provence und aus der Wohnung in Providence, sowie das einführende Tafelbild aus der Heidelberger Studentenbude und das abschließende Tafelbild aus dem Café Einstein stammen aus dem Privatbesitz von Frederick A. Lubich.

Die Panorama-Aufnahme vom Interieur des Café Einsteins Unter den Linden mit seinen zahlreichen Gästen stammt von der Fotografin Susan Wansink.

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Aug 18 2016

Rezension | Anna Rosmus Hitlers Nibelungen. Niederbayern im Aufbruch zu Krieg und Untergang

Published by under

von Kurt Maier
Anna Rosmus Hitlers Nibelungen. Niederbayern im Aufbruch zu Krieg und Untergang. Grafenau : Samples Verlag, 2015. 328 pages. €34.90.

Nuremberg was the focal point of the Nazi Party. A massive rally was held in the city, with thousands of Brownshirts and Wehrmacht soldiers marching before the Fuehrer in memorable scenes recorded by filmmaker Leni Riefenstahl. While the event took place only once a year, it was in the smaller city of Passau where the spirit of the Nazi party reigned supreme.
How Passau became the holy grail of Nazi myth and legend, Anna Rosmus tells us in her book Hitlers Nibelungen. The author was born in Passau and has written other books about its Nazi past. She is known in Passau and throughout Germany as the woman who besmirched her birthplace. So resistant was the city government to her uncovering its Nazi connection, that it took a court order for Rosmus to gain access to its municipal archive.
As a child, Adolf Hitler lived in Passau. This association was the spark that ignited every prominent and lesser National Socialist to visit the town. Heinrich Himmler and his family lived several years there. Its location on the German-Austrian border, combined with the confluence of the Danube with two other rivers, was seen as Germany’s gateway to the East. Not only was Austria to be united with Germany but Eastern Europe, meaning Poland and the rich soils of Russia, were to be open to German settlement.
The Nibelungenlied, Germany’s national epic, composed in the Middle Ages, held particular importance for Passau, since the town plays a role in the medieval work. The theme of Germanic courage and loyalty emphasized in the epic carried over to 20th century Passau. The great hall where Nazis gave speeches is named after the Nibelungen.
What makes Rosmus’ work particularly valuable is her identifying Passau families active in the Nazi movement. Connecting all the dots resulted in a spider web. Her work is perhaps the first that cites the names of the maternal and paternal families, a useful aid for genealogical research.
The one name that appears on almost on every page is that of Max Moosbauer, Passau’s mayor. He lost no opportunity to stage nationalistic festivals, invite prominent Nazis, and blame the Jews for Germany’s loss of the war in 1918. Moosbauer made sure that the few Jewish residents of Passau were persecuted, and their houses and businesses confiscated.
The persecution of war criminals at the Nuremberg trials was only the tip of the iceberg. Most Nazis were never brought to trial. Those sentenced served only a few years at most. Almost 70 years later, it makes painful reading when the author cites Baldur von Schirach, head of the Hitler Youth and ruler of Vienna, Austria, as escaping a death sentence and being released from prison with Albert Speer. Schirach was responsible for the deportation of thousands of Austrian Jews to the camps.
Hitler rewarded his military officers with generous sums and estates. Rosmus reports that Fieldmarshal Wilhelm Ritter von Leeb was granted 250,000 marks plus various properties. He was permitted to keep the money after the war, while Jewish survivors had to prove they suffered losses.
With Hitlers Nibelungen, Anna Rosmus has conducted invaluable research showing how Nazi ideals need not be forced on a town and its people. Passau had already embraced them.

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Apr 27 2015

Günter Grass und Salman Rushdie — Ost-Westlicher Diwan

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Hochkarätige Literaten treffen sich im Cafe Einstein: Salman Rushdie und Günter Grass

Salman Rushdie und Günter Grass treffen sich im “Cafe Einstein Unter den Linden”(2002)

 

Frederick A. Lubich

Ost-Westlicher Diwan

Der große Blechtrommler der europäischen Nachkriegsliteratur, der den
Untergang des Abendlandes noch einmal nacherzählte, zusammen mit
dem satanischen Verseschmied, der den morgenländlichen Gotteszorn
der islamischen Fundamentalisten heraufbeschwor.

Während sich der deutsche Schriftsteller mit seiner Fabulierkunst die
Lorbeeren des Nobelpreises erschreiben sollte, rief der indische
Romancier mit seinem Roman die Fatwa, das tödliche Gottesurteil der
Dschihadisten auf sich herab.

Zur kreativen Pause, zur Stern- und Kaffeestunde der Kulturen treffen
sich die zwei großen Geschichtenerzähler im “Café Einstein Unter den
Linden”. Hier vermischen sich Ost und West, christliche und islamische
Wahrheiten zu relativen Theorien und imaginären Realitäten.

Aus: Gerald Uhlig-Romero (Hrsg.) „Berliner Melange, Geschichten und Rezepte aus dem Cafe Einstein Unter den Linden“, Collection Rolf Heyne, 2006, S. 199.

 

 

 

 

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