Search Results for "land unter"

Dec 29 2022

„Von der Erfahrung zur Erinnerung – Wenderomane im Wandel.“ (Nachdruck)

Published by under

von Janine Ludwig (reprint)

 

Bernd Schirmer hat im Laufe eines Vierteljahrhunderts mehrere Wenderomane verfasst: In den 1980er-Jahren schrieb er Cahlenberg (1994), 1992 in kurzer Zeit Schlehweins Giraffe, in den 2000er-Jahren Der letzte Sommer der Indianer (2005) und dann zehn Jahre lang an dem vorerst letzten: Silberblick (2017). Im Vergleich dieser Werke lässt sich herausarbeiten, wie sich mit dem Vergehen von Zeit der erzählerische Blick bzw. der Fokus auf die Ereignisse ändert, und zwar inhaltlich, bezogen auf die umfasste Zeitspanne der erzählten Zeit, wie auch formal-ästhetisch, also im Einsatz von Erzähltechniken und Erzählerposition. Während der erste Roman, Cahlenberg, direkt aus der Zeit heraus die Ahnung anbrechender Veränderungen in der DDR atmet, erzählt der zweite von den Umbruchserfahrungen im Zuge der deutschen Wiedervereinigung, mit eingeschobenen Rückblicken auf die Zeit davor. Der dritte beschreibt einen multiperspektivischen Liebes- und Bruderkampf zwischen Ost und West im gerade wiedervereinigten Land und endet mit einem Epilog, der diese Zwistigkeiten in das Reich alter Legenden verweist. Der vierte spielt wieder größtenteils in der DDR und beschwört die Erinnerung an eine tote Jugendliebe herauf. Man kann quasi beobachten, wie historische Erfahrung zu Erinnerung gerinnt.

 

1. Die Wende erleben und erinnern
2. Cahlenberg – gelebte Erfahrung und Vorausahnung
3. Schlehweins Giraffe – Umbruchserfahrungen der (Nach-)Wendezeit
4. Der letzte Sommer der Indianer – verschachtelte Erinnerung an Umbruchserfahrungen
5. Silberblick – gelebte Erinnerung und abschließender Rückblick
6. Überblick, Vergleich und Schlussbemerkungen

 

1. Die Wende erleben und erinnern

Carsten Gansel (Gansel 2010a: 13; Kursivschreibungen im Original) fasst den Forschungsstand zu Fragen kulturwissenschaftlicher Gedächtnisforschung dergestalt zusammen, „dass Literatur erstens ein Medium ist, über das in Form von narrativen Inszenierungen individuelle und generationenspezifische Erinnerungen für das kollektive Gedächtnis bereitgestellt werden“, und dass deshalb diese Inszenierungen etwas über die „Prozesse der Gedächtnisbildung“ aussagen können. Zweitens, so Gansel weiter, werden in literarischen Texten diese kollektiven Formen von Erinnerungen „gewissermaßen ‚abgebildet‘ und damit wiederum beobachtbar“. Deshalb wird hier ein Vergleich von vier Werken desselben Autors mit Blick darauf angestrebt, wie sich Form und Fokus von Erinnerung und Gedächtnis im Laufe der Jahre verschieben und jeweils distinkt verschiedene Erzählstrategien oder „narrative Inszenierungen“ hervorbringen. Damit kann letztlich sogar näherungsweise etwas über die Entstehung und den Wandel kollektiver ostdeutscher Narrative und Identitätskonstruktionen ausgesagt werden, weil Schirmer meist die jeweiligen zeitgenössischen Diskurse im Erzählen mitreflektiert.

Nach dem Ende der DDR und der deutschen Teilung bezog sich die ‚Erinnerungsarbeit‘ in der deutschen Literatur auf drei wesentliche Felder oder Phasen: erstens erfolgte eine Neuaufnahme teilweise lange ausgeblendeter oder abgeschlossener Erinnerungen, etwa an den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust, Flucht und Vertreibung (Gansel 2010b: 19); zweitens dominierten die unzähligen Rückblicke auf die untergegangene DDR, die unter die hochproblematischen Stichworte ‚Aufarbeitung der Vergangenheit‘ oder ‚Vergangenheitsbewältigung‘ subsumiert wurden. Zeitgleich entstand jedoch, hauptsächlich in den 1990er-Jahren, ein drittes Feld, nämlich die Dokumentation ostdeutscher Erfahrungen der Wendezeit und der folgenden Jahre, die mit gewaltigen Umbrüchen und gesellschaftlichen Transformationen einhergingen, also ‚Wendeliteratur‘[1] im engeren Sinne. Der eben etwas unscharf verwendete Begriff ‚Dokumentation‘ deutet schon an, dass diese Texte zunächst quasi ‚aus der Zeit heraus‘ entstanden und eben nicht schon beim Verfassen etwas bereits Abgeschlossenes, zu Erinnerndes behandelten – dies konnte logischerweise erst nach mehreren Jahren konzipiert werden. Solchen Texten sollte mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, als es oft der Fall ist – denn gleichwohl das Feuilleton der frühen 90er-Jahre unablässig nach dem großen Wenderoman verlangte, wurden viele tatsächlich vorgelegte Bücher kaum rezipiert oder kanonisiert (mit Ausnahme von Thomas Brussigs Helden wie wir, Ingo Schulzes Neue Leben und Uwe Tellkamps Der Turm, mit Abstrichen noch Jens Sparschuhs Zimmerspringbrunnen oder Kerstin Hensels Tanz am Kanal).

Warum sind diese Bücher als Gedächtnisräume wichtig? Nun, zum 30-jährigen Jubiläum von Wende und Einheit wurde viel über die Besonderheiten der ostdeutschen Mentalität und Identität sinniert, meist unter dem Blickwinkel des ‚Anderen‘, also vom westlichen Muster abweichenden, zumal angesichts eines atypischen Wahlverhaltens. Oft wurde dies abschätzig mit einer Art ‚Deformation durch die Diktaturerfahrung‘ oder einer angeblich nicht gelernten Demokratiefähigkeit begründet. Nur selten trat die Einsicht auf, dass für viele ehemalige DDR-Bürger, besonders der jüngsten Generation, die Erlebnisse der Wende- und Nachwendezeit mindestens genauso prägend waren wie das zuvor gelebte Leben in der DDR. Viele maßgebliche Erfahrungen entstanden in dieser Zeit, auch bedauerliche, wie das Minderwertigkeitsgefühl mancher, sich als ‚Bürger zweiter Klasse‘ zu fühlen, oder negative Narrative, etwa einer sogenannten ‚Übernahme‘ oder ‚Kolonisierung‘ durch den Westen. Weit weniger reflektiert wurden und werden gewonnene Kompetenzen aus den Transformationserfahrungen und -leistungen, die die Ostdeutschen in den 90er-Jahren erbracht haben und die sie instand setzten, einen souveränen Blick auf die Jetztzeit zu entwickeln: allein aus der Erfahrung und dem Wissen heraus, dass die Welt keineswegs immer so war oder sein muss, wie sie gerade ist, also dass man ein Geschichtsverständnis von Vergangenheit und Zukunft entwickeln kann, welches über das hinausgeht, was Heiner Müller „die totale Besetzung mit Gegenwart“ genannt hat (Müller 2008: 375). Deshalb ist es aufschlussreich, sich mit Wenderomanen zu beschäftigen. Dies insbesondere im Vergleich der frühen, aus der gelebten Erfahrung heraus entstandenen, und der heutigen, sozusagen im Modus der erlebten Erinnerung geschriebenen Literatur.

 

2. Cahlenberg – gelebte Erfahrung und Vorausahnung

Die Handlung des Romans wird aus der autodiegetischen Perspektive des Journalisten Richard Ostricharz erzählt und spielt im Jahr 1988/89 in der DDR. Ostricharz hat seine Stelle bei der Zeitung verloren, weil er sich über die erzwungene euphemistische, realitätsblinde, ja verlogene Berichterstattung echauffiert hatte (Schirmer 1994a[2]: 36, 56- 63). Ein Professor namens Sommerfeld verschafft ihm eine Doktorandenstelle, damit er eine Dissertation über den „Einfluß des Gedankenguts von Jean-Jacques Rousseau auf die Bewegung der Grünen unter besonderer Berücksichtigung seines Naturbegriffs“ schreibe. Doch anstatt dies zu tun, nutzt er seine Zeit im Lesesaal der Bibliothek, um das hier vorliegende Textkonvolut zu verfassen. Er ist Figuren-Ich (homodiegetisch) und Autor-Ich (autodiegetisch), also Erzähler, Autor und Hauptfigur in einem.

Sein Text hat zwei Ebenen. Auf der einen beschreibt er realistisch die krisenhaften Zustände in seinem Land und die Ereignisse, Feiern und Gespräche in seinem Freundeskreis, zu dem unter anderem gehören: seine ihm entfremdete Frau Gisela, der Außenhandelsvertreter Thierfelder, der zynische, dissidentische Theatermacher Clawohn und der regimetreue Birr nebst Ehefrau. Dabei zeichnet er das Bild einer Gesellschaft im Zustand der Stagnation und des Zerfalls, jedoch auch eines sich andeutenden Rumorens und möglichen Wandels. Seine eigene Kritik und rousseauistische Erklärung für das Scheitern des Sozialismus beschreibt er im Doktorandenseminar: „Der Sozialismus habe den Kapitalismus nur nachgeahmt, wenngleich höchst dilettantisch. Und ohne ihn annähernd zu erreichen. Er habe nichts Eigenes entgegengesetzt. Er habe genausoviel Natur zerstört wie die alte Ordnung, wenn nicht mehr“ (CB: 171). Seine Überlegungen gipfeln in der These,

die Rückkehr zur Natur sei zwar vielleicht nicht möglich, aber sie sei absolut notwendig. […] Falls die Menschheit überleben wolle, müsse der Fortschritt radikal verlangsamt werden, vor allem in den hochentwickelten Ländern, und eine strikte Einschränkung des Konsums und der Bedürfnisse sei die unabdingbare Grundvoraussetzung dafür. (CB: 170f.)

Einen solchen „Naturzustand“ nach Rousseau und dessen Bedürfnistheorie malt er sich in der zweiten, fiktiven Ebene seiner Erzählung anhand des mysteriösen Ortes (bzw. Nicht-Ortes, ou-topos) Cahlenberg aus, was Gerüchten zufolge ein Aussteigerdorf im Brandenburgischen sein soll. Er stellt sich vor, wie Maria, die verschwundene Ehefrau Thierfelders, in die sowohl er als auch Clawohn verliebt sind, in dieses Dorf gezogen ist, und was sie dort für ein entbehrungsreiches, schlichtes, jedoch sinnstiftendes Leben führen mag. Die viel naheliegendere Möglichkeit, dass sie, wie so Viele, in die Bundesrepublik ausgereist ist, erwägt er zwar, möchte sie jedoch nicht akzeptieren, zumal ihn ein Forschungsbesuch in Westberlin eher abschreckt.

Die vom Ich-Erzähler in elegischem Tonfall imaginierte Utopie trägt Züge sowohl einer Hippiekommune als auch urchristlicher oder urkommunistischer Gemeinschaften und wird von ihm verteidigt, obwohl er um ihre Schwächen wie Unmöglichkeiten weiß: keine Medizin, keine Kinder, Konformismus und soziale Kontrolle (CB: 99): „Cahlenberg, sagte er, ist eine Idylle, rückwärtsgewandt, fortschrittsfeindlich und praktisch undurchführbar. Trotzdem, sagte ich, trotz allem.“ „Cahlenberg ist das andere. Cahlenberg ist die Sehnsucht. […] Cahlenberg ist ein Versuch. Cahlenberg ist der letzte Versuch“ (CB: 55, 6).

Durch den Fokus auf die Umweltproblematik und den zivilisations-, moderne- und kapitalismuskritischen Grundtenor des Romans bestätigt Schirmer die in der Literaturwissenschaft etablierte „Konvergenzthese“, der zufolge sich die literarischen Felder beider deutscher Staaten ab den späten 1970er-Jahren wieder angenähert und ähnliche Themen behandelt haben. Deshalb ist es eigentlich verwunderlich, dass die Figur Ostricharz zu dem Schluss gelangt, die westlichen Grünen hätten mit Rousseau und seinen Theorien, vom Antikapitalismus und der Eigentumsfrage (Diskurs über die Ungleichheit) bis hin zum ‚Zurück zur Natur‘ herzlich wenig zu tun, obwohl es doch realiter im ökologischen Milieu der Bundesrepublik durchaus solche Aussteigerkommunen gab. Zugleich kommentiert Schirmer eine zeitgleiche Tendenz der DDR-Literatur, den angestrebten ‚wahren‘ Sozialismus vom realexistierenden zu trennen und die zu bewahrende Utopie in eskapistischen, auf dem Land zurückgezogenen Freundeskreisen zu schildern, wofür Christa Wolf mit Sommerstück und der Kommune am Skamander in Kassandra berühmte Beispiele gab. Dieses irreale Festhalten Intellektueller an der Utopie führte zu einer veritablen Enttäuschung, als die Wende, an deren Spitze sie anfangs durchaus noch standen und die sie als letzte Möglichkeit begriffen, den Sozialismus doch noch einmal neu und ‚richtig‘ aufzubauen, von Seiten der Bevölkerung rasch in eine andere Richtung, hin zur Übernahme des kapitalistischen Systems ging.

Der im Roman ausgestellte Schreibvorgang [3] und auch die subjektive Erzählposition tragen einerseits Züge realistischen Erzählens, denn Ostricharz fungiert als Chronist der sich abzeichnenden Veränderungen – als beschleiche ihn schon eine Vorahnung, dass für die Nachwelt festgehalten werden müsse, was hier an Merkwürdigkeiten passiert. Andererseits tritt er als rein fiktionaler Erfinder der Cahlenberg-Passagen auf und problematisiert seine eigene Erzählerfunktion (erfüllt also Merkmale unzuverlässigen Erinnerns und somit des Erinnerungsromans laut Gansel 2010a: 28), indem er zugibt:

Da ich nur auf meine schwache Erinnerung angewiesen bin, will ich nicht den Versuch unternehmen, den Brief in Gänze zu rekonstruieren. Ich kann nur Eindrücke wiedergeben, Bruchstücke, und ich kann mich nicht dafür verbürgen, daß ich nicht eigene Erfahrungen, eigene Gedanken hineinprojiziere, seit wir so häufig und so hitzig über Cahlenberg gesprochen haben. (CB: 20)

Die Entstehungsgeschichte und das Schicksal dieses Romans sind paradigmatisch für die Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses mittels Inklusion und Exklusion von Material: Schirmer schrieb an dem Text seit Anfang der 1980er-Jahre und präsentierte Auszüge am 1.7.89 im Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, wo er den größten Publikumserfolg erzielte und von der Jury das Stipendium der Verlage erhielt. Hätte er den Roman zu dem Zeitpunkt beziehungsweise noch vor dem Wendeherbst veröffentlicht, hätte er sich große Chancen auf einen Bestseller und persönlichen Ruhm ausrechnen können. Doch da er es erst Ende des Jahres fertigstellte, wurde seine prophetische Vorwegnahme der Wende von den realen Ereignissen überholt. Die zehn westdeutschen Verlage, mit denen Schirmer in Verhandlungen gewesen war, hatten plötzlich kein Interesse mehr, und da das Verlagswesen der DDR zusammenbrach, konnte er den Text zunächst gar nicht veröffentlichen. Er erschien erst 1994 in einem kleinen Leipziger Verlag und wurde mit etwa 500 verkauften Exemplaren kaum wahrgenommen. Insofern wirft diese Publikationsgeschichte ein bedenkenswertes Licht auf die gesellschaftlich-politischen Kanonisierungsprozesse eines kulturellen Gedächtnisses, vor allem hinsichtlich der sich gegenseitig beeinflussenden literarischen Felder beider deutscher Staaten bis 1989, nämlich der Bevorzugung dissidentischer Texte in der Bundesrepublik wie auch der besonderen Rezeption verbotener westlicher Literatur in der DDR. Zudem stellt sich die Frage, wie viele Texte womöglich aufgrund arbiträrer, kontingenter Entstehungsumstände nie eine Verbreitung in der Öffentlichkeit erfuhren und von der gezielten Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses ausgeschlossen wurden.

 

3. Schlehweins Giraffe – Umbruchserfahrungen der (Nach-)Wendezeit

Dieser Text, der alle Merkmale eines Erinnerungsromans erfüllt, spielt in Ostberlin und ist aufgeteilt in eine Rahmenhandlung beziehungsweise Basiserzählung, die von der zweiten Jahreshälfte 1990 bis Ende 1991 reicht, und darin eingeschobene chronologische Analepsen über die DDR-Zeit seit den 70er-Jahren. Der namenlose, autodiegetische Ich-Erzähler, ein arbeitsloser Germanist, schildert seine völlig veränderten Lebensumstände und die seines ebenfalls in Arbeitslosigkeit gerutschten Freundeskreises, der aus prototypischen Figuren der untergegangenen DDR besteht: Da wären der regimetreue Bröckle, Experte für Revolutionen, dessen Gewissheiten bröckeln und dessen jüngere Frau Lydia (mit dem Ich-Erzähler) fremdgeht; der Meteorologe Hasselblatt, der Döner verkauft; der verbitterte Archivar Kleingrube, der sich auf die ‚Aufarbeitung der Vergangenheit‘ fixiert und überall Verantwortliche sowie Mitläufer des Systems entlarven will; der verschwundene ehemalige Dissident Schlehwein sowie Kristina, die Ex-Frau des Erzählers, die ihn vor Einsetzen der Basiserzählung zum dritten Mal verlassen hat – ein Verlust, der schwerer wiegt als der des Landes. Sie alle bilden ein amüsantes, ironisiertes Panoptikum von Umgehensweisen des Sich-Durch-schlagens oder Sich-Anpassens an die neue Zeit, die darin gipfelt, dass ausgerechnet Bröckle in der Lotterie gewinnt (oder vom beiseite geschafften Parteivermögen der SED profitiert) und damit eine Kneipe namens „Zur Alten DDR“ eröffnet – eine Vorwegnahme des spätere Ostalgie-Phänomens.

Im Mittelpunkt steht die fantastische, groteske Figur einer Giraffe, die Schlehwein vor der Schlachtung in einem abgewickelten Zoo gerettet und in der hohen Parterrewohnung seines Freundes im Prenzlauer Berg abgestellt hat. Ihr stumpfer, verständnisloser Blick auf ihre neue Umgebung spiegelt überspitzt den ratlosen Blick des Erzählers auf die neue Zeit. Sie kann auch symbolisch für die Ostdeutschen insgesamt stehen, die nach einem quasi geschützten Leben in der Umzäunung nun in die Freiheit entlassen worden und einer möglichen Überforderung ausgesetzt sind.[4] Sie symbolisiert zugleich die Absurditäten eines völlig auf den Kopf gestellten Lebens, in dem alles möglich scheint, selbst eine Giraffe als Haustier. („Es wundert sich keiner mehr über irgendwas“ Schirmer 1994b[5]: 29.) Da die Giraffe nach Meinung des Erzählers angeblich sprechen und zuhören kann, sucht er den Dialog mit ihr, doch da sie eigentlich kaum redet, gerät dieser zum Selbstgespräch des Erzählers, das sich in der Niederschrift der vorliegenden Geschichte niederschlägt. „Ich muß einfach erzählen“ (SchG: 55).

Dies macht den fürchterlich unambitionierten Germanisten und Kommasetzer, der zuletzt bei der SERO (VEB Kombinat Sekundär-Rohstofferfassung) gearbeitet hatte, zu einem verhinderten Schriftsteller und damit mehr als nur äußerlich zum Alter Ego einer weiteren Figur, die als sein Doppelgänger vorgestellt wird: der Schriftsteller Ralph B. Schneiderheinze. Diese Figur ist zugleich ein Alter Ego des Autors Schirmer, der an ihr einen ironischen, selbstreferentiellen Verweis auf Cahlenberg eingebaut hat (beides gegenüber der Verfasserin persönlich bestätigt):

Eine Wende musste kommen, und er wollte mit seinem Buch die Wende vorbereiten. Er schrieb und schrieb, atemlos, hektisch. Aber die Wende kam schneller, als er schreiben konnte, um die Wende vorzubereiten. Am liebsten wäre es ihm gewesen, es wäre, so sehr er die Wende auch herbeisehnte, langsamer gegangen mit ihr, damit er sie noch gebührend hätte vorbereiten können mit seinem Buch. Aber ehe er auch nur andeutete, daß es knisterte im Gebälk, zerfiel schon alles. […] Es ging alles schneller, als es einer wie Ralf B. Schneiderheinze schreiben kann. Wer zu spät kommt mit seinem Buch, den bestraft die Zeitung. (SchG: 45)

Die Schriftsteller-Figur transportiert zudem eine gesellschaftsreflexive Referenz, indem er im Kulturhaus aus seinem neuesten Werk liest. Es handelt sich um ein Märchen von einem schüchternen Mädchen aus kleinen Verhältnissen, das von einem „etwas angefetteten“ (SchG: 115), reichen Prinzen mit Schlössern und Glasperlen gelockt und gefreit wird. Doch die lieblose Ehe entpuppt sich als eine Unterwerfung und Entwürdigung, denn die Braut verliert ihre Ehre, ihren Stolz und jeden positiven Bezug zu ihrer Vergangenheit; sie muss sich in allem dem dominanten Ehemann anpassen. Das macht sie trotzig und verbittert; schließlich tötet sie ihn dreifach (SchG: 115f.). Die Episode lässt sich unschwer als Parabel auf die Wiedervereinigung und die wachsende Unzufriedenheit der Ostdeutschen lesen, denn das Narrativ von einer Hochzeit zwischen der armen Braut DDR und dem potenten Bräutigam BRD geisterte zu dieser Zeit tatsächlich im öffentlichen Diskurs herum. Schirmer kontextualisiert es jedoch nicht-affirmativ: Bei der Lesung ist niemand anwesend außer unserem Erzähler, der Schneiderheinze bemitleidet. Zugleich wird hier das Narrativ der ‚westlichen Übernahme‘ zitiert, welches auch die Giraffe bekräftigt, die immerzu von Kolonialismus redet – doch auch dies wiederum ironisch gebrochen, denn sie kann das Wort nicht richtig aussprechen und sagt „Konolialismus“ (SchG: 5). Auf diese Weise leistet Schirmer mit seinem Text nicht nur einen Beitrag zur Erinnerungskultur, sondern schreibt sich auf einer Metaebene auch kritisch in den Diskurs um Konstruktion und Erarbeitung eines kulturellen Gedächtnisses und gesellschaftlicher Narrative ein.

Von besonderer Bedeutung für das Thema des kulturellen Gedächtnisprozesses ist Schirmers Behandlung des Mauerfalls. Es ist hochinteressant, dass ein erheblicher Teil der Wendeliteratur die Beschreibung dieses historischen Ereignisses (oder der Wende überhaupt) ausspart und nur indirekt oder lakonisch am Rande darauf verweist. Dies lässt sich leicht mit der schieren Größe dieses Jahrhundertereignisses erklären, das sich einer Beschreibung geradezu entzieht, zumal jedes subjektive Erleben dieser Nacht nur einen Mosaikstein in der Erfahrung von Millionen darstellt und sich eine Festlegung daher verbietet. Es gibt nur wenige Ereignisse von solchem Stellenwert, vielleicht eines für jede Generation, erkennbar an der jeweils typischen Frage: Wo warst du, als JFK erschossen wurde? Was hast du gedacht, als die Amerikaner auf dem Mond gelandet sind? Wo warst du, als die Mauer fiel? Was hast du gemacht, als die Türme des World Trade Centers einstürzten?

Schirmer geht mit dieser Herausforderung elegant um, indem er seinen Erzähler in doppelter Distanzierung berichten lässt: Zunächst knapp und ironisch: „Kristina, die Mauer ist weg. Sie gähnte. Und wo ist sie hin?“ (SchG: 73). Dann schildert er die Nacht als eine Art Traumgespinst, denn die gerade geweckte Kristina läuft in Morgenmantel und Pantoffeln mit ihm zur Mauer, und als sie erwacht, sagt sie, sie habe einen schönen Traum gehabt. Zudem hat sie einen Pantoffel verloren, was der Sache mit dem Verweis auf Aschenputtel zusätzlich eine märchenhafte Note gibt. Vor allem aber sichert sich Schirmer mit dem erzählerischen Kniff ab, dass die ursprüngliche, erste Niederschrift seines Erzählers von der Giraffe aufgefressen wurde:

Es war das Beste, was ich je geschrieben habe, alles sehr plastisch und in einem schönen, flüssigen Stil. Aber was man einmal geschrieben hat, kann man nicht noch einmal so schreiben. Es sind die Feinheiten, die Nuancen, die nicht zu wiederholen sind. Ich kann mich nur noch schwer daran erinnern, wie ich mich erinnert habe. (SchG: 73)

So verweist Schirmer präzise auf ein grundsätzliches Problem des privaten wie kulturellen Erinnerns, dass nämlich mit jeder Wiederholung die ursprüngliche Erfahrung verändert, verfälscht, verdichtet, um Widersprüche bereinigt und quasi wie ein Kieselstein im Wasser abgeschliffen wird zu etwas, was im schlimmsten Fall zum flachen Klischee geraten kann. Sicher ist diese Gefahr besonders groß bei Wende und Mauerfall, durch die mediale, visuelle Verarbeitung und Wiederaufbereitung in sich wiederholenden Zyklen. Wer kennt sie nicht, die immer gleichen Bilder, sie sich tief in das kulturelle Gedächtnis eingebrannt und mitunter sogar die persönliche Erinnerung überlagert haben: Schabowski und sein Zettel, sofort, unverzüglich; auf der Mauer jubelnde Menschen; hupende Autos auf dem Kudamm; das ständig wiederholte ‚Wahnsinn!‘, die aufgebrachte Frau, die die betreten ins Leere stierenden Grenzbeamten anschreit, ‚ich war noch nie da drüben!‘ usw.

Schirmers Erzähltechnik verweist auf alle fünf von Astrid Erll unterschiedenen Modi der „Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses“ (Erll 2005: 168): Den „erfahrungshaftigen“ bedient er in der Schilderung des Nachwendealltags, der durch eingestreute Hinweise auf historische Ereignisse wie Währungsreform, neue Regierung etc. authentifiziert wird, den „monumentalen“ umschifft er angesichts des Mauerfalls, einen „historisierenden“ karikiert er anhand von Bröckles Revolutionstheorien. Den „antagonistischen“ Modus bespielt er durch sein gesamtes Figurenpanoptikum, im Dissens des Erzählers mit dem gutmütigen, aber in Ost-Klischees denkenden bayerischen Onkel Alfred, der ihn nachträglich zum Systemopfer machen will (SchG: 78-81), und schließlich bespielhaft im Streit des Erzählers mit Kleingrube, dessen manischer Detektivarbeit er entgegenhält, es hätten doch letztlich alle mehr oder weniger, jeder auf seine Weise, mitgemacht (SchG: 40, 66, 110). Einen „reflexiven Modus“[6], ja selbstreflexiven, erfüllt er besonders in den eben beschriebenen Schneiderheinze-Episoden. Dass dieses kleine und vergnügliche, aber komplexe Buch in keinem Kanon vorkommt, ist unerklärlich.

 

4. Der letzte Sommer der Indianer – verschachtelte Erinnerung an Umbruchserfahrungen

Diesem Roman merkt man sofort an, dass er auf einem tatsächlich existierenden Drehbuch basiert, denn Schirmer verwendet hier eine neue Erzähltechnik, nämlich ein multiperspektivisches Erzählmosaik als Dokumentarfilm-Montage: Eine Gruppe Ostdeutscher erzählt ohne jede Einführung aus ihrer jeweiligen Ich-Perspektive von den ein paar Monate zurückliegenden Ereignissen der Wendezeit. Die Regisseurin ist eine Skandinavierin namens Gylfe Gyftel, die mit einem wohlgesonnenen ethnografischen Blick diese in ihren Augen faszinierenden Menschen studiert. Es gibt keine Basiserzählung in der Gegenwart, sondern nur unvermittelt einsetzende ‚spätere Narration‘ im Präteritum mit einigen proleptischen Kommentaren – und da die Geschichte rückblickend erzählt/erinnert wird, liegen zwischen den Erzählpositionen und dem Erlebten Zeit, Erfahrung und teilweise eine bereits herausgebildete Haltung. Zudem entsteht dadurch, dass man die Geschichten für die Kamera ‚vorspricht‘, eine narrative Brechung, indem z. B. einige ‚Ossis‘ sich selbst und ihr DDR-Leben in Romantisierungen stilisieren oder eine gesellschaftlich erwünschte Unterdrückungsrhetorik bedienen (Schirmer 2005[7]: 89). Durch die Bannung auf Zelluloid (wobei noch unklar ist, ob es ein Dokumentarfilm wird oder ein fiktionaler Spielfilm; SI: 209 – auch Fragen der Deutungshoheit klingen an) ist eine Historisierung des Gezeigten dieser Geschichte unweigerlich eingeschrieben. Schirmer verweist damit auf die zunehmende Tendenz, Geschichte nicht mehr über Literatur, sondern über das Medium Film zu vermitteln.

All dies erschließt sich jedoch nicht sofort (wenn man den Prolog nicht genau studiert), weil die Interviewten sich in Indianermontur mit entsprechenden Namen, etwa Schwellende Knospe, Alter Rabe, Pfeifender Atem, Einsamer Wolf usw., vorstellen. Erst sukzessive erklärt sich, dass es sich um eine Gruppe von sächsischen Freunden handelt, die in der DDR einen Indianerverein gegründet und jeden Sommer in Tipis, mit Pferden und allen Utensilien auf der Grünen Aue an der Elbe verbracht und Poww-Wowws abgehalten haben. Solche Indianergruppen[8] hat es tatsächlich gegeben; Der Spiegel nannte sie eine „ökoromantische Gegenbewegung zum staatlich verordneten Dasein“[9].

Zugleich wird auf einer metaphorischen Ebene das Ost-West-Thema augenzwinkernd als Verteidigungskampf der Indianer gegen die Cowboys inszeniert, jedoch wieder, ohne dem mittlerweile verbreiteten ‚Kolonialismusnarrativ‘ zu erliegen. So beginnt der Roman mit einer ironischen Inversion dieses Narrativs, nämlich damit, dass die Indianer am Tag nach dem Mauerfall beritten und in Tracht mit großem Tohuwabohu in eine beschauliche Kleinstadt im Fränkischen ‚einfallen‘, wodurch auch die Perspektive der westdeutschen Städte in Grenznähe, die über Monate hin jedes Wochenende von Busladungen und Trabant-Karawanen von Ostdeutschen ‚heimgesucht‘ wurden, Erwähnung findet. Letztlich werden kulturelle Unterschiede und Verständnisschwierigkeiten anhand der Metapher Rothaut vs. Weißer Mann verhandelt, und zwar als genau die (romantisierten) Klischees, die sie sind: ,Ossis‘ als angeblich aus einer quasi präzivilisatorischen Zeit stammend, unberührt von den Segnungen der Technik und Industrie, mit altehrwürdigen Werten und Zusammenhalt im Stamme, ungewohnter Sprache und Gebräuchen, die ,Wessi-Cowboys‘ als breitbeinig auftretende, joviale, aber gutmütige Kraftmenschen. Durch die Analogie der Westwerdung des Ostens zum Modernisierungskampf auf dem amerikanischen Kontinent wird die DDR-Zeit in eine längst vergangene (und verklärte) Urzeit gerückt. Im Mittelpunkt stehen zunächst die Ereignisse der zweiten Zeitebene (also bereits nach der DDR-Normalität, die kaum vorkommt) vom Herbst ‘89 bis zum Frühjahr ‘90.

Auf der Handlungsebene dreht sich die Geschichte um ein Liebesdreieck aus dem Ehepaar Maria und Christian Osterkamp (Wahtawah und Häuptling Grüner Pfeil) sowie Ludwig Wesphal (Einsamer Wolf), der einst selbst zur Gruppe gehört hatte, jedoch vor 17 Jahren über Nacht in die Bundesrepublik verschwunden war und nun als reicher Bierbrauer aus München zurückkehrt. Der Kampf der beiden Männer um Maria und vor allem um die Frage, wer damals den Osterkamp-Sohn Heiner gezeugt hat, gipfelt im Sommer 1990, als wieder die Indianerfestspiele abgehalten werden, in einer High-Noon-Situation und dem Raub der Squaw (SI: 226ff.). Verschärft wird der Konflikt noch dadurch, dass Wesphal, dessen Eltern einst das Land um die Grüne Aue gehört hatte und die enteignet worden waren, dieses nun zurückverlangt (Thema ‚Rückgabe vs. Entschädigung‘). Das ruft die ganze Indianergruppe auf den Plan und führt zu einer filmreifen Verfolgungsszene, in der die ‚Apachen‘ auf Pferden mit wildem Geheul Wesphals weißen Mercedes verfolgen, live gefilmt von Gyftels Team.

Die Erzählebene zu dieser dritten erzählten Zeit ist hier bereits eine vierte Zeitebene (nach DDR- und Wendezeit sowie Sommer 90), denn der zweite Teil des Textes, der Bericht über die Dreharbeiten, wird in der dritten Person erzählt aus der halb heterodiegetischen, jedoch nicht auktorialen Beobachterperspektive der Filmemacherin, die erst die ihr vermittelten Erzählungen wiedergibt und anschließend aus einer homodiegetischen Perspektive die dramatischen Ereignisse während des Filmdrehs schildert, bei denen sie in teilnehmender Beobachtung anwesend war. Leider geht das Filmmaterial dazu auf mysteriöse Weise verloren – und damit auch die Live-Bilder, die eine authentische Wiedergabe des Sommerkampfes um das Land geliefert hätten – wir müssen mit dem nachträglichen Bericht der Filmemacherin vorliebnehmen, von dem wir nicht wissen, in welcher Zeit und wem eigentlich sie erzählt werden. Ein Film ist nie entstanden.[10] Dieser komplexen narrativen Auffächerung fügt ein Epilog noch eine fünfte Ebene hinzu:

Es waren einige Jahre vergangen, die Indianer erzählten immer noch. Wenn sie sich zufällig auf der Straße trafen oder im Supermarkt, raunten sie sich die alten Geschichten zu. Oder wenn sie in den Kneipen saßen und das Wesphal-Bier tranken, das seit einiger Zeit auch in diesen Breiten gebraut wurde, schwelgten sie in ihren Erinnerungen. […] Sie konnten das alles nicht vergessen. Manchmal genügte ein einziges Wort, und sie brachen in Gelächter aus. Sie lachten Tränen. (SI: 252)

Die hier angedeutete versöhnliche Auflösung und ironische Brechung wird noch auf die Spitze getrieben durch das entstandene Gewerbegebiet auf dem einst umkämpften Land (in der Realität nannte man es in diesen Jahren ‚auf der grünen Wiese‘ gebaut). Hier hat neben „Teppich-Paradies“ und „Schuh-Paradies“ ein folkloristisches „Indianer-Paradies“ eröffnet, in welchem die ehemaligen DDR-Indianer für zahlendes Publikum gelegentlich ihre Kunststücke zum Besten geben und sogar die „Schlacht an der Grünen Aue“ nachspielen.[11] Bernd Schirmer hat also mit diesem Werk und dem Abstand von fast 15 Jahren eine weitere Stufe kollektiver Gedächtnisbildung und ihrer Kommentierung erreicht, in einem Modus, der in Erlls Auflistung gar nicht recht erfasst ist: sicher ein „reflexiver“ Modus, aber zudem ein ironisierender, Mythen- und Legendenbildung kommentierender und zugleich weiterspinnender; im Prinzip ein Meta-Roman.

 

5. Silberblick – gelebte Erinnerung und abschließender Rückblick

In diesem Roman wird bei dem homodiegetischen Ich-Erzähler Josef Birnbaum durch ein ungewöhnliches Ereignis – er glaubt, seine längst verstorbene Jugendliebe Anna gesehen zu haben – ein Erinnerungsprozess angeregt. Lange verdrängte, traumatische Ereignisse werden aus dem Speichergedächtnis ins Funktionsgedächtnis zurückgeholt. Die Basiserzählung im vereinten Deutschland, in der er alte Freunde aufsucht und Andenken aus Zigarrenkisten und Schuhkartons ausgräbt, ist klein gehalten im Vergleich zu den dadurch ausgelösten langen, chronologischen Erinnerungen von der Jugendzeit in den 60er-Jahren, als die Protagonisten in Leipzig Germanistik bzw. Romanistik oder Jura studiert hatten, bis 1990.

Anna ist französischer Abstammung, hat einen leichten Silberblick und gibt den drei gleichermaßen in sie verliebten Freunden Schlotheim, Clausberger und Birnbaum Französischunterricht. Alle träumen von Paris, was halb ein Ausbruchswunsch und halb eine Liebesvision ist. Doch nur Clausberger ist wirklich entschlossen, die DDR zu verlassen; er ergreift im Urlaub in Bulgarien die Chance zur Flucht und lässt seine Freunde zurück. Seitdem geht es auf dem Lebensweg des Protagonisten, vom Lehrer in einem Kaff im Oderbruch über eine Stelle beim ideologisch kontrollierten Radio in Berlin, eigentlich immer darum, wie weit er bereit ist, sich anzupassen an das bis ins Detail politisch überformte Lebensmodell und wieviel Freiräume er sich erhalten kann. Sein Freund Schlotheim stellt sich zunehmend gegen den Staat, wird als Lehrer entlassen und zur Strafe zur sogenannten ‚Bewährung in der Produktion‘ geschickt. Der hochrangige Funktionär Klawitter wird der neue dritte Freund und beider Vorgesetzter beim Radio. So rückt das Thema von Schillers Bürgschaft, die Freundschaft, inwiefern sie unter Druck bestehen, ob sie Vorrang vor tiefgreifenden ideologischen Differenzen haben kann, ins Zentrum des Romans. Doch sind die politischen Auseinandersetzungen nie aufgesetzt, sondern organisch eingeflochten in die Beschreibung dessen, was man ein ganz normales Leben nennen könnte.

In Gesprächen mit dem besten Freund seines im Krieg gefallenen Vaters wiederum gräbt sich Birnbaum sukzessive in noch tiefere Schichten von Vergangenheit hinein. Er erfährt, wie sein Vater im Dritten Reich widerwillig, aber widerstandslos mitgelaufen war, jedoch am Ende sich verweigert hatte und wegen eines Desertionsversuchs an der Front erschossen worden war. Der Vergleich mit seinem eigenen Opportunismus drängt sich Birnbaum auf. Auch die komplexe Familiengeschichte Annas wird von ihm aufgeklärt, als sie bereits im Sterben liegt. Ihr Sterbensprozess im Wendeherbst hält ihn da- von ab, die Ereignisse mehr als beiläufig zu verfolgen; ihr Tod vergällt ihm jede Freude an der Öffnung seines Landes. So werden viele Wendeereignisse erwähnt, der Mauerfall selbst jedoch ausgespart. Birnbaum beginnt zu schreiben (Schirmer 2017[12]: 301), vordergründig wieder eine Doktorarbeit, vielleicht aber auch bereits seine Lebensgeschichte. Er schildert die Umbrüche und Abwicklungen beim Radiosender, in deren Folge Schlotheim zum Hörspiel-Archivar degradiert wird und er zum Bibliothekar, der missliebige Bücher aussortieren muss. Der Ton wird ungewohnt bitter:

Ich komme nicht zurecht damit, dass auf einmal alles ganz anders gesehen wird. Und dass die Meinungen über Nacht ganz andere geworden sind. Kein Stein steht mehr auf dem anderen, und keine Gewissheit ist geblieben. Und neuerdings vergreift man sich sogar an der Geschichte und deutet sie neu. Mich wundert, dass dich das wundert, versetzte ich, das ist nun mal der tiefere und eigentliche Sinn der Geschichte: dass die Geschichte ständig und immer wieder umgeschrieben wird. (SB: 415)

Weiterhin beschwert sich der Erzähler: Außerdem „ging uns gegen den Strich, dass uns immerzu eingeredet wurde, dass wir nicht richtig gelebt hätten. Wir fanden die philosophische Sentenz ‚Es gibt kein richtiges Leben im falschen‘ eine grobe Verallgemeinerung“ (SB: 441f.).

Dieser Roman unterscheidet sich grundlegend von den vorherigen. Er ist nicht nur viel länger und umfasst einen längeren Zeitraum erzählter bzw. erinnerter Zeit, vom Zweiten Weltkrieg bis 1990, sondern spielt auch erstmals wieder fast ausschließlich in der DDR. Die denkbar knappe Rahmenhandlung ist buchstäblich eine Erzählklammer: Der kurze Einstieg enthält die den Erinnerungsprozess anstoßende Begegnung mit der toten Anna gleich nach einer Frankreichfahrt von 1990, und im Nachtrag wird diese Fahrt beschrieben und das Auftauchen Annas wiederholt. Mehrere Mini-Einschübe über aufgefundene Memorabilien liefern stets nur den Anlass für weiteres Eintauchen in die Vergangenheit. Die sonst für Schirmer typische überschäumende Ironie und sein bübischer Humor sind stark zurückgenommen und dunkler eingefärbt. Auch verzichtet er auf die hier erläuterten komplexen, diskursreflexiven oder ironisch kommentierenden Erzähltechniken. Stattdessen legt er eine auf den Kern des Menschlichen konzentrierte, melancholische, introspektive Analyse eines gelebten Lebens vor, die alle Merkmale eines Erinnerungsromans (und teilweise des Schelmen- oder Entwicklungsromans) sowie den reflexiven Abstand eines altersweisen Rückblicks aufweist.

 

6. Überblick, Vergleich und Schlussbemerkungen

Die größte Gemeinsamkeit der vier Romane besteht darin, dass sie im Kern zugleich Liebesgeschichten sind und ein Topos der ‚Frau als Utopie‘ zu existieren scheint. Immer korrespondiert das Gelingen oder Scheitern der Liebesgeschichte, also ein glückliches Privatleben, mit dem Gelingen gesellschaftlichen Lebens: In Cahlenberg wird die Ausreisewelle von 1988-89 vom Erzähler romantisch-fantastisch verklärt zu einer Rückkehr in die Natur, in deren Mittelpunkt nicht zufällig die verehrte Frau mit dem biblischen Namen Maria steht. Mit dem Scheitern des Staates koinzidieren die gescheiterten Ehen Thierfelders und Ostricharz‘, und die Utopie, die letzterer sich ausmalt, enthält als Neuanfang auch eine fantasierte Beziehung mit Maria.

In Schlehweins Giraffe gibt es drei Beziehungsphasen zwischen Kristina und dem Erzähler: die erste, mit siebenjähriger Ehe von etwa Mitte der 70er-Jahre bis Anfang der 80er – eine Zeit, in die die DDR wirtschaftlich aufgestiegen war und auf einem guten Weg schien, die zweite Ehe von drei Jahren in den 80ern – als Stagnation und Probleme sichtbarer wurden, und eine „wilde Ehe“ im Wendeherbst, wo sie sich wiedertrafen und ihre glücklichste, freieste Zeit erlebten, sich auf Parkbänken liebten und Träume hatten – so wurde diese Zeit auch vom gesellschaftlichen Klima her von Vielen empfunden. Der Rückschlag 1990 erfolgt dann, indem der Erzähler arbeitslos und verlassen wird, doch am Ende (Winter 1991) kehrt Kristina zu ihm zurück, und sie blicken vorsichtig optimistisch in eine völlig offene Zukunft, in die sie die Giraffe (Vergangenheit) jedoch mitnehmen müssen („die werden wir nie wieder los“; SchG: 123).

Der letzte Sommer der Indianer verhandelt den Ost-West-Konflikt in Form eines Hahnenkampfes, bei dem das Ehepaar am Ende zusammenbleibt, der Sohn von einem dritten Mann stammt (einem echten Indianer, der 1973 auf den Weltfestspielen in Ostberlin zu Besuch war), also keinem der beiden Rivalen ‚gehört‘. Auch erhalten weder die Indianer noch der Westcowboy das Land, und der gesellschaftliche Konflikt wird letztlich in einem komödienhaften Happy End versöhnlich aufgelöst.

Die unerfüllte Liebe des Protagonisten in Silberblick, der nie genug um Anna kämpft, sodass er sie nacheinander an beide Freunde verliert, gleicht seinem gleichermaßen unerfüllten und unentschlossenen Lebensweg im System – die nie erreichte (politischkulturelle) Utopie des fernen Frankreich entspricht der unerreichten Beziehung mit der begehrten Frau. Annas Wunsch, einmal das Land ihres Vaters zu sehen, erfüllt sich nicht; sie erkrankt 1989 an Leukämie und stirbt zusammen mit der DDR am 9. November. Das einzige fantastische Element dieses ansonsten realistischen Romans ist die unlogische Theorie, dass Anna plötzlich wiederaufgetaucht sei (es kann sich um eine ihr ähnlich sehende Verwandte aus Rothenburg ob der Tauber handeln). Ihr titelgebender Silberblick wird zur Metapher für eine Sicht aufs Leben:

Manchmal denke ich, wir alle haben einen leichten Silberblick. Wir blicken nie nur geradeaus, sondern immer auch etwas zur Seite, zumindest mit einem Auge, mit dem linken oder rechten, wir blicken, keck oder verträumt oder unersättlich, nach etwas anderem, nach einer anderen Möglichkeit, nach einem anderen Land. (SB: 444)

All dies unterstreicht, dass Schirmer (in bester Tradition der DDR-Literatur) immer wieder die Parallelen und Gegenläufigkeiten von privatem und gesellschaftlichen Leben ausmisst. Es wurde in diesem Artikel aufgezeigt, wie er hierfür im Laufe der Zeit die Handlungsrahmen seiner Romane zunehmend erweitert und tiefer in die Vergangenheit ausgreift sowie die gelebte Erfahrung zunehmend der (nachgeholten, ausgegrabenen) Erinnerung weicht. Jeder Text weist eine spezifische komplexe narrative Struktur auf, und in jedem wird der Schreib- bzw. Erzählvorgang thematisiert (im Falle von Der letzte Sommer der Indianer der filmische Darstellungsmodus). Auf die Frage nach dem „Zusammenhang […] zwischen Erinnern und Schreiben“, antwortete Schirmer: „Für mich persönlich ergibt sich dieser Zusammenhang dadurch, dass ich mir über manche Dinge beim Schreiben erst klar werde. Darüber hinaus kann ein literarischer Text auch eine Vergewisserung für diejenigen sein, die die geschilderte Zeit miterlebt haben, indem sie diese Zeit noch mal reflektiert oder widergespiegelt finden. In diesem Sinn ist der Text ein Medium kollektiver Erinnerung“ (Gansel 2015: 275).

Dabei verfolgt er jedoch nicht die Strategie mancher Texte, „ganz spezifische Gedächtniskonstellationen mit entsprechenden Wertungen für das ‚kollektive Bewusstsein‘ zur Verfügung zu stellen und auf diese Weise zur Stabilisierung von konkreten Vergangenheitsdeutungen und Identitätskonzepten beizutragen“ (Maldonado-Alemán & Gansel 2018: 1). Vielmehr wirken sie „dagegen subversiv und stellen sowohl hegemoniale Erinnerungen als auch überkommene Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen in Frage“ (ebd.). Sie bedienen weder das „Diktaturgedächtnis“ mit seinen Schwarz-Weiß-Linien noch einseitig (höchstens in Teilen) das am Versuch einer besseren Gesellschaft festhaltende „Fortschrittsgedächtnis“, vielleicht am ehesten das „Arrangementgedächtnis“ (die Rede vom richtigen Leben im falschen in Frage stellend) (Sabrow 2009: 18f.). Schirmer positioniert sich da, wo Literatur am besten steht: hinter, zwischen, über allen Linien.

 

Bibliographie

Erll, Astrid; Gymnich, Marion; Nünning, Ansgar (Hrsg.) (2003) Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier.

Erll, Astrid; Nünning, Ansgar (Hrsg.) (2005) Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin & New York: Walter de Gruyter.

Erll, Astrid (2005) Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: J. B. Metzler.

Gansel, Carsten; Zimniak, Pawel (Hrsg.) (2010) Das „Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen: V & R unipress.

Gansel, Carsten (2010a) Vorbemerkung. In: Gansel; Zimniak (2010) Prinzip Erinnerung, 11-15.

Gansel, Carsten (2010b) Formen der Erinnerung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. In: Gansel; Zimniak (2010) Prinzip Erinnerung, 19-35.

Gansel, Carsten (2015) „‚Ich war zu spät dran.‘ Gespräch mit Bernd Schirmer.“ In: Carsten Gansel (Hrsg.) Literatur im Dialog. Gespräche mit Autorinnen und Autoren 1989-2014. Berlin: Verbrecher Verlag, 267-278.

Grub, Frank Thomas (2003) ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Ein Handbuch. Berlin & New York: Walter de Gruyter.

Maldonado-Alemán, Manuel; Gansel, Carsten (Hrsg.) (2018) Literarische Inszenierungen von Geschichte. Formen der Erinnerung in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 und 1989. Stuttgart & Wiesbaden: J. B. Metzler.

Maldonado-Alemán, Manuel; Gansel, Carsten (2018) Geschichte erinnern. Zur Inszenierung von Vergangenheit in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 und 1989 – Vorbemerkungen. In: Maldonado-Alemán; Gansel (2018) Literarische Inszenierungen, 1-8.

Müller, Heiner (2008): Heiner Müller, warum zünden Sie keine Kaufhäuser an? Interview mit Patrik Landolt und Willi Händler. In: Hörnigk, Frank (Hrsg.) Heiner Müller. Werke 11. Gespräche 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 371-385.

Sabrow, Martin (2009): Die DDR erinnern. In: Sabrow, Martin (Hrsg.) Erinnerungsorte der DDR. München: Beck, 11-27.

Schirmer, Bernd (1994a) Cahlenberg. Roman. Leipzig: Connewitzer Verlagsbuchhandlung.

Schirmer, Bernd (1994b) Schlehweins Giraffe. Roman. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Erstausgabe (1992): Frankfurt/Main: Eichborn Verlag. Letzte Ausgabe (2000): Berlin: Edition Schwarzdruck.

Schirmer, Bernd (2005) Der letzte Sommer der Indianer. Roman. Berlin: Eulenspiegel V erlag.

Schirmer, Bernd (2017) Silberblick. Roman. Leipzig: Connewitzer Verlagsbuchhandlung.

Wensierski, Peter (2008): Der Wilde Westen der DDR. Der Spiegel 2.7.2008. https://www.spiegel.de/geschichte/rothaeute-im-sozialismus-a-947165.html, eingesehen am 7.11.2020.

 

[1] Frank Thomas Grub schlägt in seinem zweibändigen Überblickswerk ‚Wendeund Einheitim Spiegel der deutschsprachigen Literatur fünf Aspekte von Wendeliteratur vor: 1. Der thematisch-stoffliche Bezug zur ‚Wende‘ [wobei er bemerkt, dass „die Herbstereignisse des Jahres 1989 und die Vereinigung beider deutscher Staaten“ oft „lediglich die Voraussetzung beispielsweise für eine Romanhandlung“ darstellen (Grub 2003: 72); JL]; 2. ‚Wendeliteratur‘ im Sinne von Literatur, die erst nach dem Wegfall von Publikationsbeschränkungen (Zensur, Selbstzensur usw.) erscheinen durfte; 3. im Sinne von Texten, die das Leben in Deutschland vor und nach der ‚Wende‘ aus der Perspektive der Nachwendezeit reflektieren; 4. im Sinne von dokumentarischen Texten, deren Publikation durch das Ende der DDR erst möglich wurde, sowie Forschungsberichte über die DDR und Teilbereiche des Lebens in der DDR; 5. im Sinne von vor 1989 geschriebener Literatur, die die ‚Wende‘, etwa durch die explizite oder implizite Thematisierung von Missständen in der DDR, ‚vorbereitete‘ (Grub 2003: 72- 84). In diesem Aufsatz werden unter „Wendeliteratur im engeren Sinne“ die Varianten 1. und 3. verstanden (wobei Cahlenberg zur Variante 5. passt), aber interessanterweise bietet Grub für die Variante 3 die kürzeste Definition an, nämlich im Wesentlichen die sich häufenden Autobiografien – was darauf hinweist, dass die Zahl von Texten, die tatsächlich die Wendezeit konkret erzählend, etwa in Romanform, beschreiben, geringer ist, als man denken mag. Hier werden mit dem Begriff „Wenderoman (im engeren Sinne)“ genau solche Texte bezeichnet, in Abgrenzung von Protokoll- und Tagebuchliteratur oder Autobiografien.

[2] Nachfolgend mit der Sigle CB abgekürzt.

[3] Dies ist ein Merkmal, das viele Wenderomane im engeren Sinne auszeichnet, etwa Jens Wonnebergers Wiesinger oder Hensels Tanz am Kanal.

[4] So ist beispielsweise der Erzähler nach seiner Entlassung ins verregnete Kopenhagen gefahren, hat sich dort jedoch nur in einer Kneipe betrunken und ist ergebnislos und enttäuscht wieder zurückgekehrt.

[5] Nachfolgend mit der Sigle SchG abgekürzt.

[6] „Reflexive Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses ermöglichen der Leserschaft die Beobachtung von Erinnerungskultur und damit auch ein kritisches Hinterfragen der Selektionsmechanismen, der Produktion, Kontinuierung, Manipulation und politischen Funktionalisierung kollektiver Gedächtnisse.“ (Erll 2005: 188)

[7] Nachfolgend mit der Sigle SI abgekürzt.

[8] In Übereinstimmung mit dem Roman wird hier das Wort „Indianer“ und nicht „amerika- nische Ureinwohner“ verwendet, da der hier aufgerufene Mythos „Cowboys und Indianer“ ja ein historischer ist nicht nachträglich durch heutigen Sprachgebrauch korrigiert werden kann.

[9] „Die Sehnsucht nach der Ferne, sagt Fischer, habe die DDR-Bürger getrieben, ‚nach einem anderen Leben, frei und wild und ungebunden in einem Land, in dem das Leben bis zur Rente eigentlich feststand.‘ Die Indianerszene bot den Ost-Aussteigern im Sozialismus einen kulturellen Freiraum. Wenn man schon nicht in die weite Welt reisen konnte, wollte man sich diese wenigstens zu Hause schaffen.“ (Wensierski 2008)

[10] „Schade drum. Es hätte ein guter Dokumentarfilm werden können. Also kaprizierte ich mich auf das fiktive Genre. Aber einen Spielfilm wollte auch niemand. Es gebe eh schon genug Indianerfilme.“ (SI: 251) Hiermit kommentiert Schirmer wieder seine eigene Lage, denn sein Drehbuch wurde von Film und Fernsehen abgelehnt, sodass er es schließlich zu einem Roman umschrieb.

[11] Auch dies gibt es in der Realität: „Ostdeutschland wird wieder zum Reservat […]. Bei Templin eröffneten sie ein profitables Westernland namens ‚Eldorado‘, mit Stuntmanshows und Schießereien nach festem Zeitplan.“ (Wensierski 2008)

[12] Nachfolgend mit der Sigle SB abgekürzt.

 

Ludwig, Janine: „Von der Erfahrung zur Erinnerung – Wenderomane im Wandel.“

Erstveröffentlichung in: GFL (German as a Foreign Language) No. 1/2021, S. 68-86. http://www.gfl-journal.de/Issue_1_2021.php

Comments Off on „Von der Erfahrung zur Erinnerung – Wenderomane im Wandel.“ (Nachdruck)

Dec 29 2022

‚In der letzten Zeit ist viel Zeit vergangen.‘ Zeitenwende, Übergangszeit und Umbrüche in Bernd Schirmers Wenderoman Schlehweins Giraffe. (Nachdruck)

Published by under

von Janine Ludwig (reprint)

 

Im Herbst 2019 jährte sich der Fall der Berliner Mauer zum 30. Mal, und im Herbst 2020 wurde das Jubiläum der Deutschen Einheit begangen. Diese Ereignisse liegen nun also bereits eine ganze biologische Generation zurück. Und man erinnerte nicht nur an die Vergangenheit, sondern zog sie auch zur Erklärung der Gegenwart heran, um anscheinend noch immer bestehende Unterschiede zwischen Ost und West oder abweichendes Wahlverhalten der Ostdeutschen zu erklären. Auch unschöne Narrative wurden wieder ausgegraben, wie die vermaledeite „Mauer in den Köpfen“, die unterstellten ostdeutschen‚ ‚Deformationen durch die Diktaturerfahrung‘ oder eine angeblich nicht gelernte Demokratiefähigkeit. Dafür wurde nun ein Argument in den Diskurs eingespeist, das bei ähnlichen Debatten in den 1990er-Jahren noch nicht auf den Plan getreten war: dass für viele Ostdeutsche, besonders der jüngsten Generation, die Erlebnisse der Wende- und Nachwendezeit mindestens genauso prägend waren wie das zuvor gelebte Leben in der DDR. So ist denn auch diskutiert worden, ob es damals in Bezug auf die neuen Bundesländer Versäumnisse nicht nur im politisch-wirtschaftlichen Bereich (Treuhand), sondern auch bei der sozio-kulturellen Verarbeitung der sogenannten Wende gegeben habe. Es wurde vorgebracht, dass die spezifischen Umbruchserfahrungen der ehemaligen DDR-Bürger nicht genügend gehört, gewürdigt und berücksichtigt worden seien, was zu einer bis heute nicht bewältigten und sogar auf die neue Generation übertragenen Entfremdung der ostdeutschen Bundesbürger von der Politik und der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft geführt habe[1].

Will man nun, wenn auch verspätet, diese Umbruchserfahrungen untersuchen, bietet sich die Literatur als fiktionale Verarbeitung kultureller Erfahrungen und als Träger von Wissen an. Bereits in den frühen 1990er-Jahren rief das deutsche Feuilleton allenthalben nach dem großen, verbindlichen „Wenderoman“, der nicht zu erscheinen schien. Schließlich wurden nach etlichen Jahren einige Bücher als solcher anerkannt und kanonisiert: Thomas Brussigs Satire Helden wie wir (1995), Ingo Schulzes Briefroman Neue Leben (2005) und schließlich Uwe Tellkamps Großroman Der Turm (2008).

Vieles tatsächlich seinerzeit Publizierte wurde jedoch im Trubel übersehen, einige Texte voller Witz und ohne Larmoyanz, aber mit einem genauen Blick, der uns und jüngeren Generationen heute die Umbrüche vor Augen führen, erfahrbar machen kann. Beispielhaft wird in diesem Artikel der 1992 erstmals erschienene Roman Schlehweins Giraffe[2] des 1940 in Leipzig geborenen Autors Bernd Schirmer analysiert. Es werden besonders Aspekte von Zeiterfahrung herausgearbeitet.

 

Vorher – Nachher: Zeitenwende und zwei Zeitebenen in Schirmers Roman
Beschleunigte und gestaute Zeit, Zeitverwirrung
Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft
„Alltagszeit“, „biografische Zeit“, „historische Zeit“

 

Vorher – Nachher: Zeitenwende und zwei Zeitebenen in Schirmers Roman

Der kurze Roman besteht aus einer Basiserzählung, die etwa ein Jahr umfasst (von Ende 1990 oder Anfang 1991 bis wohl Ende 1991), und eingeschobenen chronologischen Analepsen über die DDR-Zeit der 1970er- und 80er-Jahre bis zum Wendeherbst 1989. Dazwischen liegen der Untergang der DDR und der Sowjetunion, die das Leben der Protagonisten wie auch die Weltgeschichte in ein Davor und Danach unterteilen. Insofern wäre statt des ungeliebten Begriffs „Wende[3] die Bezeichnung „Zeitenwende“ eine angemessenere Zuschreibung.

Interessanterweise sind beide Seinszustände, das Davor wie das Danach, von einem gewissen Maß an Vagheit und Unsicherheit geprägt: Die Jetztzeit der Basiserzählung ist geprägt von den Versuchen des Figurenensembles, des arbeitslosen Akademiker-Freundeskreises des Protagonisten, ein neues Leben aufzubauen. Da wären der Meteorologe Rudolf Hasselblatt und seine Frau, eine habilitierte Sinologin, die gemeinsam Döner verkaufen; der regimetreue Professor Jens-Peter Bröckle und seine jüngere Frau Lydia, die einen Gulaschkanonenverleih aufmachen; der Archivar Kleingrube, der sich verbissen auf die ‚Aufarbeitung der Vergangenheit‘ fixiert; der Maler Carl-Ernst Schlehwein, der regimekritische Bilder gemalt hatte und nun verschwunden ist; sowie Kristina, Schauspielerin und Ex-Frau des namenlosen Erzählers, die ihn vor Einsetzen der Basiserzählung zum dritten Mal verlassen hat, um an den Münchner Kammerspielen Karriere zu machen – ein Verlust, der für den Erzähler schwerer zu wiegen scheint als der des Landes. Er ist der einzige, der keinerlei Anstalten macht, sein durch eigene Arbeitslosigkeit aus der Bahn geworfenes Leben neu zu gestalten, sondern sich darauf verlegt, neue Wörter zu sammeln und seine Gedanken niederzuschreiben.

Den Anstoß hierzu gibt ihm die titelgebende Giraffe, die Schlehwein vor der Schlachtung in einem abgewickelten Zoo gerettet und in der hohen Parterrewohnung seines Freundes im Prenzlauer Berg abgestellt hat. Ihr stumpfer, verständnisloser Blick auf ihre neue Umgebung spiegelt überspitzt den ratlosen Blick des Erzählers auf die neue Zeit. Sie ist ein fantastisches Element in dem ansonsten realistischen Erzählpanorama, Teil der erzählten Welt, jedoch kaum Akteur, sondern vielmehr ein Reibungspunkt, an dem sich die Geschichte entwickelt. Da der Protagonist überzeugt ist, sie könne sprechen und zuhören, versucht er, von ihr ihre Geschichte zu erfahren. Doch da sie eigentlich kaum redet, wird daraus ein Selbstgespräch des homodiegetischen Ich-Erzählers, das sich in der Niederschrift der hier vorliegenden Geschichte niederschlägt: „Ich muß einfach erzählen“ (G, 55)[4].

Diese Geschichte besteht einerseits aus seiner Schilderung der aktuellen Ereignisse und Lebensumstände seiner Umgebung sowie andererseits aus eingeschobenen Rückblicken auf die DDR-Zeit bzw. seine mehrfachen vergangenen Beziehungen mit Kristina (die in ihrem Grad an Glück oder Unzufriedenheit stets die Situation des Landes insgesamt widerspiegeln). Das erste Mal waren beide sieben Jahre lang verheiratet, von ca. Mitte der 1970er- bis Anfang der 80er-Jahre[5]. Nach einer Trennung heirateten sie dann, wahrscheinlich um die Mitte der 1980er-Jahre, nochmals und blieben diesmal drei Jahre lang zusammen. Schließlich erlebten sie ihre glücklichste Zeit, als sie sich im anarchischen Wendeherbst 1989 wieder trafen und eine Zeit lang in ‚wilder Ehe‘ lebten. Als er gegen Ende des Jahres 1990 verlassen wird, zieht sich der Protagonist in seine Wohnung zurück und beginnt schreibend einen Prozess der Erinnerung, Selbstverständigung und Selbstvergewisserung. Das entspricht dem prozessualen Ansatz, den Schirmer selbst in einem Interview formulierte:

„Für mich persönlich ergibt sich dieser Zusammenhang dadurch, dass ich mir über manche Dinge beim Schreiben erst klar werde. Darüber hinaus kann ein literarischer Text auch eine Vergewisserung für diejenigen sein, die die geschilderte Zeit miterlebt haben, indem sie diese Zeit noch mal reflektiert oder widergespiegelt finden. In diesem Sinn ist der Text ein Medium kollektiver Erinnerung.“ „Die einzige Möglichkeit mit der alten Zeit fertig zu werden, ist, sich ihr im gemeinsamen Erzählen gegenseitig zu versichern[6].“

Dabei wird deutlich, dass auch die vergangene, untergegangene Zeit keineswegs eindeutig und klar bestimmt ist, denn sie wird rückblickend von verschiedenen Figuren unterschiedlich gesehen und bewertet. Für den wohlmeinenden, aber etwas besserwisserischen, in Ost-Klischees denkenden bayerischen Onkel Alfred, der die westdeutsche Außenperspektive verkörpert, war die DDR-Vergangenheit nichts als eine „Zeit des Leidens und der Knechtschaft“, die jetzt zum Glück zu Ende gegangen sei (G, 22). Der Revolutionsexperte Bröckle sah in ihr den Versuch einer anderen Gesellschaft, an die er geglaubt hat und deren Untergang er als Niederlage empfindet. Deshalb weigert er sich, die Revolution von 1989 als eine solche zu definieren und stemmt sich als Historiker gegen die Entfernung von Denkmälern, die er als Ausradierung und Umschreibung der Geschichte empfindet. Der einst bestrafte und tief verletzte Kleingrube hingegen betrachtet die DDR unter dem Prisma der Diktatur und will die Verantwortlichen oder Mitläufer des Systems entlarven. Dem hält der Erzähler entgegen: „Aber, sage ich, wir sind doch alle mitgelaufen, wir haben alle mitgemacht, mehr oder weniger, die Bäcker haben Brötchen gebacken, und die Fleischer haben Schweine geschlachtet und haben das System gestützt“ (G, 40, vgl. 66; 110).

Ausgerechnet der Maler Schlehwein, der als einziger in der DDR wirklich dissidentisch gewirkt und regimekritische Bilder gemalt hatte, ist von den Ereignissen 1989 gar nicht begeistert, sondern übt seinen Nonkonformismus gegen die Mehrheitsmeinung mit gleicher Intensität während der Wende und im vereinten Deutschland aus[7]. Er, der immer gegen die politische Führung seines Landes angekämpft hatte, setzt sich nun für seine Landsleute ein, indem er die Grundbücher eines Dorfes im Brandenburgischen in Brand setzt. Damit will er verhindern, dass die Ostdeutschen ihre Grundstücke und Häuser verlieren, die im Rahmen der Devise „Rückgabe vor Entschädigung“ westlichen Vorbesitzern oder deren Nachkommen zurückgegeben werden sollen. Diesen war während des Neuaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg, im Zuge der Enteignungswelle in der DDR, ihr Besitz weggenommen und später an Ostdeutsche verkauft worden, was nun einen kaum zufriedenstellend lösbaren Konflikt darstellte. En passant verweist Schirmer hier auf die gerade 40 Jahre zurückliegende vorherige Zeitenwende, die mit ähnlich tiefgreifenden (Auf-)/(Um-) Brüchen einhergegangen war.

Der Vielfalt der Perspektiven entsprechend, verwendet Schirmer mehrfach den Plural „alte Zeiten“ (G, 69; 106)[8], der sich im Deutschen semantisch kaum vom Singular unterscheidet, außer eben, dass er den Begriff noch weitet und Dinge wie Lebenswirklichkeiten und -umstände, Sitten und Gebräuche usw. umfasst.

 

Beschleunigte und gestaute Zeit, Zeitverwirrung

Schlehweins Giraffe behandelt den Aspekt der „Zeitenwende“ in zweierlei Hinsicht: einerseits typischerweise als Phänomen der beschleunigten Zeit, eines rasanten Überbordwerfens aller alten Strukturen, des „Abwickelns“ der DDR und ihrer Institutionen, ohne Zeit zum Reflektieren. Somit erscheint die Erzählung als eine Erfahrung des ,Einbruchs einer neuen Zeit‘. Die Schnelligkeit dieses Umbruchs wird plastisch gemacht am Schicksal des eher gemäßigten, sich jedoch systemkritisch dünkenden Schriftstellers Ralph B. Schneiderheinze, der geglaubt hatte, mit seiner Literatur die Revolution vorzubereiten. Dabei ging er jedoch so langsam, behutsam, vorsichtig vor, dass diese ihn letztlich überrollte:

[Er] hat dann, als sich alles in rasanter Weise zuspitzte, selber einen Zahn zugelegt. Er schrieb an einem neuen Buch, in dem er wirklich sagen wollte, wie es wirklich ist. Er wurde immer mutiger. […] Aber es mußte sich etwas ändern, es war unausbleiblich, es ging so nicht weiter. Eine Wende mußte kommen, und er wollte mit seinem Buch die Wende vorbereiten. Er schrieb und schrieb, atemlos, hektisch. Aber die Wende kam schneller, als er schreiben konnte, um die Wende vorzubereiten. Am liebsten wäre es ihm gewesen, es wäre, so sehr er die Wende auch herbeisehnte, langsamer gegangen mit ihr, damit er sie noch gebührend hätte vorbereiten können mit seinem Buch. […] Es ging alles schneller, als es einer wie Ralph B. Schneiderheinze schreiben kann. Wer zu spät kommt mit seinem Buch, den bestraft die Zeitung (G, 45).

Damit ist Schneiderheinze ein Alter Ego des Autors Bernd Schirmer, der selbst ein Buch namens Cahlenberg, das die Wende vorbereiten sollte, zu spät, nämlich erst im November ’89 fertigstellte, wodurch es in der Versenkung verschwand und erst 1994 erscheinen konnte. Darüber hinaus steht er pars pro toto für die real existierenden Autoren und Intellektuellen der DDR, die sich zunächst noch als Taktgeber und Sprecher der ‚Wende‘ verstanden und diese für einen Neuaufbau des Sozialismus nutzen wollten. Doch wurden sie von der Wucht der Ereignisse und der aufkommenden Forderung des Volkes nach der Wiedervereinigung und Übernahme des kapitalistischen Systems überrollt. Ihr Aufruf „Für unser Land“ vom 26. November 1989 war bereits überholt, als er am 28.11. erschien[9]. Das Phänomen der beschleunigten Zeit ist jedoch nur ein Element in dieser satirischen Erzählung und antagonistisch spiegelbildlich zur Situation des Erzählers, der nicht nur äußerlich der Doppelgänger des Autors Schneiderheinze, sondern – trotz all seiner gegenteiligen Beteuerungen – selbst ein verhinderter Schriftsteller ist.

Anders als in manch anderem Wenderoman dominiert seine Perspektive als die eines Menschen, dessen Leben komplett stillzustehen scheint. Nichts passiert; er und seine Freunde hinterlassen einander Nachrichten ohne Neuigkeitswert:

Es fing alles ganz harmlos an. Wir hatten uns alle automatische Anruf- beantworter gekauft, Bröckles, Hasselblatts und sogar Schlehwein, obwohl er kein Freund technischer Neuerungen ist. […] Die automatischen Anrufbeantworter waren unsere ersten Anschaffungen von dem fremden, neuartigen Geld, denn wir alle hofften, es würde wichtige, existenzsichernde Mitteilungen geben, wenn wir außer Haus gingen, überraschende Angebote, unaufschiebbare Nachrichten. Es gab sie nicht. Wir fragten immer nur gegenseitig an, wie es geht und steht. Es stand schlecht, erfuhren wir über Band voneinander. Wir sprachen kaum noch miteinander. Nur unsere Stimmen sprachen noch (G, 8).

Genauer gesagt scheint der Erzähler ‚aus der Zeit gefallen‘ bzw. sich in einer Übergangszeit zu befinden – das Alte ist vorbei, aber ein Neues beginnt (noch) nicht: „Da waren wir schon wie Fremde im eigenen Land und hatten nichts mehr zu melden. Mit einem Bein lebten wir noch im alten Leben und mit dem anderen schon im neuen“ (G, 100f.).

Für diese beinahe unwirkliche Übergangszeit steht auch sein neues Haustier. Nicht umsonst erinnert das groteske Bild einer Giraffe in einer Alt- bauwohnung an Alice im Wunderland und dessen zeitliche und räumliche Verzerrungen in einer Welt aus Träumen und Albträumen. In dieses Bild passt auch die einzige weitere Stelle des Buches, die ein nicht-realistisches Moment einführt, nämlich das einer zeitlichen Verwirrung des Erzählers, welches repräsentativ für diese „wirre Zeit“ (G, 43) steht:

Ich weiß auf einmal nicht, in welcher Jahreszeit wir sind. Teils blühen die Birnbäume noch, teils tragen sie schwere, gelbe Früchte. Von einem Birnbaum hat die Giraffe sämtliche Blätter abgefressen, die Bröckles haben sie gewähren lassen, der Baum ist kahl. Es ist auf einmal wie Winter, mich fröstelt plötzlich, aber wir sitzen noch immer im Garten (G, 36).

 

Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft

Die relativ ereignislose Gegenwart ist eingeklemmt zwischen den beiden Polen „Vergangenheit“ und „Zukunft“. Erstere erscheint als ein vollständig abgeschlossenes Phänomen, eine unwiederbringlich beendete Zeit, die nur noch begutachtet, bewertet oder, wie ein durchaus problematisches Wort der Zeit verlangte, ‚aufgearbeitet‘ werden kann. Der Erzähler meint gewiss auch sich selbst, wenn er sinniert:

Ich war wieder für mich allein und dachte über die Schriftsteller nach, deren Bücher nicht mehr angeboten wurden, weil sie keiner mehr kaufen und keiner mehr lesen wollte, weil die Zeiten über sie hinweggegangen waren. Ich hatte plötzlich eine Vision. Ich sah all die Schriftsteller, […] sie schrieben in fieberhafter Eile. Sie arbeiteten die Vergangenheit auf, sie suchten sie hektisch zu bewältigen, die Vergangenheit (G, 15f.).

Ebenso fieberhaft arbeitet der bedauernswerte Kleingrube an seiner Sammlung von Beweisen für Schuld und Verstrickung aller und eines jeden (G, 39f.), bis er sogar die Giraffe überführt zu haben meint, als er ein Foto findet, auf dem eine Giraffe in einem Zirkuszelt dem Staats- und Parteichef Erich Honecker ein Stück Würfelzucker aus der Hand frisst. Insofern ist das exotische Tier als „Altlast“ eine Allegorie auf die Vergangenheit und die Ostdeutschen insgesamt, die ‚den ganzen Zirkus mitgemacht‘ haben, mehr oder weniger begeistert, und die nun nach Jahrzehnten der Käfighaltung in eine ungewisse und überfordernde Freiheit entlassen worden sind:

Die Verhältnisse sind ja meistens schlecht. Aber so eng war unser Intimleben an die Zeitläufe nicht gekettet, auch wenn wir, wie alle Welt, immer gehofft hatten, daß sich zu unseren Lebzeiten noch etwas ändert, doch das war schon alles, getan dafür hatten wir nichts. Wir hatten genörgelt auf unseren Nischenparties, aber dennoch, es war nicht unerträglich, und jeder hatte ja auch etwas zu verlieren, wie sich später herausgestellt hat, ich darf dich nur an Bröckle, Hasselblatt, Kleingrube erinnern. Zwar war es etwas eng und stickig, aber wem sage ich das, du hast ja selber lange genug in Käfigen zugebracht, doch dafür war es nicht allzu stressig, nicht wahr. Natürlich hatten wir auch immer unsere Ausflüchte und Selbsttäuschungen zur Hand. Wir hatten uns immer eingeredet, daß es zwei Sozialismusse gebe. Den Großen Sozialismus, wie er in der Zeitung stand mit zweiundvierzig Honeckerbildern zur Leipziger Messe. Und den kleinen sozialismus, den wir selber praktizierten, indem wir einfach lebten, wie zu leben war, und uns zuhörten und uns beistanden in unseren Nöten und den gebrechlichen Nachbarn die Kohleneimer in die vierte Etage trugen, wie lächerlich sich das heute auch anhören mag (G, 65).

Bröckle hingegen vermag sich von der Vergangenheit nicht zu trennen und nutzt eine große Summe Geldes, das er bei der Lotterie gewonnen hat (oder aus dem beiseite geschafften Parteivermögen der SED abgezweigt, das bleibt unklar), um eine Kneipe mit dem Namen „Zur Alten DDR“ zur eröffnen. Damit ist er ein früher Vertreter des in den späten 1990er-Jahren durchschlagenden Ostalgie-Phänomens. Er glaubt sogar ernsthaft, aus dieser Konservierung der Vergangenheit Zukunft gewinnen zu können:

Und wir würden die Kneipe gemeinsam betreiben, alle. Bröckle umarmte mich. Es wären dann wieder alle beisammen, und es würde wie früher sein, und wir würden über die alten Zeiten reden. Es wäre dann Arbeit für alle da, neue, schöne Aufgaben, und die armen Hasselblatts kämen dann endlich aus ihrer armseligen Würstchenbude heraus, und der arme Kleingrube komme vielleicht auch auf andere Gedanken und brauche nicht länger in seinen alten Akten zu wühlen, der wird sowieso noch verrückt, der will uns allen noch was beweisen und anhängen, der könne sich dann nach vorn orientieren, auf die Zukunft hin wie wir alle, Sinologen, Geologen, Meteorologen, Archäologen, Archivare und Bibliothekare, die jetzt stellungslos sind. Denn so eine Kneipe werfe für alle was ab (G, 106).

Zu einer solchen Idee von Zukunftsgewinnung ist der sympathische Onkel Alfred das genaue Gegenteil; für ihn ist völlig klar, dass die DDR ein für allemal vorbei ist. Seiner naiv-optimistischen Annahme nach stünde seinen ostdeutschen Freunden nun die ganze Welt offen, wenn sie nur die Ärmel hochkrempelten (G, 22; 82). Doch sein ambitionsloser Neffe hat keinerlei ernsthafte Zukunftspläne, sondern versucht erst einmal, mit der Gegenwart zurechtzukommen und über sie nachzusinnen. „Wir alle müssen viel Neues lernen in dieser Zeit. Wir müssen alles neu sehen. Wir müssen umdenken“ (G, 14), weiß er, und lässt sich Zeit damit. Durch das Sammeln „neuer Wörter“, die nun allenthalben auftauchen, versucht er, die Welt um sich herum beschreibend zu erfassen – so wie er früher mit Kristina durch das Kreieren neuer Wörter den DDR-Alltag kreativ aufgewertet hatte. Es passt auch zu seiner früheren Tätigkeit als Lektor bzw. „Kommasetzer“, denn wie Jill Twark ausgeführt hat, bedeutet das Setzen von Kommas das Einfügen von Pausen, was die Bedeutung von langen Sätzen oder Formulierungen lenken, ordnen oder gar ändern kann[10]. Er versucht quasi, Lücken im unablässigen Ablauf der Ereignisse zu finden und die Welt um sich herum zu ordnen, zu verstehen, Bedeutungen zuzuweisen.

Als Kristina unverrichteter Dinge aus München zurückkehrt (statt der Kammerspiele hat es nur für einen Werbespot für Joghurt gereicht, aber sie hat es immerhin versucht), dürfte wohl das Jahr 1991 zu Ende gehen, denn Berlin ist bereits Hauptstadt geworden, und dann schneit es. In der schätzungsweise einjährigen Abwesenheit Kristinas [11]hat ihr Mann drei Mal erwähnt: „In der letzten Zeit ist viel Zeit vergangen.“, „Da war viel Zeit verstrichen.“, „Es ist viel Zeit vergangen“ (G, 35; 100; 121). Dies widerspricht der vorherigen Annahme und Selbstdarstellung des Protagonisten, dass in seinem Leben rein gar nichts passiere – zumindest insofern, als er eine intensive geistige Anstrengung unternommen hat. Denn Zeitforschung und Neurobiologie gehen davon aus, dass Vorgänge, die mit intensiver geistiger Konzentration einhergehen, als lange andauernd wahrgenommen werden, während bei geringer Beanspruchung die Zeit schneller zu vergehen scheint. Auch nimmt der Erzähler lediglich in seinem eigenen täglichen Leben kaum Veränderungen wahr, während er sehr wohl registriert, dass sich die Welt um ihn herum weiterhin ständig wandelt – es werden en passant immer wieder Anspielungen auf Ereignisse eingestreut wie die wechselnden Regierungen von Herbst 1989 bis 1990, die Währungsunion, die Einheit usw. Dass all diese Dinge den Protagonisten, auch wenn er sie nur passiv zu erleben glaubt, gleichwohl geistig verarbeitet, eben doch beeinflussen, ist anzunehmen. Schließlich geht das Paar in einem offenen Ende (Fußspuren im Schnee) der Zukunft entgegen: „Mal sehen, wie alles weitergeht“ – wobei ihnen bewusst ist, dass sie die Vergangenheit (repräsentiert durch die Giraffe) nicht einfach hinter sich lassen können, sondern sie in ihr zukünftiges Leben integrieren müssen: „die werden wir nie wieder los“ (G, 123).

 

„Alltagszeit“, „biografische Zeit“, „historische Zeit“

Der Soziologe Hartmut Rosa hat die These aufgestellt,

dass Modernisierung nicht nur ein vielschichtiger Prozess in der Zeit ist, sondern zuerst und vor allem auch eine strukturell und kulturell höchst bedeutsame Transformation der Temporalstrukturen und -horizonte selbst bezeichnet und dass die Veränderungsrichtung dabei am angemessensten mit dem Begriff der sozialen Beschleunigung zu erfassen ist[12].

In diesem Sinne wurde natürlich auch der Osten Deutschlands (bzw. ganz Osteuropas) mit und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs modernisiert und beschleunigt – wobei das gleiche Schicksal die ganze Welt ab Mitte der 1990er-Jahre ereilen sollte, als die Digitalisierung Einzug halten würde, aber das war zur Entstehungszeit von Schirmers Buch noch nicht absehbar. Diese Beschleunigung seiner Umgebung beschreibt der Erzähler, während er sich zugleich ihrem Veränderungsdruck entzieht, indem er sich auf eine der ältesten und ‚langsamsten‘ Kulturtechniken überhaupt, auf das Schreiben und das Reflektieren zurückzieht. Er tritt sozusagen aus der beschleunigten Zeit heraus in ein Refugium der Introspektion.

Bezug nehmend auf Peter Ahlheit und Anthony Giddens erläutert Rosa drei Ebenen temporaler Vermittlungsprozesse aus der Akteursperspektive: die „Zeitstrukturen ihres Alltagslebens“ mit täglichen Routinen und Wochenrhythmen, eine zeitlich-biografische Perspektive, auch „Lebenszeit“, in der Menschen Lebensabschnitte und -ziele wie Schule, Ausbildung, Kindererziehung, Erwerbsleben, Rente usw. planen, und drittens die „übergreifende Zeit ihrer Epoche, ihrer Generation und ihres Zeitalters“, also eine historische Perspektive – sie alle müssen in Einklang miteinander gebracht werden und sind von den herrschenden Zeitregimes und kollektiven Mustern der Gesellschaft abhängig[13].

Ob, wie und wie weit in die Zukunft geplant wird, hängt in hohem Maße von der Stabilität und Vorhersagbarkeit der sozialen und kulturellen Umwelt ab. Die dritte Zeitebene, die historische Zeit oder ‚Epoche‘, schließlich entzieht sich fast völlig individueller Gestaltungsmöglichkeit – hier bleibt den individuellen Akteuren nur die Möglichkeit, sich affirmativ oder oppositionell zu den jeweiligen „Ansprüchen ihrer Zeit“ zu verhalten[14].

Dieses Gefühl, kaum Möglichkeiten zu haben, die historische Zeitebene mitgestalten zu können, war natürlich in der DDR besonders weit verbreitet; der Erzähler des Romans steht stellvertretend hierfür und gibt es auch offen zu, dass man eben einfach mehr oder weniger mitgemacht habe. Kaum jemand, ihn eingeschlossen, hatte ernsthaft geglaubt, jemals diese Regierung, dieses System ändern oder gar die Mauer niederreißen zu können – bis man es plötzlich doch konnte, mit ganz unvorhergesehenen Folgen. Nun ist es unmittelbar einsichtig, dass bei politischen Umbrüchen Lebenszeit und historische Zeit in ein Spannungsfeld geraten, weil die Pläne für erstere plötzlich umgekrempelt oder nichtig werden. Im Roman findet sich dies anhand der gutgemeinten Forderung von Onkel Alfred, sein Neffe solle doch das abgebrochene Germanistikstudium wieder aufnehmen und sein Leben quasi nochmal von vorn beginnen. Das erscheint dem Anfang-Vierzigjährigen absurd – wenngleich es nicht unmöglich wäre. Es verweist aber auf eine ganze Generation von über-50-jährigen Ostdeutschen, von denen viele Arbeit und berufliche Perspektive insgesamt verloren und auch nie wiedererlangt haben. Arbeitslosigkeit, Umschulungen, massenhafte Frühverrentung, das vorzeitige Abbrechen des eigenen (und in der DDR einst extrem stabilen) Lebensplans trugen zu Enttäuschungen von großem Ausmaß bei.

Hinzu kommt ein weiterer Verunsicherungsfaktor beim Systemwechsel vom Sozialismus zum Kapitalismus, den selbst Rosa nicht anspricht: dass nämlich sogar die Zeitstrukturen des Alltagslebens sich änderten. Evident ist dies im Falle von (massenhafter) Arbeitslosigkeit, durch welche der geregelte Tagesablauf von Aufstehen, Arbeitszeit und Abend- oder Wochenendgestaltung durcheinandergerät – dass ein daraus folgender Verlust von Tagesstruktur für viele Menschen in jeder Gesellschaft problematisch ist, weiß die Soziologie seit Langem. Aber selbst auf noch kleinerer Ebene änderten sich Strukturen: in Bezug auf Feiertage, Schulferien, Öffnungszeiten, kulturelle Veranstaltungen oder Ferienlager, die oft über die Betriebe organisiert waren. Dies mag banal wirken im Lichte des enormen gesellschaftlichen Umbruchs, den die meisten ja begrüßt haben, aber eine gewisse Umstellung und Anpassungsleistung erforderte es allemal. All dies trifft auf den arbeitslosen Erzähler zu, der schon im zweiten Satz des Buches von der Giraffe gefragt wird, warum er den ganzen Tag zu Hause sitze. Eine weitere Bemerkung von Rosa zielt direkt auf unseren Roman, der leistet, was Rosa beschreibt:

Die Verknüpfung der drei Zeitebenen in der Perspektive der Akteure folgt dabei stets narrativen Mustern. Es sind kulturelle und individuelle Narrationen, in denen Alltagszeit, biografische Zeit und historische Zeit zueinander in Beziehung gesetzt und wechselseitig kritisiert und gerechtfertigt werden. In solchen narrativen Entwürfen wird zugleich die Gewichtung und Bedeutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit auch die Relevanz und Gewichtung von Tradition und Wandel bestimmt[15].

Die Literatur ist in besonderer Weise geeignet, solche Narrationen zu erzeugen sowie individuelle und generationenspezifische Erinnerungen zu tradieren. Sie ist damit zentral an der Herausbildung eines „kulturellen“ und „kollektiven Gedächtnisses“ beteiligt und kann gleichzeitig die Erstellung desselben kommentieren und hinterfragen[16]. Ein solches Gedächtnis wie auch identitätsstiftende Narrative sind für die Sinnstiftung einer Gesellschaft gerade da von besonderer Wichtigkeit, wo eine vierte Zeit- und Sinnebene, die „sakrale“ nicht oder kaum existiert:

Wie Philosophen wie Charles Taylor und Alasdair Maclntyre in jüngster Zeit betont haben, vollzieht sich die Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der je eigenen Lebensgeschichte stets vor dem Hintergrund der „Rahmengeschichte“ einer kulturellen Gemeinschaft bzw. einer erzählten „Weltgeschichte“. Das Wissen um die Endlichkeit des je individuellen Daseins lässt dabei die Diskrepanz zwischen der begrenzten Lebenszeit und der perspektivisch unbegrenzten Weltzeit zu einem narrativen und lebenspraktischen Problem werden. Die Versöhnung dieser Diskrepanz wird in fast allen entwickelten Kulturen durch die Einführung einer vierten Zeitebene, die Konzeption einer Sakralzeit, gelöst. Diese „heilige Zeit“ überwölbt die lineare Zeit des Lebens und der Geschichte, begründet ihren Anfang und ihr Ende und hebt Lebens- und Weltgeschichte in einer gemeinsamen höheren, gleichsam „zeitlosen Zeit“ auf[17].

Die sakrale Zeit ist in Europa natürlich vom Christentum geprägt und bietet mit dessen Ritualen und Festen (von Sonntagen bis Weihnachten) sozusagen ‚Auszeiten‘ vom Alltag und dessen „profaner Zeit“ – und mit der Vorstellung vom Leben nach dem Tod eine mögliche Hilfe zur Bewältigung von Problemen sowie eine sinnstiftende überzeitliche Begründung für das diesseitige Dasein. All dies ist jedoch in einer fast vollständig säkularisierten, atheistischen Gesellschaft wie der ostdeutschen nicht gegeben. Das, was die politische Führung der DDR als Alternative zu etablieren versuchte, nämlich das Geschichtstelos der kommunistischen Utopie, hatte schon lange an Legitimität und Überzeugungskraft verloren und war ab 1990 völlig diskreditiert. So bleibt dem Erzähler des Romans, zurückgeworfen auf die eigene Lebenszeit, als utopisches Ziel nur das private Glück, nämlich die erhoffte Wiederkehr Kristinas. Darauf wartet er den ganzen Verlauf der Erzählung hindurch, obwohl sie sich seit ihrem Weggang nicht bei ihm gemeldet hat und er auch nicht damit rechnet, dass sie es noch tun wird, aber: „Dennoch kann ich nicht aufhören zu warten, denn nicht mehr warten, das ist das Ende“ (G, 28). Sich nicht mehr an die Hoffnung auf das Happy End mit Kristina zu klammern, wäre für ihn gleichbedeutend damit, jeden Sinn im Leben zu verlieren.

Nach dem Ende des Kalten Krieges tat sich ein ideologisch luftleerer Raum auf, der das kleine Gebiet im Osten Deutschlands weit überstieg. Denn der Zusammenbruch des Sowjetreiches und das Ende der bipolaren Weltordnung des 20. Jahrhunderts erforderte nicht weniger als eine globale Neuordnung mit ungewissem Übergang in die Zukunft eines neuen Millenniums. Dies konnte Verunsicherung auslösen und Orientierungslosigkeit im Sinne von Hamlets Feststellung „Die Zeit ist aus den Fugen“, ein Gefühl, das schon immer Epochenumbrüche begleitete. Man konnte dem optimistisch entgegensehen mit Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte und dem Glauben an den endgültigen weltweiten Sieg von Demokratie und Frieden oder pessimistisch mit Samuel Huntingtons Prophezeiung eines zukünftigen Clash of Civilizations anhand neuer kultureller Bruchlinien. Mit der Idee vom Ende der Geschichte konnte auch eine Vorstellung von ‚Bereinigung‘ derselben einhergehen, wie Schirmer anhand der Figur Bröckles verdeutlicht, der das damals heiß diskutierte Thema der Umbenennung von Straßen und des Abreißens von Denkmälern oder Gebäuden diskutiert. Bröckle sieht in solchen Maßnahmen den Versuch, die ungeliebten Teile der Vergangenheit auszulöschen, die Verlierer aus der Erzählung zu tilgen, mithin die Geschichte der Sieger zu schreiben (G, 33f.).

Rosa arbeitet heraus, wie in diesen Posthistoire-Diskursen „in der nur noch ex negativo erfolgenden Bestimmung des eigenen Zeitalters als “Nach”- und “End”-Epoche, als “post”-Zeitalter am Ende der Vernunft, des Subjekts, der Werte, der Erziehung, der Erzählungen, der Politik, der Geschichte etc.“ ein interessantes Paradox auftrat: Während einerseits eine „Beschleunigung des sozialen Wandels“ und „Erhöhung des Lebenstempos“ diagnostiziert wurde, sei andererseits zugleich eine „Erstarrung der sozialen Entwicklung“, ein Verlust an Sinn und Utopie, mithin „die ereignislose Langeweile modernen Lebens beklagt“ worden – all dies zusammengefasst in Paul Virilios „Metapher des rasenden Stillstande[18]. Genau diese Metapher charakterisiert auch das Leben des Erzählers in diesem ersten Jahr im vereinten Deutschland. Er reagiert darauf so, wie es Schriftsteller tun: mit der Niederschrift dessen, was war, was ist, was werden könnte, im kleinen persönlichen Rahmen die Ereignisse der Epoche in nuce kondensierend, sie aufzubewahren für eine kommende Zeit und Generationen, die einmal darauf zurückblicken werden als eine vergangene Zeit, eine uralte Geschichte.

 

[1] Siehe z. B.: Alexander Clarkson, „Das Problem der Ostdeutschen waren ihre Illusionen“, Die Zeit vom 2. Mai 2019, https://www.zeit.de/gesellschaft/2019-05/alexander-clarkson- wende-1990-ost-west oder Bastian Brandau, „Narben auf der Seele, lebenslang“, DLF Kultur vom 29.09.2018, https://www.deutschlandfunkkultur.de/petra-koepping-integriert-doch-erstmal-uns- narben-auf-der.1270.de.html?dram:article_id=429285, Zugriff am 20.9.2019.

[2] Bernd Schirmer, Schlehweins Giraffe. Die Grenze verschwindet, die Giraffe sieht fern. Roman, Frankfurt a. M., Fischer Taschenbuch Verlag, 1994. Erstausgabe: Frankfurt a. M., Eichborn Verlag, 1992, neu aufgelegt: Berlin, Edition Schwarzdruck, 2000. Im Folgenden werden die Seitenangaben zu diesem Primärtext unter der Sigle G direkt im Text, in Klammern, angeführt.

[3] Der Begriff „Wende“ ist schon deshalb problematisch, weil er von Egon Krenz eingeführt wurde, der in seiner Antrittsrede als neuer Staats- und Parteichef im Oktober 1989 von einer „Wende“ sprach, mit der die Partei die „politische und ideologische Offensive wieder erlangen“ sollte. Bernd Lindner, „Begriffsgeschichte der Friedlichen Revolution. Eine Spurensuche“, 3.6.2014, https://www.bpb.de/apuz/185602/begriffsgeschichte-der-fried-lichen-revolution-eine-spurensuche?p=2, Zugriff am 10.11.2020. Vgl. „,Wende‘? ‚Friedliche Revolution‘? ‚Mauerfall‘?“, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung vom 19.10.2009, https://web.archive.org/web/20130623211005/http://www.bundesregierung.de/Content/DE/ Artikel/20Jahre/2009-10-20-wende-oder-wie.html, Zugriff am 10.11.2020. [Siehe auch „Umstrittene Begriffe” im Glossen-Wendereader.]

[4] Dieses Ausstellen des Erzähl- bzw. Schreibvorgangs ist typisch für Wenderomane aus dieser Zeit, etwa Jens Wonnebergers Wiesinger (1999) oder Kerstin Hensels Tanz am Kanal (1994).

[5] Dies ergibt sich aus der Erwähnung des staatlichen Wohnungsbauprogramms, das 1973 begann; im Buch wird auch die millionste Neubauwohnung erwähnt, die 1978 eingeweiht wurde – irgendwann in diesem Zeitraum haben sich der Erzähler und Kristina kennengelernt, als sie in zwei übereinanderliegende neue Wohnungen eingezogen sind.

[6] Carsten Gansel, „“Ich war zu spät dran.” Gespräch mit Bernd Schirmer“, in: Carsten Gansel, Literatur im Dialog. Gespräche mit Autorinnen und Autoren 1989-2014, Berlin, Verbrecher Verlag, 2015, S. 267-278, hier S. 275 und 272.

[7] „Ihn interessierte nicht, was wir ihm erzählten, aufgeregt, manchmal begeistert. Er war schon fertig mit allem. Er wollte gar nichts mehr. Er wollte nur noch seine Ruhe. […] Ah ja, na schön, aber was habe ich damit zu tun? Er verbrachte, so schien es, die ganze Zeit der Wende auf dem Plumpsklo.“ (G, 70). Eine ähnlich ‚bockige‘ Figur zeichnet auch Jens Wonneberger mit Wiesinger. Der Mann mit Hacke und Spaten, Berlin, Kowalke & Co. Verlag, 1999.

[8] Das Wort „Zeit“ im Singular, fast ausschließlich für die Gegenwart gebraucht, kommt 30 Mal in dem schmalen Büchlein vor.

[9] Bröckle sammelt ebenfalls Unterschriften für diesen Aufruf (G, 77).

[10] Jill Twark, „“Ko … Ko … Kolonialismus,” said the giraffe: Humorous and Satirical Responses to German Unification“, in: Carol Anne Costabile-Heming, Rachel J. Halvetson, Kristie A. Foel (Hrsg.), Textual Responses to German Unification. Processing Historical and Social Change in Literature and Film, Berlin, New York, Walter de Gruyter, 2001, S. 151-169, hier S. 164.

[11] Sie hat ihn verlassen, als sie von seiner Affäre mit Lydia erfuhr, da „hatten wir schon die deutsche Einheit“ (G, 101), also irgendwann nach dem 3.10.1990. Als sie zurückkehrt, sagt sie, es sei gut, dass München nicht Hauptstadt geworden sei (G, 121) – der Hauptstadtbeschluss fiel am 20.6.91 – und am Ende ist von Frost und Schnee die Rede; sie ist also irgendwann ab dem Herbst 1991 wieder da.

[12] Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Berlin, Suhrkamp Verlag, 2005, S. 24. Kursivschreibung im Original. Vgl. ebd., S. 15: „Die Temporalstrukturen der Moderne, so wird sich ergeben, stehen vor allem im Zeichen der Beschleunigung. Die Beschleunigung von Prozessen und Ereignissen ist ein Grundprinzip der modernen Gesellschaft.“

[13] Ebd., S. 30-34. Dies baut auf den früheren Überlegungen Blumenbergs auf: Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1986.

[14] Ebd., S. 34. Kursivschreibung im Original.

[15] Ebd., S. 35.

[16] Carsten Gansel, „Vorbemerkung“, in: Carsten Gansel, Pawel Zimniak (Hrsg.), Das „Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989, Göttingen, V&R unipress., 2010, S. 11-15, hier S. 13.

[17] H. Rosa, Beschleunigung, a.a.O., S. 35f.

[18] Ebd., S. 41. Kursivschreibung im Original.

 

Ludwig, Janine. „‚In der letzten Zeit ist viel Zeit vergangen.‘ Zeitenwende, Übergangszeit und Umbrüche in Bernd Schirmers Wenderoman Schlehweins Giraffe“.

Erstveröffentlichung in: Germanica 68 (2021), S. 17-30. https://doi.org/10.4000/germanica.10528; https://journals.openedition.org/germanica/10528

Comments Off on ‚In der letzten Zeit ist viel Zeit vergangen.‘ Zeitenwende, Übergangszeit und Umbrüche in Bernd Schirmers Wenderoman Schlehweins Giraffe. (Nachdruck)

Dec 06 2022

Rezeption von Schleweins Giraffe

Published by under

„Das ist der allererste Roman (1992 erschienen), der die Wende-Ereignisse und das ungewöhnliche Befinden der Ostdeutschen danach zum Thema hatte – von einem Ostdeutschen geschrieben, ohne Larmoyanz und ohne Beschuldigungswahn. Der Humor des Betroffenen unterscheidet das Buch von späteren Arbeiten jüngerer Autoren, die sich nicht betroffen fühlten, und von späteren Arbeiten anderer Schriftsteller, denen das Lachen vergangen war. Nach nur wenigen Jahren bewirkt das erzählte Erinnerung an eine irre Zeit, die Bernd Schirmer so genau und so irr beschrieben hat, daß man meint, auch die Giraffe habe es gegeben. Oder war es vielleicht doch ein Känguru?“

(Klappentext der Edition Schwarzdruck, von Christel Berger)

 

„In Bernd Schirmers Erzählung wird sie [die Giraffe JM] zur Metapher für den Wahnsinn der Wende und zum rettenden Strohhalm für ihren neuen Besitzer: Ohne sie wäre das Leben jetzt völlig sinnlos, und sie bewahrt ihn vor der bestens bekannten Jämmerlichkeit. Schirmer dreht mit seiner Kunstfigur Giraffe die tragischen Realitäten des neudeutschen Alltags ins Melodramatische. Das ist unterlegt mit dem unentwegten Bedauern über den Verlust der ‚guten‘ Seiten der DDR, denen der Autor ganz selbstverständlich nachtrauert, egal ob es sich um Errungenschaften des Sozialismus handelt oder ob sie eher aus dem Widerstand gegen denselben entstanden sind.“

Ehrlich, Lutz. „Der längste Hals der Wende“. In: taz 9. Okt. 1992, S. 27,
https://taz.de/!1649222/

 

„Aber vor allem ist dieser Roman ein ganz unwiederbringliches Stück ost-deutscher Stimmungsmusik, eine aberwitzige Satire auf die Zustände in der Nichtmehr-DDR, wo sich viele Menschen dennoch nicht als BRD-Bürger fühlen. Wobei Bernd Schirmer die alltäglichen Absurditäten eigentlich nur geringfügig übertriebt, weil er distanziert und sensibel genug ist, das Irreale, Scheinbare, Vorgespielte in der Wirklichkeit zu erkennen. Seltsam, daß das beste Buch, was bisher über die ‚Wende‘ geschrieben wurde, mit solchem Lachen gelesen werden kann.“

Gutschke, Irmtraud. „Ost-deutsche Stimmungsmusik“. In: Neues Deutschland 29. Sept. 1992,
https://www.neues-deutschland.de/artikel/378915.ost-deutsche-stimmungsmusik.html

Comments Off on Rezeption von Schleweins Giraffe

Dec 06 2022

„Ich war zu spät dran.“ (Nachdruck)

Published by under

Carsten Gansel im Gespräch mit Bernd Schirmer (reprint)

 

Carsten Gansel: Herr Schirmer, allem Anschein nach spielen bei Autoren, die aus der DDR stammen, Indianer eine bestimmte Rolle. Joochen Laabs etwa hat in seinem Roman Späte Reise, für den er gerade den Uwe-Johnson-Preis bekommen hat, eine Art Sinnbild fixiert, in dem die DDR mit dem Schicksal der Indianer in den USA verglichen wird: Die Ostdeutschen seien eine aussterbende Spezies, wie die Indianer irgendwann ausgestorben sind, weil sie als Gemeinschaft nicht mehr lebensfähig waren. Sie haben einen ganzen Roman über Indianer spielende DDR-Bürger geschrieben. Ist das ein Zufall oder ist es so, dass aus einem bestimmten Lebenshintergrund solche Geschichten und solche Bilder wachsen?

Bernd Schirmer: Tja, ich glaube, Zufall ist das nicht. Die Idee meines Romans Der letzte Sommer der Indianer hängt, wie Laabsʼ Parabel, sicherlich ein bisschen damit zusammen, dass die DDR sich immer als Anwalt der Unterdrückten gefühlt hat. Das schlug sich auch auf die Präferenz für die Indianer nieder, wenn es um das Wildwest-Genre ging, während in den alten Bundesländern ja mehr die Cowboyspiele veranstaltet wurden und die Cowboys für die jungen Leute Identifikationsfiguren waren. Im Buch ist es dann auch so, dass es zu einer symbolischen, bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Cowboys und Indianern kommt. Das Land, auf dem die Protagonisten immer ihre Tipis aufgestellt haben, wird von einem ehemaligen Freund zurückverlangt, der in den Westen emigrieren musste und nun Restitutionsansprüche geltend macht.

CG: Ihr letzter Roman Cahlenberg ist 1994 erschienen. Sie haben aber bereits im Sommer 1989 beim Bachmann-Preis erste Auszüge daraus gelesen. In einer Rezension hat Ulrich Weinzierl den Roman als eine Aussteigerparabel voll „subversivem Humor“ beschrieben. Fühlen Sie sich mit dieser Einordnung in Bezug auf den Roman richtig eingeschätzt? Es ist ja nicht immer so, dass Autoren mit den Rezensionen zufrieden sind.

BS: Ausnahmsweise war ich damit mal zufrieden. Ich glaube, die Einschätzung ist ganz zutreffend, es ist wirklich eine Aussteigerparabel. Der Roman spielt in der letzten dumpfen Zeit der DDR, in der es viele Leute nicht mehr ausgehalten haben und nach dem Westen gegangen sind. Aber es gab eben auch welche, die wollten vom Westen nicht so sehr viel wissen. Der Roman beschreibt solche Leute, die versuchen, innerhalb der DDR kleine Oasen zu gründen, in denen sie ihre eigenen Überzeugungen leben konnten. Das ist natürlich eine Utopie, von der man nicht genau weiß, ob sie wirklich realisiert wird oder ob sie nur im Kopf des Ich-Erzählers stattfindet.

CG: Der fiktive Ort Cahlenberg erscheint wie eine „Heterotopie“, wie ein Gegenort zu dem ihn umgebenden Staatssystem mit ganz eigentümlichen, aus der Gegenwart des sogenannten real existierenden Sozialismus gefallenen Figuren.

BS: Es handelt sich um Aussteigertypen, die sich in einem völlig verlassenen Dorf niederlassen und überhaupt keine Beziehung mehr zu ihrer Umgebung pflegen. Die Leute, die sich dort hinbegeben haben, ob real oder nur im Kopf des Erzählers, haben alle die unterschiedlichsten Motive. Dass sie nicht mehr mit der Politik zufrieden sind, das eint sie eigentlich. Aber es handelt sich nicht um Dissidenten, die was dagegen machen wollen. Stattdessen versuchen sie, ein Gemeinwesen von Grund auf neu aufzubauen, eine richtige Aussteigerkolonie, wie es sie auch tatsächlich in der DDR gegeben hat. Naja, aber dann kam ja alles ganz anders …

CG: Könnte es sein, dass die Tatsache, dass in der DDR bestimmte gesellschaftliche Umstände, etwa der Aufstand vom I7. Juni 1953 und damit zusammenhängende persönliche Erinnerungen nicht narrativ gestaltet werden konnten, dazu geführt haben, dass solche Parabeln entstanden sind? Zu denken wäre ja auch an frühere bekannte Texte wie die Verlegung eines mittleren Reichs von Pritz Rudolf Fries oder Christa Wolfs Adaption des Kassandra-Mythos.

BS: Das würde ich nicht so einfach sagen. Es konnte teilweise schon über kritische Themen geschrieben werden, aber vielleicht nicht mit der notwendigen Konsequenz, die im Nachhinein von den armen Autoren dieses Landstrichs verlangt wurde. Wenn ich mir so die Bücher meiner Kollegen ansehe, auch die Bücher derjenigen, die nicht so im Mittelpunkt standen, dann war in den Texten doch viel mehr kritisches Potential enthalten, als man heute meint. Allerdings wurde es häufig in Sklavensprache ausgedrückt, in Anspielungen, die von den Lesern aber durchaus verstanden worden sind. Literatur hat ja in der DDR eine unheimlich wichtige Rolle gespielt als Ersatz für eine nicht stattfindende Öffentlichkeit und die allzu konforme Publizistik.

CG: Hat es ein Autor nicht viel einfacher als ein Publizist? Einerseits kann er sich aufgrund von eingestreuten subversiven Kleinigkeiten in der Rolle des Oppositionellen sehen und andererseits seine potentielle Leserschaft ansprechen.

BS: Schon, aber es ist manchmal auch auf Kosten der Literatur gegangen, wenn zu viele Anspielungen und zu viel enthaltene Kritik, also eben das, was eigentlich Sache der Publizistik gewesen wäre, in die Texte reingepumpt wurden. Im Ganzen hatten es die Autoren aber natürlich einfacher als Publizisten. Sie sind in der DDR sowohl unterschätzt als auch maßlos überschätzt worden. Jeder hat seine Erfahrungen mit der Obrigkeit gehabt. Mir haben sie auch Filme verboten und Erzählungen nicht gedruckt. Aber das ist eben nur die eine Seite. Anderes ist gekommen und dann in ungeheuren Auflagen.

CG: In Cahlenberg werden ja im weiteren Sinne ökologische Themen angeschnitten, etwa die zunehmende Luftverschmutzung. Schauplatz ist, es wurde bereits angedeutet, eine Art Ökokommune abseits der Zivilisation in der mecklenburgischen Provinz. Sehen Sie den Roman in einer Tradition literarischer Subversion?

BS: Was das ökologische Moment des Romans betrifft, gehört er schon in eine Reihe relativ vereinzelter literarischer Äußerungen über Umweltprobleme in der DDR. Die ungezügelte Zerstörung von Landschaft und Lebensraum war eine der Ursachen, dass sich im Osten ebenfalls eine Umweltbewegung gebildet hat, die später auch zunehmend politisiert war. Aber verglichen mit der Bundesrepublik kam das verspätet. Und auch der Roman ist ja letztlich verspätet erschienen.

CG: Wie kam es eigentlich dazu, dass der Roman erst fünf Jahre nach Ihrer Lesung beim Bachmann-Preis erschienen ist?

BS: Tja, wenn die Wende damals nicht gekommen wäre … Ich hatte in Klagenfurt wirklich ein gutes Echo. Viele Verlagsleute, die dort immer herumwimmeln, wollten den Roman machen. Sieben oder acht Verlage machten mir ernsthafte Offerten, sicherlich immer wegen des DDR-Bonus: Was DDR-Kritisches! Mein Pech war, dass der Roman noch nicht ganz fertig war, das Buch, mit dem ich die Wende hatte vorbereiten wollen! Als es im November fertig wurde, wollte ich nicht wahrhaben, dass ich inzwischen zu spät dran war. Ich schickte das Manuskript an all diese Verlage, aber die haben die Hände gehoben: Das war vorbei, erledigt, interessierte sie überhaupt nicht mehr. Es ist dann in einem kleinen Leipziger Verlag rausgekommen, verkauft in, glaube ich, 500 Exemplaren. Ich war kein Bestsellerautor der DDR gewesen, aber so um die 20 000 Stück hatten sich von jedem Text doch immer verkauft. Aber klar, nach 1989 war das ein anderer Markt mit anderen Bedingungen. Und ich war auch kein Skandalliterat gewesen, war nicht bei der Stasi und auch nicht ausreichend von der Stasi beobachtet worden, also eigentlich eine Unperson. Aber so richtig unbekannt geworden als Autor bin ich erst in den letzten fünf Jahren…

CG: Spielte für Sie die Zugehörigkeit zu einer Autorengruppe eine Rolle und haben Sie gegebenenfalls gemeinsam über verschiedene Ansätze bzw. Poetologien diskutiert?

BS: In Berlin gab es immer auch kleine unabhängige Gruppierungen abseits von PEN und Schriftstellerverband. Ich war zum Beispiel jahrelang zusammen mit Joochen Laabs, Volker Braun, Joachim Walther und anderen. Wir haben uns regelmäßig getroffen, uns unsere Texte gegenseitig vorgelesen und uns unserer Arbeit und unserer Ansichten versichert. Das ist schon so gewesen. Aber es war ganz selten, dass die Literaten wirklich literaturtheoretisch debattierten.

CG: Eine Frage zu Ihrem Schreibkonzept: Von Ulrich Plenzdorf gibt es die Aussage, dass er nur szenisch und filmisch denken und schreiben könne. Wenn man Ihre Texte nicht nur liest, sondern auch hört, dann merkt man, dass dahinter der Filmemacher steckt. Ist das filmische Schreiben bei Ihnen ein bewusst eingesetztes Stilmittel?

BS: Bei Cahlenberg absolut nicht. Aber die Indianergeschichte trifft das auf alle Fälle. Tatsächlich war das ursprünglich ein Filmskript. Ich hatte versucht, das unterzubringen, aber es wollte keiner verfilmen, TV-Sender wie Kinoproduzenten hatten die verschiedensten Vorwände, es passte ihnen nicht in den Kram. Offenbar glaubten die, eine solche Auseinandersetzung mit der DDR und der Nachwendezeit wäre in den Medien fehl am Platze. Da hab ich, dann in meiner Verzweiflung und Wut aus der Geschichte, weil sie mir weiterhin richtig durchdacht schien, einen Roman gemacht. Ich habe bei der Umsetzung versucht, bestimmte Figurenkonstellationen auch erzählerisch zu retten, deshalb diese Point-of-View-Technik, bei der eigentlich alle sich nochmal die Geschichte erzählen. Die einzige Möglichkeit mit der alten Zeit fertig zu werden, ist, sich ihr im gemeinsamen Erzählen gegenseitig zu versichern.

CG: Hat es Sie nie gereizt, einmal über Ihre Zeit beim DDR-Fernsehen zu schreiben?

BS: Das war nett! Ich hatte Glück, ich hatte wirklich eine sehr schöne Tätigkeit. Ich hab in der Abteilung Weltliteratur gearbeitet und vorwiegend Literaturverfilmungen gemacht, vom Schimmelreiter bis zum Bahnwärter Thiel, auch internationale Sachen. Wir hatten relativ viele Freiräume. Aber natürlich war man sich dessen bewusst, dass man innerhalb dieses verlogenen Mediums auch teilweise als Spaßmacher verwendet wurde, eine Art Alibi darstellte. Aber die damalige Arbeit beim Film ist wirklich sehr differenziert zu betrachten. Sicherlich will ich darüber auch noch einmal schreiben.

CG: Wenn Sie den Vergleich zu heutigen Produktionsbedingungen in Film und Fernsehen ziehen, wo sehen Sie Unterschiede und womöglich Gemeinsamkeiten?

BS: Ich kann nur sagen, wenn man zum Beispiel mit der Produktion von Literaturverfilmungen zu tun hat, dann hat die Zensur in der DDR manchmal mehr Spaß gemacht als heute, wo man es nicht Zensur nennt. Es ist ja ganz anders geworden, es geht heutzutage vor allem um Einschaltquoten und um Werbeeinnahmen. Es gibt aber auch – ich weiß, wovon ich spreche – die direkte Zensur in dem Sinn, dass ein Sender einer Produktion die Hauptsendezeit verweigert und sie ins Nachtprogramm verbannt. Das bedeutet dann wiederum, dass er nicht so teuer werden darf usw. Insofern war es damals schon ganz interessant, beim Film zu arbeiten und man konnte auch kritisch sein. Aber natürlich war es häufig auch sehr bitter.

CG: Bei allen auch negativen Erfahrungen arbeiten Sie aber nach wie vor für das Fernsehen. Und das doch auch mit einigem Erfolg. Sie haben ja zum Beispiel zahlreiche Folgen der bekannten Familienserie Der Landarzt geschrieben.

BS: Ja, ja, durchaus. Von meinem Geld, das ich als Prosaautor verdiente, hätte ich natürlich nicht leben können. Nachdem ich von Herrn Mühlfenzl aus Bayern abgewickelt wurde …

CG: … dem Rundfunkbeauftragten für die neuen Bundesländer.

BS: Richtig. Nachdem der mich abgewickelt hatte, begann ich freiberuflich als Drehbuchautor zu arbeiten, habe Komödien gemacht und irgendwann dann auch den Landarzt. Eigentlich hätte ich lieber so etwas gemacht wie Jurek Becker, der die Drehbücher zu der Serie Wir sind auch nur ein Volk verfasste. Aber das hat sich bei mir halt nicht so gefügt.

CG: Der Begriff Zensur ist schon verschiedentlich angeklungen. Man sagt ja, vollkommen wirkt Zensur eigentlich erst dann, wenn sie verinnerlicht ist, also wenn es gar nicht mehr des Druckes von außen bedarf, sondern ein Autor von sich aus meint, mit einer Geschichte nicht durchzukommen und dann beginnt, an der einen und anderen Stelle zu streichen oder die Ausarbeitung einer Idee auf eine spätere Zeit zu verschieben. In Christa Wolf Nachdenken über Christa T. wird das ja leitmotivisch angesprochen. Haben Erfahrungen mit diesem Thema gemacht oder fühlten Sie sich nicht wirklich betroffen?

BS: Doch, das hat mich schon betroffen. Ich hatte zwar meinen Job und hab die Prosaschreiberei immer als Sahnehäubchen gepflegt. Dabei wollte ich versuchen, so wahrhaftig zu sein, wie ich konnte. Gleichzeitig wollte ich meine Existenz nicht gefährden. In dieser Schere war man ja immer. Wenn ich Geschichten geschrieben hätte, die sehr ans Grundsätzliche gegangen wären, dann wäre ich aus Fernsehen geflogen, trotz meiner Festanstellung. Das überlegt sich dann schon. Und natürlich hat man auch manches für den Papierkorb geschrieben. Die Schere im Kopf hat, das muss ich selbstkritisch sagen, schon ganz gut funktioniert, bei mir und bei vielen anderen auch.

CG: Also würden Sie sagen, Sie hätten noch die ein oder Geschichte mehr geschrieben, wenn diese innere Schere nicht dagewesen wäre?

BS: Vielleicht. Es gibt bestimmt auch manche verdrängte Erinnerungen, die dann und wann hochkommen und niedergeschrieben werden möchten. Insofern will ich auch weiterschreiben, aber könnte das jetzt nicht genau dingfest machen oder Ihnen spontan eine Geschichte erzählen. Aber es ist so, dass manches noch nicht gesagt und vielleicht noch nicht mal richtig zu Ende gedacht ist.

CG: Welchen Zusammenhang würden Sie denn zwischen Erinnern und Schreiben für sich sehen?

BS: Für mich persönlich ergibt sich dieser Zusammenhang dadurch, dass ich mir über manche Dinge beim Schreiben erst klar werde. Darüber hinaus kann ein literarischer Text auch eine Vergewisserung für diejenigen sein, die die geschilderte Zeit miterlebt haben, indem sie diese Zeit noch mal reflektiert oder widergespiegelt finden. In diesem Sinn ist der Text ein Medium kollektiver Erinnerung. Und für die jüngere Generation, die gar nicht nachvollziehen kann, was die DDR gewesen ist, für die ist die Literatur ebenfalls unabdingbar, um bestimmte Aspekte verständlich zu machen. Und dann gibt es auch noch einen ganz aktuellen Aspekt: Uns wird von Leuten, die nicht erlebt haben, wie wir gelebt haben, ja immer wieder aufgedrängt, wie es „wirklich“ gewesen sei. Zum Beispiel, wenn Bundespräsident Köhler behauptet, das Leben in der DDR sei so gewesen, wie es im Film Das Leben der Anderen dargestellt wird. Da möchte ich dann schon immer wieder etwas dagegensetzen.

CG: Aber kann es nicht sein, dass Das Leben der Anderen tatsächlich eine Geschichte über die DDR erzählt, die vielleicht nicht in jeder Hinsicht richtig sein mag, aber als Möglichkeit trotzdem wahr ist, auch wenn der Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck die DDR gar nicht kennengelernt hat?

BS: Das mag schon stimmen. Auch in den neuen Bundesländern lief der Film ja mit unheimlichem Erfolg und viele Leute, die die DDR erlebt haben, sagen, so sei es wirklich gewesen. Aber unter den Intellektuellen, sie werden es vielleicht auch gemerkt haben, ist die Rezeption des Films ein bisschen komplizierter, sicherlich kritischer. Das hängt möglicherweise damit zusammen, dass wir manches gerne selber gemacht hätten. Aber ich weiß nicht, ob es besser geworden wäre, wahrscheinlich auch nicht, weil wir wiederum zu nah dran sind. Natürlich ist so ein Blick von Außen zu Zeiten gar nicht schlecht. Wir haben früher den Kulturinstitutionen, die über unsere Filmvorschläge und Texte befunden haben, ja auch immer gesagt: „So wie ihr euch das vorstellt, ist das Leben nicht, weder in den Betrieben noch sonstwo.“ Heute machen wir eigentlich dasselbe, nur geht die Kritik in die andere Richtung, wenn wir jetzt einem Film vorwerfen, dass etwa die Darstellung der Stasi nicht der Wirklichkeit entspricht. Wir ärgern uns also immer über den gleichen Schwachsinn.

CG: Sie meinen damit eine Haltung, die dazu tendiert, künstlerische Werke einseitig an ihrem vergangenheitsbezogenen „Wahrheitsgehalt“ zu beurteilen.

BS: Ja, diese kurzschlüssige Denkweise, die meint, im Bezug der Kunst zur Wirklichkeit müsse alles stimmen. Das war eben schon immer eine Keule, mit der man bestimmte Texte oder Filmskripts bekämpft hat. Das ist immer noch so und man selbst ist vor so einer Haltung eben auch nicht gefeit. Film oder Literatur als Wiederspieglung von Wirklichkeit, diese Vorstellung als Wertmaß ist, glaube ich, weder zutreffend noch förderlich.

CG: Wie würde denn Ihres Erachtens ein gangbarer Mittelweg aussehen zwischen Fiktionalisierung von DDR-Geschichte und historiografischer Kontextgebundenheit?

BS: Ich finde es immer etwas ungeschickt, wenn von einzelnen Werken das Ultimative erwartet wird. Ich war immer skeptisch über Floskeln wie: „Das ist der ultimative Stasifilm!“ oder „Das der große Wenderoman!“ – das gibts eben nicht. Ich denke, es notwendig, einen Dialog zwischen den einzelnen Kunstwerken und historiografischen Ergebnissen am Laufen zu halten. Wahrscheinlich wird die Wirkungsstrategie solcher Filme oder Bücher immer schwanken, mal zum Objektiven hin, zu einer möglichst großen Gerechtigkeit gegenüber der Geschichte, mal zur anderen Seite, ins Polemische hinein. Das gilt auch für ihre Rezeption.

 

Das Gespräch mit Bernd Schirmer wurde geführt am 19. Juni 2007 im Rahmen der internationalen Tagung „Rhetorik der Erinnerung – Gedächtnis und Literatur in den ‚geschlossenen Gesellschaften‘ des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989“ auf Schloss Rauischholzhausen bei Gießen.

Das Interview wurde zuerst gedruckt in: Gansel, Carsten. Literatur im Dialog. Gespräche mit Autoren und Autorinnen 1989-2014. Hg. von Norman Ächtler. Berlin: Verbrecher Verlag, 2015, S. 267-277.

Comments Off on „Ich war zu spät dran.“ (Nachdruck)

Jul 31 2022

22.2.22

 

 

22.2.22

 

by Gabriele Eckart

 

Zweien schneit es. Schnapszahlen, sagt mein Mann nach dem Erwachen und schwärmt von dem Buch, das er gestern Abend zu Ende gelesen hat. A twisted ending that I did not see coming. Bücher, die so enden, liebt er. Wie war dein Film? Großartig! sage ich. “The Eyes of Tammy Faye”. Die eklige Welt des Fernsehevangelismus. Auch ein Ende, das ich nicht vorhersah, hatte der Film. “Gott liebt dich so, wie du bist.” Trotz des furchtbaren Fehlers, den Tammy Faye einmal begangen hatte, indem sie christliche Spendengelder für ihren Luxus abzweigte, gab ihr der Regisseur eine Chance. Dabei wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, sie ins Lächerliche zu ziehen und fertigzumachen.

Deprimierend die Morgennachrichten im Fernsehen; seine Krallen streckte Putin nach der Ukraine schon lange aus, jetzt ist er zum Sprung bereit. Seine funkelnden Augen. Beim Zähneputzen vermeide ich einen Blick in den Spiegel. Eine Augenlidoperation hatte ich letztes Jahr, seither sieht mich aus dem Spiegel Hexe Kaukau an. Einen vorsichtigen Blick wagen. Madre mía. Und das linke Auge heilt nicht, entzündet der untere Rand; sogar Lesen ist schwierig geworden. Also Filme sehen, um die Zeit zu vertreiben, jeden Tag einen anderen Film. Würde ich meine Augen mit denen von Tammy Faye tauschen wollen? Tätowiert ihre Lider mit einem Dauer-Make-up, beinahe obszön sieht das aus. Nachbarn lachen über sie. Dragqueen!

Während des Frühstücks ist Putin unser Gesprächsthema. Wegen seiner Giftmorde an Kritikern misstrauen wir ihm schon lange. Aber die Ukraine greift er nicht an, sagt mein Mann. So weit geht er nicht. “Niemand hat die Absicht, die Ukraine anzugreifen!” Doch, sage ich. Bin in der DDR aufgewachsen und kenne diese Art Logik. Nichts hat sich geändert. Du wirst sehen! Wie hat sich das Leben in der Diktatur angefühlt? fragt mich mein Mann. Stell dir vor, ein großes Auge sieht auf dich herab, immer. Und dann und wann entschließt es sich, dich anzugreifen. Eine Nacht fällt mir ein, war es Ende 1986 oder Anfang 1987? Eine kinderlose Tante war gestorben, erzähle ich, um ihm ein Beispiel zu geben, ich hatte mir von meiner Erbschaft einen Trabant gekauft und gerade erst die Fahrprüfung bestanden. Nach Jena ging meine erste Fahrt, ein Jugendpfarrer dieser Stadt hatte mich zu einer Buchlesung eingeladen. Während der Rückfahrt auf der Autobahn, ein kalter Wintertag, etwa um Mitternacht war es, brütete ich über die verschiedenen Reaktionen des Publikums. Während die beiden Porträts aus meinem nur im Westen erschienen Buch So sehe ick die Sache gut angekommen waren (“so frisch” und “wie aussagekräftig”), hatten meine neuen Gedichte eher Kritik erfahren. “Meinem Geschmack nach zu larmoyant” sagte eine junge Frau nachdenklich, und sie hatte Recht. Ja, das waren diese Texte, zu tränenselig – eine Kritik, die ich heute teile. Statt Sprachkritik und Wortwitz nur ein bilderreiches Gejammer. Um diesen Punkt kreisten meine Gedanken, als ich bemerkte, zwei schwarze Autos begannen mich in die Zange zu nehmen. Eines vor mir, eines hinter mir, immer enger rückten sie zusammen, große, starke Wagen, zwischen ihnen meine hilflos knatternde kleine Schachtel. Angstschweiß bricht mir heute noch aus, sage ich, wenn ich an diese Minuten denke. Und? fragt mein Mann, hattest du einen Unfall? Nein, dank eines Kühltransporters nicht. Als er uns überholte, die zwei schwarzen Wagen und mich, wie erleichtert spürte ich den Sog des Giganten, scherte ich aus der Umklammerung aus und klebte mich an das Gefährt. Wie entsetzt grölte mein Zweitaktmotor auf. Das Geräusch ignorieren, durchrasen! rief ich mir zu. Und schaffte es. Unfallfrei schaffte ich es bis zu meiner Straße in Berlin. Die bedrohlichen schwarzen Gefährte verschwanden. Danach Tage in Schockstarre. Das war zum erstenmal, sage ich, dass mir das Wort faschistoid in den Sinn kam. Die DDR war faschistoid. Und Putin, er war damals KGB-Agent in Dresden, ist es heute immer noch, vielleicht ist er unterdessen ganz zum Faschisten geworden, wir werden sehen.

Nur mit Sonnenbrille verlasse ich das Haus. Einkaufen geht glücklicherweise mein Mann. Dank Corona gibt es keine Partys, gesegnet sei die Pandemie. Später heute Vormittag ein Termin bei einem anderen Chirurgen als dem, der mich operiert hat. Dr. Santos, dem Namen nach vielleicht ein Mexikaner, ándale.

Putin! denke ich später im Wartezimmer und falle in Gedanken wieder in den DDR-Sumpf. Deine Stasi-Phobie! schelte ich mich. Wehrlos bin ich dagegen. Erinnern heißt mich im Zeitraffertempo aus dem Sumpf befreien, immer wieder von neuem. Sobald ich heraus bin und erleichtert nach Luft schnappe, füllt Wasser das Loch, in dem ich gesteckt hatte, gurgelnd und schmatzend. Lieber an Tammy Faye denken!

Wie konnten Sie sich nur von einem Handchirurgen an den Augen operieren lassen! Das linke Lid sei falsch herum eingesetzt. Der Chirurg, sage ich, wirbt täglich im Fernsehen, “Heartland Plastic Surgery”; es klingt überzeugend, auf der Liste seiner Künste steht neben boobs das Wort “Augenlidstraffung”; ich ging ihm eben in die Falle. Spanisch spreche ich. Das doppelte “r” kräftig rollen, wie sich mein Gaumen freut. Stammen Sie aus Mexiko? Nein, aus Guatemala, sagt Dr. Santos auf Spanisch. Ich erzähle ihm, dass ich in Tikal war. Er kommt aus Antigua. Dort war ich auch! Wir unterhalten uns über die schöne Stadt. Wie fürchte ich die wunderbare Sprache zu verlieren, sage ich. Seit ich im Ruhestand bin, habe ich nämlich keine Gelegenheit mehr Spanisch zu sprechen. Da es Ihre Muttersprache ist, Sie Glücklicher, verlieren Sie sie nie! Woher ich komme, fragt mich der Arzt. Alemania oriental, sage ich und füge für die Sprechstundenhilfe, die ihrem Gesichtsausdruck nach offensichtlich kein Spanisch versteht, hinzu: it was the communist part of Germany. Beide nicken, ja, sie erinnern sich daran, der Osten Deutschlands war kommunistisch. Dr. Santos fotografiert meine Augen, erst das linke, das am schlimmsten dran ist, dann das rechte. Nächste Woche werde er mich operieren und meine Lider in Ordnung bringen, sagt er beruhigend; er diktiert der jungen Sprechstundenhilfe, was sie über die bevorstehende Operation notieren soll. Keine Bange, sagt er abschließend und legt mir die Hand auf die Schulter.

Freudestrahlend informiere ich meinen Mann über die guten Aussichten hinsichtlich meiner Augen. Auch er erleichtert. Weißt du schon, welchen Film du heute Abend sehen willst? Ich glaube, ich sehe mir noch einmal “The Eyes of Tammy Faye” an. Des unvorhersehbaren Endes wegen. Ob Gott mich auch so liebt, wie ich bin?

Comments Off on 22.2.22

Jul 10 2022

From Time to Time – Tritonen. Die Universalität der Menschenrechte

Published by under From Time to Time

 

From Time to Time

 

History does not repeat itself,
But it certainly likes to rhyme.

 

 

Tritonen.

 

Die Universalität der Menschenrechte –

 

Wie werden sie in Diktaturen verletzt?

 

von Axel Reitel

 

Vortrag, gehalten am 22. März 2022 an der Friedensschule in Münster (überarbeitet, Stand 23.05.2022)

 

Ost-West-Treffen in Böhmen 1983
v. l. n. r  Jürgen Ertel, Lennon, Simone, 
der Autor, Gudrun Ertel, Heike Hering.
Foto: Helmut Möckel   

 

Ich ging auch auf die Friedensschule, auf die in Plauen, im Vogtland, in einer Zeit, die in den Geschichtsbüchern als Kalter Krieg eingeordnet ist, ein breiter Konfliktherd, in dem auch geschossen wurde. Irre Kugeln verrückt gemachter Grenzsoldaten an der innerdeutschen Grenze, an der Berliner Mauer, in den sogenannten „Grenzgebieten“ oder im Abschnitt „Buchenwaldschlucht“, im Harz, da waren es einundfünfzig Schüsse aus einer Kalaschnikow auf einen Fünfzehnjährigen[1], wofür es irre Prämien und Sonderurlaub gab. Im irren Grenzabschnitt in Bulgarien zu Griechenland, erhöhte sich die irre Prämie auf irre eintausend Mark, abzuholen in der schandvollen Botschaft der DDR in Sofia. Selbstredend ohne Einspruch vom Ostberliner Komitee zum Schutze der Menschenrechte gegen militaristische Willkür und Klassenjustiz in Westdeutschland.

Ja, es musste alles demokratisch aussehen, aber sie mussten alles in der Hand haben, wie Wolfgang Leonard in seinem Buch, „Die Revolution frisst ihre Kinder“, bezeugt. Die Gesellschaft wurde in keine Entscheidung des SED-Staates einbezogen. Ist das nicht irre? Und so fragte ich mich, all dies wissend, als Jugendlicher, wie ist es aber vielleicht doch noch möglich, auch in einer Diktatur schön zu leben – und für eine angenehme Zukunft zu sorgen. Wenn das doch nur geht, „wenn ich mit andren auf der derselben Stufe agieren kann“[2]. Und auf wessen Kosten? Und wie oft frage ich mich noch heute: Was hilft jetzt? Was hilft dir jetzt genau? „Kopf einschalten“, lautete der Standardspruch meines ältesten Bruders Hans-Jörgen. Schwer zu glauben, denke ich, angesichts der rasenden Massen gegen die sogenannte „Brühe“, aber wie sauwohl müssen die sich doch wenigstens in ihrer irren Wut fühlen? Und ich bin wieder der Blöde und fühle mich bei diesen Bildern ganz und gar unwohl. Ok, denke ich, bin ich eben nicht so geprägt. Dabei prägt uns, was uns umgibt. Zur Mauer in Berlin sagte man Schutzwall und der Schutzwall schützte die Welt vor dem 3. Weltkrieg. Da haben wir‘s. Die Welt! Es ging, wie für Putin heute, immer um die ganze Welt! Und damit es in den Köpfen sitzt, wurde pausenlos geschmäht, was nicht in den Kram passte, angestimmt wurde ein Lob des Hasses auf den Westen! Und was vielleicht kaum einer weiß: die Schule in der DDR gehörte zu den militärischen Kampfeinheiten der Nationalen Volksarmee (kurz NVA). Wer all das lobte, war nicht doof und hatte seine Karriere sicher. „Die irre Sch**e macht doch keiner mit, sagte Drähte, auch ein Schüler der Friedensschule, malte ein paar dünne Hakenkreuze und verpflichtete sich zu fünfundzwanzig Jahren NVA-Dienst an der blutigen innerdeutschen Grenze.

Der Schießbefehl sagte zwar, auf Diplomaten schießt man nicht, aber wie unterscheiden sich Menschen im Dunkel? Zu wissen, was seit Menschengedenken verachtet wird und es der Karriere zuliebe doch zu tun, daran sollte man nach den jahrelangen Agitation-und-Propaganda-Shows, jeden Montag vor der ersten Stunde, nichts mehr merkwürdig finden. Dass der Staat genau dann fördert, war typisches DDR-Glück. Heute ermorden zehntausende russische Soldaten und Söldner die Menschen in der Ukraine. Das ist unser aktuelles Thema, dass uns seit dem Überfall auf die Ukraine mehr als irre beschäftigt.

Als ich Drähte Jahre später in der „Klause“ des Plauener „Ratskellers“ wieder traf, saß mir ein adretter Offizier gegenüber, an dessen Uniformjacke Ordensspangen und die Affenschaukel prangten, die Mütze akkurat neben sich auf dem Tisch, und der jetzt voller irrer Wut war auf diesen jungen Typen am Tisch, im feindlichen US-Shell-Parka, in den 501-Bluejeans und den Bergen von Locken. Und so musste er es sagen, wie irre wütend ihn alle mit ihren Fluchtversuchen machten. Und seine irre Wut packte er in ein irres Bekenntnis, falls ich das auch vorhabe: „Dann rotz ich dich ab! Du weiß, dass ich dort stehe und bei Nichterfüllung des Schießbefehls mir selber schade!“[3]

Müsste ich darüber nicht auch irre wütend sein? Und wie rechtfertige ich mein Nicht-Wütend-Sein? Drähtes Worte lösten nicht das Geringste in meinem persönlichen Alarmsystem aus, auch die persönliche Offstimme schwieg. Ich erhob mich, wartete mit meinem Bruder weiter auf die Platzierung, sagte ihm, was war, und musste mich irgendwie verhört haben, denn er antwortete mit gekränkter Stimme, er wolle nichts mehr mit mir zu tun haben.

Acht Jahre später wird er seine Läuterung von der Diktatur erfahren. Sie rückte das Bild des älteren Bruders und Vorbildes wieder zurecht. Der Anlass gebende Schmerzpunkt erfasste jedoch die ganze Familie. An Pfingsten 1987 erlitt der mittlerer Bruder Ralf auf dem Weg zur ausgehenden Spielzeit in Regensburg einen vermeintlichen Unfall. Zwei Stunden rangen die Ärzte des Uniklinikums Nürnberg um den eingeflogenen Schwerverletzten mit dem Tod. Bis zu seiner Verhaftung, Haft und Freikauf, spielte Ralf von 1979 bis 1984 am Theater Rudolstadt durchweg positiv besprochene Hauptrollen. Die Antworten der von mir 2007 befragten Stasimajore Karl-Heinz Schrodetzki und Alexander Rohrbach (Kreisdienststellen Rudolstadt/Saalfeld) brachte der Rezensent Udo Scheer in der Zeitschrift Bundesarchiv (Ausgabe 2/2008) auf den Schmelzpunkt: „Für sein Rundfunkfeature ‚Der Tod meines Bruders. Rekonstruktion eines vermeintlichen Unfalls‘ sprach der Autor auch mit früheren Schauspielkollegen des Bruders und Stasi-Offizieren. Ein vom MfS gedeckter Mord scheint nicht mehr ausgeschlossen.“ Als Hans-Jörgens Teilnahme an Ralfs Beerdigung von der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Dessau dem zuständigen Amt für Reiseangelegenheiten nicht empfohlen wurde, stellte er Stunden später einen Antrag auf Familienzusammenführung nach Berlin-West. Die Antragsgenehmigung im Herbst 1989 umwehte zweifellos derselbe geheime Schleier einer morbiden Ironie, die schon Pfingsten 1987 ihre „Lichter“ aufsetzte und auch Putins Gebrauch des Buchstabens „Z“ a la Räuber und Gendarm co-kreiert haben dürfte.

Sicher, das sage ich mir des Weiteren heute und weiß es besser: für Jahrgang 1947, und selbst auf der Karriereleiter, waren die Bandagen härter. Ich ahnte die unterschiedlichsten Prämissen seiner Wut. Versteckte diese Wut nicht eine ganz andere Sache eine ganz bestimmte Wahrheit, eine unveräußerliche Wahrheit, vor einen selbst? Sehr sorgfältig, sehr geschickt, verbergend, was mit den Gewitterstimmen des Gewissens über mich herfallen könnte, und zwar umso erbarmungsloser, umso mehr ich aus Selbstsucht der allgemeinen Vernunft zuwiderhandle?

Wenn ja, nenne ich es den enthaupteten Dialog. Und so stand mein Bruder für mich, der seinen Kopf gern in die Arbeit der französischen Aufklärung steckte, plötzlich – Heiliger Voltaire! –, in jenem Augenblick von dem Kopf enthauptet da, den man doch „einschalten“ sollte.

 

Und ich schaute auf eine blutige Spur

Für mich also an dieser Stelle passend, bemerkte im Jahr 1878 der Journalist und Redakteur Albert Fränkel in der damals berühmten Zeitschrift „Die Gartenlaube“ zur wütenden wie kopflosen Schändung Voltaires:

In einer Mainacht des Jahres 1814, kurz nach der Rückkehr des bourbonischen Ludwig des Achtzehnten, fuhr an der schönen und geschichtlich denkwürdigen Genoveva-Kirche in Paris ein geschlossener Wagen vor, aus dem zwei Männer stiegen. Bei ihrer Ankunft öffnete sich leise eine Thür der Kirche; sie traten ein, kehrten aber schon nach kurzer Zeit mit einem gefüllten Leinwandsack zurück, den sie vor sich in den Wagen legten, welcher hierauf eilig mit ihnen davonjagte. Die Straßen waren um diese Stunde schon ziemlich verödet, Paris lag bereits im Schlummer, oder hing im Innern der Häuser seinen nächtlichen Zerstreuungen nach, die stumm und in scheuer Hast sich abspielende Scene auf dem Genoveva-Platze war unbemerkt geblieben. Der Wagen fuhr nach einem wüsten Abladeplatz bei Berey, wo fünf Männer seiner harrten, die schweigend eine mit ungelöschtem Kalk gefüllte Grube umstanden. In diese wurde sofort der unheimlich durcheinander klappernde Inhalt des Sackes ausgeschüttet und hier schnell von der Zerstörungskraft des Kalks verschlungen, während der eine von den zwei aus Paris gekommenen Männern die Ceremonie mit einem herzhaften Fluche beschloß. Dann schaufelte man sorgfältig die Erde wieder zu, und nur ein Eingeweihter hätte am nächsten Morgen die Stelle des Bodens bezeichnen können, auf welcher eine schnöde Unthat sich vollzogen hatte. Die Geschichte der Menschheit aber hat alle Ursache, den Vorgang dieser Frühlingsnacht mit unauslöschlichen Zügen in ihr Erinnerungsbuch zu schreiben. Denn es handelte sich dabei nicht um einen Exceß gewöhnlicher Privatleidenschaft, sondern um einen berechneten Handstreich roher Feindseligkeit gegen pietätsvolle Empfindungen der gesammten civilisirten Menschheit, es war an stolz gehüteten Heiligthümern des französischen Nationalgeistes eine verbrecherische Schändung verübt, es waren die Spuren denkwürdiger Geisteshelden, die Gebeine eines Voltaire, [eines der größten Lehrer der Freiheit und der Menschrecht] aus ihrer Ruhe gerissen und in dieser beschimpfenden Weise vernichtet worden. (…) Aber die Rettung [jedenfalls für die Gesellschaft] kam, und sie kam aus dem erwachenden Denken, als schon in den letzten Tagen des vierzehnten Ludwig das künstliche Gebäude des Despotismus in sich selber zu wanken begann. Seine schwächer gestellten Nachfolger mußten die Zügel lockern und auch durch Förderung des Gewerbefleißes die versagenden Erpressungsquellen für ihren ungeheuren Geldbedarf zu stärken suchen. Dadurch kamen die arbeitenden Leute zu Wohlstand und Selbstgefühl. Noch ein kurzes Weilchen, und inmitten der Gesellschaft hatte sich ein neuer, der sogenannte dritte Stand herausgebildet, das erstarkte Bürgerthum, in dem sich eine reinere, von der oberen Fäulniß noch nicht angefressene Sittlichkeit mit tieferer Intelligenz, mit einem leidenschaftlichen Durste nach Wahrheit und nach ihrer muthigen Bezeugung verband.[4]

Gesetzt dem Fall nämlich, Menschenrechte sind Vernunft, zum Beispiel eine andere Meinung vielleicht nicht zu teilen, aber zuzulassen, offenbarte sich uns gerade dadurch die Möglichkeit eines profitablen Dialogs, von dem wir Menschen also von Anfang Nutznießer waren? So heißt es im dreitausend Jahre alten Psalm 54: „Gott, mach deinem Namen Ehre und hilf mir! / Verschaffe mir Recht durch deine Kraft! (…) Menschen, die ich nicht kenne, fallen über mich her. / Sie schrecken vor keiner Gewalttat! zurück, / ja, sie trachten mir nach dem Leben.“

Ein Schlüsselwort, das für die heutige Zeit wie geschaffen scheint und wir wie Zeitreisende uns die Augen reiben. Denn ein Blick auf die Entwicklung der irren Wut des heutigen Kriegstreibers Putin, auf die omnipotente Wut eines veritablen Dämons, ist nun ebenso notwendig wie die unveräußerlichen Menschenrechte dagegen zu Felde zu führen (sind sie doch wesentlich zukunftsorientierter als Krieg).

Und von diesem Gesichtspunkt aus mahnt uns der langjährige Leiter des ZDF-Büros in Moskau, Dirk Sager, in seinem Buch „Pulverfass Russland. Wohin treibt die Großmacht“, aus dem Jahr 2008, auch völlig zurecht: „Wer in die Zukunft sehen will, muss auf die Vorgeschichte zurückblieben.“ Vielleicht müssen es wir nicht, aber wir tun es.

Im Prolog der gekürzten einbändigen Ausgabe seines Welterfolges „Der Archipel Gulag“ schreibt Alexander Solschenizyn:

Im Jahre 1949 etwa fiel uns, einigen Freunden, eine bemerkenswerte Notiz aus der Zeitschrift „Die Natur“, herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften, in die Hände. Da stand in kleinen Lettern geschrieben, man habe bei Ausgrabungen am Fluß Kolyma eine unterirdische Eislinse freigelegt, einen gefrorenen Urstrom, und darin ebenfalls eingefrorene Exemplare einer urzeitlichen (einige Jahrzehntausende zurückliegenden) Fauna. Ob’s Fische waren oder Tritonen: der gelehrte Korrespondent bezeugte, sie seien so frisch gewesen, daß die Anwesenden, sobald das Eis entfernt war, die Tiere MIT GENUSS verspeisten. Die keineswegs zahlreichen Leser der Zeitschrift waren wohl nicht wenig verwundert zu erfahren, wie lange Fischfleisch im Eis seine Frische zu bewahren imstande ist. Doch nur einzelne vermochten den wahren, den monumentalen Sinn der unbesonnenen Notiz zu erfassen. Wir begriffen ihn sofort. Wir sahen das Bild klar und in allen Details vor uns: Wie die Anwesenden mit verbissener Eile auf das Eis einhackten; wie sie, alle hehren Interessen der Ichthyologie mit Füßen tretend, einander anstoßend und vorwärtsdrängend, das tausend Jahre alte Fleisch in Stücke schlugen, diese zum Feuer schleppten, auftauen ließen und sich daran sättigten.

Wir begriffen es, weil wir selbst zu jenen Anwesenden gehörten, zu jenem auf Erden einzigartigen mächtigen Stamm der Seki, der Strafgefangenen, der Lagerhäftlinge, die allein es zustande brachten, einen Triton „MIT GENUSS zu verspeisen“. Am 12. Dezember 2016 hielt ich aus Anlass der Verleihung der „Solidarność-Dankbarkeitsmedaille“ im Europäischen Solidarność-Zentrum (ECS) in Gdansk folgende Dankesrede[5]:

[…] die ‚Ausrufung‘ der Protestaktion gegen das Kriegsrecht und für die uneingeschränkte Zulassung der Solidarność, geschah in einem Gefängnis, das vom Ministerium für Staatssicherheit indirekt verwaltet und fest in den Transaktionen der für die Staatsdevisen der DDR verantwortlichen Kommerziellen Koordinierung, kurz: KoKo, verankert war. Sie begann mit handgeschriebenen Aufrufen am 14. Dezember – und erreichte ihren Höhepunkt am 17. Dezember 1981. Das Gefängnisregime war durch Zellenspitzel vom ersten Tag an vorbereitet. Am 17. Dezember erwartete die Arbeitskommandos in der Speisebaracke eine Hundestaffel. Essen! wurde befohlen. Die Listen aller Verweigerer gibt es: sie werden der Forschung durch die Behörde für die Unterlagen der Staatssicherheit nur geschwärzt zur Verfügung gestellt.

Während jener vier Tage war das Haftpersonal bewaffnet und lungerte in Scharfschützenmanier auf den Dächern. Wir blickten einander an, und die Frage lautete, ob sie schießen. Die Antwort überrascht am Ende vielleicht nicht einmal, aber ich muss gestehen, dass mich die Möglichkeit, einer von dreihundertfünfzig niedergeschossenen politischen Häftlingen zu sein, auch heute noch etwas nervös macht.

Doch es hat sich alles gelohnt.

Der beeindruckende Kampf der Solidarność um Freiheit, Unabhängigkeit und Wohlstand mündete nicht nur im Untergang des hermetischen Ostblocks, sondern es erneuerte grundlegend die Europäische Union. Den klugen Köpfen der Solidarność war es aus staatstheoretischer Sicht klar, dass Polen an seiner Westgrenze ein wieder vereintes Deutschland und keine stalinistische DDR braucht. So steht es in den Sonderberichten der Verwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR vom 12. Dezember 1981. Und weiter dort „Fernziel des [„Komitees zum Schutz der Arbeiter“ für inhaftierte Dissidenten, kurz]: KOR ist die Eingliederung der Volksrepublik Polen in ein vereintes Europa mit einem wieder vereinten Deutschland.“ Das ist nun alles so geschehen. Die ebenfalls notierte „Überzeugung (…) dass die Entwicklung in Polen auch auf die DDR übergreifen wird“, hat sich dagegen nicht bestätigt. Gewiss lagen vielen Menschen in der DDR die August-Ereignisse 1980 am Herzen, am Ende traten zu wenige dafür ein. Auch die friedliche Revolution 1989 in der DDR bekannte sich kaum zu ihrem Vorbild Polen. Deshalb ist es auch kaum verwunderlich, dass der von seiner Anzahl größte Protest in der DDR gegen das Kriegsrecht in Polen ausgerechnet in einer DDR- Strafvollzugseinrichtung stattfand. Nirgends im Land war das Wort so frei als im politischen Gefängnis.

Und auch die Antwort auf unsere Frage ist moderner denn je: Die KoKo, die von Honecker 1966 gegründete Kommerzielle Koordinierung, war unermüdlich damit beschäftigt, harte Weltmarktwährung, Devisen genannt, in die ewig klammen Kassen der DDR zu spülen. Dazu gehörte auch der frei verkaufbare unbekannte politische Häftling (offiziell durfte es den ja nicht geben).

Aktenkundig sind zwar Gespräche zwischen der Gefängnisleitung und dem zentralen Operativstab der Stasi über den praktischen Einsatz einer bewaffneten Truppe. Doch welcher praktische, vernunftbegabte Mensch schießt eine Ware im Geld-Wert von 95.847 mal 350, das sind 33.546.450 Valuta, über den Haufen? Der Chef der Kommerziellen Koordinierung, Schalck-Golodkowski, dessen Vater bereits ein guter Rechner beim russischen Zaren gewesen ist, dürfte sich, hoch oben, im Sitz der KoKo, im 23. Flur des Internationalen Handelszentrums an der Friedrichstraße, die Haare gerauft haben – und da wurde eben nicht geschossen!

Schon für Marx war „in Wirklichkeit die treibende Kraft die Beziehung des Menschen zur Materie und das wichtigste daran seine Produktionsweise. Dadurch [wurde] der Marxsche Materialismus in der Praxis [ja] zur Wirtschaftslehre.“[6]

Aber auch aus anderen Gründen wird weiter nach Marx gegriffen, in Opportunitätserwägungen einbezogen, um unablässig zu schmähen, was nicht den Beschreibungen des eingeübten Standpunktes entspricht. Bis heute ist „die Rechte nicht eben ein leuchtendes Vorbild. Aber die Linke ist schizophren“[7] geblieben. Ihr fehlt weiterhin die „Festigkeit der Überlegung und auch ein wenig Bescheidenheit“, stattdessen ergeht sie sich in „eingebildeten Gewändern“.[8] Man muss seine Zeit wie einen Erwachsenen betrachten, das heißt ohne voreingenommene Sympathie oder Antipathie. Das heißt nach den Maßstäben der Kritik und der Vernunft.

Möge diese Medaille also auch Gruß und Zuspruch für alle sein, die verstehen wollen und nicht richten, die für eine gerechte Gemeinschaft kämpfen und für Wahrheit und Freiheit gewaltlos im Einsatz sind.

Wir verweilen noch etwas in unserem hübschen Gefängnis. Bernd „Egon“ Möller traf ich das erste Mal in der Speisebaracke unseres Gefängnisses. Von Beruf und in Sträflingskleidung als Elektriker eingesetzt, erhielt er vom 1. Strafsenat des Bezirks Karl-Marx-Stadt eine Gefängnisstrafe von drei Jahren wegen Besitz und Verleih der dreibändigen Ausgabe des „Archipel Gulag“. Zum Zeitpunkt der Gerichtsverhandlung lag die monatelange Tortur der Untersuchungshaft der Staatssicherheit auf dem Kassberg bereits hinter ihm. Einst in ganz Europa berühmter Gründerzeitbezirk, war der Kassberg zu einem berüchtigten Unterdrückungsort der SED-Diktatur geworden. Zur selben Zeit wie Egon befand auch ich mich auf dem Kassberg, Zelle 29. Gab es kein Verhör, las ich oder spielte Schach, und zwar via Klopfzeichen gegen die Wand mit dem unsichtbaren Zellennachbarn in Nr. 30. Wir bekamen uns zwar nie zu Gesicht, aber wir klopften uns ja unsere Namen, biografischen Details und so manches unvergessene Alltagserlebnis in der DDR oder was die DDR in Atem hielt.

Das waren damals, vor dem europäischen Erdbeben des Sommers 1980 in Polen, die Abendstunden des 09. März 1980 gewesen. Zwar verursachte der Sprengstoffanschlag auf das sowjetische Panzerdenkmal in Karl-Marx-Stadt nur geringfügige Schäden, und der Attentäter Kneifel war längst in Haft, doch der symbolische Schaden, überhaupt angreifbar zu sein, sorgte für eine längerfristige Unruhe in den ersten politischen Reihen. Dies war so vor allem, weil ständig Nachahmungstäter gefürchtet wurden, wie ihnen täglich eine Rückkehr des 17. Juni 1953 vor Augen stand. (Nicht umsonst fragte Erich Mielke seine Genossen angesichts der von der demonstrierenden Bevölkerung in Besitz genommenen Straße: „Haben wir jetzt den 17. Juni?“)

Nun, so kam es, dass „Egon“ an einem dieser Tage, für ihn ein Arbeitstag, mit einer eingewickelten Batterie samt batteriebetriebenen Drähten den Platz des Panzerdenkmals querte und von hinter Zeitungen hervorspringenden Männern niedergerissen auf die Nase fiel. Da sich das MfS schwerlich die Blöße eines Fehlers gab, behielten sie ihn im Auge, schnüffelten in seinem Freundeskreis und entdeckten den verbrecherischen Büchertausch; und wir tauschten nun über Klopfzeichen unsere Lebensdaten aus und fanden sogar eine gemeinsame Bekannte, die kosmisch schöne Mareile, aber hauptsächlich spielten wir Schach.

Selbstverständlich glaubte ich nicht, dass ich „Egon“ einmal wirklich gegenüberstehe. Als es dann in der Speisebaracke im Gefängnis in Cottbus doch genau zustande kam, schweißte uns das wie in einer Familie zusammen. Neben ihm, auf dem Ablagetisch, lag die Tagesausgabe der „Jungen Welt“. Der Schwerpunkt eine Schmähtirade gegen die im Westen gebliebene „Verräterin“ Veronika Fischer. Die göttliche Vroni genoss die Freiheit! Wir witzelten herum. Warum nannte sich die Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands eigentlich nicht Sozialistische Einheitspartei der DDR? Natürlich wusste jeder genau, dass dies dem deutsch-deutschen Alleinvertretungsanspruch Ostberlins DDR zuwiderlaufen würde. Es ging ja ständig um die Kassierung West-Berlins, und Westdeutschland sollte mit NVA-Panzern niedergehalten werden. Ein Anspruch, den wohl auch Putin im Sinne der Wiederherstellung der mächtigen alten Sowjetunion umtreibt.

 

„Alleinvertretungsanspruch“

Der befreundete Autor, Dipl.-Physiker und Jude Gabriel Berger, schreibt am 19.03.2002 auf Facebook:

In seinen Reden vor dem Überfall auf die Ukraine am 21.02.2022 und am 23.02.2022 hat sich Putin deutlich von Lenin distanziert, dem er nachsagte, durch seine Nationalitätenpolitik einen Sprengsatz an die Sowjetunion angelegt zu haben. In die Verfassung der Sowjetunion hat Lenin nämlich 1922 gegen den Widerstand von Stalin den Passus aufnehmen lassen, jede nationale Republik der Sowjetunion habe das Recht, den Verband der Sowjetunion zu verlassen. Unter Berufung auf diesen Verfassungsartikel seien die Republiken 1991 aus der Sowjetunion ausgetreten, was zu deren Zerfall geführt habe, was laut Putin „die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei. Stalin dagegen habe von vornherein die Möglichkeit des Ausscheidens der Republiken ausschließen wollen, sich aber gegenüber Lenin nicht durchsetzen können. Aus genannten Gründen gibt es im heutigen Russland keinen Lenin-Kult mehr, während Stalin immer stärker rehabilitiert und verehrt wird. Die Verehrung Stalins hat aber heute nichts mit egal welcher Variante des Bolschewismus oder Marxismus zu tun. Stalin wird verehrt, weil unter seiner Herrschaft die Sowjetunion, also das russische Imperium, zur Weltmacht aufgestiegen ist. Das Ziel Putins ist, zumindest in dieser Beziehung, Stalin nachzueifern und Russland wieder zu einem Imperium mit Weltgeltung und Welteinfluss zu machen. Weil dieses Ziel von Russland nicht wie von China durch die Wirtschaft zu erreichen ist, versucht das Russland durch eine überdimensionale Militärmacht.

Am 02.06.2018 meldet das „Handelsblatt“: „Die Russen nähern sich der ‚Glückssträhne‘ – meint Wladimir Putin. Der russische Präsident sieht in seinem TV-Marathon Russland im Aufwärtstrend, von dem aber noch nicht alle profitieren. Und er droht der Ukraine.“

So wie Putin seinen Landsleuten, die nicht so wollen, wie er will, mit „Säuberungen“ droht. Soweit von Stalinschen Säuberungen bekannt ist, jene dabei hochkommende Periode der sowjetischen Geschichte, in der politisch „unzuverlässige“ und oppositionelle Personen massiv verfolgt und ermordet wurden. Die Gesamtzahl der Opfer reichen nach Schätzungen von Historikern von mindestens 3 Millionen Toten bis weit über 20 Millionen. Der Zustand Glücks erfährt dabei eine völlig neue Dimension.

In seinen berühmt gewordenen „Erzählungen aus Kolyma“ schreibt der verurteilte Jurist und König der Gulag-Literatur, Warlam Schalamow:

Krist traf Miroljubow auf dem Dampfer ‚Kulu‘ – der fünften Fahrt der Schiffahrtssaison von 1937. Der Überfahrt ‚Wladiwostok – Magadan‘. Der Leibarzt des Fürsten Gagarin und Vitautas Putnas grüßte Krist kühl – Krist war ja Zeuge seiner inneren Schwäche, einer gefahrvollen Stunde in seinem Leben gewesen und hatte ihm, so empfand es Miroljubow, in einem schweren, todgefährlichen Moment nicht geholfen. Krist und Miroljubow drückten einander die Hand. „Ich bin froh, Sie lebend zu sehen“, sagte Krist. „Wieviel?“ „Fünf Jahre. Aber Sie verhöhnen mich. Ich bin ja vollkommen unschuldig. Und dann fünf Jahre Lager. Die Kolyma.“ „Ihre Situation war sehr gefährlich. Lebensgefährlich. Das Glück hat Sie nicht verlassen“, sagte Krist. „Gehen Sie zum Teufel mit solchem Glück.“ Und Krist dachte: Miroljubow hat recht. Das ist ein allzu russisches Glück – froh zu sein, wenn ein Unschuldiger fünf Jahre bekommt. Denn er hätte ja zehn bekommen können, sogar den Tod.

Und aus der Ukraine werden aktuell tausende, zehntausende Menschen auf russisches Gebiet verschleppt und womöglich der alten Welt des Archipel Gulag und ihrer Hungerpeitsche überlassen.

Im Wintersemester 2011/12, las ich, gab es an der Uni Saarland die Übung: „Die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts? Glasnost, Perestrojka und der Zerfall der Sowjetunion (1991)“. In der Ankündigung heißt es: „Am 25. April 2005 bezeichnete der russische Präsident Vladimir Putin den Zerfall der Sowjetunion [die Großmacht-Diktatur ihrer Zeit] in seiner Rede vor den Mitgliedern der Föderationsversammlung als ‚die größte geopolitische Katastrophe‘ des 20. Jahrhunderts. Der russische Staatschef ließ somit seiner Sehnsucht nach dem untergegangenen kommunistischen Imperium freien Lauf und äußerte eine Meinung, die sowohl in Russland als auch im postsowjetischen Raum noch 20 Jahre nach diesem historischen Ereignis weit verbreitet ist.“

Im dem im Jahr 2008 veröffentlichten Buch „Pulverfass Russland. Wohin steuert die Großmacht?“ heißt es im Klappentext:

Der Kreml hat die Demokratie ausgehöhlt und im Land eine Atmosphäre geschaffen, in der die jüngsten Morde an Regimegegnern wie [der Journalistin] Anna Politkovskaja überhaupt erst möglich wurden. Während der Geheimdienst FSB nach innen für Ordnung sorgt, verkörpert der Gasprom-Konzern, der die Kontrolle über die globalen Rohstoffmärkte anstrebt, nach außen den russischen Anspruch auf Weltgeltung. Um jeden Preis trachtet das Land danach, auf die Bühne der Supermächte zurückzukehren.“

Des Weiteren wird das Versprechen gegeben, dass Sagers Buch zeigt, was hinter Moskaus Machtspielen steckt. Das erste Kapitel des Buches heißt (und stellt wohl die gerade heute, auch an diesem 22. März 2022, in dieser modernen Aula in der Studentenstadt Stadt Münster, die uns aus den gegebenen Gründen beherrschende Frage) „Was treibt Putin an?“ Dazu schreibt Dirk Sager:

Aufstieg und Niedergang, Hoffnung und Desillusionierung – wie in einem Malstrom wirbelt Rußland zwischen den Polen der Extreme: Moskau als ‚Drittes Rom‘ oder eine Hölle auf Erden (…). Es war [aber] keineswegs von der Geschichte determiniert, dass aus den Ruinen der Sowjetunion keine Demokratie erwuchs. Schließlich wird in Moskau, aber auch im Westen, im Disput über gegenwärtige Verhältnisse eine Haltung vertreten, der zufolge die Kritik am System als unangemessenen Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes gilt. Doch falsche Zurückhaltung würde ein Reinfall in die Zeit vor den siebziger Jahren bedeuten, als sich das östliche und westliche Lager im Kalten Krieg zaghaft um „Wandel durch Annäherung“ bemühten.

Auf der Konferenz von Helsinki 1975, wo sich die Regierungschefs und Staatspräsidenten Europas versammelt hatten, wurde eben nicht nur über ein System der gemeinsamen Sicherheit und die Verbesserung des Handels diskutiert, sondern auch über Menschenrechte. Teile der russischen Zivilgesellschaft fanden sich schon damals zusammen und beriefen sich auf die Beschlüsse dieser großen Ost-West-Konferenz. (…) Im Jahre 2000 erläuterte der noch junge Präsident Putin auf der Pressekonferenz in einem nach den Maßen der Bescheidenheit gestalteten Raum im Kreml, „geduldig, weshalb es zwingend sei … um die zentrifugalen Kräfte im Riesenreich zu bändigen, die ‚Vertikale der Macht‘ zu stärken. Vertikale der Macht – das wurde das Schlüsselwort für die Ausrichtung aller politischer Macht-Strukturen im Land auf den Kreml. (…)“ Dabei „hat Putin selbst demonstriert, wie sich mit festem Blick aufs Ziel und wohlüberlegter Taktik“ (zum Beispiel zur Zeit des Vernichtungskrieg gegen Tschetschenien gleichzeitig auf internationalen Konferenzen als Friedensengel mit verblüffenden Erklärungen trotz alle berechtigter Vorwürfe zu brillieren) „auch in kürzester Amtszeit die demokratischen Grundstrukturen eines Staates demonstrieren lassen.“

Am 06.03.2022 schreibt Christoph Kunkel im SPIEGEL, was Putin wohl antreibt: „Pinochets Militärdiktatur nannte Wladimir Putin 1993 als Leitbild. Und Zar Iwan der Schreckliche? Halb so wild. Offen pries der Kremlchef Monarchie und Autokraten – was auch deutsche Wirtschaftsvertreter beklatschten.“

Am 24. Februar 2022 überfiel die Putin die Ukraine und begann seinen lange vorbereiteten Krieg, der bereits Tausende von Ukrainern getötet und fast drei Millionen aus dem Land vertrieben hat.

 

Die Vertikale der Macht

Als wir im Gefängnis unsere Protestaktion vorbereiteten, war diese gerade gegen die „Vertikale der Macht“ gerichtet. Es ging uns, so indianerhaft es klingt, um den Sieg der fehlerhaften Demokratie über die bleierne Diktatur. An einem beispielhaften Nachmittag zuvor, in den Sommermonaten, diskutierten wir im staubigen Freihof, dessen Grashalme jeden Morgen von einem speziellen Häftlingskommando ausgerissen wurden, dass der iranische Rundfunk mit der Begründung die Bevölkerung ermutigte, Regimegegner zu denunzieren, weil niemand geschont werden dürfe und, falls nötig, müssten auch die nächsten Angehörigen von denen, die abgekommen sind, an die Revolutionsgerichte übergeben werden.

Auf unserer Agenda ganz oben stand die Freiheitsbewegung in Polen, wobei immer wieder die Frage aufblitzte, ob von Seiten des Staates am Ende wieder zu den Maßnahmen der „Säuberungen“ gegriffen würde.

Ob Griechenland, Chile oder Argentinien, alle Nachkriegsdiktaturen schickten diesen Schrecken um die Welt. So standen wir im Freihof, im Gefängnis. Wind kam auf, wir schluckten Staubwolken, und spuckten Sand aus.

Da erhob sich die Stimme des feisten Schließers „Panzerplatte“ (wie er sich nur an uns herangeschlichen hatte?). „Nicht, dass wir das Mullah-Regime überaus gut finden, aber das ist eben Führung und Disziplin gegen Entartung und Grenzenlosigkeit!“

Wir sahen uns an, und ich überlege heute, ob es auch „Panzerplatte“ war oder eher „Petrograd“ oder „Berija“ oder doch eher „Salonbolschewist“, oder „Roter Terror“, oder „Arafat“, „Zitteraal“, „Tellermine“ „Texaner“, „Onane“, „Urian“, „Würger“, „Kjelt“, „Pfeffernase“, „der kleine Beckenbauer“, „Stalin“ selbst oder „Lachtaube“ am Ende gewesen ist, der über die Flure der Zellenbereiche, die Erziehungsbereiche hießen, vielleicht sogar betrunken, was vorkam, brüllte, vielleicht, um etwas Besonderes zu sagen: „Wenn ich Menschenrechte höre, zieh ich die Atombombe!“

Kannte er Goebbels Erregungsschwall: „Wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich meinen Revolver“? Der war auch schon nicht eigener Art, sondern stammte aus dem Stück „Schlageter“ („….entsichere ich meinen Browning“/1933), freilich ein Märtyrerschauspiel des Nationalsozialismus.

Aber die Verantwortung der Kunst (jener großen Freundin der gewährten Grundrechte), nicht zu blenden, leuchtet in der Diktatur mit ihren ausweglosen Vorschriften weder Raum, Zeit, noch Erziehungsbereiche aus.

„Aber“, wandte sich Lennon, 18 Monate für „Biermann“ mit Kreide an eine Hauswand, „Kopf tragend“ wie Kojak, fähig zum Hahnenruf wie Professor Unrat, und eben Sand im Mund, an „Panzerplatte“:

Während wir schon nächsten Montag oder an einem Montag in einem Monat oder erst an einem Montag in einem Jahr von hier auf Transport in die grenzenlose Freiheit gehen, werden sie niemals in ihrem Leben reisen können, wohin sie wollen. Sicher gibt es das Bolschoi-Theater, die Ermitage, den Friedrichstadtpalast, die Olympischen Erfolge. Diese wunderschönen Sachen gibt es in ihrer Diktatur, aber sie erlaubt es ihren Menschen nicht, mit allen Menschen darüber frei zu reden. Sie werden ständig auf die Strategien von Erich Honecker, Erich Mielke, Friedrich Dickel [dem Minister des Inneren, dem die Schließer unterstanden] und der Kontrollmacht im Kreml abhängig sein, die keinen frei atmen lässt, ohne an sie zu denken, und notfalls den Chinesischen machen müssen. So zu leben ist für mich grenzenlose Unvernunft, wogegen in der Freiheit zu leben für mich das Vernünftigste auf Erden ist.

v.l.n.r. Lennon, Simone, der Autor, Gudrun Ertel, Heike Hering. Foto: H.M.

Zur aktuell aufkeimenden Hoffnung, Peking könne im Ukraine-Krieg Moskau zur Vernunft bringen, das mit der Kaperung des Atomkraftwerkes Tschernobyl längst die Welt atomar bedroht, konstatierten die Stuttgarter Nachrichten bereits am 25. 02. 2022: „Peking hat ein Problem mit Putins Angriffskrieg. Xi Jinping und Wladimir Putin haben sich ‚grenzenlose Freundschaft‘ versprochen. Doch China wird sich nur so lange daran halten, wie es strategisch nützlich ist.“

Didi Kirsten Tatlow vom German Council on Foreign Relations hält laut Deutsche Welle vom 14.03. 2022 die aufkeimenden Hoffnungen, China könne sich als aktiver Vermittler einbringen, für „ziemlich unangebracht“: „Selbst wenn Peking kurzfristig vermitteln kann, lädt man es damit im Grunde ein, über etwas Kontrolle zu übernehmen, das extrem wichtig für demokratische Länder ist. Damit versetzen sich demokratische Länder in eine sehr schwache Position.“

Zu den Positionen, die für Demokratien „extrem wichtig“ sind, und zur Maßhaltung der Strategien, die Diktaturen innewohnen, gehört die Handhabe der „unveräußerlichen Menschenrechte“, wie sie von der UNO zu Papier gebracht wurden und die unser Gefängnis in der DDR, mit dem Glück des Freikaufs durch die von ihren alliierten Kontrollmächten demokratisch erzogene Bundesrepublik, zu einem magischen Ort der Befreiung machte.

Insofern war die Zeit im Gefängnis eine gute, lehrreiche Zeit. Kriege aber verändern alles, das Gefühl für die Zeit wie einen selbst. Davon spricht das Gedicht des in Moskau lebenden Poeten Dov-Ber Kerler (alias Boris Karloff) vom 05.03.2022[9], entnommen dem Essay „Wir bewundern sie und sie verschwinden“ unserer P.E.N.-Kollegin und Suhrkamp-Autorin Esther Dischereit:

Reime, sie sind am Ende / die klassischen, die biegsamen / die romantischen oder auch die unbeholfenen / Der Atem selbst, so sieht es aus, verlor seinen Rhythmus / Die Worte wie sturzbesoffene ungehobelte Leute / erklimmen gerade Wände / Hört sich an wie Kleinkindgeschrei / Unter den Bomben die fallen und fallen und fallen / Ist selbst die Stille abgelaufen / Sogar die dünne Stimme Seiner Stille ist weg / Und der großartige Friedenskämpfer, / Wischi-waschi und mit einer Seele so rein / Will gerade nur eine einzige Sache/die grausige Aufgabe direkt und ohne Diskussion vollenden / die brutale Bestie Putin erwürgen mit seinen eigenen Händen

„Von Anbeginn an hat dieser Krieg bei mir eine komplizierte Reihe von Emotionen (Wut und Bestürzung hauptsächlich) ausgelöst. Ich finde es schwer, an etwas anderes zu denken. Ich reagiere zurzeit in erster Linie auf die bloßen Tatsachen vor Ort – darauf, was der gewalttätige Irre Putin macht, auf das Massenelend, das hier geschieht“, schreibt in Esther Dischereits Essay ihr C., eine ukrainische Freundin aus den USA, nach Berlin.

Tritonen nun sind mythische Mischwesen, halb Fisch, halb Fleisch, im Gefolge Neptuns, mit dem Muschelhorn in der Hand. Wolf Biermann dichte im Januar 1963 „Gegen die Angst: Wie lange, sag, kannst du, / im Lügenmeer leben, ohne daß du /ein Fisch wirst?“ Man könnte abschließend es also so sagen: Diktaturen blasen, nach innen oder nach außen, immer zum Krieg, während Demokratien ihre Zeit dafür ausgeben, auf „freiem Grund“ die Menschenrechte zu pflegen, um mit allen Menschen frei zu reden, frei zu denken, frei zu fühlen, frei zu handeln, und das Leben frei und lebbar gestalten zu können.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

 

Axel Reitel Berlin-Mierendorff Insel, 19.03.2022, 09:39 Uhr.

 

 

Fußnoten:

[1] Vgl. Axel Reitel, Der Jugendstrafvollzug in der DDR am Beispiel Halle, S. 268f., Dr. Köster-Verlag Berlin, 2006. (Dieselbe Seitenzahl in der Erstveröffentlichung durch die Landesbeauftragte Sachsen-Anhalt 2002)

[2] Philip Pettit, „was bedeutet Freiheit?“ Sternstunde Philosophie, SRF Kultur, 2011. Dieser Gedanke Pettits ermöglicht einen feinen Trick, ein persönliches Theorem, sich in er SED-Diktatur so zu verhalten, als wäre man im vollen Besitz aller bürgerlichen Freiheiten. So haben nicht wenige gelebt und denen, die selbst ein begehrtes Exportgut darstellten, wurden sie sogar gewährt.

[3] Vgl. Freie Presse, Lokale Ausgabe Plauen, Artikel „Ich rotz dich ab!“ 1993[?].

[4] https://de.wikisource.org/wiki/Zwei_Lehrer_der_Freiheit_und_Menschenrechte_(1) (Aufruf 30.03.2022)

[5] Quelle: https://blogs.dickinson.edu/glossen/archive/glossen-43-2017-current-issue/dankesrede-aus-anlass-der-verleihung-der-dankbarkeitsmedaille-an-mich-und-vier-andere-vom-und-im-europaischen-solidarnosc-zentrum-ecs-in-danzig-am-12-dezember-2016/ (Aufruf 17.03. 2022)

[6] Vgl. Bertrand Russell, Philosophie des Abendlandes, Europa Verlag Zürich 2007, S. 791.

[7] Vgl. Albert Camus, Verteidigung der Freiheit, Rowohlt 1997, S. 119.

[8] Ebd.

[9] https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/506272/wir-bewundern-sie-und-sie-verschwinden/ (Aufruf 19.03.2022)

Comments Off on From Time to Time – Tritonen. Die Universalität der Menschenrechte

Nov 12 2021

Buchbesprechung | Irmgard Hunt. zueinander. Neue und alte Geschichten.

Published by under

von Edith Borchardt

Irmgard Hunt. zueinanderNeue und alte GeschichtenLeipzig: Engelsdorfer Verlag, 2021. 98 Seiten. ISBN 978-3-96940-141-5. 

 

Es ist erstaunlich, wie viel es über Hände zu sagen gibt. Irmgard Hunts feinfühlige Beobachtungsgabe und wortgewandte Sprachkunst fallen in dem einleitenden Text „Hände“ sofort auf: Hände, die retten; Hände, die schützen; Hände, die Welten zueinander führen und Unterschiede überbrücken: Welten, die sich begegnen durch helfende Hände; weiße und schwarze, junge und alte Hände, die durch Gesten der Menschlichkeit die Angst der Gegenwart und die Gefahren der Zeit zu überwinden suchen. 

Hände und Kreativität in den „Rhapsodien“: Sie sind die „Geburtshelfer der Kunst“ (16), die Gefühle und Ideen erspüren und zum Ausdruck bringen, nicht ohne durch ihr Medium gebrandmarkt zu werden mit den Schmerzen und Schwielen des Schaffens. Die gegenwärtige Pandemie hat Zeichen hinterlassen in diesem Büchlein: Hände, die nicht zueinander können zur persönlichen Berührung, die nur über Skype winken und Kusshände blasen können. Politisches: Die junge Dichterin Amanda Gorman bei der Amtseinführung von Joe Biden und Kamala Harris: Wir haben es miterlebt am 20. Januar 2021, wie sie ihren Vortrag mit graziöser Gestik begleitete: „Es ist, als wollte sie gleichzeitig mit der Rezitation ihr so wichtiges brillantes Gedicht in Zeichensprache für Schwerhörige oder Taube mitliefern“ mit ihren kleinen Händen, „die zu den Rhythmen ihrer Poesie tanzen“ (20-21). Schriftstellerhände, die Pfeife stopfen, auch zeichnen und malen, töpfern und Kupferstiche schaffen; Schriftstellerhände eines anderen, der als Kind Cello spielte, und dessen Hände „vielerlei Künste verschränken wollten“ (24). Heilende Hände einer Masseuse: Massage als Kunst. Die Hände einer Tänzerin als Mitteilung an ihr Publikum: „Im Solotanz ein Weben und Wirbeln, ein vogelartiges sich Erheben, Flattern, dann ruhigeres Schwingen, Fliegen, Schweben, ein Segeln in den Lüften, als sollte es ein Fortfliegen für immer werden, allem voraus die Hände“ (23). Der Tanz als Metapher für die Poesie: das Tor zur Fantasiewelt und Erahnung des Unaussprechlichen (26), angedeutet in Burga Endhardts Titelbild auf dem Umschlag, das hindeutet auf die türkisfarbenen Seen der Traumreise des Stückes „In anderen Sphären“, Zeichen von Ursprung und Zeitlosigkeit. 

Mit großer Wortgewandtheit, oft in rhythmischer Prosa, überschreitet Irmgard Hunt die Grenzen der Wirklichkeit in diesem Buch und offenbart mutig eine innere Welt von Traum und Fantasie. Den Schlüssel zum Lesen ihres Werkes offenbart sie selbst im Kommentar auf dem Buchumschlag: „Geschichten entspringen nicht immer der Wirklichkeit, sondern auch den Träumen, dem Surrealen und der Vorstellung vom nächsten Leben, oder einer fernen Vergangenheit…“ 

„In anderen Sphären“ nimmt die Mitte des Buches ein. Auffallend rhythmisch wie ein Text von Rilke, poetisch-musikalisch schwebt dieses Stück zwischen Traum und Wirklichkeit und führt in ein „Fabelreich“ mit realistischen Details, die den Weg in den Norden weisen. Es geht um Liebe in eisigen Regionen, außerhalb der gewöhnlichen Welt, in verborgenen Höhlen mit wärmendem Feuer; um Liebe unter den Sternen, unbehaust in der kaltklaren Nacht; um Liebende im nassen Schnee, von Eis umkrustet, wie Mumien aneinander gefroren im Glassarg. Solche Bilder erinnern an die erstarrte Welt im „Märchen“ des Heinrich von Ofterdingen, an die Figuren, die auf Erlösung warten durch die belebenden Energien von Eros und Fabel im schöpferischen Prozess. Gespenstische Musik erfrorener Blätter an den Laubbäumen erzeugt ein Rauschen und Klingen: Harmonie der Sphären in den Lichtern des Nordens, jenseits dieser Welt, jenseits „einstiger Zivilsation“ (47). Wie bei Novalis geht es um eine Rückkehr in ein früheres Leben und Wandern in eine Urzeit hinein: in die Ruinen einer Vorzeit. 

Ist „Friederike“ ein Traum oder Fantasie? Sie ist Wunschkind und Symbol für eine alternative Wirklichkeit, ein „Traummädchen“, deren Liebe zu Schlüsselblumen Geheimnisse offenbart, die „alles aufschließen, was im Geheimen verborgen schlummert“ (55). Sie ist eine märchenhafte Figur und kompensiert im erfundenen zweiten Leben für Dinge, die im ersten „falsch gelaufen“ waren (57). Die Idee der Wiedergeburt als Verjüngung bietet die Erfüllung gelebter und ungelebter Möglichkeiten. Sie erinnert an das mystische Sternenkind „Astralis“ im Paralipomenon zu Heinrich von Ofterdingen, ist Zukunft und Erinnerung zugleich.  

„Im ersten Licht“ bietet Träume und Eigeninterpretationen, um die Trauminhalte zu erhellen, „Rohmaterial für Geschichten“ im Jahr der Epidemie 2020. Es geht um Isolierung und Angst, Besuchsverbote und Krisenträume zur Zeit des Coronavirus, um Unsicherheit und Hilflosigkeit, um Träume vom fernen Geliebten und vom schöpferischen Sein, um Wunschträume und Erfüllungsträume, um Begegnungen im Traum, die in Wirklichkeit nicht mehr möglich sind in der Zeit des Sterbens in der ganzen Welt. Ein Traum von Umarmungen kompensiert für Berührungsmangel: „Wie traurig, dass die Menschen einander nicht berühren dürfen und sich nur noch virtuell umarmen oder in den Träumen!“ (41) 

Bekanntlich war E.T.A. Hoffmann der Meinung, „daß die Basis der Himmelsleiter, auf der man hinaufsteigen will in höhere Regionen, befestigt sein müsse im Leben“ (Serapionsbrüder 3, Kap. 6), aber auch eine Geschichte, die örtlich verankert zu sein scheint in diesem Buch, wie „Ein Schneidermeister in Wannsee“ (1995), stellt in Frage, was hier Wirklichkeit und was Fantasie ist. Die Konturen sind unscharf, die Identität der Personen nicht deutlich erkennbar. In dem leeren Gespensterhaus widerhallt der Name eines Unbekannten, der möglicherweise Selbstmord begangen hat. Nach ihm wird gefahndet, um ihn zu retten, und nach einem zweiten, der ihm ähnlich ist: Doppelgänger, die grotesk mit Leben und Tod spielen (64). Auch das Ende dieser Geschichte ist unbestimmt, wird aufgefächert in verschiedene Möglichkeiten. 

Trotz aller realistischen und historischen Anspielungen in „Unsreens“ von 1993, nach dem Mauerfall und der Wende in Deutschland, sowie nach der Demokratisierung Polens und der Gründung der Dritten Polnischen Republik (1989-1991) verfasst, spielt sich diese Geschichte ähnlich wie die Traumgeschichten in einem unwirklichen Zwischenraum ab. Der Bettler auf dem Bahnhof von Wroclaw, der das Breslau der Vergangenheit seine Heimat nennt, „lebt nicht mehr dort, noch nicht hier. Dazwischen, wo nichts ist. Nirgends“ (80). Als objektives Korrelat ist er eine Spiegelfigur, dessen Bemerkungen über seine Heimat und dessen schlesischer Dialekt halb vergessene Erinnerungen in der Erzählerin hervorrufen und ergänzen, eine groteske und gespenstische Verdoppelung ihrer selbst: „Unsereins? Er? Ich?“ (81) Obdachlos und unbehaust wird seine „fragliche Existenz und verworrene Identität“ (82) zu der ihren. Gegenwart und Vergangenheit überlagern sich in dieser Begegnung auf dem Bahnhof des ehemaligen Breslau in diesem historisch doppelbödigen Raum der Geschichte in der Zeit einer ungewissen Zukunft. 

Die letzte Geschichte, „Schraube“ (1991 verfasst), ist ebenfalls geschichtlich verankert in der Zeit der Wende, in der die Menschen wegen unvereinbarer Werte in einer neuen Stunde Null auseinander statt zueinander streben in einem Berlin, wo „nichts mehr stimmt, keine Beobachtung und keine Theorien. Wo sich alles umkehrt, sowie es formuliert ist“ (86). Die Mauer hat ihre Funktion verloren, Todesstreifen und Wachttürme werden zu Besucherattraktionen. In dieser Verunsicherung der Zeit sind die Rohre des Berliner Kanalisationssystems – von der Erzählerin ästhetisiert und zum Kunstwerk erhoben – das einzige, was die Stadt faustisch „im Innersten zusammenhält“. Sie hebt eine der Schrauben, aus den Kanalrohrgelenken gefallen, auf und steckt sie sich in die Tasche als Souvenir der deutsch-deutschen Geschichte, als objet-d’art, diese Schraube „die zwei Teile verbindet und zusammenhalten will“ (92). Hier, am Ende des Buches, steht die „Himmelsleiter“ der Kunst, trotz aller Verunsicherungen, befestigt in der markbrandenburgischen Erde, die Schraube als Symbol (von sym + ballein: zusammenfügen) auf dem Kaminsims der Erzählerin in Colorado.

Comments Off on Buchbesprechung | Irmgard Hunt. zueinander. Neue und alte Geschichten.

Nov 12 2021

Kur

Published by under

von Gabriele Eckart

 

All die Erinnerungen, seit ich im Ruhestand bin! Wohin damit?, frage ich meinen Mann. If life gives you lemons, make lemonade. Geschichten schreiben? Of course. Dann fügt er hinzu: But nobody tells you that sugar is needed! Was wäre der Zucker in diesem Fall? Die Kunst, eine Geschichte gut zu erzählen.

Herz-Kreislauf-Kur, zweiundachtzig. Aprilwetter, windig, kalt, diesig. Eine bleigraue Ostsee und eine Parole von der Herrschaft der Arbeiterklasse am Eingang der Kurklinik geben den Bildern ihre Grundierung.

In meiner Erinnerung reißt ein Gewittersturm an den Fensterläden. “Wie Mehltau liegt mir das auf der Seele”, sagt Evelyns Stimme vom Fenster her, sie und ich teilen ein Zimmer. Nach ein paar Tagen des Schweigens, in denen ihr die Kehle wie zugeschnürt schien. “Ach Gott”, hatte sie, wenn sie nicht einschlafen konnte, in dieser Zeit ein paar Mal gemurmelt, in einem Ton, der heftige innere Bewegungen verriet, kein Wort mehr. Einmal, mitten in der Nacht, von ihrem Bett her ein herzerbarmendes Wimmern. Und jetzt auf einmal ihr sprudelnder Redefluss, Dammbruch, das Wort kommt mir in den Sinn. Ich öffne die Augen, war schon eingeduselt. Evelyns Schattenriss. Der Pagenhaarschnitt. Von diesem Haarschnitt abgesehen, sah sie aus, wie ich mir Claudia Chauchat vorstellte; Thomas Manns Roman war gerade meine Lektüre. Nur die Türen schmeißt sie nicht, sagte ein Mann im Speisesaal gestern, als wir an seinem Tisch vorübergingen. Nein, schmeißt sie nicht, sagte sein Tischnachbar, mit ihren Männerblicken verschlangen sie sie, bevor sie zu ihrem Gesprächsthema zurückkehrten, “nicht die Errungenschaften des Sozialismus leichtfertig verspielen”. Im Licht eines Blitzes sehe ich, wie sich Evelyn mit der Hand an den Hals fährt. Atemnot. Deshalb ist sie wohl hier.

An ihren Redestrom erinnere ich mich noch genau. Ihr Mann, ein Westdeutscher, Unternehmersohn aus Baden-Württemberg, Sportwagen, Weltreisen, war ihr zuliebe DDR-Bürger geworden, aber er kam mit der Unfreiheit und der Misswirtschaft nicht zurecht. Und auch nicht mit der persönlichen Bereicherung der Bonzen. Bis zum Hals stand ihm alles, und er konnte nicht mehr fort. In der Falle saß er… Damit ist schon beinahe alles erzählt. Welch eine Wohltat, seinen Kummer mit jemandem teilen zu können! Ich stehe auf, gehe nacktfüßig zu ihr, lege ihr meine Hand auf die Schulter: Bitte versuch, es nicht so schwer zu nehmen! “Ja, aber er raucht sich zu Tode, und ich habe dieses Gefühl des… des Erwürgtwerdens!” Wieder fährt sie sich mit der Hand an den Hals. Iss eine von den Likörbohnen!, sage ich und wickele eine Praline aus dem Papier, hier… Das hatte sie gestern Abend gesagt, als ich nicht einschlafen konnte, die Mischung aus Zucker und Alkohol hatte mich von meiner Unrast im Gehirn erlöst. Wieder im Bett, erinnere ich Evelyn an das autogene Training heute. Sprich mir nach: “Ich bin ganz ruhig. Beide Arme sind ganz schwer. Beide Beine sind ganz schwer. Beide Arme sind strömend warm. Beide Beine sind strömend warm. Es atmet ganz ruhig. Mein Bauchraum ist strömend warm. Meine Stirn ist angenehm kühl.”

Auf unserem Spaziergang am nächsten Tag, aufgewühlt die See, wir stemmen uns gegen den Wind, nasser Sand saugt sich an unseren Schuhen fest, erzählt Evelyn mehr.

Ingenieur in einem großen Industriebetrieb ist ihr Mann. Fleißig, klug und hilfsbereit, “fügt sich gut ins Kollektiv ein”, wie wir damals sagten. Und der beste Mann, den sie hätte heiraten können. Zwölf Jahre Ehe, zwei Kinder, sie liebten sich immer noch leidenschaftlich. Aber sein Vorgesetzter war ein Nichtskönner und Speichellecker. Das Blaue log er vom Himmel herunter: “Im Mittelpunkt steht der Mensch.” Als er sich durch die Partei Zement für sein Gartenhäuschen besorgen ließ, Nicht-Parteimitglieder hatten dieses Privileg nicht, war Evelyns Mann eine giftige Bemerkung entschlüpft. Eine Antihaltung zum Sozialismus warf ihm der Vorgesetzte, rachsüchtig wie er war, daraufhin öffentlich vor. Undankbar sei er. Zu den Siegern der Geschichte gehöre er doch jetzt als DDR-Bürger. Aber sein Verhalten verrate kein Zeichen der Dankbarkeit. Zum Ersten Mai sei er mit den Händen in den Taschen an der Tribüne vorbeigelaufen. Evelyn, die ihren Mann liebte, wie litt sie mit ihm!

Ihr Seelenschmerz. Neben der Atemnot Stiche im Herzen wie von einer stumpfen Nadel. Von Spaziergang zu Spaziergang, schon nach zehn Minuten dachte ich immer, sie geht nicht, sie schleppt sich hin, wie oft mussten wir Pausen einlegen, erfahre ich mehr über ihr Leben. Wie ich war sie in einer Parteifamilie linientreu aufgewachsen, im Schoß des alleinigen Glaubens, wie wir es nannten. Als erfolgreiche Handballerin durfte sie mit ihrer Mannschaft einmal in den Westen reisen. Dort traf sie ihren Mann, der auch Sportler war. Welch eine Liebesgeschichte. Hunderte lange Briefe über die Jahre, dann, nachdem alle Versuche, sie in den Westen zu holen, gescheitert waren, wurde er DDR-Bürger, um sie heiraten zu können. Nicht lau wurde die Liebe über die Jahre. “So schwunglos erzählst du das, Evelyn.” “Na ja, darin besteht ja unser Problem. Ohne die Liebe würde er, koste es, was es wolle, in den Westen zurückgehen, selbst, wenn er die Grenze durchbrechen müsste.” Ihre Schuldgefühle.

Eiskalte, graue Tage. Evelyns rot angelaufene Augen. Ein Ausdruck der Trostlosigkeit darin. Die See in blaugrau-schwarzen Farbabstufungen, züngelnd kriechen Wellen an den Strand und umspielen das Strandgut, alle möglichen Hölzer, dazu Milchtüten aus Dänemark. Wegen einer Maul- und Klauenseuche gab es im Heim keine Abendveranstaltungen. Ich las Thomas Mann. Evelyn schrieb ihrer Familie Briefe. Ab und zu begann ihre Hand zu zittern, dann hörte sie auf zu schreiben und sah mich wie ein kleines, zu Tode erschrockenes Tier an.

Manchmal redeten wir über unsere Kurklinik. Man war hier, um vier Wochen dahinzudämmern oder mit einem Kurschatten ins Bett zu springen, kurze Liebschaft, nichts Ernstes. Aber an jüngeren Frauen gab es nur Evelyn und mich, sie war absolut begehrenswert, nicht unattraktiv war ich. Balzende Männer, aber wir waren beide an einem Abenteuer nicht interessiert. Seit wir entdeckt hatten, dass wir politisch auf der gleichen Welle sendeten (jenseits der Gläubigkeit angelangt, verschlissen die Ideale, Zweifel über Zweifel), waren wir nur noch mit Reden beschäftigt, einen Schwatz machen, nannte es Evelyn. Unsere Erfahrungen verglichen wir. Auch für mich war die Realität brüchig geworden, Risse, Sprünge, beiden tat es uns gut, das Herz einmal ausschütten zu können. Gutgläubige Närrinnen, die wir früher gewesen waren! Ich war eine Zeitlang aus politischer Naivität mit der Stasi verstrickt gewesen, sie war in die SED eingetreten, in Selbstvorwürfen wanden wir uns. Wie konnte ich nur! Wie konnte ich nur! In der Partei war sie immer noch, ihr Parteisekretär bekrittelte ihre “schwankende ideologische Haltung”, aber wie kam man aus der Partei heraus? Tritt aus!, sagte ich forsch. “Geht nicht, ich würde ausgeschlossen werden. Austritte darf es nicht geben. Und bei einem Ausschluss… unsere Kinder dürften später nicht studieren! Hättest du Kinder, wärest du nie von der Stasi weggekommen!” Das gab mir Stoff zum Nachdenken; bis heute bin ich erleichtert, mir in der DDR kein Kind angeschafft zu haben. Lieber kinderlos im Alter, als in dem Spinnennetz hängen geblieben zu sein.

Keine Gebirgs-, aber Seeluft. Gierig saugten wir sie ein. Zauberbergatmosphäre? Evelyn hatte Thomas Manns Roman auch gelesen, vor längerer Zeit, die Lektüre wirkte in ihr noch nach. Dieses Insel-Gefühl, ja schon. Für Wochen jeder Verantwortung enthoben sein. Aber alles in allem, nein, keine DDR in der Nussschale war das hier. Zu wenige Frauen und von den Männern zu viele in leitender Stellung. Indessen, die Herzkrankheit, an der die meisten litten, schien uns symbolisch, war sie nicht ein Bild dieser bleiernen Zeit?

Auch grässliche Albträume hatten viele Patienten, stellte sich in den Gruppengesprächen mit dem Therapeuten heraus, der uns das autogene Training beibrachte. Manche waren nach dem Erwachen halbtot vor Grauen. Mord- und Totschlag, Rauchpilze, Nomaden aus dem Osten, Schreckgespenster, makabre Szenerien. Evelyn hatte von einem Amoklauf ihres Mannes geträumt. Ich rannte im Schlaf ständig, entkam den Verfolgern im letzten Moment. Letzte Nacht war ich in meiner Not auf einen Zug aufgesprungen, ohne Fahrkarte und ohne zu wissen, wohin der Zug ging… Das ist normal, sagte uns der Therapeut. Hier haben Sie keinen äußeren Druck. Da kommt in Träumen alles hoch, was Sie in sich hineingefressen haben, verdrängt und weggeschoben über Monate und Jahre, das arbeitet Ihr Körper im Schlaf nun ab. Am häufigsten träumen die Patienten seit Jahren davon, eine Rede halten zu müssen, aber plötzlich wissen sie nicht weiter. Wer das träumte, dem sagte er: Überfordert sind Sie! Überfordert? Ja, von Ihrer Arbeitsstelle! “Lassen Sie uns jetzt die Zusatzformeln üben, bitte wiederholen Sie: Ich bleibe ruhig und gelassen! Worte wirken weiter. Ich behalte stets Ruhe und Übersicht. Nur Positives wirkt in mir stark. Mir gelingt alles immer leichter und besser. Es schläfert mich ein. Ich werde müder und müder und gleite in einen tiefen wohltuenden Schlaf. Ich schlafe ruhig tief und fest. Es geht vorüber. Ganz angenehm kühl und frei. Ich bleibe ruhig und abgeschirmt.”

Das Wetter blieb scheußlich, schwache Sicht. Wir froren am Strand. Stürme. In Wasserpfützen standen die Strandkörbe. Flucht in das nächste Strandcafé. Zwei Kurgäste an einem Tisch, ein ergrauter und ein kahler Kopf. “Apel”, hörten wir. Das Gespräch verstummte sofort, als wir an ihnen vorbeigingen. Wir setzten uns drei Tische weiter. Apel?, frage ich Evelyn leise, irgendwie kam mir der Name bekannt vor. “Der sich fünfundsechzig erschossen hat”, flüsterte sie, “Leiter der staatlichen Plankommission, ‘Nervenzusammenbruch und Kurzschlussreaktion’ stand in der Zeitung. Was sich wirklich hinter dem Selbstmord – falls es denn wirklich ein Selbstmord war – verbarg, ist Staatsgeheimnis.” Sie fügte hinzu: “Mein Mann denkt, Selbstmord war es schon. Erich Apel erschoss sich mit seiner Dienstpistole, als er begriff, nicht mehr als eine sowjetische Kolonie war die DDR. Aber mein Vater sagt, Schwarzmalerei! Apel erschoss sich, weil es bei ihm im Kopf nicht stimmte, eine Schraube war locker geworden.” Der Kellner kam an den Tisch. Wie gern hätten wir einen Grog getrunken. Der Bedienung war nicht verboten, Kurgästen Alkohol zu servieren, aber der Chefarzt, hieß es, sprang manchmal aus dem Gebüsch und befahl Patienten: Hauchen Sie mich mal an! Wer nach Alkohol roch, musste sofort abreisen und die Kur selbst bezahlen, neunhundertsechzig Mark. Tee mit Zitrone bestellten wir.

Später kommt die Sonne heraus. Zurück an den Strand! Auf einem Felsbrocken sitzen, die See betrachten, zerwühlt vom ewigen Warum Wozu. Wir rauchen eine, hoffentlich sieht uns niemand, schnipsen die Asche von den Zigaretten in den Wind. Möwengekreisch. Schaumflocken und Büschel von fauligem Tang vor unseren Gummistiefeln. Vor einem Jahr, sagt Evelyn, kam ein Journalist von der Bezirkspresse zu meinem Mann, fragte ihn, warum er damals DDR-Bürger geworden war. Er sagte: “Ich sage es Ihnen gleich, ich bin einzig und allein meiner Verlobten und jetzigen Frau wegen herübergekommen!” In der Zeitung stand dann: “Not, Elend und Verderben bringen immer mehr Bürger der Bundesrepublik dazu, diesen Staat zu verlassen und Zuflucht und Schutz in der DDR… und so weiter.” Dann der Name ihres Mannes und des Betriebs, in dem er arbeitete. Evelyns Chef hatte den Artikel zuerst entdeckt und ihn ihr, sehr verlegen, gezeigt. Bleich hatte sie nach der Lektüre gesagt: Ich beschwere mich, mache eine Eingabe an Honecker, das müssen die zurücknehmen, ich gehe bis sonst wohin… Ich gebe dir einen guten Rat, hatte ihr Chef geantwortet, unternimm nichts! Du kriegst sowieso kein Recht! Nur Unannehmlichkeiten, und deine Kinder wollen doch mal studieren, nicht? Widerstrebend befolgte sie seinen Rat. “Wie reagierte dein Mann auf den Artikel?”, fragte ich Evelyn. “Verrückt wurde er, tobte, danach redete er nicht mehr, eine lange Zeit, seither raucht er noch mehr, zu Tode raucht er sich.” Wieder griff sie sich an den Hals.

Später Abend, wie oft können Evelyn und ich keinen Schlaf finden. Nach meinen Problemen fragt sie. Ein Herzanfall, so jung? Einen Zusammenstoß mit der Zensur hatte ich, und was für einen, verbotenes Buch, berichtete ich ihr, danach furchtbarer Druck in der Brust, zusammengeklappt war ich auf offener Straße. “Aber Zensur gibt es nicht in der DDR, sagt mein Vater.” Lachen muss ich. Ein Rest von Kindergläubigkeit rumort noch in dir, Evelyn! Doch, Zensur gibt es, man spricht nur das Wort nicht aus, Druckgenehmigungspraxis heißt es stattdessen. Ich erklärte ihr, wie es funktioniert. Zuerst im Verlag, sogenannte Wissenschaftler schreiben in der Rolle von Literaturpolizisten anonyme Gutachten. Dann eine Liste Änderungsvorschläge. An diesem Punkt musst du zum ersten Mal streichen. Danach wird dein Manuskript an das Kulturministerium weitergereicht. Dort der Rotstift des Zensors… Wieder streichen. Seit ich diesen Mechanismus begriffen hatte, versuche ich Evelyn zu erklären, war ich verunsichert, konnte nicht mehr schreiben, jedes Wort, das ich aufs Papier setzte, schien danach zu schreien, gestrichen zu werden. Seufzen hörte ich sie. Dann ihre Stimme: “Wie unter Metternich… Eigentlich ist Zensur ja in der DDR verfassungswidrig!”

Im Speisesaal Vierertische. Von unseren Tischnachbarn in meinem Gedächtnis nur noch die Andeutung zweier Bilder. Ende fünfzig beide. Der eine, erinnerte er mich nicht an Leo Naphta, dunkles Haar, scharf der gebogene Nasenrücken, hart und blank die Augen, Kiesel. Wieder und wieder erklärte er uns mit rhetorischer Leidenschaft, während er mit einem nikotingelben Finger an einem Nasenflügel kratzte, frühere Übergangsperioden von einer Gesellschaftsordnung zur nächsthöheren hätten viel länger als vierzig Jahre gedauert, das Entstehen des Kapitalismus in England zum Beispiel, siebzig Jahre mindestens, mehr als fast vierzig hatte die DDR ja noch nicht. Ja, ja, sagte der andere Tischnachbar, ein gutmütig aussehender Mann mit Geheimratsecken, lichtem Haar am Oberkopf und einer knolligen roten Nase. Betriebsleiter in einem Gummiwerk war er, immer sah er lächelnd auf Evelyns schön geformte und gepflegte Hände. Den Eindruck hatte ich, dass es ihn Anstrengung kostete, eine gelassene Miene zu bewahren, wenn die Platte von den Übergangsperioden zum dritten oder vierten Mal aufgelegt wurde. Leicht ironisch klang es, wenn er ab und zu mehr als ja, ja sagte. Evelyn und ich nickten zu allem brav, machten Konversation, über das Aprilwetter gibt es ja immer etwas zu sagen, und kratzten die Kurve, sehr höflich, sobald eine Mahlzeit vorüber war.

In seltenen Stunden mit klarem Himmel, ein silberner Schimmer lag dann auf dem Meer, trafen wir manchmal den uns sympathischen Tischnachbarn mit dem ja, ja am Strand, leicht gehbehindert humpelte er dahin, ziegelrote Steppjacke, blaue Wollmütze, den Arm hob er zum Gruß. Einmal blieb er kurz stehen und sagte, fast entschuldigend klang es, der Anspruch auf Allwissenheit unseres Tischnachbarn provoziere ihn auch, wir sollten das nur wissen, aber ihn mit Fragen in die Enge treiben… nein. “Sie wissen schon, gute Manieren.” Er machte noch eine ironische Bemerkung über das Abflussrohr, das nur einige Meter von uns entfernt eine dunkelbraune, stinkende Lauge ausspuckte, sie floss in die Ostsee, dann verabschiedete er sich, bis bald! Naphta trafen wir nie auf Spaziergängen. Dabei sahen wir ihn bei der Rückkehr, wenn wir die Sandkrusten von den Schuhen kratzten, auch öfters das Haus verlassen. Eine Baskenmütze flott aufs Ohr geschoben, sah er eher wie Bulgakows Held Voland aus. Wahrscheinlich rauchte er, Kippen umherstreuend, irgendwo heimlich.

Der Tisch zur Linken war ein sogenannter “Reduktionstisch”, übergewichtige Kurgäste, die auf Schmalkost gesetzt waren und sich meist mit lauten Stimmen unterhielten, am lebhaftesten an ihren Sauermilchtagen. “Eisbein, natürlich nur ab und zu…” “Eine schöne Dicke, sagt man doch. Eine schöne Dürre, habe ich noch nie gehört.” Viel Gelächter. Vom Tisch zur Rechten kam kein Pieps. Vier Tapergreise mit pergamentenen Lippen, ihren früheren Berufen nach blätterten die meisten, wenn sie träumten, in Aktenordnern, oder sie hetzten von Termin zu Termin, jetzt hatte ein Herzinfarkt ihren Lebensabend empfindlich gestört. Der da, flüsterte ich Evelyn ins Ohr, immer Ausdruck von kalter Strenge und Argwohn, wie vermisst er seine abgewetzte schweinslederne Aktentasche! Und die anderen drei wirken wie hypnotisiert, antwortete sie im Flüsterton.

Nach der täglichen Behandlungsroutine – Frühsport, Abgespritztwerden mit einem eiskalten Wasserstrahl (Großer Gott!, dachte ich, wenn ich Evelyn nackt sah, und nach einer Woche trat der Gedanke hinzu, kein Wunder, dass ein westdeutscher Unternehmersohn für sie den Verstand verliert und seine Freiheit aufgibt), autogenes Training – gingen Evelyn und ich spazieren, oder, wenn es wegen Regen, Schnee, Graupel nicht möglich war, in den Aufenthaltsraum. Sie hatte immer eine schicke rote Tasche am Riemen über die Schulter gehängt, ich trug einen kleinen Kunstlederrucksack. Wir setzten uns in zwei bequeme Sessel, versuchten zu lesen, aber konnten uns nicht konzentrieren. Evelyn störte das Angestarrtwerden; nicht nur, dass sie schön war, den textilen Bestandteilen und dem Schnitt ihrer Kleidung nach war, was sie auf dem Leib trug, nicht in der DDR hergestellt. Ich, immer neugierig darauf, was die Leute fühlten, dachten, hofften, horchte auf die Gespräche im Raum. Ein Betriebsleiter, Herzinfarkt, hatte zum Beispiel den Anspruch verfolgt, technische Defizite seines Werkes durch mehr Engagement seiner Arbeiter auszugleichen. In der DDR Betriebsleiter sein, sagte sein Gesprächspartner, der auch an den Folgen eines Herzinfarkts litt, mit gedämpfter Stimme, ist eigentlich ein Sein zum Tode, findest du nicht? Wieder in unserem Zimmer, stellte sich heraus, Evelyn hatte dem Gespräch auch gelauscht. Zögernd stellte sie die Frage in den Raum, hat Krankheit nicht mit der Art zu tun, wie man in der Welt ist? Endloses Gespräch, an dessen Details ich mich nicht erinnere.

An die zwei anderen Frauen unter den vierhundert Kurgästen erinnere ich mich gut, an der Grenze zum Alter beide. Die eine häkelte immer, Filetdecke, und schwelgte in Klatschgeschichten über die Ärzte, die sie, je nachdem, was sie am liebsten verschrieben, Wasserarzt und Spritzenarzt nannte. Wie gern sie den Spritzenarzt nachäffte: “Wenn Sie ein Sperrschild sehen, das Nicht weitergehen! sagt, müssen Sie umkehren, dahinter ist ein Armee-Manövergelände! Und fallen Sie mir nicht vom Pferdchen… ha ha, als ob man hier reiten könnte!” Die andere Frau las, während sie mit der freien Hand eine graue Haarsträhne um den Finger rollte. Einmal hörte ich sie einem schnurrbärtigen jüngeren Mann, mit dem sie sich gern unterhielt, etwas aus ihrem Buch vorlesen: “Komm hoch, man kann mal zu Boden gehen, aber man darf sich nicht auszählen lassen!” “Werde versuchen, das zu beherzigen, meine Liebe!” Zu turteln begannen sie nach einer Woche, vor aller Augen. Der Klatsch!

Kiesbestreute Wege um das Heim herum. Wenn Evelyn sich zu erschöpft fühlte für einen längeren Spaziergang, gingen wir hier ein bisschen im Kreis herum. Blühende Weidenkätzchen. “Einkaufen gehen ist für meinen Mann auch ein Problem, nach so vielen Jahren noch”, sagte sie. Neulich zum Beispiel, sein unbeherrschter Ausbruch in der Kaufhalle. Die Verkäuferinnen fürchten ihn. Aber du sagtest doch, er sei ruhig und freundlich. “Ja schon, aber er hat eben immer noch seine Maßstäbe von drüben!” Nach einer Verschnaufpause fährt sie fort: “Vor ein paar Wochen gab es ausnahmsweise Weintrauben. Er entdeckte, dass die Verkäuferin in jede Tüte auch ein paar faule Trauben warf, los wetterte er… Sie sagte: Ach, die muss ich auch verkaufen, und es kommen ja in jede Tüte nur ein paar… Das ist Qualität Eins A dem Preis nach, ich verlange anständige Ware!, unterbrach er sie tobend. Schließlich füllte sie für ihn eine neue Tüte, nur mit guten Trauben, langsam beruhigte er sich.” Außer Atem und niedergeschlagen geht Evelyn ins Haus zurück, ich mache mich auf zum Strand, wenigstens einmal am Tag das Meer anrufen! Unterwegs stoße ich an einer Wegbiegung auf unseren Tischnachbarn, den Betriebsleiter, der fast immer nur ja, ja sagt. Mit so einem strengen Gesichtsausdruck hatte ich ihn bisher noch nicht gesehen. Nachdruck in die Stimme legend, sagt er: “Hören Sie auf, Ihr Herz auf der Zunge zu tragen, das bringt nichts!” Was habe ich denn gesagt? “In der Strandperle gestern… Sie sprachen über Schriftstellerkollegen, einige nannten Sie namentlich. Sie sagten, deren feiges Sich-Beugen unter die Zensur sei bedrückender als die Zensur selbst! Mehrere Personen von den Nachbartischen hatten zugehört.” Danke, Sie haben Recht, Herr Sielaff!, sage ich reumütig. Ich versuche mich zu bessern! “Schon gut!” Er stapft weiter. Nichts mit Meer-anrufen an diesem Tag. Kriegsschiffe vor einem aschgrauen Horizont, dicke Brummer.

Nur selten schlenderten Evelyn und ich auf der Strandpromenade, die von manchen Kurgästen im Scherz “Idiotenrennweg” genannt wurde. Zu viele Spaziergänger, vermummt in Anoraks, Mäntel, Steppjacken, Schals und Mützen. Die meisten gingen in Paaren, ein Alter mit Pelzmütze ging allein, beim Gehen vor sich hinbrabbelnd. Arbeiter strichen das Geländer mit hellblauer Farbe an. Ein Spaziergänger, den wir als einen Mitpatienten erkannten, warf schnell eine halbgerauchte Zigarette beiseite, als er uns kommen sah. Immer trug er ein weißes Hemd und einen roten Schlips, sogar zum Frühsport unter dem moosgrünen Trainingsanzug. Rosa Luxemburg habe ihre Behauptung, dass Freiheit stets die Freiheit Andersdenkender sei, widerrufen, sagte er im Vorbeigehn laut zu seinem Begleiter. Der erwiderte: “Woher weißt du das?” “Die Information bekamen wir zur letzten Parteianleitung.”

Natürlich zogen wir über die Männer her, die mit uns anbandeln wollten. Schau mal, der da!, sagte Evelyn. Sieht aus wie ein Hollywood-Star, aber ein Tropfen hängt ihm immer an der Nase. Der guckt nach dir, sagte sie. Habs schon bemerkt, sagte ich, wir haben doch zusammen die Moorwanderung gemacht, auf die du nicht mitkommen wolltest. Er ist nett, aber ich habe kein Interesse! Warum nicht? Du bist nicht verheiratet. Ich sagte, er streut zu viele Füllwörter ein, und “ja nich” hängt er an jeden Satz an, kann ihm nicht gut zuhören. Und dann immer die Bemerkung: “Der Zahn wurde uns doch gezogen!” Was für ein Zahn?, fragte Evelyn. Na, zum Beispiel erzählte er mir von Problemen auf seiner Arbeitsstelle, und er sagte, aber der Zahn ist uns doch längst gezogen worden, dass man glaubt, man könne Widersprüche benennen und damit etwas verändern… Ach so, sagte sie, ja, früher glaubte man das, heute nicht mehr. Was ist er eigentlich von Beruf? Irgendwas mit Bau, industrialisierter Wohnungsbau, er erzählte mir von Taktstraßen, Umprojektierungen und dergleichen. Und warum ist er hier? Herz-Kreislauf-Probleme. Er hätte nicht die richtige Einstellung zu irgendwelchen Planauflagen gehabt, Beschlüsse missachtet, Aussprachen, dann ein Zusammenbruch. “Entschieden wird auf Bezirksebene, ja nich?”, ist auch so einer seiner Sätze, die ich nicht mehr hören kann.

Immer (wir haben kein Telefon im Zimmer, und vor dem einzigen öffentlichen Apparat in unserem Gebäude steht immer eine lange Schlange) erhält Evelyn viel Post. Briefe, Zeichnungen der Kinder. Ab und zu ein Päckchen mit westdeutschen Likörbohnen. Die Blätter und Fotos auf dem Tisch zusammenraffend, sagt sie lächelnd: “Beide Kinder sind so blond wie mein Mann.”

Einmal ein Toter in einem der Nachbarzimmer. Herzinfarkt. Weiße Kittel wieseln hin und her. Der lange Lulatsch mit dem schütteren Haar, sagt Evelyn, schon seit Tagen schien er mir jenseits von Gut und Böse. Danach einige Tage lang ihr Gefühl der totalen Panik, ihre Bewegungsunfähigkeit. Sie liegt stundenlang auf dem Bett und schaut an die Decke. Alle Aufregung ist Gift für Sie!, hat ihr der behandelnde Arzt gesagt. Ihr Herz spielt nicht mehr lange mit! Was soll nur werden?, fragt sie mich. Da fällt das Wort “Ausreiseantrag”. Warum stellt ihr keinen, so was geht doch jetzt, sage ich naiv. Evelyns Vater, stellt sich heraus, ist Kreisparteisekretär, keinen Kummer möchte sie ihm machen. Habt ihr das Thema Ausreiseantrag gegenüber deinen Eltern schon einmal erwähnt? “Ja, ganz vorsichtig. Ihr braucht ideologische Hilfe, hatte mein Vater sofort gesagt.”

Aber es ist nicht nur das. Sie mag ihre Arbeit und ihre Kolleginnen. Und die Kinder hängen an ihren Klassenkameraden. Immer vor sich her schieben sie und ihr Mann das Wort “Ausreiseantrag”. Wie ein Haufen Schnee, den du mit der Schneeschaufel vor dir herschiebst, wird es immer größer dabei.

Ist eure Gegend wenigstens hübsch?, hatte ich Evelyn, sie kam aus der Lausitz, gefragt. “Wäre sie, wenn nicht ein Kohlekraftwerk in der Nähe stünde. Wie es stinkt, wenn der Wind aus dieser Richtung kommt. Und kilometerweit färbt sich die Wäsche auf der Leine schwarz. Zum Glück haben wir einen Trockner.”

Am letzten Tag (es ist der dreißigste April, endlich zeigen sich hellgrüne Blättchen an Bäumen und Büschen, der Ort wird für die Erster-Mai-Feierlichkeiten mit Fähnchen geschmückt, manche Kurgäste versuchen in den Strandcafés einander unter den Tisch zu trinken) verabschieden wir uns voneinander, Evelyn und ich. Eine lange Umarmung, gute Wünsche für die Zukunft, Ratschläge. Weggehen, wenn das Maß voll ist! Aber wie weiß man das?

 

Wie ging es weiter?, fragt mein Mann. Hat die Familie einen Ausreiseantrag gestellt? Weiß ich nicht, sage ich. Jahre später traf ich Evelyn zufällig auf einem Aussichtsturm im Erzgebirge, war es nicht im Sommer sechsundachtzig? Meine Freude darüber, dass sie noch lebte! In Begleitung war sie, zwei hochgewachsene blonde Kinder, Junge und Mädchen, und ein altes Ehepaar, die Frau hatte Evelyns exquisit geformte Nase. Um den Hals flog mir Evelyn, als sie mich erkannte. Schwarz gekleidet?, fragte ich sie; schwarz, daran erinnerte ich mich genau, war ihre Farbe nicht, sie hatte sich während unserer Kur darüber, dass ich nur schwarz trug, belustigt. “Mein Mann!” Sie brach in Tränen aus. Neugierig kamen ihre Eltern näher, sie stellte uns einander vor. Auch sie in schwarz. Der Vater ein Parteiabzeichen an der Sportjacke, schwarzer Schlips. Er hatte den Gesichtsausdruck eines Mannes, der die Wahrheit mit Löffeln gefressen hat. Vielsagend sah Evelyn mich an. Weil ihre Eltern zuhörten, wagte ich nicht zu fragen, was denn um Gotteswillen geschehen war. Wir redeten über das Erzgebirge, Waldsterben. Bald verließ ich die DDR. Nie wieder hörten wir voneinander.

Gute Geschichte?, frage ich meinen Mann. Weiß nicht, eigentlich nicht, kein closure. Man will doch wissen, was mit Evelyns Mann passiert ist. Denk es dir aus, sage ich, drei Möglichkeiten liegen nahe…

Comments Off on Kur

Nov 12 2021

Identität und Sprache in Georges-Arthur Goldschmidts Werk

Published by under

von Said El Mtouni

 

I.  Fremd im eigenen Land

Georges-Arthur Goldschmidt wurde 1928 in Reinbek bei Hamburg geboren. Mit neun Jahren verließen er und sein Bruder Erich ihre Heimatstadt, um zuerst nach Florenz und dann nach Frankreich zu gelangen. In Florenz wohnten die beiden bei der jüdischen Familie des Kulturwissenschaftlers Paul Binswanger, die auch von den Rassegesetzen der Nationalsozialisten betroffen waren. Aber mit der Ausweitung der Nürnberger Gesetze auf Italien ab November 1938 wurde der Aufenthalt für alle Juden in Italien gefährlicher. Die Familie Binswanger verließ in Eile Florenz und floh nach Neuseeland. Die Brüder Goldschmidt hingegen konnten mit Unterstützung einer Cousine der berühmten Noémie de Rothschild nach Frankreich geschickt werden.

Eine katholische Internatsschule in den Savoyer Alpen war ihre erste Station in Frankreich. Dort musste Georges-Arthur Goldschmidt sich weiter vor der deutschen Besatzungsmacht verstecken. Das Internat konnte ihm nicht nur Schutz vor den Nationalsozialisten bieten, sondern auch die nötige Schulbildung. 1947 – erst mit zwanzig Jahren und nach dem dritten Versuch – schaffte er es, die Schule mit dem Baccalauréat abzuschließen. Ein Jahr danach begann er ein Philosophiestudium an der Pariser Universität Sorbonne, das er schnell abbrach, um deutsche Literatur auf Lehramt zu studieren. Er wurde danach Lehrer in Paris und französischer Staatsbürger.

Seine Eltern konnte Goldschmidt nie wiedersehen. Die körperlich schwache und psychisch labile Mutter Katharina, genannt Kitty, geborene Horschitz, starb 1942. Der Vater Georges Goldschmidt, ein Jurist, wurde im selben Jahr nach Theresienstadt deportiert. Er überlebte zwar die KZ-Haft, starb jedoch 1947 an deren Folgen. Dank der in deutscher Sprache geschriebenen Erzählung Absonderung[1] und der Übersetzung der französischen Erzählung La Forêt interrompue von Peter Handke gelang Goldschmidt der Durchbruch auf dem deutschen Buchmarkt. Seitdem wird er mit Auszeichnungen überhäuft, u. a. – um nur einige zu erwähnen – mit dem Deutschen Sprachpreis (1991), dem Ludwig-Börne-Preis (1999), dem Prix France Culture (2004), dem Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung (2007), dem Prix de l’Académie de Berlin (2013), dem Sigmund-Freud-Kulturpreis (2015) und mit der Ehrendoktorwürde der Universität Bern (2017).

In Georges-Arthur Goldschmidts erzählerischem Werk handelt es sich immer wieder um dieselben Ereignisse. In seinen Erzählungen Der Spiegeltag (1981),[2] Ein Garten in Deutschland (1986),[3] Der bestrafte Narziss (1990),[4] Die Absonderung (1991), Die Aussetzung (1997),[5] Die Befreiung (2007),[6] Die Faust im Mund (2008),[7] Ein Wiederkommen (2012),[8] Vom Nachexil (2020)[9] oder in seiner Autobiographie Über die Flüsse (2001)[10] setzen sich Aspekte der Kindheit und Pubertät wiederholt neu zusammen. Er macht seine Kindheitstraumata zum Zentrum seines literarischen Schaffens und setzt sich in seinem Werk intensiv damit auseinander. Die gezielte Reduktion der Figuren und Handlungsorte ruft eine beklemmende und dichte Atmosphäre hervor und suggeriert dem Leser durch die permanente Repetition, dass es bei seinem ganzen Œuvre – im romantischen Sinne – nur um ein „einziges Buch“ gehe,[11] das von Emanzipation und Menschwerdung, Selbstbestimmung und Freiheit wie in einem traditionellen Entwicklungsroman handelt.[12] Ein Spielwechsel von Distanz und Nahperspektive, von dissoziierter Chronologie, von Stilisierung, Fiktionalität und sprachlichem Minimalismus prägen Goldschmidts Texte, die mit Selbstreferentialität und einem Netz korrespondierender Referenzen europäischer Literatur und Welt-literatur eine weitere formalästhetische Qualität hinzugewinnen und den hermetischen Kreis des Werks schließen.[13] Genau diese Mikrostrukturen des Goldschmidtʼschen Erzählens erzeugen eine makrostrukturelle Abfolge seines gesamten Werks. Dieses Schaffensverfahren, das Peter Handke in seinem Vorwort für Die Absonderung mit „Umspringebildern“ beschreibt, ist charakteristisch für Georges-Arthur Goldschmidt. Die Literaturwissenschaftlerin Michaela Holdenried bezeichnet dieses Schreibverfahren auch als „Lichtschrift“,[14] wo Bild und Text ineinander verschmelzen. Diese tagtraumhaften Raum- und Zeitsprünge reihen sich weniger zu einer kohärenten Chronologie aneinander, sie kreisen eher konzentrisch den Problemkern der Kinderheimjahre ein und versuchen auf diese Weise, die Geschichte des Kindes dingfest zu machen, auszusprechen, um so den biographischen Bann zu durchbrechen.[15]

Die einzigartige Lebensgeschichte des Kindes und des heranwachsenden Mannes Goldschmidt, die in seinem Werk erzählt wird, handelt vom Ringen eines von seiner Heimat verstoßenen Juden und als Verfolgter in Frankreich unter schwierigen Bedingungen lebenden Menschen, der auf Identitätssuche ist. In diesem Zusammenhang drängt sich folgende Fragen auf: Wie konnte ein Mensch unter diesen Bedingungen am Ende eine balancierte Identität ausbilden? Und welche Rolle spielten dabei die Komponenten Herkunft, Religion und Aufnahme einer neuen Kultur? Anhand des Konzeptes des Dritten Raumes von Homi K. Bhabha und Erving Goffmans Begriff Stigma sollen die Entwicklungen, die Georges-Arthur Goldschmidts Protagonisten in seinem autobiographischen Werk gemacht hat, nachgezeichnet werden.

Als Vertreter der postkolonialen Theorie interessiert sich Homi Bhabha für die Repräsentation anderer Kulturen und Kulturkonflikte auf der Textebene, wie etwa zwischen Ethnien, Rassen und Geschlechtern. Bhabhas Interesse gilt jedoch nicht nur den Themenbereichen Kolonialismus, Rasse, Geschlecht oder Klasse und wie ihre komplexen Überkreuzungen textualisiert werden, sondern ihm geht es auch um die diskursive Natur von sozialen Bewegungen oder Individuen. Daher beschäftigt sich Bhabha auch mit Subjekten, die sich in einem Zustand des Dritten Raumes befinden. Der Dritte Raum ist in der postkolonialen Theorie ein schwungvoller und dynamischer Prozess, der die vitale und gegenseitige Durchdringung zwischen diversen Kulturen benennt, ein Raum, wo divergierende Kräfte einer Einzelkultur und verschiedene Tendenzen unterschiedlicher Kulturen miteinander in einer Austauschbeziehung und reziproken Beeinflussung stehen und verschmelzen, eine Zone, in der das Subjekt an mehreren Kulturen gleichzeitig teilnimmt. Der Dritte Raum, diese konstruktive Zone zwischen den Kulturen, ermöglicht also die Entstehung einer doppelten Alteritätserfahrung, d.h. eine Erfahrung von Selbst und Anderem. In diesem Raum kann das Unangesprochene und Unübersetzbare im Kulturkontakt überhaupt erst formuliert werden.[16]

Die Protagonisten, von denen Goldschmidt in seinen Werken erzählt, sind Figuren, die das Fremde und das Andere personifizieren; sie gehören zu keiner sozialen Personengruppe, brechen jede Charakterisierung und schaffen es schnell, von ganz gewöhnlichen Individuen zu angeblich gefährlichen, befleckten und minderwertigen Personen zu werden. Deshalb werden sie stigmatisiert.

Um die „diskreditierende Wirkung“ dieser Praktiken zu beschreiben, verwendet Ervin Goffman den Begriff Stigma.[17] Stigma kann in drei Formen auftreten: Erstens, wenn eine Person physische Deformationen aufweist. Zweitens, wenn eine Person angebliche Charakterfehler wie Willensschwäche, starre Meinungen oder Unehrenhaftigkeit zeigt, oft sind es Menschen, die unter Sucht leiden, Homosexuelle, Arbeitslose oder gescheiterte Selbstmörder. Und drittens finden wir Menschen, die wegen ihrer Rasse, Nation und Religion stigmatisiert werden.[18] Goldschmidts Hauptfiguren weisen mehrere Merkmale dieser Kategorien auf.

Ein Stigma zu haben, bedeutet den Abschied von der Normalität und ein Leben am Rande der Gesellschaft bis hin zur Aberkennung menschlicher Eigenschaften. Unter dieser Voraussetzung ist das Individuum einer Vielzahl von Diskriminationen ausgeliefert, die seine Lebensqualität beeinträchtigen und am Fundament seiner Person rütteln.[19] Im Falle Goldschmidts waren die Folgen seines abrupten Ausschlusses aus seinem familiären Kreis und sozialen Netzwerk noch schwerer, weil er als Kleinkind die Ereignisse noch nicht einordnen konnte. Damit geriet seine ganze Existenz aus den Fugen und eine gesunde Entwicklung der Psyche des Kindes wurde unmöglich.

 

II.  Die zerstörte Identität

Für Georges-Arthur Goldschmidts Familie waren alle Bedingungen für eine Integration geleistet, aber weil die Gesellschaft die jüdischen Gemeinden unter ständigem Druck setzte und ihnen keinen freien Raum für Selbstentscheidungen ließ, versuchte seine Familie sogar, sich in ihrer Umgebung aufzulösen. Sie passten sich immer der Meinung der Mehrheit an. Das ging soweit, dass sie zum „modernistischen Lager“ wechselten und eine „nationalliberale“ Einstellung übernahmen , was heißt, auch wenn sie Sympathie für die Sozialdemokratie und die Arbeiterbewegung hatten, durften sie diese Zuneigung nicht öffentlich ausdrücken, denn sie fürchteten die Kritik der Konservativen (Fl, S. 29).[20]

All diese Anstrengungen konnten die Familie Goldschmidt trotzdem nicht zu vollen Mitbürgern machen und vor Repressalien schützen. 1942 wurde z. B. der Vater – ein Paradebeispiel für den monarchistisch-nationalistischen Groß- und Bildungsbürger – nach Theresienstadt deportiert und „zwangspensioniert […], seiner Herkunft wegen durch das Gesetz vom 7. April 1933, genannt Wiederherstellung des Beamtentums, welches die Juden und Halbjuden (sic!) aus den Staatsdiensten ausschloss“ [Herv. i. O.] (Fl, S. 77). Der Vater konnte in der Shoah nicht das totale Verbrechen sehen, sondern nur einen Fehler, den man übersehen müsse. Das alles „zeugt von dieser bis ins Absurde gehenden Zugehörigkeit.“[21] Die Verwurzelung der Familie Goldschmidt in Deutschland reicht über mehrere Generationen hinweg, sogar bis hin zur Übernahme der protestantischen Glaubensrichtung (Fl, S. 398 ff.).

Trotz all der Anpassungsschritte, die seine Vorfahren unternommen hatten, wird die Familie in ihrer Heimat und in ihrer engen Umgebung als „unerwünscht“ wahrgenommen. Genau dort, zwischen dem, was man ist – Deutsch, Protestant jüdischer Abstammung –, und dem was die anderen in einem sehen – und zwar den Juden –, entstand eine Leerstelle. Das Wort „Jude“ verband er mit Angst, mit Unerwünscht- und Ausgeschlossensein. Diese Exklusionserfahrung, die das Kind aus Altersgründen nicht verstehen kann, wirkt auf es unerträglich, denn es kann sie nicht einordnen und verarbeiten.

Als die Eltern die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder in Gefahr sahen, entschieden sie sich, die Kinder, solange es noch ging, aus dem Land rauszuschmuggeln. Ein dunkles Gefühl kam in Georges-Arthur Goldschmidt auf:„daß der Abschied bevorstand, endgültig und unwiederbringlich“ (Fl, S. 129). Die Kinder wurden zuvor sehr verwöhnt und die Zeit wurde intensiv erlebt (Fl, S. 137 ff.). Am 18. Mai 1938 nahm er zusammen mit seinem Bruder Erich, begleitet von einer Frau, die nicht namentlich erwähnt wird, den Zug über München nach Florenz (Fl, S. 137).

Als neunjähriger Junge erfährt er mit dem Abschied von Familie und Heimat sein erstes traumatisches Erlebnis. Die Trennung von den Eltern, die von ihnen gut gemeint, von dem Knaben aber als Liebesentzug und Absonderung empfunden wird, erschüttert das Kind in seinen Grundfesten und hinterlässt dauerhaft tiefe Spuren in ihm. Es sieht sich abgeschnitten von seiner gesamten kindlichen Lebens- und Erfahrungswelt, von der räumlichen Vertrautheit des Elternhauses, auch von der Atmosphäre, der Natur, der Sprache und der Kultur. Heimweh und Trennungsschmerz sind deshalb seine affektive Grunderfahrung.[22] Das Kind muss sich nicht nur allein in der neuen, fremden Umgebung zurechtfinden, sondern auch ständig äußere Gefahren meistern. Die Adoleszenz überspitzt seine prekäre Lage zusätzlich. Die Phase vom Kind zum Jugendlichen muss er allein und ohne Unterstützung durchlaufen.[23]

Aber das Unheimliche, bei dem er dachte, es in Deutschland hinter sich gelassen zu haben, erreicht ihn auch in seinem ersten Exil mit der Geltung der Nürnberger Gesetze für Italien ab November 1938. So wird Florenz zu einem Übergang zwischen Deutschland und Frankreich. Die Familie Binswanger verließ Italien nach Neuseeland und die Brüder Goldschmidt hingegen wurden mit Unterstützung der Cousine Noémie de Rothschild nach Frankreich geschickt. Die zweite Flucht erzeugt eine weitere traumatische Situation der Angst und Hilflosigkeit. Das Kind zweifelt an seinem menschlichen Wert und ist einer totalen Abhängigkeit gegenüber den Erwachsenen unterworfen. Es reagiert mit psychischen Störungen und Hemmungen, von denen es ständig beherrscht wird. Dieser Zustand bedroht die Integrität und die Konstanz des Ichs. Das unerträgliche Anwachsen innerer Spannungen und äußerlicher Gefahren drängen das Subjekt zu verschiedenen Abwehrmechanismen: Verdrängen, Lügen, Phantasien, Sturheit und Aggressionen vor allem gegen sich selbst. Der Junge glaubt, in der Aufgabe des Körpers eine Läuterung zu erreichen. Strafe steht deswegen an der Tagesordnung. Wenn keiner sich an ihm vergeht, dann übernimmt er selbst die Initiative und straft sich selbst.

 

III.  Strafe und Strafbedürfnis

Der erste Ort, an dem sich die Brüder Goldschmidt in Frankreich aufhielten, war eine katholische Internatsschule in den Savoyer Alpen, 150 Meter oberhalb von Megève.[24] Der Alltag im Florimontan war von körperlicher Arbeit, von Hunger, von Angst und von Strafen geprägt. Das Kind gehörte wie die anderen deutschen Verfolgten in Frankreich zu den sogenannten Doppelverfolgten, weil sie in Frankreich zur weiteren Flucht oder zur Illegalität gezwungen wurden.[25] Seine psychische und biologische Hilflosigkeit, bedingt u. a. durch sein Alter und seine religiöse Zugehörigkeit, reproduziert in ihm Angst. Ein Grundgefühl, das in ihm stets vorherrscht. Als Savoyen im November 1942 von den Nazis besetzt wird, wird es für ihn hier auch fast ebenso gefährlich wie in der deutschen Heimat. Die jüdische Identität anzuerkennen oder als Jude erkannt zu werden, heißt für ihn Erniedrigung, Missbrauch oder Tod. Diese Tatsache wird ihm am Beispiel einer jüdischen Gruppe, die im Dorf provisorisch auf ihre Deportation wartet, vor Augen geführt (Fl, S. 200-201). Das Gefühl der Scham übermannt ihn. Das Schamgefühl entsteht nach Goffman daraus, dass das Individuum eines seiner eigenen Wesensmerkmale als etwas Schändliches versteht und als etwas, von dem es sich gerne trennen würde.[26] Der Erzähler in Die Befreiung beschreibt dieses Gefühl hinterher:

Er war noch am Leben, und so viele andere waren umgekommen, die Scham stieg in ihm auf und hob ihn unter den Achseln in die Höhe wie ein Kran, der einen riesigen, bauchigen schweren Ballon hievte, auf dem man lesen könnte: ICH BIN EIN LEBENSSCHMAROTZER. (Die Befreiung, S. 31)

So wird sein Kindheitsstadium als verfehlte Entwicklungsphase durchlebt, aber die Erfahrungen und Erlebnisse dieser Zeit werden als Introspektion und Reflexion auf seinem Körper und in seiner Seele eingebrannt. Dem Kind bleiben fundamentale Bedürfnisse,  wie Liebe, Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit, und deren Erfüllung verwehrt. Aus diesem Verlust, verbunden mit Schamgefühl, erwächst ein Gefühl der Minderwertigkeit.[27] Als Antwort darauf unterzieht er sich schweren Prügelstrafen und sexuellem Missbrauch. Als von seiner Heimat verstoßenes Kind macht er sich zu einem Hassobjekt in seiner neuen Umgebung.

Das traumatisierte Kind geht soweit, dass es ein Strafbedürfnis verspürt, als Überlebensstrategie und Selbsterhaltungstrieb. Die Verhaltensweise der Selbstbestrafung weist in der Psychologie darauf hin, dass der Zwangskranke aus sich selbst seinen eigenen Henker macht. Das Strafbedürfnis entsteht, wenn ein Konflikt zwischen einem äußerst fordernden Über-Ich und dem Ich entflammt. Bei bestimmten Subjekten, wie der bei Goldschmidts Protagonisten, findet der Bestrafte in seiner Passion eine Art Befriedigung.[28] Er sagt seinen Peinigern und Folterern dadurch, dass er selbst über seinen Körper verfügt, aber vor allem, dass die Entscheidungskraft in seiner Hand liegt:

Durch eine Art infantiler Herausforderungslust klagte ich mich endlich verschiedener Vergehen an, die ich gar nicht begangen hatte, vor lauter Hass und Verzweiflung kam ich der Anklage zuvor. War ich zu hundert Linien verurteilt, setzte ich fünfundzwanzig dazu, nur um zu verwirren, um zu zeigen: Gegen mich könnt ihr nichts. (Fl, S. 180)

Das Trauma der Flucht, die Ausgrenzung und das Leben ohne die Eltern machten aus Georges-Arthur Goldschmidt ein labiles und verwirrtes Kind, denn diese Erfahrungen der Ausgrenzung, verbunden mit Beschämung, haben sich in das kindliche Erleben eingeschrieben. Sein autobiographisches Werk legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Das Resultat ist verstörend: Verneinung der eigenen Individualität und Selbstablehnung infiltrierten das Ich und erzeugten Selbsthass bei dem Jungen, da ihm „ein gesundes seelisches Gleichgewicht und psychosomatisches Wohlbefinden“ fehlten.[29] Er stürzte in eine tiefe Verzweiflung. Die Folge: Bettnässen, Nägelkauen, Aggressionen gegen sich und andere. Diese sind einige Erscheinungen eines Daseins, das aus dem Gleichgewicht geriet.

Als seiner Überzeugung nach nicht liebenswertes Subjekt und Individuum mit einem geheimen Fehler ist ihm jede Strafe recht,[30] weil das Kind bzw. der Jugendliche die eigene Identität grundsätzlich durch Ausgrenzung erfahren hat: in Deutschland als Jude unter Ariern und in Frankreich als Opfer unter Tätern sowie als Deutscher unter Franzosen. Dies erschwerte bei ihm die Entwicklung sowohl einer sozialen als auch einer personalen Identität.[31] Die Diskrepanz zwischen der eigenen Wahrnehmung als nicht normales Individuum und der der anderen ihn umgebenden Menschen als normal verstärkt, bei ihm die Spaltung zwischen dem Ich-Ideal und Ich.[32] Das Kind glaubt, nur weil es in seiner Heimat nicht so sein konnte, wie seine Umwelt ihn haben wollte, wurde es abgestoßen. Im Internat konnte es dann das sein, was seine Umgebung von ihm erwartete. Es ging soweit, dass es den Zustand der Erniedrigung auch genoss, weil es sich dadurch von den übrigen Schülern heraushob und darin seine Einzigartigkeit sah (Fl, S. 198).

Auf sein Überleben reagiert er mit Verdrängen, mit Vergessen und mit sexuellen Begierden (Fl, S. 283), was ihn in eine Art Doppelschuld stürzt: die ihm von außen attestierte jüdische Identität, die abgeschafft werden soll und die Reaktion darauf mit einer Triebschuld. Als Kind erlebt er die Sexualität als etwas Verworfenes, als Sünde. Verschärft durch eine radikale Triebunterdrückung und repressive Körperfeindlichkeit von Seiten der Mutter verstärkt sich sein Schuldgefühl. Die Sexualität, vor allem die Onanie, und das Jüdisch-Sein werden tabuisiert, er verschweigt seine jüdische Identität und erlebt seine Sexualität ebenso im Geheimen. Seine sinnliche Pein und die bedrohliche Dimension seiner Identität entladen sich in Wut- und Gewaltausbrüchen, die schon in seiner Kindheit von der Mutter mit Strafen und Liebesentzug beantwortet wurden. Dies befestigte in ihm die Überzeugung, dass er nur durch Züchtigung die Schuldbewältigung erreichen könne. So wurde die Strafe für ihn zur Regel.[33] Die von außen stigmatisierte jüdische Identität wird von dem Knaben als Last wahrgenommen und als etwas Verworfenes verstanden, daraus resultiert seine subjektive Selbststigmatisierung. Da seine tägliche soziale Umgebung streng zu ihm ist und ihm Liebe, Zuneigung und Akzeptanz verwehrt wird, drückt das isolierte Kind seine aufgewühlten Affekte in Angst, Argwohn, Depressionen und Unsicherheit aus.

Das Stigma und der Versuch, es durch Verbergen oder Heilen zu umgehen, werden als Teil persönlicher Identität eingebaut. Sühnen kann er nur mit dem eigenen Körper, der eliminiert werden soll. Der tadelnswerte Leib wird jeglicher vorstellbaren Strafe ausgesetzt, er wird zu einer zwanghaften Beschäftigung, begleitet von Selbstvorwürfen, Zwangsgedanken, Selbstentwertung, Scham, Schuldgefühlen und Begehren. Deswegen sieht er in den Strafen ein gerechtes Mittel für sein delinquentes Verhalten und für „sein persönliches jüdisch-sexuelles Schuldsyndrom“,[34] da er überlebt und andere gestorben sind (Die Befreiung, S. 194).

In der Psychologie ist es Konsens, dass Personen mit den o. g. Affektionen zur Selbstbestrafung neigen, die sogar zum Suizid führen können.[35] Das Denken seiner Protagonisten in seinen autobiographischen und fiktionalen Erzählungen flottiert deshalb zwischen Selbstmordphantasien und Verwandlungswünschen, damit sie unauffällig bleiben:

Er hätte sich am liebsten mit der Selbsthaubitze in den Morast geschossen und wäre da mit den Füßen nach oben steckengeblieben, so hätte er sich wenigstens nicht zu schämen brauchen. Oder Koffer wäre er gerne gewesen, verkoffert, zugeschnallt, ledergeflankt […]. (Die Befreiung, S. 31)

Schon früh ist also die Identität bei Goldschmidt und seinen Protagonisten keine einheitliche Größe. Sein Leben ist von Diskontinuitäten, Fissuren, Brüchen, Leerstellen, Rissen und Fragmenten gezeichnet. Dieses Identitätskonzept deckt sich mit dem postmodernen und postkolonialen Standpunkt von Identität als vielfältig, ambivalent, dichotom, form- und dehnbar, plural, und unbeherrschbar. Wie Homi Bhabha, der Hybridität als einen Ort der kulturellen Verhandlung versteht, betrachtet Goldschmidt Identität als ein Projekt, Konstrukt und Prozess, der stets modelliert und neu „verhandelt“ werden muss.

Ein identitätskonstituierender Moment ist Goldschmidts Verhältnis zur Heimleiterin Fräulein Lucas. Diese Beziehung beeinflusste Georges-Arthur Goldschmidt nachhaltig. Sie war von einem sadistisch-masochistischen Tauschgeschäft geprägt:[36] Strafe gegen Schutz. Die entsprechenden Stellen in seiner Autobiographie Über die Flüsse liefern einleuchtende Beispiele dieser Beziehung. Fräulein Lucas war öfter diejenige, die auch die Strafen an ihm vollstreckte. Sie machte ihn aber zu ihrem Vertrauten (Fl, S. 218). Er fühlte sich bei ihr und im Internat sicher (Fl, S. 272). Von ihrer Hand bestraft zu werden, war für ihn existenziell wichtiger als seine homosexuellen Neigungen, denn er konnte gleichzeitig für seine Existenz und seine sexuellen Triebe einbüßen (Fl, S. 306). Er unterscheidet jedoch zwischen den Strafen in der deutschen Schule und denen im Internat. In Deutschland vollzog man die Strafen an ihm aus rassistischen Gründen, die er mit Entmenschlichung und Entwürdigung verbindet. In Frankreich hingegen wurde er als Mensch akzeptiert und daher sah er in den drakonischen Prügelstrafen des Schulheims ein gerechtes Mittel, denn da versuchte man ihn nur zu erziehen. Das Schulheim übernahm damit die züchtigende Elterninstanz.[37]

Der Status der Helden von Goldschmidt als Fremde und ihr schüchternes Auftreten machen sie zu einer Zielscheibe der Schüler im Internat. Das Kind in Die Absonderung z. B. wird von den anderen Heimkindern als ein Schwächling betrachtet und als „Mädchen“ (Die Absonderung, S. 38) verspottet und damit zu einem willkommenen Objekt ihrer ausartenden Aggressionen, verbunden mit sexueller und sadistischer Färbung. Das arme Opfer, das all diese Misshandlungen erdulden muss, reagiert darauf mit Bettnässerei und Ängsten; seine Mitschüler schikanieren es deswegen umso mehr.[38] Sie degradieren den Buben zu einem „Hausmädchen“ [Herv. i. O.], der rücksichtslos ausgenutzt wird, vom Schuheputzen bis zur sexuellen Ausbeutung, wobei er immer die Andern sein will und nicht der, der er schon ist (Fl, S. 230 ff.).

Einen Ausweg sah der Heranwachsende in der Transformation und in der Verwandlung, wie Gregor Samsa, der in der gleichnamigen Erzählung den einzigen Ausweg von den Lasten des Alltags und von jeder sozialen und ökonomischen Ausbeutung fand. Goldschmidt setzt bewusst und vielfältig die Motivik der körperlichen Metamorphose in seinem literarischen Werk ein. Seine Hauptfiguren können sich einbilden, sich in menschliche und animalische Formen einzuschleichen. Sie wünschen sich, ihre organische Körperlichkeit mit anorganischen Objekten zu vertauschen; sie versetzen sich gerne in Gemälde, in Figuren literarischer Provenienz und Fabelwesen (Fl, S. 226).[39] Goldschmidts Figuren überqueren die menschliche Lebensform in die tierische Natur an allen Orten, wo Menschsein verdächtig, gefährlich und verrufen ist und wo nur Verfälschung, Permutation und Umwandlung die Rettung ist (Die Aussetzung, S. 228).[40] Der Verwandlungswunsch in Goldschmidts Werk ist ein Ausdruck der Angst, Labilität, Bedrohung oder Scham. Überall dort, wo Lebensgefahr lauert, fliehen die Protagonisten in die Imagination des Kindes, um die gegenwärtige Gefahr zu kompensieren (DbN, S. 97). Der Wunsch der Metamorphose zum Tier oder Objekt ist demnach beides „Realitätsflucht ebenso wie Realitätsaneignung“.[41]

Das postkoloniale Konzept der Identität, das hier vorliegt, als Projekt, Prozess, Konstrukt und „Verhandlung“ betrachtet das Selbst als provisorisch und revisionsbedürftig.[42] In diesen und ähnlichen narrativen Identitätskonstruktionen geht es nicht in erster Linie um den Beweis des Gleichgewichtes und der Beständigkeit der subjektiven Identität im Sinne von Erik H. Erikson (1902-1994),[43] denn die Selbstnarrationen sind variabel, wandelbar, mutabel und veränderlich, formen erst im Verlauf des Erzählens die „Identität“ und unterstreichen die Mehrfachzugehörigkeit einer Identität und ihre unterschiedlichen Komponente.[44]

Die durch schöngeistige Literatur vermittelten Identitäten der Erzählfiguren von Georges-Arthur Goldschmidt sind Vorgänge der Sinnstiftung und Selbstfindung. Figuren aus den Werken von Karl Philipp Moritz, Rousseau, den Brüdern Grimm, Tieck und Kafka u. a. dienen ihm für seine Selbstrettung als Vorbild.  Aber auch Heilige als Identifikationsfiguren weisen ihm den Weg aus seiner Identitätskrise. Im „Heiligen Sebastian“ z. B., der das christliche Muster von Strafe, Schuld, Sühne und Erlösung am ehesten verkörpert, wird er in den autobiografischen Texten von Goldschmidt zu einer Projektionsfigur, die dem Heranwachsenden verhilft, die fürchterlichen Qualen zu lindern um später zu verarbeiten.[45] In den meisten literarischen Reminiszenzen Goldschmidts handelt es sich primär um eine Analogie als um eine Intertextualität, denn die intertextuellen Verweise auf Anton Reiser oder Die Bekenntnisse fallen mit der autobiografischen Situation zusammen.[46]

Goldschmidt wirft sein wachsames Auge auf ein Netz vergangener Ereignisse, navigiert gekonnt durch diese, schwenkt und zoomt in die Objekte hinein, um sie mal, je nach Dringlichkeit, größer oder kleiner einzustellen. Der Autor versucht durch dieses Verfahren Kontrolle über das Sprachspiel zu behalten, in dem er je nach Laune den Leser an den Geschehnissen heranholt oder wegrückt.

Die unaufhörliche Gewalt und die immer wiederholende Bestrafung des Körpers prägen sich in der Erinnerung als ein masochistisches Ritual ein, in dem konstante Elemente sich immer wiederholen: Strafwerkzeuge, entblößter Hintern, das Weinen, Gehänseltwerden, Gewaltphantasien, körperliche und sexuelle Selbstauslieferung. Das Begehren nach Strafe ist in Goldschmidts Texten elementar für seine Figuren.[47] Dieses alltägliche Ritual stürzt den Schuldigen in „Wonnen der Schmach“, versetzt ihn in „unbeschreibliche Zustände der Erregung“; der Protagonist „entdeckt in aller Perversität“, dass ihn die Strafe „verwandelt“; die Umkehr des Schmerzens, der Schmach und der Scham in Wollust versöhnt ihn mit seinem eigenen Körper und verschenkt ihm „die herrliche Gewissheit der Adoleszenz“ (Fl, S. 236 ff.). Seine masochistische Passionsgeschichte ist mehr als nur ein Surrogat für fehlende Liebe und Aufmerksamkeit, sondern eine Ergründung der tiefen psychischen Unterbewusstseinsschichten, wo er sich vorstellen kann, was mit anderen Juden in Konzentrationslagern geschieht. Dieser heimliche Masochismus verkehrt jede Züchtigung in ihr Gegenteil, die deshalb neue Strafe herausfordert und verdient.[48] Der Bursche gibt selbst aus masochistischen Gründen zu, dass seine Mithilfe wichtig war, um die Strafen zu verhängen. Aber der Grund dahinter ist größer. Das Kind, das nicht leben darf, schneidet sich buchstäblich ins eigene Fleisch, weil es das „alltägliche Wunder“ des Lebens spüren will (Fl, S. 242).

Diese Erzähltechnik der Enthüllung dient nicht dazu, eine Identität zu konstituieren, sondern sie aufzulösen, damit der Erwachsene seinen Zustand indirekt korrigiert und eine Neugeburt erfährt.[49] Frau Lucas, die das Emblem für die Schwarze Pädagogik ist, die auf der einen Seite die Rolle der Schutz- und Zufluchtsspenderin verkörpert, auf der anderen Seite die Domestizierung und die Reglementierung des Kindseins vorantreibt, gelang es jedoch nicht, den Widerstandskern des Kindes zu brechen, seinen Wunsch, frei über sich selbst zu verfügen und zu entscheiden (DbN, S. 104). Statt dass „der gestrafte kleine Verbrecher wieder fähig ist, neuen Rat und neue Befehle zu verstehen,“[50] leistet er mehr Widerstand (DbN, S. 147). Als „unmögliches Kind“ und „schwer erziehbar“, der seinen Peinigern trotzt, konnte er sich bewahren und seine Identität wiederherstellen.[51] Dieses verstockte Verhalten wendet der Knabe als Überlebensstrategie an: „Selbstrettung als Bewusstsein durch bewusste Selbstaufgabe als Körper.“[52] wie Martin Recort formuliert. Durch die Opferung des Körpers, der gezüchtigt, bestraft, gequält, sexuell missbraucht und verlacht wird, gewinnt der Junge an Selbstbewusstsein.

Das Bestehen auf das eigene So-und-nicht-anders-Sein verhalf Goldschmidts Figuren und auch ihm selbst, Selbstbewusstsein zu entwickeln und ein Fundament zu bilden, um sich mit sich selbst, mit seiner neuen Umgebung und mit seiner Vergangenheit versöhnen zu können. Aus diesem Grund unternahm er mehrere Reisen nach Deutschland, um den Rest seiner Familie zu besuchen und die einstmalige Heimat wiederzuentdecken.

 

IV.  Der zweite Bruch mit Deutschland

Als Georges-Arthur Goldschmidt herausfand, dass sein Vater die Internierung im Ghetto Theresienstadt überlebt hatte, begann er, ihm seine Gedichte zum Lesen zu schicken Der Sohn merkte – ohne es zu wollen – , dass die Institution des Vaters immer eine moralische Instanz bleiben würde, was hieß, dass er beim Schreiben bestimmte moralische Vorschriften befolgen musste. Diese über sich selbst verhängte Zensur beschränkte die Freiheit des jungen Schriftstellers (Fl, S. 254 ff.). Deshalb war er von der Idee des Vaters, nach Grenoble umzuziehen, damit er und seine zwei Söhne nach mehr als sieben Jahren wieder vereint zusammenleben könnten, gar nicht begeistert (Fl, 259 ff.). Bevor der Vater den Umzugsplan umsetzen konnte, starb er im Februar 1947 an einem Herzschlag. Die Todesnachricht versetzte den Sohn statt in Trauer eher in eine große Erleichterung, weil er jetzt wusste, dass er sich von jeder Bindung löste, die seine Freiheit einschränken konnte: „Ich schämte mich, nicht einmal sehr traurig gewesen zu sein, als ich von seinem Tod erfuhr“, heißt es z. B. in Über die Flüsse (Fl, S. 286).[53]

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem frühen Ableben des Vaters wollte Goldschmidt, gequält vom Heimweh, seinen Geburtsort wieder besuchen. Zu seiner großen Enttäuschung fand er ein Deutschland vor, das mit der „Stunde Null“ anfangen und „nur nach vorne“ sehen wollte (Fl, S. 329). Von „Menschenvernichtung“ wollte man nicht reden, man wollte „in die Zukunft schauen“ (Fl, S. 347). Überall hörte er, wie es den Deutschen schlecht ging und wie sie während und nach dem Ende des Kriegs gelitten haben (Fl, S. 324 ff.). Für die Deutschen war ihr Land das „Opfer einer gigantischen internationalen und kommunistischen Verschwörung gewesen“ (Fl, S. 367), und während der Erzähler vom 6. Juni 1944 als Tag der „Befreiung“ sprach, redeten die Deutschen vom Tag der „Invasion“ und von der „Niederlage“ (Fl, S. 329). Der Genozid und die Gräuel, die der Nationalismus begangen hatte, wurden mit „Verharmlosung überdeckt“ (Fl, S. 371). Im Getöse des Wiederaufbaus und im Rausch der positiven Wirkung der Währungsreform auf die westdeutsche Wirtschaft erschuf man zwar das sogenannte Wirtschaftswunder, vernichtete aber jede Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit (Fl, S. 348). Frankreich erschien als Verlierer und Deutschland als Sieger des Krieges. Auch die kalte Beziehung zur Schwester, die das ganze Erbe der Eltern für sich allein beanspruchen wollte, veranlasste Georges-Arthur Goldschmidt, nicht daran zu denken, nach Deutschland umzusiedeln. Von ihren Briefen erriet er: „dass ich nicht unbedingt willkommen war, ich war ein peinlicher Überlebender“ (Fl, S. 311). Der Protagonist in Der Spiegeltag verleiht dieser existenziellen Peinlichkeit Ausdruck, in dem er zu der Überzeugung kommt, dass seine Heimkehr eine „falsche Heimkehr“ war (Der Spiegeltag, S. 35 ff.) und stellt resigniert fest: „es gibt Reisen, die man besser nicht unternimmt“ (Der Spiegeltag, S. 16). Die Erfahrung, die er nach seiner Rückkehr nach Deutschland mit seinem Geburtsort und mit seiner Familie gemacht hat, nämlich die, dass er sich zum zweiten Mal unerwünscht fühlt (Fl, S. 331), bewegt den autobiographischen Erzähler zum zweiten „Bruch“[54], aber diesmal zu einer „irreparable[n] Trennung“ (Fl, S. 331) von seinem Ursprungsland.

Bezeichnenderweise verlässt er Deutschland mit Goethe, Schiller, Kleist, Novalis, Fontane, Hebel und Hesse im Koffer (Fl, S. 343). Schriftsteller, deren Texte ihn lebenslang begleiten werden und ihm zukünftig dazu verhelfen werden, sein identitäres Gleichgewicht zu finden.

 

V.  Die Auflösung der Identität

Goldschmidt zeigt sich in seinem Werk als ein sprachgewaltiger Schriftsteller. Er entblößt sich sprachlich gibt doch wenig von sich. In narrativer Form erinnert er sich an seine Kinder- und Jugendjahre, um Sinn und Identität zu stiften. Allerdings bleiben viele Ereignisse fragmentarisch.

Eine Technik, zu der Goldschmidts Figuren greifen, um zu überleben, ist die der Mimikry. Ein Verfahren, das ihr kritisches Potenzial aus der postkolonialistischen Forschung entnimmt. In diesem Kontext bedeutet Mimikry nicht der Anpassungszwang, sondern die auferlegten sozialen Umstände und Traditionen zu manövrieren und den Herrschaftsanspruch der Autorität, indem sie „wiederholt, statt zu re-präsentieren[55] zu obstruieren. Die Mimikry mit all ihren unterschiedlichen Formen als Nachahmung, Verwandlung, Maskierung, Inszenierung, Verdoppelung und Täuschung ist das Spiel des Andersseins und des „Als-Ob“ und verkörpert damit weder Identität noch Alterität, denn sie ist ihrer Beschaffenheit nach subversiv. Demzufolge reißt sie „die Symmetrie und Dualität von selbst/anderem, von Innen/Außen nieder“.[56]

Goldschmidts Figuren nagen stets an den Getrieben der binären Opposition „Selbst/Anderer, Innen/Außen“, um sie umzukehren. Für ein stigmatisiertes Kind sind Dichotomien von „Ich“ versus „Anderer“ und „Innen“ versus „Außen“ ausschlaggebend für seine Persönlichkeitsentwicklung:

Ich war stolz, den seltenen Touristen, die sich so weit ins Hochgebirge verirrten, vorzumachen, daß ich ein Einheimischer sei; der beste Beweis, die Kühe gehorchten mir, und der Hund hörte auf mich. (Fl, S. 208)

Auch wenn es in Prozessen der Mimikry um eine genaue Nachahmung eines Urbildes geht,[57] perpetuiert das Individuum in diesem Urbild einen freien Raum für Eigenständigkeit und Selbstbestimmung.[58] Die Peter Handke-Devise „Alles über sich erzählen und doch nichts verraten“, die der Autor vor Beginn seiner Erzählung Ein Garten in Deutschland platziert, beschreibt präzise dieses Schreibverfahren von Goldschmidt. Die Uneigentlichkeit des Erzählens, die hinter dieser Erzählstrategie steht, erlaubt dem Autor, sich zu öffnen und gleichzeitig zu verbergen, sich zu offenbaren und gleichzeitig zu verschweigen, sie bietet ihm eine überlebenswichtige Schutzmaske an, wie in der Photographie, die die „Produktion unähnlicher Ähnlichkeit“ herstellt, [59] wie sie Roland Barthes in seinem Buch Die helle Kammer elaboriert hat.[60] Ähnlich verfährt auch Goldschmidt. Er lässt sich auf das „Gesellschaftsspiel“ ein, er „posiert“ bewusst und lässt den Leser dies auch wissen, aber sein „Nullpunkt“ kann nicht von dem Medium die Schrift offenbart oder vom Leser durchdrungen werden. „Ich zeige alles von mir, damit ihr nichts seht.“[61] So schafft er durch diese rhetorische Technik einen narrativen „Doppelgänger“, der die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht, während das wahre Ich fern jeder Erreichbarkeit bleibt.[62] Die Technik des Sich-zur-Schau-Stellens bietet dem Schriftsteller damit die Möglichkeit der absoluten Freiheit im Umgang mit seinem Leben als Erzählstoff: „Das Nichterkanntwerden ist meine grundsätzliche Freiheit: Ich bin nicht, was ihr von mir sagt, und ich bin nicht, was ich davon sage.“ (DbN, S. 120)

Ein weiteres Beispiel für dieses narrative Verfahren liefert uns das Buch Als Freud das Meer sah, das der Autor mit einem Gedicht abschließt, welches im Dithmarschen Anzeiger am 14. Februar 1908 erschienen sein soll und von einem angeblich in Nibüll lebenden Lehrer namens Max Moritz Kalau (1873-1947) stammt:

Und es schenkt wieder die See
Was sie genommen,
Wie von weither
Im Strömen der Tage steigen
Die Wolken noch auf

[…]

Da wo schon schwinden die Schiffe
Sieht man sie noch,
Ferne Inseln,
Im Schimmer des Abends,
Als kämen hinter ihnen
Noch unbekannte
Tage
Wieder auf
(Als Freud das Meer sah, S. 183).

Die reimlosen Verse sind eine Anspielung auf Hölderlins Gedicht Andenken, dessen Schluss lautet:

Es nehmet aber
Und gibt Gedächtnis die See,
Und die Lieb’ auch heftet fleißig die Augen,
Was bleibet aber, stiften die Dichter.[63]

Es fällt nicht nur die Analogie in der Thematik und Wortwahl auf, sondern auch in den Bildern, die damit assoziiert werden. Beiden Dichtern geht es um die Erinnerung, wie sie gegeben und genommen wird. Aber auch der Name des Dichters, der dieses Gedicht im Dithmarschen Anzeiger veröffentlichte, sticht hervor. Anscheinend haben Max und Moritz Kalau nie existiert, so authentisch es sich auch anhört. Eine weitere Tarnung des Schriftstellers, seinem Grundsatz treu zu bleiben: „Alles über sich erzählen und doch nichts verraten.“ Goldschmidt camoufliert seine Identität jedes Mal anders und folgt damit seinem Vorbild Hölderlin, der angeblich die Umnachtung vortäuschte, um sich vor politischen und privaten Machenschaften zu schützen, so die Hauptthese von Pierre Bertaux.[64]

Diese Technik der Identitätsverschleierung ist auch bei Individuen mit einem „geheimen Defekt“‘ verbreitet. Sie verwischen die Stigma-Symbole z. B. durch Namenswechsel.[65] Diese literarische Strategie der Zwiespältigkeit zeichnet sich durch einen diametralen Blickwinkel, eine nicht lineare Chronologie und durch ungeordnete räumliche Koordinaten aus und sprengt dadurch die Seinsgewissheit des traditionellen Autobiographiediskurses.[66] So treten die Protagonisten in Goldschmidts Texten mit dem Pronomen „er“, „es“ oder „der Junge“ auf, oder werden namentlich genannt mit „Arthur“ wie in Ein Garten in Deutschland, mit „Arthur Kellerlicht“ in Ein Wiederkommen und mit „Georges-Arthur Goldschmidt“ in Vom Nachexil, die von ihren Kindheiten erzählen. Nur äußerlich stimmen die standesamtlichen und die biographischen Daten der Erzähler mit denen von Georges-Arthur Goldschmidt überein. Damit schafft der Erzähler die nötige Distanz zu den Protagonisten im diegetischen Raum; dadurch gelingt es ihm, die Intensität und Ambiguität des Mottos alles erzählen und nichts verraten auf der Textebene zu übersetzen.[67]

Georges-Arthur Goldschmidts Protagonisten standen vor der Herausforderung, nicht nur wie sie sich in ihre neue Gesellschaft integrieren, sondern auch, wie sie ihre Vergangenheit und ihre Beziehung zu ihrem Ursprungsland aufarbeiten könnten. Dazu kam noch die jüdische Identität, die durch das Erfahrene immer mehr in den Mittelpunkt dieser Antihelden rückte. Das Widerstreben der verschiedenen Identitätsaspekte verwirrte sie und gefährdete ihr psychisches Gleichgewicht. Die Behandlung der traumatischen Ereignisse kann durch das Wachrufen der Affekte erfolgen, sie wieder erleben, um sie dann abzureagieren.[68] Der aus der griechischen Tragödie und durch Aristoteles eingeführte Ausdruck Katharsis eignet sich hier gut, um diesen Zustand zu beschreiben, zumal er das Ergebnis einer Memisis ist, was mit Goldschmidts Konzept von alles erzählen und nichts verraten übereinstimmt:

Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich abgeschlossenen Handlung […], die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.[69]

Nur ein adäquates Abreagieren kann die Befreiung von inneren Konflikten herbeiführen, indem das Subjekt die verdrängten Erfahrungen wachruft und sie quasi wieder erlebt. Das geeignete Mittel dafür ist die Sprache, in der der Mensch seinen Schmerz reflektiert und beklagt.[70] Goldschmidt strebt also in seinem Erzählwerk nicht die Rekonstruktion eines Ich-Ideals an. Nicht in der Wiederherstellung einer zusammenhängenden Biographie ist der Sinn des Lebens, sondern im Akt des Schreibens selbst. Um die eigene Wirklichkeit zu erschaffen, bedient sich der Erzähler verwandter Ich-Konzepte aus der Literatur, aber immer gegen eine traditionelle realistische Erzählweise, die im deutschen Bildungsroman und in der Autobiographie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ihr Vorbild hatte.[71]

Besonders für den Stigmatisierten ist die Kongruenz mit seinem sozialen Umfeld hinsichtlich seiner Sozialintegration ausschlaggebend. Das stigmatisierte Individuum versucht durch die Übernahme der Handlungsweisen der „Normalen“ und durch die vollständige Angleichung an deren Verhaltenskodex nicht ins Auge zu fallen.[72] Das Kind in Goldschmidts Schriften verfolgt genau diese Strategie. In Die Aussetzung achtet das Kind auf eine reale Inszenierung seines Selbst, um sicher und fest aufzutreten und um auf sich nicht aufmerksam zu machen:

Er blickte an sich selber herunter, seine Beine im dicken Bergschuhwerk sahen wie alle anderen aus, […] nur ein wenig kleiner als die Stiefel des Bauern neben ihm. Sollte ein Fremder vorbeikommen, hätte dieser den Knaben für jemand beliebigen gehalten, vielleicht für einen hiesigen, sogar für den Sohn des Bauern und er atmete auf im Gedanken, einstweilen nicht mehr er selber sein zu müssen. Er saß da und spielte einen Anderen. (Die Aussetzung, S. 29)

Georges-Arthur Goldschmidt überschreitet nicht nur soziale und kulturelle Grenzen, indem er zwischen den Kulturen oszilliert und gegen soziale Normen verstößt, sondern er versucht auch auf der Textebene mit verschiedenen literarischen Verfahren, Schreibstilen und Schreibtechniken, seinen eigenen Ton zu finden. Sein Gesamtwerk trägt dieser Tatsache Rechnung, wo sich narrative und nicht-narrative Genres, literarische und nicht literarische Textsorten miteinander vermischen und ein hybrides Bild von sich geben. Um den Rahmen dieses Beitrags nicht zu sprengen, soll hier nur auf einige Beispiele eingegangen werden, die exemplarisch für das hybride Schreiben von Goldschmidt sind.

Da Goldschmidt im Deutschen und im Französischen beheimatet ist, schlägt diese Doppelsprachlichkeit Wurzel in seinem literarischen Schaffen. So sind die deutschen Texte reich an Gallizismen und die französischen Texte mit unzähligen deutschen Ausdrücken bestückt. In Un Jardin en Allemagne,[73] in La traversée des fleuves[74] oder in L´esprit de retour[75] finden sich zahlreiche deutschsprachige Formulierungen, die das französische Textgefüge zersprengen. Wohlgezielt malen sie in düsteren Farben das bedrückende politische und soziale Klima in Reinbek bei Hamburg und im Nazi-Deutschland der 1930er Jahre aus. In L´esprit de retour liest man:

Les ancêtres d’Arthur étaient de Hambourg où les ‚Hepp, hepp, Krawallen‘ étaient encore monnaie courante en 1819: […]‚Hepp; hepp, Jude verreck, hepp, hepp der Jude muss in den Dreck, hepp hepp!‘ – ‚Juif, crève, jetons-le dans la boue!‘ Ce qui n’était encore guère méchant par rapport à ce qui allait suivre, un peu plus d’un siècle plus tard.[76]

Un Jardin en Allemagne ist ebenso voll mit Schmähungen in deutscher Sprache, wie z. B in „Ekelhafter Bengel, kleine Drecksau, petit saleté, petit cochon, […] du kleiner …. Kleiner Dreckjude, petite saleté de Juif“.[77]

Die sprachlichen und kulturellen Verschmelzungen, die eben präsentiert wurden, zeichnen sich durch Verkettung, Amalgamierung, Überlappung und Verhandelbarkeit zwischen den Kulturen aus und heben die hybride Positionierung des Autors hervor. Sie erklären die Sprache zu einem markanten kulturellen Ort, an dem das Fortbestehen des Anderen möglich ist und nicht wie z. B. in totalitären Systemen, wo die Sprache als Instrument des Ausschließens missbraucht wurde und wird. Diese Herangehensweise macht die Sprache zu einem gemeinsamen Ort, wo Begegnung und Austausch die Regel ist.[78]

 

VI.  Die verschlungenen Wege zu sich selbst

Goldschmidts Debüt war im Jahre 1961 in französischer Sprache. Ungefähr 30 Jahre lang verfasste er sein literarisches Werk ausschließlich auf Französisch.[79] Seine erste Erzählung in deutscher Sprache überhaupt, Die Absonderung, erschien im Jahre 1991. Seitdem betätigt er sich literarisch in seinen beiden „Muttersprachen“.

Bei Goldschmidt geht es immer darum, wie er seine unterschiedlichen Sprachen und verschiedenen Aspekte seiner zersplitterten Identität in Einklang bringen kann. Das postkoloniale Konzept des Dritten Raums kann adäquate Antworten auf diese Art von Identitätskrisen geben. Denn es kann die verschiedenen Komponenten einer ambivalenten Identität amalgamieren, trotzdem die kulturellen Unterschiede des Individuums bewahren und die kreative Integration des Subjekts in die neue Gesellschaft unterstützen.[80] Während andere Ansätze, die sich auch mit dem Leben von Migranten und Exilanten beschäftigen, wie die der ideologisch-belasteten Assimilation und die der Akkulturation von Verlust und Defizit sprechen, wenn zwei unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen, geht das Konzept des Dritten Raums von gegenseitiger Befruchtung, Bereicherung, Produktivität und Kreativität aus. Phänomene der Verkettung, Vermischung, Überkreuzung, Durchdringung und Hybridisierung erfolgen bei Georges-Arthur Goldschmidt sowohl auf der Identitätsebene als auch auf der Textebene. Hybride Schreibformen wie Sprachmischung oder Intertextualität sind konkrete Beispiele für die Kunst der Hybridität.

Die Tatsache, dass Goldschmidt sich die französische Sprache aneignete, beschleunigte seine Eingliederung in seine Aufnahmegesellschaft und versöhnte ihn mit sich selbst. „Mit Leib und Seele“ lernte er das Französische (Die Befreiung, S. 120). Erfahrungen, die in seiner deutschen Muttersprache verboten waren, konnte er über die französische Sprache machen. Da Goldschmidt Frankreich vor allem in der Zeit der Okkupation erlebt hatte, ist für ihn das Französische die Sprache des „Schutzes“, der „Hoffnung“, der „Befreiung“ und der „Bewahrung“ (Fl, S. 8). Die deutsche Sprache hingegen wurde von den Nazis deformiert und pervertiert, sie war eine Sprache, aus der er „ausgeschlossen“ wurde, und sie war die Sprache der „Angst“ und die der „Erinnerung an das Verbot zu leben“ (DFM, S. 51). Französisch hingegen ermöglichte ihm, seine Erinnerungen aufzuschreiben und sich seinem lebensbedrohlichen Trauma anzunähern (DFM, S. 51).[81] Das Französische als Sprache der Rettung und des Schutzes gestattete Goldschmidt, sich zu öffnen. Es ebnete ihm den Weg, frei über seine verdrängten traumatischen Erlebnisse zu erzählen. Es gab ihm Gelegenheit, die durch das Trauma erlebten pathogenen Affekte abzuführen. Im Nachwort des Verfassers in Ein Garten in Deutschland, das den Titel Seine eigenen Texte übersetzen? trägt und mit einem ins Auge stechenden Fragezeichen versehen ist, schreibt Goldschmidt:[82]

Eine Erzählung wie Ein Garten in Deutschland hätte in der Muttersprache (das Deutsche) wegen der erlebten Vergangenheit und der Erfahrung der Trennung nicht so entstehen können, wie sie eben im Französischen entstanden ist, ja sie wäre wahrscheinlich gar nicht entstanden. Erst die Übertragung (diesmal im freudschen Sinne des Wortes) in eine Sprache, in welcher die Erinnerung alles erfinden musste, ohne es erlebt zu haben, machte das Schreiben an diesem Buch möglich. (Ein Garten in Deutschland, S. 184)

Trotz des besonderen Wertes der französischen Sprache für Goldschmidts literarische Schaffen bleibt das Deutsche seine Muttersprache, die Sprache des Empfindens und der Wahrnehmung (DFM, S. 20). Die Muttersprache anzuerkennen, in ihr zu produzieren, zu erzählen und zu lieben, ist für Goldschmidt und seine Schicksalsgenossen auch eine Pflicht, weil das Deutsche Träger einer literarisch-kulturellen Tradition ist, die nicht durch eine begrenzte Zeit ganz diskreditiert werden dürfe.[83] Beide Sprachen ergreifen also ganz Besitz von ihm und er macht die beiden zu seinen „Muttersprachen“: „Meine Anima ist aber deutsch und Deutsch, nochmal, ist meine Muttersprache, genau wie es das Französische auch ist“. (Des Pudels Kern, S. 83)

Ein anderer Aspekt von Georges-Arthur Goldschmidts Identität sind – wie schon oben erwähnt – seine jüdischen Wurzeln. Seine Erziehung machte aus ihm einen Christen und er verstand sich auch als solcher. Aber sein Milieu machte ihn zu einem Juden (Des Pudels Kern, S. 114). Die ihm zugewiesene Identität war jedoch nicht die seine: „Ich bin, was ihr mir zu sein auferlegt, was ich aber im Grunde meines Ichs nicht bin. Niemand ist in sich selbst die zugewiesene Identität“ (DFM, S. 75). Das Zusammenprallen seines Verständnisses von sich selbst mit dem, wie er von seiner Umgebung gesehen wird, verursacht bei ihm eine Identitäts- und Glaubenskrise, „weil er in Wirklichkeit der ist, den man ihn nicht sein lässt“ (DbN, S. 44). Die Gotteskrise ist sowohl mit dem Wissen um die Shoah als auch mit der „Entdeckung des eigenen unüberschreitbaren und unhintergehbaren Seinsgefühls“ verbunden. Im Gespräch mit Tim Trzaskalik sagt Goldschmidt:[84]

Was mich „zum Juden machte“, […] das war einzig der Hitler. Wie kann man etwas sein, das man nicht ist? Was über mich bestimmt wurde, brauche ich nicht unbedingt zu sein […]. (Des Pudels Kern, S. 114)

Erst als Erwachsener begann er den jüdischen Teil seiner Identität zu akzeptieren (Fl, S. 282). Die psychische Devianz, die bei dem Kind eingetreten ist, weil er Jude ist und deswegen nach dem Verständnis des verbrecherischen NS-Regimes abgeschafft werden muss, führt das Kind über die Jahre zum jüdischen Glauben zurück und ermöglicht ihm eine Re-Identifikation (Des Pudels Kern, S. 115).[85]

Das Schwingen zwischen zwei kulturellen Räumen, das Ineinandergreifen und die wechselseitigen Überkreuzungen beider Sprachen und Sprachräume, das Verhandeln zwischen zwei Kontexten und die Synthetisierung und Integration divergenter Attribute und Rollen in seiner Identität ermöglichten Goldschmidt, das Trauma des Krieges und der Flucht zu bewältigen. Seine Positionierung zwischen zwei Kulturen und Sprachen ist das Ergebnis seiner Lebenserfahrung, die aus Prinzip gegen jeden Chauvinismus und gegen jeden Purifizierungswahn ist. Goldschmidt selbst sah in der Verkettung, Verschmelzung und Hybridisierung seiner verschiedenen Traditionsstränge die Lösung für die heterogenen Elemente seines Ichs, „die jedoch eine geschlossene Einheit bilden“ (Vom Nachexil, S. 9):

Uneigentlich in jeder Beziehung, jüdischer Herkunft, Agnostiker, wenn nicht Atheist gewordener Christ, Schwarzfahrer des Schicksals und immer noch da, verharre ich am Ende meines Lebens im Dazwischen […].[86]

Dieses Verständnis von Selbst lässt die Koexistenz eines Selbst-Bewusstseins im Sinne des Idealismus und der Aufklärung mit einem narzisstischen Ich im Sinne eines nachmodernen Subjektes zu.[87] Für einen Verfolgten, der aus dem Schoß seiner Heimat verstoßen wurde und das Glück hatte, den Krieg mit all seinen Gräueln zu überleben, kann also nur die Selbstverortung in einem Dazwischen die natürlichste Konsequenz sein. Eine Ortlosigkeit, die ihm erlaubt, zu sein, wer er wirklich ist: deutsch, französisch, Jude und noch viel mehr. und bringt damit sein Ich durch Selbstregulierung ins Gleichgewicht und er kann mit Descartes Worten exklamieren: „‚Ich bin, ich existiere‘.“ (Des Pudels Kern, S. 109). Goldschmidt gelingt es dadurch, die Ambiguitäten, die Differenzierung und die Beibehaltung von Differenzen in seinen Texten einzubauen und dadurch seine Integrität als Mensch zu bewahren.

 

VII.  Gegen das Vergessen und für das Miteinander

Georges-Arthur Goldschmidt schildert in seinen Erzählungen den furchtbaren Leidensweg eines Kindes und Heranwachsenden, der nicht existieren durfte, weil er Jude ist. Die Flucht über Italien nach Frankreich konnte ihm und seinem Bruder das Leben retten. Der in Frankreich erfahrene Schutz und der starke Erhaltungstrieb halfen dem Jungen, die Ambivalenzen seiner dynamischen Identität zu vereinigen. Goldschmidt versteht seine Identität als ein offenes Projekt, das stets vom Einfluss der „Verhandlung“ zwischen verschiedenen Zeitachsen und Kulturen geformt und neu verortet wird. Identität bei Goldschmidt ist nicht rigid und steif, sondern dynamisch und inhomogen, prozessual und fragmentarisch, sie ist eine instabile und unentscheidbare Entität, wo das Eigene und das Fremde sich amalgamieren und überlappen. Durch die Anerkennung, Vermengung und Durchdringung seiner verschiedenen Identitätskomponenten konnte Goldschmidt sein kindliches, tiefsitzendes Trauma verarbeiten und das Gleichgewicht der auseinanderstrebenden Kräfte seines Ichs finden. Dabei spielen seine beiden Sprachen eine bedeutende Rolle. Er setzt sie bewusst als gefügiges Werkzeug ein, um über seine Vergangenheit zu reflektieren, sich selbst zu entdecken und seine schweren Traumata zu meistern. Die therapeutische Funktion der Rede über das Erfahrene durch das Schreiben versöhnt die divergierenden Komponenten seines Ichs und wandelt sie in einen produktiven Prozess um. Das Verhandeln zwischen den inhärenten Differenzen in den formenden Elementen seines Ichs positioniert ihn in einem fluiden Grenzraum, wo die Bestandteile seiner Identität in einer stets wechselseitigen Überkreuzung, Durchdringung und Vermischung in Beziehung zueinander stehen.

Goldschmidt schreibt gegen das Vergessen und Verleugnen und für einen aktiven und verantwortungsvollen Umgang mit der Vergangenheit. Die Geschichten seiner jungen Protagonisten gehen unter die Haut und berühren den Leser, der für die seelischen und körperlichen Qualen dieser Kinder nur Sympathie empfinden kann, tief.

[1] Goldschmidt, Georges-Arthur: Die Absonderung. Erzählung. Mit einem Vorwort von Peter Handke. Zürich: Ammann Verlag, 1991.

[2] Goldschmidt, Georges-Arthur: Der Spiegeltag. Roman. Aus dem Französischen von Peter Handke. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989.

[3] Goldschmidt, Georges-Arthur: Ein Garten in Deutschland. Erzählung. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Zürich: Ammann Verlag, 1988.

[4] Goldschmidt, Georges-Arthur: Der bestrafte Narziß. Essay. Aus dem Französischen von Mariette Müller, Zürich: Ammann Verlag, 1994. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe unter Verwendung der Sigle DbN mit Angabe der betreffenden Seitenzahl im Fließtext zitiert.

[5] Georges-Arthur Goldschmidt: Die Aussetzung. Eine Erzählung. Zürich: Ammann Verlag, 1996.

[6] Goldschmidt, Georges-Arthur: Die Befreiung. Erzählung. Zürich: Ammann Verlag, 2007.

[7] Goldschmidt, Georges-Arthur: Die Faust im Mund. Eine Annäherung. Aus dem Französischen von Brigitte Große. Zürich: Ammann Verlag, 2008. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe unter Verwendung der Sigle DFM mit Angabe der betreffenden Seitenzahl im Fließtext zitiert.

[8] Goldschmidt, Georges-Arthur: Ein Wiederkommen. Erzählung. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag, 2012.

[9] Goldschmidt, Georges-Arthur: Vom Nachexil. Göttingen: Wallstein Verlag, 2020.

[10] Goldschmidt, Georges-Arthur: Über die Flüsse. Autobiographie. Aus dem Französischen übersetzt vom Verfasser. Zürich: Ammann Verlag, 2001. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe unter Verwendung der Sigle Fl mit Angabe der betreffenden Seitenzahl im Fließtext zitiert.

[11] Treichel, Hans-Ulrich: Die Angst und das Sehen. Über Georges-Arthur Goldschmidts Erzählung Die Aussetzung. In: Asholt, Wolfgang (Hrsg.): Grenzgänge der Erinnerung. Studien zum Werk von Georges-Arthur Goldschmidt. Osnabrück: Secolo, 1999, S. 123-126, hier S. 123.

[12] Hermann Wallmann: Wie ein Buch das andere gibt. Anmerkungen zu Ein Garten in Deutschland und die Absonderung. In: Asholt, Wolfgang (Hrsg.): Grenzgänge der Erinnerung. Studien zum Werk von Georges-Arthur Goldschmidt. Osnabrück: Secolo, 1999, S. 127-134, hier 132.

[13] Vgl.: Holdenried, Michaela: Das Ende der Aufrichtigkeit? Zum Wandel autobiographischer Dispositive am Beispiel von Georges-Arthur Goldschmidt. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literatur, Bd. 234, Berlin, Bielefeld, München: Erich Schmidt Verlag, 1997, S. 1-18, hier S. 11 ff.

[14] Holdenried, Michaela: Lichtschrift der Erinnerung. Zur medialen Konstruktion von Gedächtnisbildern bei Georges-Arthur Goldschmidt. In: Asholt, Wolfgang (Hrsg.): Grenzgänge der Erinnerung. Studien zum Werk von Georges-Arthur Goldschmidt. Osnabrück: Secolo, 1999, S. 107-121, hier S. 115. Auf Seite 109 stellt Holdenried fest: „Daß es sich bei einer bestimmten Perspektive, bei der Auswahl von Ausschnitten, bei Detailsequenzen […] tatsächlich […] um Mittel der Photographie handelt“.

[15] Rector, Martin: Frühe Absonderung, später Abschied. Adoleszenz und Faschismus in den autobiographischen Erzählungen von Georges-Arthur Goldschmidt und Peter Weiss. In: Martin Rector, Jochen Vogt (Hrsg.): Peter Weiss Jahrbuch 4. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1995, S. 122-139, hier S. 127.

[16] Bachmann-Medick, Doris: Dritter Raum. Annährungen an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung. In: Claudia Berger, Tobias Döring (Hrsg.): Figuren der/des Dritten. Amsterdam, Atlanta: Rodopi Verlag, 1998, S. 19-38, hier S. 20 ff.

[17] Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. aus dem Amerikanischen von Frigga Haug, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1967, S. 11. Goffman weist auf Seite 9 auf die Ursprünge des Wortes Stigma hin,  das eine lange Geschichte hat: „Die Griechen, die offenbar viel für Anschauungshilfen übrig hatten, schufen den Begriff Stigma als Verweis auf körperliche Zeichen, die dazu bestimmt waren, etwas Ungewöhnliches oder Schlechtes über den moralischen Zustand des Zeichenträgers zu offenbaren. Die Zeichen wurden in den Körper geschnitten oder gebrannt und taten öffentlich kund, daß der Träger ein Sklave, ein Verbrecher oder ein Verräter war – eine gebrandmarkte, rituell für unrein erklärte Person, die gemieden werden sollte, vor allem auf öffentlichen Plätzen.“

[18] Ebd.: S. 12 ff.

[19] Ebd.: S. 13 ff.

[20] Malo, Markus: Behauptete Subjektivität. Eine Skizze zur deutschsprachigen jüdischen Autobiographie im 20. Jahrhundert. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2009, S. 286 ff.

Zur Geschichte der Familie Goldschmidt in Reinbeck siehe: Alfred Schulz: Perspektiven eines Gleichartigen im Blick auf Georges-Arthur Goldschmidt, seine Familie und Reinbeck. In: Asholt, Wolfgang (Hrsg.): Grenzgänge der Erinnerung. Studien zum Werk von Georges-Arthur Goldschmidt. Osnabrück: Secolo, 1999, S. 35-47.

[21] Trzaskalik, Tim: Über Lesen und Übersetzen. Georges-Arthur Goldschmidt im Gespräch mit Tim Trzaskalik. In: Kultur & Gespenster Nr. 5. Hamburg: Textem Verlag, 2007, S. 18-49, hier S. 29.

[22] Rector: Frühe Absonderung, später Abschied, S. 127 ff.

[23] Asholt, Wolfgang (Hrsg.): Grenzgänge der Erinnerung. Studien zum Werk von Georges-Arthur Goldschmidt. Einleitung. Osnabrück: Secolo, 1999, S. 8.

[24] Rector: Frühe Absonderung, später Abschied, S. 125.

[25] Ruth, Fabian: Zur Integration der deutschen Emigranten in Frankreich 1933-1945. In: Wolfgang Frühwald, Wolfgang Schieder (Hrsg.): Leben im Exil. Probleme der Integration deutscher Flüchtlinge im Ausland 1933-1945. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1981, S. 200-206, hier S. 200.

[26] Goffman: Stigma, S. 16.

[27] Zur Beziehung zwischen Minderwertigkeitsgefühl und Schamgefühl siehe: J. Laplanche, J.-B. Pontalis: Strafbedürfnis. In: dies.: Das Vokabular der Psychoanalyse. Aus dem Französischen von Emma Moersch. Bd. 2. 3. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1977, hier S. 310.

[28] Ebd.: Strafbedürfnis, S. 476-478, hier S. 477.

[29] Eggers, Christian: Not der frühen Jahre. Verhaltensstörungen im Kindesalter als Herausforderung der Gesellschaft. In: Asholt, Wolfgang (Hrsg.): Grenzgänge der Erinnerung. Studien zum Werk von Georges-Arthur Goldschmidt. Osnabrück: Secolo, 1999, S. 75-80, hier S. 75 ff.

[30] Goffman: Stigma, S. 113.

[31] Malo: Behauptete Subjektivität, S. 288.

[32] Goffman: Stigma, S. 16.

[33] Asholt, Wolfgang: Ironie des Schicksals oder Notwendigkeit der Erinnerung. Die Autobiographie von Georges-Arthur Goldschmidt. In: Ders. (Hrsg.): Grenzgänge der Erinnerung. Studien zum Werk von Georges-Arthur Goldschmidt. Osnabrück: Secolo, 1999, S. 135-150, hier. S. 141.

[34] Rector: Frühe Absonderung, später Abschied S. 130.

[35] Laplanche, Pontalis: Schuldgefühl, S. 458-460, hier S. 458.

[36] Göllner, Renate: Masochismus und Befreiung: Georges-Arthur Goldschmidt. In: Gerhard Scheit, Manfred Dahlmann (Hrsg.): sans phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik. Heft 8, Frühjahr 2016. ça ira-Verlag, Freiburg/Wien, 2016, S. 180–191, hier S. 181.

[37] Vgl.: Barbara Breysach: Verfolgte Kindheit. Überlegungen zu Ilse Aichingers frühem Roman und Georges-Arthur Goldschmidts autobiographischer Prosa. In: Manuel Köppen und Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Bilder des Holocaust. Literatur – Film – Bildende Kunst. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 1997, S. 47-61, hier S. 56.

[38] Rector: Frühe Absonderung, später Abschied, S. 130.

[39] Ähnliche Schreibstrategien stellt Monika Schmitz-Emans bei Yoko Tawada fest. Dazu Vgl.: Schmitz-Emans, Monika: Aspekte einer Poetik der Hybridität. In: Tamura Kazuhiko (Hrsg.): Schauplatz der Verwandlungen. Variationen über Inszenierung und Hybridität. München: iudicium, 2011, 103-133, hier S. 127 ff.

[40] Körte, Mona: Tier-Werden. Verwandlungsangst in Georges-Arthur Goldschmidts Autobiographie Über die Flüsse. In: Kultur & Gespenster Nr. 5, Hamburg: Textem Verlag, 2007, S. 120-129, hier S. 128 ff. Mona Körte vergleicht und analysiert Goldschmidts Verwandlungsprozesse mit denen von Kafka insbesondere mit der Erzählung Die Verwandlung von 1915.

[41] Lezzi, Eva: Zerstörte Kindheit. Literarische Autobiographien zur Shoah. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2001, S. 296.

[42] Paul Ricœur: Das Selbst als Anderer. Aus dem Französischen von Jean Greisch in Zusammenarbeit mit Thomas Bedorf und Birgit Schaaff. München: Wilhelm Fink Verlag, 1996, S. 199.

[43] Erik H. Erikson: Lebensgeschichte und historischer Augenblick. Deutsche Übersetzung von Thomas Lindquist. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 17.

[44] Vgl. Brockmeier: Erinnerung, Identität und autobiographischer Prozeß. In: Journal für Psychologie, 7. Jg., H.1 (1999), S. 22.

[45] Holdenried, Michaela: Im Spiegel ein anderer. Erfahrungskrise und Subjektdiskurs im modernen autobiographischen Roman. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag, 1991, S. 491.

[46] Asholt: S. 9.

[47] Vgl.: Breysach: Verfolgte Kindheit, S. 56.

[48] Treichel, Hans-Ulrich: Die Angst und das Sehen. Über Georges-Arthur Goldschmidts Erzählung Die Aussetzung. In: Asholt, Wolfgang (Hrsg.): Grenzgänge der Erinnerung. Studien zum Werk von Georges-Arthur Goldschmidt. Osnabrück: Secolo, 1999, S. 123-126, hier S. 124.

[49] Goffman: Stigma, S. 19.

[50] Basedow, J. B.: Notwendige Anerkennung der Strafe durch das Kind (1773). In: Katharina Rutschky (Hrsg.): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Frankfurt a. M., Berlin: Ullstein, 1988, S. 391-392, hier S. 391.

[51] Goldschmidt, Georges-Arthur; Treichel, Hans-Ulrich: Jeder Schriftsteller ist zweisprachig. Ein Gespräch. In: Sprache im technischen Zeitalter 32/131. Berlin 1994, S. 273-285, hier S. 280.

[52] Rector: Frühe Absonderung, später Abschied, S. 132.

[53] Der Vater starb plötzlich bei der Eröffnungsfeier eines neuen Theaters in Reinbeck, das von ihm eingeweiht werden sollte. Siehe: Trzaskalik: Über Lesen und Übersetzen, S. 35.

[54] Goldschmidt, Georges-Arthur: Des Pudels Kern. Ein Gespräch. Antworten auf die Fragen von Tim Trzaskalik. Berlin: Matthes & Seitz, 2008, S. 79.

[55] Bhabha, Homi K.: Von Mimikry und Menschen: Die Ambivalenz des kolonialen Diskurs. In: ders.: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Deutsche Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg Verlag, 2007, S. 125-136, hier S. 129 f. [Herv. i. O.].

[56] Homi K. Bhabha: Zeichen als Wunder: Fragen der Ambivalenz und Autorität unter einem Baum bei Delhi im Mai 1817. In: ders.: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Deutsche Übersetzung von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen: Stauffenburg Verlag,  2007, S. 151-180, hier S. 172.

[57] Gebauer Gunter, Wulf Christoph: Spiel – Ritual – Geste. Mimetisches Handeln in der sozialen Welt. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1998,, S. 19.

[58] Michael Taussig: Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne. Aus dem Amerikanischen von Regina Mundel und Christoph Schirmer. Hamburg: Konstanz University Press,1997, S. 80.

[59] Holdenried: Lichtschrift der Erinnerung, S. 114.

[60] Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Übersetzt von Dietrich Leube. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989, S. 20.

[61] Tim Trzaskalik: Über Lesen und Übersetzen, S. 42.

[62] Barthes: Die helle Kammer, S. 21.

[63] Hölderlin, Friedrich: Andenken. In: ders.: Gedichte. Hg. von Gerhard Kurz in Zusammenarbeit mit Wolfgang Baumgart. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2005, S. 383-384, hier S. 384.

[64] Vgl.: Bertaux, Pierre: Friedrich Hölderlin. Eine Biographie. Frankfurt a. M.: Insel Verlag, 1991.

[65] Goffman: Stigma, S. 117.

[66] Lezzi: Zerstörte Kindheit, S. 282.

[67] Asholt, Wolfgang: Georges-Arthur Goldschmidt. In: Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur (KLƒG), Bd 5. München: edition Text + Krititk, 2000, S. 1-22, hier S. 10.

[68] Laplanche, Pontalis: Kathartische Methode oder katartisches Heilverfahren, S. 247-249, hier S. 247.

[69] Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1982, S. 19.

[70] Laplanche, Pontalis: Kathartische Methode oder katartisches Heilverfahren, S. 249.

[71] Vgl.: Michaela Holdenried: Das Ende der Aufrichtigkeit? S. 5.

[72] Goffman: Stigma, S. 134.

[73] Goldschmidt, Georges-Arthur: Un Jardin en Allemagne. Paris: Seuil, 1986.

[74] Goldschmidt, Georges-Arthur: La traversée des fleuves. Paris: Seuil, 1999.

[75] Goldschmidt, Georges-Arthur: L´esprit de retour. Paris: Seuil, 2011.

[76] Goldschmidt: L´esprit de retour. Paris, S. 75. [Herv. i. O.].

[77] Goldschmidt: Un Jardin en Allemagne, S. 39. [Herv. i. O.].

[78] Vgl. Ashcroft Bill, Griffiths Gareth, Tiffin Helen: The empire writes back: Theory and Practice in Post-Colonial Literatures. London, New York: Routledge, 1994., S. 77.

[79] Bevor Goldschmidt das Deutsche als literarische Schreibsprache verwendete, war er für lange Jahre als Kultur-Korrespondent für die Frankfurter Rundschau tätig. Vgl. Kremnitz, Georg: Mehrsprachigkeit in der Literatur. Wie Autoren ihre Sprache wählen. Aus der Sicht der Soziologie der Kommunikation. Wien: Edition Praesens, 2004, S. 195.

[80] Für weitere Kritikpunkte gegen den Akkulturationsansatz und Argumente für dessen Erweiterung auf den Hybriditätsansatz vgl. El Mtouni, Said: Exilierte Identitäten zwischen Akkulturation und Hybridität. Würzburg: Ergon Verlag, 2015, S. 52 f.

[81] Vgl.: Trzaskalik, Tim: Gegensprachen. Das Gedächtnis der Texte. Georges-Arthur Goldschmidt. Frankfurt a. M., Basel: Klostermann/Nexus, 2007, 310 ff.

[82] Vgl. a.: Hein-Khatib, Simone: Mehrsprachigkeit und Biographie. Zum Sprach-Erleben der Schriftsteller Peter Weiss und Georges-Arthur Goldschmidt. Tübingen: Gunter Narr Verlag, 2007, S. 218.

[83] Goldschmidt, Georges-Arthur: Wie Grün Rot werden soll oder die Metamorphose des Übersetzens. In: Gil, Alberto und Schmeling, Manfred (Hrsg.): Kultur Übersetzen. Zur Wissenschaft des Übersetzens im deutsch-französischen Dialog. Berlin: De Gruyter, 2009, S. 5-14, hier. S. 14.

[84] Asholt: Georges-Arthur Goldschmidt. In: Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur, S. 16.

[85] Goffman: Stigma, S. 173.

[86] Georges-Arthur Goldschmidt: In Gegenwart des abwesenden Gottes. Aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Große. Zürich: Ammann Verlag, 2003, S. 85.

[87] Kambas, Chryssoula: als Kind verboten werden. Autobiographie und Erinnerung bei Georges-Arthur Goldschmidt und Saul Friedländer. In: Asholt, Wolfgang (Hrsg.): Grenzgänge der Erinnerung. Studien zum Werk von Georges-Arthur Goldschmidt. Osnabrück: Secolo, 1999, S. 81-106, hier S. 82.

Comments Off on Identität und Sprache in Georges-Arthur Goldschmidts Werk

Nov 12 2021

Heimatbilder, Grenzgebiete, Teil II

Published by under

von Edith Borchardt

Part 1: “Heimat und Identitätspolitik”

Heimat: das ist Erinnerung an meine Kindheit in Fürstenfeldbruck, der Gartenstadt an der Amper mit der barocken Stadtpfarrkirche neben dem Friedhof am Fluss auf der einen Seite der Brücke und der Kapelle für St. Leonhard auf der anderen. Sie wurde für den Schutzpatron gebaut, der die Stadt vor einer Überschwemmung rettete. Zur Erinnerung schicken die Kinder einmal im Jahr selbstgebastelte Lichterboote den Fluss hinab, der an dem Garten des Hauses in der Emmeringerstraße vorüberfließt, wo meine Freundin Christiane mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder lebte. Dort spielten und badeten wir und feierten Geburtstage mit “Mensch-ärgere-dich-nicht” und Flöten-, Klavier- und Geigenmusik. Von ihrem Sockel im Treppenhaus sah die Venus de Milo auf uns herab, deren verstümmelte Arme mich immer wieder verwunderten. Manchmal begleitete mich Christiane einen Teil des Wegs nach Hause, an Villen und dem Friedhof vorbei, wo die Zweige der Trauerweiden in die Amper hingen.

 

Ceremonial procession

Photo 1: Lucienhäuschen auf der Amper in Fürstenfeldbruck
© Richard Huber 2014: Wikimedia

 

Zu Hause: das war die Wohnung in der Münchnerstraße, deren Garten an den Pfarrhof der evangelischen Kirche stieß. Ich wohnte mit meinen Eltern über Bauers Lebensmittelgeschäft, wo man immer noch mit Marken einkaufte. Die dunkle Treppe machte mich ängstlich, besonders da, wo es in den Keller hinunterging. Lieber ging ich durch den Flur in den Garten, um mit den anderen Kindern im Haus Ball zu spielen oder Stachelbeeren von den Sträuchern am Zaun zu pflücken. Über den Zaun hingen die Zweige des Nußbaums vom Pfarrhof, und der hochragende Sattelturm der evangelischen Kirche mahnte zum Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes.

Unsere Nachbarn im ersten Stock kamen aus Hamburg. Püppi, ein wenig jünger als ich, hatte einen Wellensittich und ihr älterer Bruder Lothar grüne Augen mit einem braunen Fleck. Ihr Vater war früher Kapitän. Jeden Tag begleitete Püppis Mutter uns zur Volksschule. Lothar ging schon aufs Gymnasium. Unser Weg führte über die Brücke, die auf dem Stadtwappen abgebildet ist und schon im 13. Jahrhundert den Markt Bruck mit dem Besitz des Klosters Fürstenfeld verband. Jeden Morgen hatten wir Gottesdienst mit den höheren Klassen, und meine Augen suchten heimlich Udo, den Sohn von Freunden meiner Eltern, die uns sonntags zum Kaffee besuchten. Während sie sich im Wohnzimmer unterhielten, spielten wir in der Küche Monopoly zum Wunschkonzert mit Schlagern über Fernweh und Sehnsucht nach der Heimat. An langen Skatabenden übten wir Akkordeonduetts: Edelweiß und Waldeslust, und wenn Udo mit seinen Eltern nach Hause ging, fehlte er mir. Als wir füreinander reif wurden und uns Tanzschule und Jugendliebe bevorstanden, zog er mit seinen Eltern nach München. Dort trafen wir uns nur noch einmal und gestanden uns fast unsere Zuneigung. Wenig später wanderte ich mit meinen Eltern nach Amerika aus.

 

Hochalter der Klosterkirche Mariae Himmelfahrt

Photo 2: Hochaltar der Klosterkirche Mariae Himmelfahrt. © Richard Huber 2009: Wikimedia

 

Kindheit bedeutet Erinnerung an das Barockkloster, das die Zisterziensermönche im Mittelalter am Fuße des Engelsberges errichteten und das nach dem Krieg die Gendarmerie behauste und ein Kriminalmuseum mit rekonstruierten Darstellungen von Morden und Gewalttaten. Ich spielte im Büro meines “Onkels,” dem Oberkommissar der Landpolizei, und drückte mit kleinen Fingern die Tasten der Schreibmaschine, was die Erwachsenen als Neigung zu meinem zukünftigen Beruf auslegten. Natürlich sollte ich Sekretärin werden. In der Klosterkirche gab es jedes Jahr zu Weihnachten eine Mitternachtsmesse, ein Lichterfest mit Weihrauch und gregorianischen Chören und hinterher Weißwürste bei “Onkel” Wendelin und seiner Frau. Obwohl ich evangelisch war, spielte der Katholizismus eine große Rolle in meinem Leben. Als kleines Mädchen besuchte ich den katholischen Kindergarten, wo mir Schwester Martha erklärte, dass sie einen Vater im Himmel hätte. Ihm und seinem Sohn und den Heiligen zuliebe gab es viele farbenprächtige Prozessionen während des Jahres. An der Fronleichnamsprozession nahm auch ich teil, in einem weißen Kleid und einem Kranz auf den Stopsellocken. Das Murmeln der Betenden mit ihren Rosenkränzen klang wie ein Beschwörungschor: “Heilige Maria Mutter Gottes, gebenedeit seist Du unter den Weibern und gebenedeit sei die Frucht Deines Leibes….” Schwester Martha lehrte mich, dass Geben seliger sei als Nehmen. Ich hatte ihr ein Bonbon auf den Schreibtisch gelegt und es dann zurückerobern wollen. Von ihr erfuhr ich, dass ein Geschenk endgültig ist.

Frühling in Bayern: Schneeglöckchen und Butterblumen, Anemonen und Veilchen an den Hängen des Bahnhofsberges, auf dem man im Winter Schilaufen und Schlittenfahren konnte. Von den Kastanienbäumen auf beiden Seiten des Wegs zum Bahnhof fielen die Maikäfer, die wir als Kinder in Gläsern und Streichholzschachteln fingen.

 

Maikäfer flieg,
Dein Vater ist im Krieg,
Deine Mutter ist im Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt,
Maikäfer, flieg!

 

Maikäfer circa 1947

Photo 3: Edith (links) und Vati (Mitte) betrachten einen Maikäfer im Feld am Bahnhofsweg circa 1947 © Edith Borchardt 2021

 

Im Sommer streiften wir durch die Ährenfelder der umliegenden Gegend und pflückten Kornblumen und Klatschmohn oder gingen im Amperbad schwimmen.

***

Picture of farming in Burgenland

Photo 4: Vati und Edith mit Opa auf dem Feld am Eisernen Vorhang im Burgenland circa 1952
Foto aus dem Privatbesitz © Ferdinand Sitek

 

Heimat ist Kindheit: nicht nur in Bayern, sondern auch in Österreich bei den Großeltern, im Burgenland ganz nahe am Eisernen Vorhang an der ungarisch-tschechischen Grenze, wo man von den Maisfeldern die Wachttürme sah und nicht hinüber konnte zu den Verwandten, die man nie getroffen hatte. Das ist das Zollhaus am Ende des Dorfes, das die Russen besetzt hatten, und in dem ich mit meinem Cousin spielte in der Wohnung meines Onkels, des Zollbeamten, und meiner Tante Aurelia. Hier verbrachte ich die Sommerferien bei den Großeltern, die zweisprachig in der Monarchie aufgewachsen waren. Mit der Nachbarin sprach Omi immer ungarisch, wenn ich sie nicht verstehen sollte. Vom Dach des Schuppens hinten im Hof hörte ich ihrem Geheimgespräch zu, indem ich Maulbeeren vom Baum pflückte. Meinen Kinderohren klang es wie Hühnergegacker. In ihren dunklen Kopftüchern, Kleidern und Schürzen sahen die Frauen wie Trauervögel aus und hätten auch in östlicheren Ländern zu Hause sein können. In meiner ersten Erinnerung hält mich die Großmutter auf dem Arm, während sie das Feuer im Ofen der Bauernküche schürt. Im Türrahmen steht ein Schornsteinfeger mit Besen und Zylinderhut. Die Männer waren auf den Kukuruzfeldern, und Omi bereitete zu Dutzenden die Palacsintas zum Abendessen vor, die im Rohr warm gehalten wurden. In einer großen Truhe gab es Mehl, von dem sie Nudelteig machte und Brot knetete, das ich im runden Korb zum Bäcker brachte und als dunkelbraunen Laib wieder holte. Mit meinem Cousin Werner spielte ich am liebsten. Zusammen mit den Dorfbuben tobten wir auf den Heustadeln herum und wühlten uns wie Maulwürfe hinein, bis der Großvater uns entdeckte und mit drohender Faust herunter holte. Die Großmutter kämmte mir die Halme aus den aufgelösten Zöpfen und beklagte, dass ich keinen Umgang mit Mädchen hatte. In den Tschardaken, wo nach der Ernte der Mais gelagert wurde, vergaßen wir den Maulbeersaft auf den Regalen und fanden zu unserem Erstaunen am nächsten Tag riesige Mottenleichen in den Tassen. Wir gingen im Kanal außerhalb des Dorfes schwimmen oder fuhren auf den Rädern über die staubige Hauptstraße hinaus, bis man von weitem die Burg auf der tschechischen Seite erkennen konnte. Das war Bratislava, früher Preßburg, wo eine Schwester der Großmutter zu Hause war.

Heimat: das sind die Tränen der Großmutter für den Sohn, der aus dem Krieg nicht wiederkam, für den sie Kerzen anzündete und Gebete sprach mit mir auf dem Arm in der Kapelle neben der katholischen Kirche im Dorf. Dort steht heute sein Name auf der Liste der Gefallenen neben dem gekreuzigten Heiland. Ich finde ihn auch auf dem Kriegerdenkmal verzeichnet, an der Hauptstraße, die nach dem Zollhaus, wo früher der Schlagbaum war, nicht mehr weiter ging. Ich bin in der Ostmark geboren, heißt es in einem alten Pass. Meinen Onkel habe ich nie gekannt. Er war jung und groß und schlank und sah meiner Mutter ähnlich, wie ich von Bildern weiß. Er musste für den Führer kämpfen, der Judentransporte durch Österreich schickte, welche unaufhaltsam an den Bahnhöfen vorüber rollten.

Heimat: das ist Geschichte, über die man lange nicht sprach und über die es keine Schulbücher gab. Der Lehrer diktierte, was man wissen durfte von Hermann dem Cherusker bis zum Westfälischen Frieden, und ich illustrierte meine Hefte mit Sanella-Bildchen des germanischen Helden Arminius und der Schlacht im Teutoburger Wald. Da kamen plötzlich neue Schüler aus Schlesien und Thüringen, für die man neben sich in der Schulbank Platz machen musste. Die hatten einen anderen Dialekt und ließen mit ihren Familien Hab und Gut im anderen Deutschland zurück. Aus einer Heimat wurden zwei. Heimat ist Trennung und Teilung, erst heute wieder Vereinigung.

Heimat ist Geschichte, die ich entdecke durch Zuckmayer, Hochhuth und Böll, denn ich bin nicht Sekretärin geworden, sondern Professor für Germanistik im Ausland. Heimat liegt lange zurück, und ich suche sie nicht nur in meiner Erinnerung, sondern auch in der anderer. Auch Böll kennt das Flachland der ungarischen Pußta, aus der die Truppen sich am Ende des Krieges über Nagyvárad and Szokárhély zurück zogen. Auch er weiß vom Unsinn des Todes im Krieg. Mein Onkel war in Rumänien und Holland und Polen. Warum ist er nicht zurück gekommen? Hat er sich mit ein paar Kameraden den Tod gegeben oder haben Partisanen ihn umgebracht?

 

Kriegerdenkmal

Photo 5: Kriegerdenkmal an der Oberen Hauptstraße für die Gefallenen im 2. Weltkrieg © Edith Borchardt 2021

 

***

 

Besuch in der Heimat: Wiederentdeckung der Vergangenheit mit meiner Tante Anni in Wien, die noch von den Urgroßeltern weiß. Ich schreibe mit, während sie erzählt. Unsere Familie ist schon lange ansässig im Burgenland: hier sind meine Wurzeln mütterlicherseits. Ich selbst bin in Wien geboren, in Döbling, sagt sie, in einem jüdischen Sanatorium. Mein Onkel war noch ein Kind, als er 1917 mit seinen Eltern in die Castelligasse kam, wo er bis 2007 lebte. Sein Vater, der – als er nicht mehr in der Hofkanzlei arbeitete – immer auf einem Stuhl in der Küche saß, rauchte und Zeitung las, nahm mich oft mit auf den Friedhof, um die Gräber seiner Familie zu pflegen. Unsere gemeinsamen Ausflüge in diese Todesgärten, als ich klein war, haben mir die Angst vor dem Sterben genommen. Nun liegt auch er mit seiner Frau neben den Großeltern aus dem Burgenland. Wir bringen Blumen und zünden die Kerzen an, die verloschen sind.

Mit Onkel Ferdinand besuche ich die Denkmäler der Wiener Moderne: Wir fahren die Stadtbahnstationen von Otto Wagner ab, die neu renoviert sind für das 150. Jubiläum der Österreichischen Bundesbahn, für die er sein ganzes Leben lang gearbeitet hat. Er zeigt mir den klassischen Bau der Direktion, an dessen Eingang zwei Karyatiden stehen, und wir gehen an dem Büro vorbei, das früher sein Namensschild trug. Den Einfluss Wagners soll ich auch an den Gemeindebauten ablesen, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden: den Verlust der Dekoration und die einfachen Linien zum Zweck der Funktionalität. Das Hundertwasserhaus steht am Ende dieser Entwicklung: Anti-Architektur der Postmoderne mit schwankenden Linien, farbenfreudiger Verzierung und Säulen ohne Zweck. Wir fotografieren eine Reihe von Kaffeehäusern,

 

Onkel mit Peter Altenberg

Photo 6: Onkel Ferdinand im historischen Café Central in Wien (1987)
© Edith Borchardt 2021

 

die schon um die Jahrhundertwende existierten: das vornehme Imperial, Café Sperl mit seinen Billiardtischen und das Hawelka, Café Korb und Café Museum von Adolf Loos. In Galerien und Museen versuche ich, die Ausstellung “Traum und Wirklichkeit” zu rekonstruieren, die ich in New York versäumt habe. Ich bin auf den Spuren Klimts und Schieles, auch denen des Herrn Sabarsky, dessen außergewöhnlichen Besitz expressionistischer Gemälde ich gerne sehen möchte, weil seine Galerie in der Madison Avenue geschlossen war und er so gut wie verschollen. Ich höre seine Stimme im Österreichischen Rundfunk. Er ist mir immer einen Schritt voraus mit einer neuen Ausstellung in Wien und im Burgenland. Schloss Halbturn ist nur eine halbe Stunde vom Haus meiner Großeltern entfernt. Die Nachbarn fahren mich mit dem Auto hin. Ich staune, daß es hier solche Schätze gibt: eine Ausstellung weniger bekannter Impressionisten und im Saal gegenüber Zeichnungen von Egon Schiele, der die Betrachter in diesem ländlichen Museum auch heute noch schockiert.

 

Photo 7: Burgenlandhaus: “Hinter einem dieser Tore hat früher [meine Kusine] Gitti gewohnt.”
© Edith Borchardt 2021

 

Deutsch-Jahrndorf ist zum Kurort geworden, die Hauptstraße zu einer Allee. Es gibt keine Tiere mehr und fast niemand betreibt die Landwirtschaft. Ein Diplom-Landwirt hat den meisten Besitz erworben und treibt als einziger noch Schweinezucht. Manche Häuser sind in Verfall geraten, weil die Kinder nach Wien gezogen oder ausgewandert sind. Viele kommen am Wochenende mit dem Auto zurück. Statt Staub gibt es Rasen, und hohe Bäume vor den Häusern mit den Hofeinfahrten schützen vor der Sommersonne im Flachland. Hin und wieder tritt eine alte Frau in dunkler Kleidung mit Schürze und Kopftuch vor das Tor und zieht sich still wieder zurück. Hinter einem dieser Tore hat früher Gitti gewohnt, die Tochter meines gefallenen Onkels. Hühner und Gänse verirren sich nicht mehr auf die Straßen im Ort. Dagegen gibt es ein neues Gesetz. Man erwacht nicht mehr zu Hahnengeschrei oder Hundebellen. Pferde und Kühe sind verschwunden. Fanzlers Lebensmittelgeschäft bleibt weiterhin in der Familie. Die Post ist neu, aber das Zollhaus schäbig. Bei strömendem Regen gehe ich in die Kapelle bei der katholischen Kirche, wo Omi immer gebetet hat. Ein Blitz erhellt plötzlich und unerwartet den Kirchhof und beleuchtet die Heilandsfigur in den Armen seiner Mutter und die Gedenktafel mit dem Namen meines Onkels. Ein rollender Donner folgt. Auf dem Weg zurück in die Nickelsdorfer Straße hält mich ein alter Mann für meine Tante, weil ich ihr ähnlich sehe.

Mit meinem Cousin und seiner Tochter fahre ich durch die Maisfelder an die ungarische Grenze. Hier hat sich nichts verändert, nur der Stacheldraht ist etwas herunter gezerrt. Ein Schild warnt: “Achtung! Staatsgrenze!” Wir werden von den Soldaten im Wachtturm auf der anderen Seite erspäht. Die sechzehnjährige Karin nimmt ihr Pfeifen als Gruß auf und winkt ihnen zu. Ich denke mir, wie schön es wäre, einmal mit Kaffee und Strudel hinüberzugehen und sich mit denen zu unterhalten. Wir suchen den Stein, der das Dreiländereck markiert. Ein Gendarm hat uns am Vorabend beim Heurigen geraten, es nicht alleine zu tun. Er wollte uns führen. Das ist nun alles Geschichte und solche Warnungen nicht mehr nötig. Die Grenze hat sich aufgetan: der Stacheldraht ist aufgerollt und wird als Souvenir verkauft. Das Dorf liegt nicht mehr am Ende der Welt. Die Hauptstraße führt nach Ungarn und die Zukunft vielleicht zu regem Verkehr und neuem Leben für den kleinen Ort.

 

Cityscape of Bratislava

Photo 8: Bratislava
Courtesy of Justraveling

 

Bratislava bleibt nicht eine Fata Morgana, nur aus der Ferne bestaunt. Auch die Slowakei bietet Zugang. Überall fallen die Schranken: die Deutschen tanzen auf der Mauer, die abgebaut wird, und trinken Sekt. Ich bin nie in der DDR gewesen und werde sie niemals kennenlernen, weil die getrennte Heimat heute wieder ein Land ist. Die Heimat aber, die ein Land war, als ich geboren wurde, besteht aus zwei Ländern, die auch im Vereinten Europa ihre Identität bewahren.

 

 

 

Photo credits and additional information:

Please click on photos for an enlarged view.

Photo 1: “Nach dem traditionellen Luciengottesdienst auf dem Leonhardsplatz vor der Wallfahrtskirche St. Leonhard werden die Häuschen am Abend in einer Prozession zum Amperufer getragen und unter Aufsicht der Wasserwacht der Strömung übergeben. Langsam treiben die von den Kerzen im Inneren erleuchteten Häuschen dann flussabwärts.” (Quelle: Wikipedia)

Photo 6: mit der Papiermâché Figur des Schriftstellers Peter Altenberg der Wiener Moderne

Photo 8: Justraveling: justraveling.com

Anmerkung:

“Heimatbilder” wurde ursprünglich in TRANS-LIT veröffentlicht: (SCALG IX, 1 & 2: Sommer und Winter 2000), 18-23. Zweimal für den Elisabeth Fraser de Bussy Prose Prize nominiert.

Nachdruck in drei gekürzten Teilen auf Deutsch und Englisch in German Life (hier mit anderen Bildern):

“Pictures from my Homeland, Part III,” (with original German text), German Life: December 2003/January 2004: 52 – 55.

“Pictures from my Homeland, Part II,” (with original German text), German Life: Oktober/November 2003: 52 – 55.

“Pictures from my Homeland, Part I,” (with original German text), German Life: August/September 2003: 52 – 54.

 

Translation rights remain with the author.

 

Comments Off on Heimatbilder, Grenzgebiete, Teil II

« Prev - Next »